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RUDOLF von JHERING
Der Kampf ums Recht

"Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, das Recht eines Volkes, wie das eines Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus. Das Recht ist kein logischer, sondern es ist ein Kraftbegriff. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit dem sie es behauptet."


Vorrede

Am 11. März hielt ich in der hiesigen juristischen Gesellschaft einen Vortrag über den Kampf ums Recht, den ich später genauer ausgearbeitet und weiter ausgeführt habe und in diesen Blättern der Öffentlichkeit übergebe.

Der Gegenstand hat auch für den Nichtjuristen das höchste Interesse und volle Verständlichkeit, und ich habe durch die Art seiner Behandlung versucht, der kleinen Schrift auch unter dem gebildeten Laienpublikum Eingang zu verschaffen. Es ist ein Stück Psychologie des Rechts, das in ihr seine Verwendung findet, und das jeder denkende Leser an sich selber zu erproben Gelegenheit hat.

Das Erscheinen dieser Schrift fällt in eine Zeit, wo ich mich anschicke, Wien zu verlassen, und ich kann nicht umhin, die Gelegenheit, die sich mir hier darbietet, zu benutzen, um meinen juristischen Fachgenossen, die mir damals die Ehre ihres Besuchs schenkten, und insbesondere meinem verehrten Freund, dem Präsidenten der juristischen Gesellschaft, früherem Minister der Justiz, Freiherrn von HYE, den Ausdruck der Gesinnungen, die ich ihnen nach Beendigung meines Vortrages in die Lage kam auszusprechen, öffentlich zu wiederholen. Es sind die Gesinnungen warmen Dankes für das wohlwollende Entgegenkommen, das die Männer des praktischen Berufs dem Mann der Wissenschaft von Anfang an entgegen getragen und nie verleugnet, für das Intersse und Verständnis an meinen wissenschaftlichen Bestrebungen, das sie mir in so erfreulicher Weise bewährt haben; es ist das Gefühl aufrichtigen Bedauerns, daß ich aus ihrem Kreis scheiden muß, und die Bitte, daß sie ihrerseits mir ein freundliches Andenken bewahren mögen. Die Zustimmung, welche sie meinem Vortrag schenkten, gewährt mir die freudige Hoffnung, daß die Gesinnung, aus der letzterer hervorgegangen ist, auch sie beseelt, und daß der Kampf ums Recht, den Österreich zur Zeit durchzukämpfen berufen ist, in ihren Reihen manchen tapferen Kämpfer finden wird. Das ist der beste Wunsch, mit dem ich von Österreich scheiden kann.


Der Begriff des Rechts in bekanntlich ein praktischer, d. h. ein Zweckbegriff, jeder Zweckbegriff aber ist seiner Natur nach ein dualistisch gestalteter, denn er schließt den Gegensatz von Zweck und Mittel in sich - es reicht nicht aus, bloß den Zweck namhaft zu machen, sondern es muß zugleich das Mittel angegeben werden, wie er erreicht werden kann. Auf diese beiden Fragen muß daher auch das Recht uns überall Rede und Antwort stehen - sowohl im Großen und Ganzen, wie auch bei jedem einzelnen Rechtsinstitut, und in der Tat ist die ganze Systematik des Rechts nichts als die unausgesetzte Beantwortung beider Fragen. Jede Definition eines Rechtsinstituts, z. B. des Eigentums, der Obligation, ist notwendigerweise zwiespältig, sie gibt den Zweck an, dem dasselbe dient, und zugleich das Mittel, wie er zu verfolgen ist. Das Mittel aber, wie verschiedenartig es auch gestaltet sein möge, reduziert sich stets auf den Kampf gegen das Unrecht. Im Begriff des Rechts finden sich die Gegensätze: Kampf und Frieden, zusammen - der Frieden als das Ziel, der Kampf als das Mittel des Rechts, beide durch den Begriff desselben gleichmäßig gesetzt und von ihm unzertrennlich.

Man könnte dagegen einwenden: der Kampf der Unfriede sei ja gerade das, was das Recht verhindern will, er enthalte eine Störung, eine Negation der Ordnung des Rechts, kein Moment des Rechtsbegriffs, und so wenig das Laster als Negation der Tugend in die Definition der letzteren gehört, so wenig der Kampf und der Unfriede in die des Rechts. Der Einwand wäre richtig, wenn es sich um den Kampf des  Unrechts  gegen das Recht handelte, allein es handelt sich um den Kampf des  Rechts  gegen das Unrecht. Ohne diesen Kampf, d. h. ohne den Widerstand, den es dem Unrecht entgegensetzt, würde das Recht sich selber verleugnen. Solange noch das Recht auf den Angriff von Seiten des Unrechts gefaßt sein muß - und dies wird dauern, solange die Welt steht -, wird der Kampf ums Recht nicht erspart bleiben. Der Kampf ist mithin nicht etwas dem Recht Fremdes, sondern er ist mit dem Wesen desselben unzertrennlich verbunden, ein Moment seines Begriffs.

Diesen Gedanken durchzuführen, die Bedeutung des Kampfes für das Recht nachzuweisen, ist die Aufgabe des gegenwärtigen Vortrages.

Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, das Recht eines Volkes, wie das eines Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus. Das Recht ist kein logischer, sondern es ist ein Kraftbegriff. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit dem sie es behauptet. Das Schwert ohne die Waage ist die nackte Gewalt, die Waage ohne das Schwert die Ohnmacht des Rechts. Beide gehören zusammen, und ein vollkommener Rechtszustand herrscht nur da, wo die Kraft, mit der die Gerechtigkeit das Schwert führt, der Geschicklichkeit gleichkommt, mit der sie die Waage handhabt.

Recht ist unausgesetzte Arbeit, und zwar nicht etwa bloß der Staatsgewalt, sondern des ganzen Volkes. Das Ganze des Rechtslebens, mit einem Blick überschaut, vergegenwärtigt uns dasselbe Gemälde des rastlosen Ringens, Kämpfens, Arbeitens einer ganzen Nation, wie ihre Arbeit auf dem Gebiet des Eigentums. Jeder Einzelne, der in die Lage kommt, sein Recht behaupten zu müssen, nimmt an dieser nationalen Arbeit seinen Anteil, trägt sein Scherflein bei zur Verwirklichung der Rechtsidee auf Erden.

Freilich tritt diese Anforderung nicht an Alle heran. Unangefochten und ohne Anstoß verläuft das Leben von Tausenden von Individuen in den geregelten Bahnen des Rechs, und würden wir ihnen sagen: Das Recht ist Kampf, sie würden uns nicht verstehen, sie kennen dasselbe nur als Zustand des Friedens, der Ruhe, der Ordnung. Und vom Standpunkt ihrer eigenen Erfahrung haben sie vollkommen Recht, ganz so wie der reiche Erbe, dem mühelos die Frucht fremder Arbeit in den Schoß gefallen ist, Recht hat, den Satz: Eigentum ist Arbeit, in Abrede zu stellen. Die Täuschung Beider hat ihren Grund darin, daß die zwei Seiten des Eigentums- und Rechtsbegriffs subjektiv in der Weise auseinanderfallen können, daß dem Einen der Genuß und der Friede, dem Andern die Arbeit und der Kampf zuteil wird. Würden wir Letzteren fragen, die Antwort würde gerade entgegengesetzt lauten. Das Eigentum wie das Recht ist eben ein Januskopf mit einem Doppelantlitz; Manchen kehrt er bloß die eine Seite, Andern bloß die andere zu, daher auch die völlige Verschiedenheit des Bildes, das Jeder von ihm mit hinweg nimmt. In Bezug auf das Recht gilt dies, wie von einzelnen Individuen, so auch von ganzen Zeitaltern. Das Leben des einen ist Krieg, das Leben des andern Friede, und die Völker sind durch diese Verschiedenheit der subjektiven Verteilung beider ganz derselben Täuschung ausgesetzt, wie die Individuen. Eine lange Periode des Friedens, und der Glaube an den ewigen Frieden steht in üppigster Blüte, bis der erste Kanonenschuß den schönen Traum verscheucht und an die Stelle eines Geschlechts, das den Frieden bloß genossen hat, ein anderes tritt, welches ihn wieder verdienen, in der schweren Arbeit des Krieges ihn erst suchen muß. So verteilt sich beim Eigentum wie beim Recht Arbeit und Genuß, aber ihrer Zusammengehörigkeit tut das keinen Abbruch; für den Einen, der genießt und in Frieden lebt, hat ein Anderer arbeiten und kämpfen müssen. Der Frieden ohne Kampf, der Genuß ohne Arbeit gehört der Zeit des Paradieses an, die Geschichte kennt beide nur als Resultate mühevoller, unablässiger Arbeit.

Diesen Gedanken, daß der Kampf die Arbeit des Rechts ist und in Bezug auf seine praktische Notwendigkeit wie auch auf seine ethische Würdigung ganz auf eine Linie mit der Arbeit beim Eigentum zu stellen ist, gedenke ich im Folgenden weiter auszuführen. Ich glaube damit kein überflüssiges Werk zu tun, im Gegenteil eine Unterlassungssünde gut zu machen, die sich unsere Theorie - ich meine nicht bloß die Rechtsphilosophie, sondern auch unsere positive Jurisprudenz - hat zu Schulden kommen lassen. Man merkt es unserer Theorie nur zu deutlich an, daß sie mehr mit der Waage als mit dem Schwert der Gerechtigkeit zu tun hat; die Einseitigkeit des Standpunktes, von dem aus sie das Recht zu betrachten gewohnt ist, und der sich kurz darin zusammenfassen läßt, daß ihr das Recht nicht als Machtbegriff, sondern als abstrakte Ordnung des Lebens erscheint, hat meines Erachtens ihrer ganzen Auffassung von Recht einen einseitigen Charakter aufgedrückt, wie ich dies im Folgenden hoffe nachweisen zu können.

Zwei Richtungen sind es, nach denen wir den Kampf ums Recht verfolgen müssen, sie sind uns bezeichnet durch den Doppelsinn des Wortes: Recht - das Recht im objektiven und das Recht im subjektiven Sinn. Nach der ersten Richtung ist es der Kampf, der die Entstehung, Bildung, den Fortschritt des abstrakten Rechts in der Geschichte begleitet, nach der zweiten ist es der Kampf um die Verwirklichung der konkreten Rechte.

Der Kampf beim Werden des Rechts! Ist denn das Recht bei seiner Entstehung einem solchen Kampf ausgesetzt? Die herrschende SAVIGNY-PUCHTAsche Theorie von der Entstehung des Rechts weiß davon nichts zu berichten. Ihr zufolge geht die Bildung des Rechts so ganz schmerzlos vor sich, wie die der Sprache oder der Kunst, es bedarf keines Ringens, Kämpfens, ja nicht einmal des Suchens, sondern es ist die still wirkende Kraft der Wahrheit, welche sich ohne gewaltsame Anstrengung langsam, aber sicher Bahn bricht, die Macht der Überzeugung, der sich allmählich die Gemüter erschließen, und der sie durch ihr Handeln Ausdruck geben - ein neuer Rechtssatz tritt ebenso mühelos ins Dasein, wie irgendeine Regel der Sprache. Der Satz, daß der Gläubiger den zahlungsunfähigen Schuldner als Sklaven in auswärtige Knechtschaft verkaufen kann, oder daß der Eigentümer seine Sache von Jedem vindizieren [Herausgabe verlangen - wp] kann, bei dem er sie trifft, würde sich dieser Ansicht zufolge im alten Rom in kaum anderer Weise gebildet haben, wie die Regel, daß  cum  den Ablativ regiert.

Das ist die Anschauung von der Entstehung des Rechts, mit der ich selber seiner Zeit die Universität verlassen, und unter deren Einfluß ich noch viele Jahre hindurch gestanden habe. Hat dieselbe auf Wahrheit Anspruch? Es muß zugegeben werden, daß auch das Recht, ganz wie die Sprache oder Kunst, eine ungestörte, nennen wir sie mit dem hergebrachten Ausdruck: organische, Entwicklung von Innen heraus kennt. Ihr gehören alle diejenigen Rechtssätze an, welche sich aus der gleichmäßigen autonomischen Abschließung der Rechtsgeschäfte im Verkehr nach und nach ablagern, sowie all diejenigen Abstraktionen, Konsequenzen, Regeln, welche die Wissenschaft aus dem vorhandenen Recht mittels der Dialektik des Begriffs erschließt und zu Bewußtsein bringt. Aber die Macht dieser beiden Faktoren: des Verkehrs wie der Wissenschaft, ist eine beschränkte, sie kann innerhalb der vorhandenen Bahnen die Bewegung regulieren, fördern, aber sie kann die Dämme nicht einreißen, die dem Strom verwehren, eine neue Richtung einzuschlagen. Das kann nur das Gesetz, d. h. die absichtliche, auf dieses Ziel gerichtete Tat der Staatsgewalt, und es ist daher nicht Zufall, sondern eine im Wesen des Rechts tief begründete Notwendigkeit, daß alle eingreifenden Reformen des Prozesses und materiellen Rechts auf Gesetze zurückweisen. Nun kann zwar eine Änderung, welche das Gesetz am bestehenden Recht trifft, ihren Einfluß möglicherweise ganz auf letzteres: auf die Region des Abstrakten, beschränken, ohne ihre Wirkungen bis in die Region der konkreten Verhältnisse hinab zu erstrecken, die sich aufgrund des bisherigen Rechts gebildet hatten, - eine bloße Änderung der Rechtsmaschinerie, bei der eine untaugliche Schraube oder Walze durch eine vollkommenere ersetzt wird. Sehr häufig ist aber bekanntlich das Gegenteil der Fall, und die Änderung läßt sich nur um den Preis eines höchst empfindlichen Eingriffs in vorhandene Rechte und Privatinteressen erreichen. Mit dem bestehenden Recht haben sich im Laufe der Zeit die Interessen von Tausenden von Individuen und ganzer Stände in einer Weise verbunden, daß dasselbe sich nicht beseitigen läßt, ohne letztere in empfindlichster Weise zu gefährden - den Rechtssatz oder die Einrichtung aufheben wollen, heißt an allen diesen Interessen den Krieg erklären, einen Polypen losreißen, der sich mit tausend Armen festgeklammert hält. Jeder solche Versuch ruft also in naturgemäßer Betätigung des Selbsterhaltungstriebes den heftigsten Widerstand der bedrohten Interessen, und damit einen Kampf hervor, bei dem, wie bei jedem Kampf, nicht das Gewicht der Gründe, sondern das Machtverhältnis der sich gegenüberstehenden Kräfte den Ausschlag gibt und damit nicht selten dasselbe Resultat hervorruft, wie beim Parallelogramm der Kräfte: eine Ablenkung von der ursprünglichen Linie in die Diagonale. Nur so wird es erklärlich, daß Einrichtungen, über welche das öffentliche Urteil längst den Stab gebrochen hat, oft noch lange ihr Leben zu fristen vermögen; es ist nicht die  vis inertiae  [Kraft der Trägheit - wp], die es ihnen erhält, sondern die Widerstandskraft der bei ihrem Bestand beteiligten Interessen.

In allen solchen Fällen nun, wo das bestehende Recht diesen Rückhalt am Interesse findet, ist es ein Kampf, den das Neue zu bestehen hat, um sich den Eingang zu erzwingen, ein Kampf, der sich oft über ein ganzes Jahrhundert hinzieht. Den höchsten Grad der Intensivität erreicht derselbe dann, wenn die Interessen die Gestalt erworbener Rechte angenommen haben. Hier stehen sich zwei Parteien gegenüber, von denen jede die Heiligkeit des Rechts in ihrem Panier führt, die eine die des historischen Rechts, des Rechts der Vergangenheit, die andere die des ewig werdenden und sich verjüngenden Rechts, des ewigen Urrechts der Menschheit auf das Werden - ein Konfliktsfall der Rechtsidee mit sich selber, der in Bezug auf die Subjekte, die ihre ganze Kraft und ihr ganzes Sein für ihre Überzeugung eingesetzt haben und schließlich dem Gottesurteil der Geschichte erliegen, etwas wahrhaft Tragisches hat. Alle großen Errungenschaften, welche die Geschichte des Rechts zu registrieren hat: die Aufhebung der Sklaverei, der Leibeigenschaft, die Freiheit des Grundeigentums, der Gewerbe, die Glaubensfreiheit usw., haben auf diesem Weg des heftigsten, oft Jahrhunderte lang fortgesetzten Kampfes gewonnen werden müssen; nicht selten bezeichnen Ströme von lut, überall aber zertretene Rechte den Weg, den das Recht dabei zurückgelegt hat. Denn "das Recht ist der Saturn, der seine eigenen Kinder verspeist"; (1) das Recht kann sich nur dadurch verjüngen, daß es mit seiner eigenen Vergangenheit aufräumt. Ein konkretes Recht, das, weil es einmal entstanden ist, unbegrenzte, also ewige Fortdauer beansprucht, ist das Kind, das seinen Arm gegen die eigene Mutter erhebt; es verhöhnt die Idee des Rechts, indem es sich auf sie beruft, denn die Idee des Rechts ist ewiges Werden, das Gewordene aber muß dem neuen Werden weichen, denn
    - - Alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zugrunde geht.
So vergegenwärtigt uns also das Recht in seiner historischen Bewegung das Bild des Suchens, Ringens, Kämpfens, kurz der gewaltsamen Anstrengung. Dem menschlichen Geist, der unbewußt an der Sprache seine Bildnerarbeit vollzieht, stellt sich kein gewaltsamer Widerstand entgegen, und die Kunst hat keinen anderen Gegner zu überwinden als ihre eigene Vergangenheit: den herrschenden Geschmack. Aber das Recht als Zweckbegriff, mitten hineingestellt in das chaotische Getriebe menschlicher Zwecke, Bestrebungen, Interessen, muß unausgesetzt tasten, suchen, um den richtigen Weg zu finden, und, wenn es ihn entdeckt hat, kämpfen und Gewalt anwenden, um ihn wirklich zu beschreiten. So zweifellos es ist, daß auch diese Entwicklung, ganz so wie die der Kunst und Sprache, eine gesetzmäßige, einheitliche ist, so sehr weicht sie doch eben in der Art und Form, wie sie stattfindet, von der letzteren ab, und wir müssen daher in  diesem  Sinn die von SAVIGNY aufgebrachte und so rasch zur allgemeinen Geltung gelangte Parallele zwischen dem Recht auf der einen, und der Sprache und Kunst auf der anderen Seite entschieden zurückweisen. Als theoretische Ansicht falsch, aber ungefährlich, enthält sie als politische Maxime eine der verhängnisvollsten Irrlehren, die sich denken lassen, denn sie vertröstet den Menschen auf einem Gebiet, wo er  handeln  soll, und mit vollem, klarem Bewußtsein des Zwecks und mit Aufbietung all seiner Kräfte handeln soll, darauf, daß die Dinge sich von selber machen, daß er am besten tut, die Hände in den Schoß zu legen und vertrauensvoll abzuwarten, was aus dem Urquell des Rechts: der nationalen Rechtsüberzeugung, nach und nach ans Tageslicht tritt. Daher die Abneigung SAVIGNYs und aller seiner Jünger gegen das Einschreiten der Gesetzgebung (2), daher das gänzliche Verkennen der wahren Bedeutung der Gewohnheit in der PUCHTAschen Theorie des Gewohnheitsrechts. Die Gewohnheit ist für PUCHTA nichts als ein bloßes Erkenntnismittel der rechtlichen Überzeugung; daß diese Überzeugung sich selber erst bildet, indem sie  handelt,  daß sie erst durch dieses  Handeln  ihre Kraft, und damit ihren Beruf bewährt, das Leben zu beherrschen - kurz, daß auch für das Gewohnheitsrecht der Satz gilt: das Recht ist ein Machtbegriff -, dafür war das Auge dieses hervorragenden Geistes völlig verschlossen. Er zahlte damit nur der Zeit seinen Tribut. Denn die Zeit war die der romantischen Periode in unserer Poesie, und wer nicht zurückschrickt vor der Übertragung des Begriffs des Romantischen auf die Jurisprudenz, und sich die Mühe nehmen will, die entsprechenden Richtungen auf beiden Gebieten miteinander zu vergleichen, wird mir vielleicht nicht Unrecht geben, wenn ich behaupte, daß die historische Schule ebensogut die  romantische  genannt werden könnte. Es ist eine wahrhaft romantische, d. h. auf einer falschen Idealisierung vergangener Zustände beruhende, Idee, daß das Recht sich schmerzlos, mühelos, tatenlos bildet, wie die Pflanze des Feldes; die rauhe Wirklichkeit lehrt uns das Gegenteil, und nicht bloß das kleine Stück derselben, das wir selber vor Augen haben, und das uns fast überall die gewaltsamsten Anstrengungen der Völker in Bezug auf die Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse vorführt - Fragen der eingreifendsten Art, von denen die eine die andere drängt -, sondern der Eindruck bleibt derselbe, wohin unsere Blicke in die Vergangenheit zurückschweifen lassen. So bleibt für die SAVIGNYsche Theorie lediglich die vorgeschichtliche Zeit, über die uns alle Nachrichten fehlen. Aber wenn es einmal verstattet sein soll, über sie Vermutungen zu äußeren, so setze ich der SAVIGNYschen, welche sie zum Schauplatz jener harmlosen, friedlichen Bildung des Rechts aus dem Innern der Volksüberzeugung heraus ausersehen hat, die meinige, ihr diametral entgegengesetzte gegenüber, und man wird mir zugestehen müssen, daß sie zumindest die Analogie der sichtbaren historischen Entwicklung des Rechts für sich hat, und wie ich meinerseits glaube, auch den Vorzug einer größeren psychologischen Wahrscheinlichkeit. Die Urzeit! Es war einmal Mode, sie auszustatten mit allen schönen Eigenschaften: Wahrheit, Offenheit, Treue, kindlichem Sinn, frommem Glauben und auf einem solchen Boden würde sicherlich auch ein Recht haben gedeihen können ohne eine weitere Triebkraft als die Macht der rechtlichen Überzeugung; der Faust des Schwertes hätte es nicht bedurft. Aber heutzutage weiß jeder, daß die fromme Urzeit die gerade entgegengesetzten Züge an sich trug, und die Supposition, daß sie auf leichtere Weise zu ihrem Recht gekommen ist als alle späteren Zeitalter, dürfte schwerlich noch auf einen Glauben rechnen können. Ich meinerseits bin der Überzeugung, daß die Arbeit, die sie daran hat setzen müssen, eine noch viel härtere gewesen ist und daß selbst die einfachsten Rechtssätze, wie z. B. die oben genannten aus dem ältesten römischen Recht über die Befugnis des Eigentümers, seine Sache von jedem Besitzer zu vindizieren, und des Gläubigers, den zahlungsunfähigen Schuldner in auswärtige Knechtschaft zu verkaufen, erst in einem wilden Kampf haben erstritten werden müssen, bevor sie wirklich feststanden, und jeder sich ihnen fügte. Doch wie dem auch sei, wir sehen ab von der Urzeit; die Auskunft, welche die urkundliche Geschichte uns über die Entstehung des Rechts erteilt, kann uns genügen, diese Auskunft aber lautet: die Geburt des Rechts ist wie die des Menschen regelmäßig begleitet von heftigen Geburtswehen.

Und daß sie es ist, sollen wir es beklagen? Gerade der Umstand, daß das Recht den Völkern nicht mühelos zufällt, daß sie darum haben ringen und streiten, kämpfen und bluten müssen, gerade dieser Umstand knüpft zwischen ihnen und ihrem Recht ein Band, ganz so fest, wie der Einsatz des eigenen Lebens bei der Geburt zwischen der Mutter und dem Kind. Ein mühelos gewonnenes Recht steht auf einer Linie mit den Kindern, die der Storch gebracht hat; was der Storch gebracht hat, kann der Fuchs oder der Geier wieder holen. Aber der Mutter, die das Kind geboren hat, holt er es nicht, und ebensowenig einem Volk Rechte und Einrichtungen, die es in schwerer, harter, blutiger Arbeit errungen hat. Man darf geradezu behaupten: die Energie der Liebe, mit der ein Volk seinem Recht anhängt und es behauptet, bestimmt sich nach dem Einsatz an Mühe und Anstrengung, um des es dasselbe erworben hat. Nicht die Gewohnheit, sondern das Opfer ist das feste Band, welches das Volk an sein Recht kettet, und welchem Volk Gott wohl will, dem  schenkt  er nicht das Recht, noch  erleichtert  er ihm die Arbeit, sondern dem  erschwert  er dieselbe. Der Kampf, den das Recht erfordert, ist nicht ein Fluch, sondern ein Segen.



Ich wende mich nunmehr dem zweiten Teil meines Vortrages zu: dem Kampf um das konkrete Recht zum Zweck seiner Behauptung von Seiten des Berechtigten. Derselbe wird hervorgerufen durch die Verletzung, Vorenthaltung, Mißachtung desselben von Seiten eines Andern. Da kein Recht, weder das der Individuen noch das der Völker, gegen diese Gefahr geschützt ist, so ergibt sich daraus, daß sich dieser Kampf in Sphären des Rechts wiederholen kann: in den Niederungen des Privatrechts wie auf den Höhen des Staatsrechts und Völkerrechts. Der Krieg, der Aufruhr, die Revolution, das Lynchgesetz, die Gottesurteile, das Faust- und Fehderecht und dessen Überbleibsel in der heutigen Zeit: das Duell, schließlich die Notwehr, und der zahme Kampf: der Prozeß - was sind sie trotz aller Verschiedenheit des Streitobjekts und des Einsatzes, der Formen und der Dimensionen des Kampfes, anders als Szenen desselben Dramas: des Kampfes ums Recht? Wenn ich nun von allen diesen die nüchternste und prosaischste herausgreife: den legalen Kampf ums Privatrecht, so geschieht es nicht darum, weil gerade er für uns, die wir hier versammelt sind, das nächste Interesse hat, sondern weil eben bei ihm das wahre Sachverhältnis am meisten der Gefahr einer Verkennung ausgesetzt ist und zwar nicht etwa bloß von Seiten der Laien, sondern selbst der Juristen. In jenen anderen Fällen tritt dasselbe offen und mit voller Klarheit hervor. Daß es sich bei ihnen um Güter handelt, welche den höchsten Einsatz lohnen, begreift auch der blödeste Verstand, und niemand wird hier die Frage erheben: warum kämpfen, warum nicht lieber nachgeben? Die Großartigkeit des Schauspiels höchster menschlicher Kraftentfaltung und Aufopferung reißt unwiderstehlich jeden mit sich fort und erhebt ihn auf die Höhe einer idealen Beurteilung. Aber bei jenem privatrechtlichen Kampf steht die Sache völlig anders. Die relative Geringfügigkeit der Interessen, um die er sich dreht, regelmäßig die Frage von Mein und Dein, die unzerstörliche Prosa, die dieser Frage einmal anklebt, weist ihn, wie es scheint, ausschließlich in die Region der nüchternen Berechnung und Lebensbetrachtung, und die Formen, in denen er sich bewegt, das Mechanische derselben, die Ausschließung eines jeden freien kräftigen Hervortretens der Person ist wenig geeignet, den ungünstigen Eindruck abzuschwächen. Allerdings gab es auch für ihn eine Zeit, wo diese Formen die Person selber in die Schranken riefen und eben dadurch die wahre Bedeutung des Kampfes zu einem klaren Ausdruck brachten. Als noch das Schwert den Streit um Mein und Dein entschied, als der Ritter des Mittelalters dem andern den Fehdebrief schickte, mochte auch der Unbeteiligte zu der Ahnung gedrängt werden, daß es sich bei diesem Kampf nicht bloß um den Wert der Sache handelt, um die Abwehr eines pekuniären Verlustes, sondern daß in der Sache die Person sich selber, ihr Recht und ihre Ehre behauptet.

Doch wir werden nicht nötig haben, längst entschwundene Zustände heraufzubeschwören, um ihnen die Deutung dessen zu entnehmen, was heute, wenn auch der Form nach anders, doch der Sache nach ganz ebenso ist, wie damals. Ein Blick auf die Erscheinungen unseres heutigen Lebens und die psychologische Selbstbeobachtung werden uns ganz dieselben Dienste tun.

Mit der Verletzung des Rechts tritt an jeden Berechtigten die Frage heran: ob er es behaupten, dem Gegner Widerstand leisten, also kämpfen, oder ob er es im Stich lassen, ihm weichen will; den Entschluß darüber nimmt ihm niemand ab. Wie derselbe auch ausfallen mag, in beiden Fällen ist er mit einem Opfer verbunden, im einen wird das Recht dem Frieden, im andern der Friede dem Recht geopfert. Die Frage scheint sich demnach dahin zuzuspitzen: welches Opfer nach den individuellen Verhältnissen des Falles und der Person das erträglichere ist. Der Reiche wird des Friedens willen den für ihn unbedeutenden Streitbetrag, der Arme, für den dieser Betrag ein verhältnismäßig bedeutender ist, seinetwegen den Frieden daran geben. So würde also die Frage vom Kampf ums Recht zu einem reinen Rechenexempel gestalten, bei dem Vorteile und Nachteile auf beiden Seiten gegeneinander abgewogen werden und danach der Entschluß bestimmt wird.

Daß dies nun in Wirklichkeit keineswegs der Fall ist, weiß jeder von Ihnen. Die tägliche Erfahrung zeigt uns Prozesse, bei denen der Wert des Streitobjekts außer allem Verhältnis steht zum voraussichtlichen Aufwand an Mühe, Aufregung, Kosten. Wem ein Thaler ins Wasser gefallen ist, der wird nicht zwei daran setzen, ihn wieder zu erlangen - hier ist die Frage, wieviel er daran wenden soll, in der Tat ein reines Rechenexempel. Warum stellt er aber dasselbe Rechenexempel nicht bei seinem Prozeß an? Man sage nicht: er rechnet auf den Gewinn desselben und erwartet, daß die Kosten auf seinen Gegner fallen werden. Jeder von Ihnen weiß, daß selbst die sichere Aussicht, den Sieg teuer bezahlen zu müssen, manche Parteien vom Prozeß nicht abhält; wieviele von Ihnen werden bereits als Erwiderung auf Ihre Vorstellungen von der Partei die Antwort erhalten haben: sie wolle den Prozeß führen, koste es was es wolle. Was ist es denn, das eine solche Hartnäckigkeit erklärt? Die gangbare Antwort ist bekannt: die Prozeßsucht. Und wie ließe sich auch eine solche, vom Standpunkt einer verständigen Interessenberechnung geradezu unsinnige Handlungsweise anders erklären als durch eine solche Streitsucht? Es ist die Lust am Streit, der unwiderstehliche Drang, dem Gegner weh zu tun, selbst auf die Gewißheit hin, dies ganz so teuer, vielleicht noch teurer bezahlen zu müssen als er selber.

Lassen wir einmal den Streit der beiden Leute, setzen wir an ihre Stelle zwei Völker. Das eine hat dem anderen widerrechtlich eine Stadt entzogen, oder sagen wir: eine Quadratmeile öden wertlosen Landes; soll letzteres den Krieg beginnen? Betrachten wir die Frage ganz von demselben Standpunkt, wie die Theorie der Prozeßsuch sie bei dem Bauern beurteilt, dem der Nachbar einige Fuß von seinem Acker abgepflügt oder Steine auf sein Feld geworfen hat. Was bedeutete eine Quadratmeile öden Landes gegen einen Krieg, der Tausenden das Leben kosten, Kummer und Elend in Hütten und Paläste bringen und dem Staatsschatz Millionen und Milliarden kosten kann! Welche Torheit, um so ein Projekt einen Krieg zu beginnen! So müßte das Urteil lauten, wenn der Bauer und das Volk mit demselben Maß gemessen würden. Gleichwohl wird aber niemand dem Volk denselben Rat erteilen wolen, wie dem Bauern. Jeder fühlt, daß ein Volk, welches zu einer solchen Rechtsverletzung schweigen würde, sein Todesurteil besiegelt hat. Einem Volk, dem man ungestraft eine Quadratmeile entziehen kann, wird man auch die übrigen nehmen, bis es gar nichts mehr hat, und dasselbe verdient es auch nicht anders. Aber wenn demnach das Volk sich wehren soll wegen der Quadratmeile, warum nicht auch der Bauer wegen des Streifens Land? Oder sollen wir ihn mit dem Spruch abfertigen:  quod licet Jovi, non licet bovi?  [Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt. - wp]

So wenig das Volk der bloßen Quadratmeile, sondern seiner selbst willen, seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit wegen kämpft, so wenig handelt es sich in allen jenen Prozessen, in denen das oben erwähnte schreiende Mißverhältnis zwischen dem Wert des Streitobjekts und den voraussichtlichen Kosten und sonstigen Opfern stattfindet, um das geringfügige Streitobjekt, sondern um einen idealen Zweck: um die Behauptung der Person selber und ihres Rechtsgefühls, und ihm gegenüber fallen in den Augen des Berechtigten alle Opfer und Unanehmlichkeiten, die der Prozeß in seinem Gefolge haben wird, nicht weiter ins Gewicht - der Zweck lohnt sich für ihn der Mittel. Nicht das Interesse ist es, das den Verletzten antreibt, den Prozeß zu erheben, sondern der moralische Schmerz über das erlittene Unrecht; nicht darum ist es ihm zu tun, bloß das Objekt wieder zu erlangen - er hat es vielleicht, wie dies oft in solchen Fällen zur Konstatierung des wahren Prozeßmotivs geschieht, von vornherein der Armenanstalt gewidmet -, sondern darum, sein Recht zur Anerkennung zu bringen. Eine innere Stimme sagt ihm, daß er nicht zurücktreten darf, daß es sich nicht um das wertlose Objekt, sondern um sein Rechtsgefühl, seine Selbstachtung, seine Persönlichkeit handelt - kurz, der Prozeß gestaltet sich für ihn aus einer bloßen  Interessenfrage  zu einer  Charakterfrage. 

Nun zeigt aber die Erfahrung nicht minder, daß manche Andere in der gleichen Lage die gerade entgegengesetzte Entscheidung treffen - der Frieden ist ihnen lieber als das unbedeutende Recht. Wie sollen wir uns nun mit unserem Urteil dieser Verschiedenheit der beiderseitigen Handlungsweise gegenüber verhalten, sollen wir einfach sagen: das ist Sache des individuellen Geschmacks und Temperaments, der Eine ist streitsüchtiger, der Andere friedfertiger, vom Standpunkt des Rechs aus ist beides in gleicher Weise zu respektieren, denn das Recht überläßt ja dem Berechtigten die Wahl, ob er sein Recht geltend machen oder im Stich lassen will? Ich halte diese Ansicht, der man bekanntlich im Leben nicht selten begegnet, für eine höchst verwerfliche, dem innersten Wesen des Rechts widerstreitende; wäre es denkbar, daß sie irgendwo die allgemeine würde, es wäre um das Recht selber geschehen, denn während das Recht zu seinem Bestehen den mannhaften Widerstand gegen das Unrecht nötig hat, predigt sie die feige Flucht vor demselben. Ich setze ihr gegenüber den Satz: Der Widerstand gegen das Unrecht ist Pflicht, Pflicht des Berechtigten gegen sich selber - denn es ist ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung -, Pflicht gegen das Gemeinwesen - denn er muß, um erfolgreich zu sein, ein allgemeiner sein. Mit diesen beiden Behauptungen habe ich die Aufgabe bezeichnet, für die ich mir im Folgenden Ihre Aufmerksamkeit erbitte.



Der Kampf ums Recht ist eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst. 

Die Behauptung der eigenen Existenz ist das höchste Gesetz der ganzen belebten Schöpfung; im Trieb der Selbsterhaltung gibt es sich kund in jeder Kreatur. Für den Menschen aber handelt es sich nicht bloß um das physische Leben, sondern um seine moralische Existenz, die Bedingung derselben aber ist das Recht. Im Recht besitzt und verteidigt der Mensch seine moralische Existenzialbedingung - ohne das Recht sinkt er auf die Stufe des Tieres herab (3), wie dann ja die Römer ganz konsequenterweise die Sklaven vom Standpunkt des abstrakten Rechts aus auf  eine  Stufe mit den Tieren stellten. Die Behauptung des Rechts ist demnach eine Pflicht der moralischen Selbsterhaltung - die gänzliche Aufgabe desselben, wie sie zwar jetzt nicht mehr, aber einst möglich war, der moralische Selbstmord. Das Recht ist aber nur die Summe seiner einzelnen Institute, jedes derselben enthält eine eigentümliche moralische Existenzialbedingung: das Eigentum so gut wie die Ehe, der Vertrag so gut wie die Ehre - ein Verzicht auf eine einzelne derselben ist daher rechtlich ebenso unmöglich, wie ein Verzicht auf das gesamte Recht. Aber was allerdings möglich ist, das ist ein Angriff eines Andern auf eine dieser Bedingungen, und dieser Angriff muß vom Subjekt zurückgeschlagen werden. Denn mit der bloßen abstrakten Gewährung dieser Lebensbedingungen von Seiten des Rechts ist es nicht getan, sie müssen vom Subjekt behauptet werden, den Anlaß dazu aber gibt die Willkür, wenn sie es wagt, sie anzutasten.

Aber nicht jedes Unrecht ist Willkür, d. h. eine Auflehnung gegen die Idee des Rechts. Der Besitzer einer Sache, der sich für den Eigentümer hält, negiert in meiner Person nicht die Idee des Eigentums, er ruft sie vielmehr für sich selber an; der Streit zwischen uns beiden dreht sich bloß darum, wer von uns der Eigentümer ist. Aber der Dieb und der Räuber stellen sich außerhalb des Rechtsbereichs des Eigentums, sie negieren in meinem Eigentum zugleich die Idee desselben, und damit eine wesentliche Existenzialbedingung meiner Person. Man denke sich ihre Handlungsweise als eine allgemeine, als Maxime des Rechts, und das Eigentum ist praktisch und prinzipiell negiert. Darum enthält ihre Tat nicht bloß einen Angriff gegen meine Sache, sondern gegen meine Person, und wenn es einmal meine Pflicht ist, letztere zu behaupten, so gilt dies auch für diesen Fall, und nur der Konflikt dieser Pflicht mit der höheren der Erhaltung meines Lebens, wie er in dem Fall eintritt, wenn mir der Räuber die Alternative zwischen Leben und Geld stellt, kann eine Modifikation begründen. Aber abgesehen von diesem Fall ist es meine Pflicht, diese Mißachtung des Rechs in meiner Person mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen, durch eine Duldung derselben statuiere ich einen einzelnen Moment der Rechtlosigkeit in meinem Leben, und dazu darf niemand selber die Hand bieten. Dem gutgläubigen Besitz meiner Sache gegenüber befinde ich mich in einer völlig anderen Lage; hier ist die Frage, was ich zu tun habe, keine Frage meines Rechtsgefühls, meines Charakters, meiner Persönlichkeit, sondern eine reine Interessenfrage, denn es steht hier für mich nichts auf dem Spiel als der Wert der Sache, und da ist es vollkommen gerechtfertigt, daß ich Gewinn und Einsatz und die Möglichkeit eines doppelten Ausgangs gegeneinander abwäge und danach meinen Entschluß treffe: den Prozeß erhebe, von ihm abstehe oder mich vergleiche. Der Vergleich ist der Koinzidenzpunkt einer derartigen, von beiden Seiten angestellten Wahrscheinlichkeitsberechnung und unter den Prämissen, wie ich sie hier voraussetze, das richtigste Lösungsmittel des Streits. Wenn er dennoch oft so schwer zu erzielen ist, ja wenn beide Parteien nicht selten von vornherein alle Vergleichsunterhandlungen ablehnen, so hat dies nicht bloß darin seinen Grund, daß die beiderseitigen Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu weit auseinandergehen, um sich treffen zu können, sondern daß jeder der streitenden Teile beim andern bewußtes Unrecht, böse Absicht voraussetzt. Damit nimmt die Frage, wenn sie sich prozessualisch auch in den Formen des objektiven Unrechts bewegt (reivindicatio), dennoch psychologisch für die Partei ganz dieselbe Gestalt an, wie im obigen Fall: die einer bewußten Rechtskränkung, und vom Standpunkt des Subjekts aus ist die Hartnäckigkeit, mit der dasselbe hier den Angriff auf sein Recht zurückweist, ganz so motiviert und sittlich gerechtfertigt wie dem Dieb gegenüber. In einem solchen Fall die Partei durch einen Hinweis auf die Kosten und sonstigen Folgen des Prozesses und die Unsicherheit des Ausgangs von demselben abschrecken zu wollen, ist ein psychologischer Mißgriff, denn die Frage ist für sie keine Frage des Interesses, sondern des Rechtsgefühls; der einzige Punkt, bei dem sich mit Erfolg der Hebel ansetzen läßt, ist die Voraussetzung der schlechten Absicht des Gegners, durch welche die Partei sich leiten läßt; gelingt es,  sie  zu bekämpfen, so ist der eigentliche Nerv des Widerstands durchschnitten, und die Partei der Betrachtung der Sache unter dem Gesichtspunkt des Interesses und damit dem Vergleich zugänglich gemacht. Welchen hartnäckigen Widerstand die Voreingenommenheit der Partei oft allen solchen Versuchen entgegenstellt, weiß niemand besser als Sie, und ich glaube mich ihrer Zustimmung versichert zu halten, wenn ich behaupte, daß diese Unzulänglichkeit, diese psychologische Tenazität [Beharrlichkeit - wp] des Mißtrauens nicht etwas rein Individuelles, durch den sonstigen Charakter der Person Bedingtes ist, sondern daß dafür die allgemeinen Gegensätze der Bildung und des Berufs maßgebend sind. Am unüberwindlichsten ist dieses Mißtrauen beim Bauern, und die sogenannte Prozeßsucht, deren man ihn beschuldigt, ist nichts als das Produkt zweier ihm gerade vorzugsweise eigentümlicher Faktoren: eines starken Eigentumssinns, um nicht zu sagen des Geizes, und des Mißtrauens. Kein Anderer versteht sich so gut auf sein Interesse und hält das, was er hat, so fest wie der Bauer, und doch opfert bekanntlich niemand so leicht wie er Hab und Gut eine Prozeß. Scheinbar ein Widerspruch, in Wirklichkeit ganz erklärlich. Denn gerade sein stark entwickelter Eigentumssinn macht den Schmerz einer Verletzung desselben für ihn nur umso empfindlicher, und damit die Reaktion umso heftiger. Die Prozeßsucht des Bauern ist nichts als die durch das Mißtrauen bewirkte Verirrung des Eigentumssinns, eine Verirrung, die wie die analoge Erscheinung in der Liebe: die Eifersucht, ihre Spitze gegen sich selber kehrt, indem sie gerade das, was sie zu retten sucht, im Erfolg zerstört.

Eine interessante Bestätigung zu dem, was ich so eben gesagt habe, bietet das altrömische Recht. Da ist jenes Mißtrauen des Bauern, welches bei jedem Rechtskonflikt eine böse Absicht des Gegners wittert, geradezu in Form von Rechtssätzen ausgeprägt. Überall, auch wo es sich um einen Fall des objektiven Unrechts handelt, die Folge des subjektiven, d. h. eine Strafe für den unterliegenden Teil. Dem gereizten Rechtsgefühl geschieht durch die einfache Wiederherstellung des Rechts selber kein Genüge, sondern es verlangt noch eine besondere Genugtung dafür, daß der Gegner, schuldig oder unschuldig, unserem Recht zu nahe getreten ist. (4) Hätten unsere heutigen Bauern das Recht zu machen, es würde mutmaßlich ebenso lauten, wie das ihrer altrömischen Standesgenossen, aber schon in Rom ist das Mißtrauen im Recht durch die Kultur mittels der Scheidung der zwei Arten des Unrechts: des verschuldeten und des unverschuldeten, oder des subjektiven und objektiven, (in HEGELscher Sprache des unbefangenen) prinzipiell überwunden worden.

Dieser Gegensatz ist für die Frage, die mich hier beschäftigt: vom Verhalten des in seinem Recht Verletzten dem Unrecht gegenüber, nur von sekundärer Bedeutung. Er drückt die Art aus, wie das  Recht  die Sache ansieht, und er bestimmt die Folgen, welche das Unrecht nach sich zieht. Aber für die Auffassung des  Subjekts,  für die Art, wie dessen Rechtsgefühl, das nicht nach den Begriffen des Systems pulsiert, durch ein ihm widerfahrenes Unrecht irritiert wird, ist derselbe in keiner Weise maßgebend. Die Umstände des besonderen Falls können von der Art sein, daß der Berechtigte allen Grund hat, bei einem Rechtskonflikt, der dem Recht zufolge unter den Gesichtspunkt der objektiven Rechtsverletzung fällt, von der Unterstellung einer bösen Absicht, des bewußten Unrechts auf Seiten seines Gegners auszugehen, und für sein Verhalten ihm gegenüber wird dieses sein Urteil mit vollem Recht den Ausschlag geben. Daß das Recht mir gegen den Erben meines Schuldners, der um die Schuld nicht weiß und seine Zahlung von dem Beweis derselben abhängig macht, dieselbe  condictio ex mutuo  [Rückforderungsklage - wp] gibt, wie gegen den Schuldner selber, der schamloserweise das gegebene Darlehen in Abrede stellt oder grundlos die Rückgabe verweigert, wird mich nicht abhalten, die Handlungsweise beider in ganz verschiedenem Licht zu erblicken und danach die meinige einzurichten. Der Schuldner selber steht für mich auf einer Linie mit dem Dieb, er versucht, mich wissentlich um das Meinige zu bringen, es ist die Willkür, die sich gegen das Recht auflehnt, nur daß sie vor dem Richter in einem anderen Gewand erscheint, und die ich ganz so bekämpfen muß wie in der Person des Diebes. Der Erbe des Schuldners dagegen steht dem gutgläubigen Besitzer einer Sache gleich, er negiert nicht den Satz, daß der Schuldner zahlen muß, sondern nur die Behauptung, daß er selber Schuldner ist und alles, was ich oben von jenem gesagt habe, gilt auch von ihm. Mit  ihm  mag ich mich vergleichen, von der Erhebung des Prozesses ganz absehen, aber dem Schuldner gegenüber soll und muß ich mein Recht verfolgen, koste es was es wolle; tue ich es nicht, so gebe ich nicht bloß  dieses  Recht, sondern  das Recht überhaupt  preis.

Ich erwarte auf meine bisherigen Ausführungen den Einwand: was weiß das Volk vom Recht des Eigentums, der Obligation als sittlicher Existenzialbedingungen der Person?  Wissen? - nein! aber ob es sie nicht dennoch als solche  fühlt,  ist eine andere Frage, und ich hoffe zeigen zu können, daß dies der Fall ist. Was weiß das Volk von der Niere, Lunge, Leber als Bedingungen des physischen Lebens? Aber den Stich in der Lunge, den Schmerz in der Niere oder Leber empfindet jeder, ohne daß er zu wissen braucht, worauf er beruth. Der physische Schmerz ist das Signal einer Störung im Organismus, der Anwesenheit eines demselben feindlichen Einflusses; er öffnet uns die Augen über eine uns drohende Gefahr und zwingt uns durch das Leiden, das er uns bereitet, ihm zeitig entgegen zu treten. Ganz dasselbe gilt vom moralischen Schmerz, den das absichtliche Unrecht, die Willkür verursacht. Von verschiedener Intensivität, ganz wie der physische, nach der Verschiedenheit der subjektiven Empfindlichkeit und der Form und dem Gegenstand der Rechtsverletzung, worüber nachher das Nähere gesagt werden wird, kündigt er sich gleichwohl in jedem Individuum, das nicht bereits völlig abgestumpft ist, d. h. sich an eine tatsächliche Rechtlosigkeit gewöhnt hat, als moralischer Schmerz an und fordert eben damit zur Bekämpfung der Ursache auf, die ihm denselben bereitet - nicht sowohl, um dem Gefühl des Schmerzes selber ein Ende zu machen, sondern um die Gesundheit, die durch das untätige Erdulden desselben bedroht wird, zu erhalten. Es ist dieselbe Mahnung an die Pflicht der moralischen Selbsterhaltung, wie sie der physische Schmerz in Bezug auf die physische Selbsterhaltung erhebt. Nehmen wir den zweifellosesten Fall, den der Ehrverletzung, und den Stand, in dem das Gefühl für Ehre am empfindlichsten ausgebildet ist, den Offiziersstand. Ein Offizier, der eine Ehrenbeleidigung geduldig ertragen hat, ist als solcher unmöglich geworden. Warum? Die Behauptung der Ehre ist Pflicht eines jeden, warum akzentuiert dann der Offiziersstand in gesteigerter Weise die Erfüllung dieser Pflicht? Weil er das richtige Gefühl hat, daß ein Stand, der seiner Natur nach die Verkörperung des persönlichen Mutes sein soll, Feigheit nicht dulden kann, ohne sich selbst den Preis zu geben, die mutige Behauptung der Persönlichkeit also eine moralische Lebensbedingung seiner Stellung und seines Berufes ist. Dagegen stelle man unseren Bauern, der mit aller Hartnäckigkeit sein Eigentum verteidigt; warum tut er dasselbe nicht auch in Bezug auf seine Ehre? Eben weil auch er ein richtiges Gefühl seiner eigentümlichen Existenzialbedingungen hat. Sein Beruf verweist ihn nicht auf den Mut, sondern auf die Arbeit, sein Eigentum ist aber nichts als die sichtbare Gestalt seiner Arbeitsvergangenheit; ein fauler Bauer, der seinen Acker nicht instandhält oder leichtsinnig das Seinige durchbringt, ist bei seinen Standesgenossen ebenso verachtet wie ein Offizier, der nicht auf seine Ehre hält, bei Seinesgleichen, währen kein Bauer dem andern daraus einen Vorwurf machen wird, daß er wegen einer Beleidigung keine Schlägerei oder keinen Prozeß begonnen hat, kein Offizier dem andern daraus, daß er kein guter Wirt ist. Für den Bauern ist das Grundstück, das er bebaut, und das Vieh, das er zieht, die Basis seiner ganzen Existenz, und gegen den Nachbarn, der ihm einige Fuß davon abpflügt oder den Händler, der ihm für seinen Ochsen das Geld vorenthält, beginnt er in seiner Weise, d. h. in Form eines mit erbitterster Leidenschaft geführten Prozesses, ganz denselben Kampf um sein Recht, den der Offizier mit dem Degen in der Faust ausmacht. Beide opfern sich dabei mit voller Rücksichtslosigkeit - die Folgen kommen für sie gar nicht in Betracht. Und sie müssen es tun, beide gehorchen damit nur dem eigentümlichen Gesetz ihrer moralischen Selbsterhaltung. Man setze dieselben Leute auf die Geschworenenbank und lasse das eine Mal Offiziere über Eigentumsverbrechen, Bauern über Ehrverletzungen richten, das andere Mal tausche man die Rollen, wie verschieden werden in beiden Fällen die Urteile ausfallen! Es ist bekannt, daß es keine strengeren Richter über Eigentumsverbrechen gibt als die Bauern. Und obschon ich selber darüber keine Erfahrung habe, so möchte ich doch wetten, daß ein Richter in dem seltenen Fall, wo ihm einmal ein Bauer mit einer Beleidigungsklage kommt, mit seinen Vergleichsermahnungen ein ungleich leichteres Spiel haben wird als bei einer Klage desselben um Mein und Dein. Der altrömische Bauer nahm bei einer Ohrfeige mit 25 As vorlieb, und ihm jemand das Auge ausgeschlagen hatte, ließ er mit sich reden und verglich sich, anstatt, wie er es gedurft hätte, ihm wieder eins auszuschlagen; aber er beanspruchte vom Gesetz die Befugnis, daß er den Dieb, den er bei der Tat ertappt, als Sklaven behalten und im Fall des Widerstands niedermachen darf und das Gesetz bewilligte ihm das.

Als Dritten im Bund geselle ich noch den Kaufmann hinzu. Was dem Offiziert die Ehre, dem Bauern das Eigentum, das ist dem Kaufmann der Kredit. Die Aufrechterhaltung desselben ist für Letzteren eine Lebensfrage, und wer über ihn das Gerücht ausbreitet, daß er seine Verbindlichkeiten nicht pünktlich erfüllt hat, der trifft ihn empfindlicher als wer ihn persönlich beleidigt oder ihn bestiehlt, während der Offizier über eine derartige Beschuldigung vielleicht lachen, und der Bauer den darin liegenden Vorwurf als solchen gar nicht empfinden wird. Es entspricht dieser eigentümlichen Stellung des Kaufmanns, wenn die neueren Gesetzbücher das Verbrechen des leichtsinnigen und betrügerischen Bankbruchs mehr und mehr auf ihn und die ihm gleich stehenden Personen eingeschränkt haben.

Ich habe diese Beispiele nur hervorgehoben, weil sie die Bedeutung des von mir für den pathologischen Affekt des Rechtsgefühls aufgestellten Gesichtspunktes der moralischen Lebensbedingungen der Person mit besonderer Klarheit zur Anschauung bringen. Daß dieser Gesichtspunkt nicht bloß für das Privatrecht, sondern auch für das Strafrecht volle Geltung hat, ließe sich leicht nachweisen, muß hier aber unterbleiben; es genügt auf MONTESQUIEUs bekanntes Werk "de l'esprit des lois" Bezug zu nehmen. Eine prinzipielle Verschiedenheit in der Beurteilung mancher Verbrechen in solchen Gesetzbüchern die verschiedenen Kulturstufen und Verfassungsformen angehören, entstammt regelmäßig dem richtigen Gefühl von der Notwendigkeit, die eigentümlichen Existenzialbedingungen gerade dieses Staatswesens durch strenge Strafen zu sichern. Es wird nicht der Verwahrung bedürfen, als ob ich dadurch, daß ich den Offizier und den Bauern als die beredtesten Zeugen für meine Behauptung herangezogen habe, die Bedeutung der Ehre und des Eigentums als allgemeiner menschlicher Existenzialbedingungen habe abschwächen wollen; bei ihnen tritt das Gefühl davon nur am schärfsten hervor. In Bezug auf das Eigentum halte ich die Betonung dieses Gesichtspunktes für so nötig, daß Sie mir erlauben müssen, darüber noch einiges hinzuzufügen.

Nicht in allen Kreisen begegnen wir jenem ausgeprägten Eigentumssinn, als dessen mustergültigsten Repräsentanten ich den Bauern hingestellt habe, und gerade der Ort, an dem wir leben, dürfte dafür den besten Beleg bieten. Soll ich einmal die entgegengesetzte Anschauung in möglichster Schärfe zeichnen, so würde sie etwa so lauten. Was hat die Sache, die mein ist, mit meiner Person zu schaffen? Sie dient mir als Mittel für meine Zwecke, ein Mittel des Genusses, des Erwerbs, des Lebensunterhalts; aber so wenig es eine sittliche Pflicht für mich ist, viel Geld zu erwerben, so wenig kann es als solche gelten, wegen einer Bagatelle einen Prozeß zu beginnen, der ein schweres Geld kostet und meine Behaglichkeit stört. Das einzige Motiv, das mich bei der rechtlichen Behauptung des Vermögens zu leiten hat, ist dasselbe, das mich beim Erwerb und der Verwendung desselben bestimmt: mein Interesse - ein Prozeß um Mein und Dein ist eine reine Interessenfrage.

Und was sollen wir dieser Art der Betrachtung der Eigentumsfrage entgegensetzen? Ich erblicke darin nur ein Symptom der leichten Art, wie vielfach das Vermögen erworben wird, der Entfernung des Eigentums von seinem historischen und sittlichen Ursprung: der Arbeit. Nur an dieser Quelle ist es klar und durchsichtig bis auf den Grund, aber je weiter es sich von ihr entfernt und weiter abwärts in die Regionen des leichteren oder mühelosen Erwerbs gelangt, desto trüber wird es, bis es schließlich im Schlamm des Börsenspiels und betrügerischen Aktienschwindels jede Spur von dem, was es ursprünglich war, verloren hat. An einer solchen Stelle, wo jeder Rest von der sittlichen Idee des Eigentums abhanden gekommen ist, kann freilich von einem Gefühl der sittlichen Pflicht der Verteidigung desselben nicht mehr die Rede sein; für den Eigentumssinn, wie er in jedem lebt, der sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muß, fehlt es hier an jeglichem Verständnis. Das Schlimmste daran ist leider das, daß die durch derartige Gründe erzeugte Stimmung und Gewohnheit des Lebens sich nach und nach auch auf solche Kreise ausdehnt, in denen sie sich ohne den Kontakt mit jenen spontan nicht erzeugt haben würde (5). Den Einfluß der durch das Börsenspiel erworbenen Millionen verspürt man bis in die Hütten hinab, und derselbe Mann, der in eine andere Umgebung verpflanzt an seiner eigenen Arbeit des Segens inne geworden wäre, der auf der Arbeit ruht, empfindet sie unter dem entnervenden Druck einer solchen Atmosphäre als Fluch - der Kommunismus gedeiht nur in jenem Sumpf, in dem die Eigentumsidee sich völlig verlaufen hat, an ihrer Quelle kennt man ihn nicht. Dieser Satz, daß die Eigentumsanschauung der herrschenden Kreise nicht auf sie selber beschränkt bleibt, sondern sich auch den übrigen Klassen der Gesellschaft mitteilt, bewährt sich gerade in entgegengesetzter Richtung auf dem Land. Wer hier dauernd lebt und nicht etwa außer aller und jeder Verbindung mit dem Bauern steht, wird, auch wenn seine Verhältnisse und seine Persönlichkeit im Übrigen dem keinen Vorschub leisten, unwillkürlich Etwas vom Eigentumssinn und der Sparsamkeit des Bauern annehmen. Derselbe Durchschnittsmann, unter übrigens völlig gleichen Verhältnissen, wird auf dem Lande mit dem Bauern sparsam, in einer Stadt wie Wien mit dem Millionär Verschwender.

Woher aber nun jene Lauheit der Gesinnung stammen mag, die der Bequemlichkeit zuliebe dem Kampf um das Recht aus dem Weg geht, insofern nicht der Wert des Gegenstandes sie zum Widerstand nötigt, für uns kommt es nur darauf an, sie zu erkennen und zu bezeichnen als das, was sie ist. Die praktische Lebensphilosophie aber, welche sie predigt, was ist sie anderes als eine Politik der Feigheit? Auch der Feige, der aus der Schlacht flieht, rettet, was andere opfern: sein Leben; aber er rettet es um den Preis seiner Ehre. Nur der Umstand, daß die anderen Stand halten, schützt ihn und das Gemeinwesen gegen die Folgen, die seine Handlungsweise sonst unabwendbar nach sich ziehen müßte; dächten alle wie er, so wären sie alle verloren. Ganz dasselbe gilt von jener feigen Preisgabe des Rechts. Als Handlung eines Einzelnen unschädlich, würde sie, zur allgemeinen Maxime des Handelns erhoben, den Untergang des Rechts bedeuten. Auch in diesem Verhältnis wird der Schein der Unschädlichkeit einer solchen Handlungsweise nur dadurch möglich, daß der Kampf des Rechts gegen das Unrecht im Großen und Ganzen dadurch nicht weiter berührt wird. Denn einmal ist derselbe nicht bloß auf die Individuen gestellt, sondern im entwickelten Staatswesen beteiligt sich an ihm in ausgedehntester Weise die Staatsgewalt, indem sie alle schwereren Vergehen gegen das Recht des Individuums, sein Leben ,seine Person und sein Vermögen vor das Forum des Strafrichters verweist, - die Polizei und der Strafrichter nehmen dem Subjekt bereits das schwerste Stück Arbeit ab. Aber auch in Bezug auf diejenigen Rechtsverletzungen, deren Verfolgung ausschließlich dem Individuum überlassen bleibt, ist dafür gesorgt, daß der Kampf nie abreißt, denn nicht jeder befolgt die Politik des Feigen, und selbst Letzterer stellt sich unter die Kämpfer, wo der Wert des Gegenstandes seine Bequemlichkeit überwindet. Aber denken wir uns Zustände, wo der Rückhalt wegfällt, den das Subjekt an der Polizei und Strafrechtspflege hat, versetzen wir uns in die Zeiten, wo, wie im alten Rom, die Verfolgung des Diebes und Räubers rein Sache des Verletzten war, wer sieht nicht ein, wohin hier jene Selbstpreisgabe des Rechts hätte führen müssen? Wohin anders als zur Ermutigung der Diebe und Räuber? Und ganz dasselbe gilt auch für das Völkerleben; denn hier ist jedes Volk ganz auf sich selbst gestellt, keine höhere Macht nimmt ihm die Sorge für die Behauptung seines Rechts ab; und ich brauche nur an mein obiges Beispiel von der Quadratmeile zu erinnern, um zu zeigen, was jene Lebensanschauung, welche den Widerstand gegen das Unrecht nach dem materiellen Wwert des Streitobjekts bemessen will, für das Völkerleben bedeuten würde. Eine Maxime aber, welche überall, wo wir sie zu erproben versuchen, sich als eine völlig undenkbare, als Ruin des Rechts, erweist, kann auch da, wo ausnahmsweise ihre letalen [tödlichen - wp] Folgen durch die Gunst anderer Verhältnisse paralysiert werden, unmöglich als die richtige bezeichnet werden. Ich werde unten Gelegenheit haben, den verderblichen Einfluß, den sie selbst da ausübt, ins richtige Licht zu setzen.

Weisen wir sie also von uns: diese Moral der Bequemlichkeit, die kein Volk, kein Individuum von gesundem Rechtsgefühl je zu der seinigen gemacht hat. Sie ist das Anzeichen und das Produkt eines kranken, stumpfen, lahmen Rechtsgefühls; der krasse, nackte Materialismus auf dem Gebiet des Rechts. Auch letzterer hat auf diesem Gebiet seine volle Berechtigung, aber innerhalb bestimmter Grenzen. Der Erwerb des Rechts, die Benutzung und selbst die Geltendmachung desselben in Fällen des rein objektiven Unrechts (Seite 29) ist eine reine Interessenfrage - das Recht selber ist nach meiner eigenen Definition (6) nichts anderes als ein rechtlich geschütztes Interesse. Aber mit dem Moment, wo die Willkür ihre Hand gegen das Recht erhebt, es zu würgen, verliert jene materialistische Betrachtung ihre Berechtigung.

Es ist gleichgültig, welche Sache den Gegenstand des Rechts bildet. Triebe der Zufall die Sache in den Kreis meines Rechts, es möchte darum sein, daß sie ohne Verletzung meiner selbst wieder daraus entrissen werden könnte; aber nicht der Zufall, sondern mein Wille knüpft das Band zwischen ihr und mir, und auch er nur um den Preis vorangegangener eigener oder fremder Arbeit - es ist ein Stück eigener oder fremder Kraft und Vergangenheit, das ich in ihr besitze und behaupte. Indem ich sie zur meinigen gemacht habe, habe ich ihr den Stempel meiner Person aufgedrückt; wer sie antastet, tastet letztere an, der Schlag, den man auf sie führt, trifft mich selber, der ich in ihr anwesend bin - das Eigentum ist nur die sachlich erweiterte Peripherie meiner Person.

Dieser Zusammenhang des Rechts mit der Person verleiht allen Rechten, welcher Art sie auch sein mögen, jenen inkommensurablen [unvergleichbaren - wp] Wert, den ich im Gegensatz zum rein substantiellen Wert, den sie vom Standpunkt des Interesses aus haben, als  idealen  Wert bezeichne. Ihm entstammt jene Hingebung und Energie in der Behauptung des Rechts, deren ich oben gedacht habe. Diese ideale Auffassung des Rechts ist aber nicht etwa nur das Vorrecht edlerer Naturen, sondern der Roheste ist ihr eben so zugänglich, wie der Gebildetste, der Reichste wie der Ärmste, die wilden Naturvölker wie die zivilisiertesten Nationen, und gerade darin, daß kein Gegensatz der Bildung und des Vermögens Macht über ihn hat, offenbart sich so recht, wie sehr dieser Idealismus im innersten Wesen begründet ist - er ist nichts als die Gesundheit des Rechtsgefühls. So erhebt sich also das Recht, das scheinbar den Menschen ausschließlich in die niedere Region des Egoismus und der Berechnung versetzt, ihn andererseits wieder auf eine ideale Höhe, wo er alles Klügeln und Berechnen, das er dort gelernt hat, und seinen Maßstab des Nutzens, nach dem er sonst alles zu bemessen pflegt, vergißt, um sich rein und ganz für eine Idee einzusetzen - Prosa in jener Region, wird das Recht in dieser, im Kampf ums Recht, zur Poesie - denn der Kampf ums Recht ist in Wirklichkeit die Poesie des Charakters.

Und was ist es, das all diese Wunder tut? Nicht die Erkenntnis, nicht die Bildung, sondern das einfache Gefühl des Schmerzes. Der Schmerz ist der Notschrei und der Hilferuf der bedrohten Natur. Das gilt, wie ich weiter oben bereits bemerkt habe, ganz so vom moralischen wie vom physischen Organismus, und was dem Mediziner die Pathologie des menschlichen Organismus, das ist die Pathologie des Rechtsgefühls dem Juristen und Rechtsphilosophen, oder richtiger sollte sie ihm sein, denn es wäre verkehrt, zu behaupten, daß sie es ihm bereits geworden ist. In ihr steckt aber in Wahrheit das ganze Geheimnis des Rechts. Der Schmerz, den der Mensch bei der Verletzung seines Rechts empfindet, enthält das gewaltsam erpreßte, instinktive Selbstgeständnis über das, was ihm das Recht ist, zunächst was es ihm, dem Einzelnen, sodann aber auch, was es ansich ist. In diesem einen Moment kommt in Form des Affekts, des unmittelbaren Gefühls von der wahren Bedeutung und dem wahren Wesen des Rechts mehr zum Vorschein als während hundert Jahre ungestörten Genusses. Wer nich an sich selbst oder an einem anderen diesen Schmerz erfahren hat, weiß nicht, was das Recht ist, und wenn er auch das ganze  corpus iuris  im Kopf hätte. Nicht der Verstand, nur das Gefühl vermag uns diese Frage zu beantworten, darum hat die Sprache mit Recht den psychologischen Urquelle allen Rechts als  Rechtsgefühl  bezeichnet. - Rechtsbewußtsein, rechtliche Überzeugung sind Abstraktionen der Wissenschaft, die das Volk nicht kennt, - die Kraft des Rechts ruht im Gefühl, ganz so wie die der Liebe; der Verstand kann das mangelnde Gefühl nicht ersetzen. Aber wie die Liebe sich oft selber nicht kennt, und ein einziger Moment ausreicht, sie zum vollen Bewußtsein ihrer selbst zu bringen, so weiß auch das Rechtsgefühl im unversehrten Zustand regelmäßig nicht, was es ist und in sich birgt, aber die Rechtsverletzung ist die peinliche Frage, die es zum Sprechen nötigt, die Wahrheit an den Tag und die Kraft zum Vorschein bringt. Worin diese Wahrheit besteht, habe ich weiter oben bereits angegeben. Das Recht ist die moralische Existenzialbedingung der Person, die Behauptung dessselben ihre moralische Selbsterhaltung.

Die Heftigkeit oder Nachhaltigkeit, mit der das Rechtsgefühl gegen eine ihm widerfahrene Verletzung reagiert, ist der Prüfstein seiner Gesundheit. Nicht die bloße Empfindung des Schmerzes - der Grad des Schmerzes, den es fühlt, verkündet ihm nur, welchen Wert es auf das bedrohte Gut legt -, aber den Schmerz empfinden, ohne die darin liegende Mahnung zur Abwehr der Gefahr zu beherzigen, ihn geduldig ertragen, ohne sich zu wehren, ist eine Verleugnung des Rechtsgefühls, entschuldbar vielleicht im einzelnen Fall durch die Umstände, aber auf die Dauer nicht möglich ohne die nachteiligsten Folgen für das Rechtsgefühl selber. Denn das Wesen des letzteren ist die Tat, - wo es der Tat entbehren muß, verkümmert es und stumpft sich nach und nach völlig ab, bis es zuletzt den Schmerz kaum noch empfindet. Reizbarkeit, d. h. die Fähigkeit, den Schmerz der Rechtskränkung zu empfinden, und Tatkraft, d. h. der Mut und die Entschlossenheit, sie zurückzuweisen, sind die zwei Kriterien eines gesunden Rechtsgefühls.

Ich muß es mir hier versagen, dieses ebenso interessante wie ausgiebige Thema der Pathologie des Rechtsgefühls des Weiteren auszuführen, aber einige Andeutungen mögen mir doch erlaubt sein. Jeder von Ihnen weiß, wie verschieden ein und dieselbe Rechtskränkung auf verschiedene Personen und Glieder verschiedener Stände einwirkt, und ich habe weiter oben bereits für eine derartige Erscheinung die Lösung zu geben versucht. Es knüpft sich für uns daran der Schluß, daß die Reizbarkeit des Rechtsgefühls nicht in Bezug auf alle Rechte dieselbe ist, sondern sich abschwächt und steigert, je nach dem Maß, in welchem dieses Individuum, dieser Stand, dieses Volk die Bedeutung des verletzten Rechts als einer moralischen Existenzbedingung seiner selbst empfindet. Wer diesen Gesichtspunkt weiter verfolgen will, kann einer sehr lohnenden Ausbeute sicher sein; zu den oben von mir benutzten Instituten der Ehre und des Eigentums möchte ich Ihnen insbesondere empfehlen, die Ehe hinzuzufügen, - welche Reflexionen knüpfen sich an die Art, wie verschiedene Individuen, Völker, Gesetzgebungen sich dem Ehebruch gegenüber verhalten!

Das zweite Moment beim Rechtsgefühl: die Tatkraft, ist rein Sache des Charakters; das Verhalten eines Menschen oder Volkes angesichts einer Rechtskränkung ist der sicherste Prüfstein seines Charakters. Verstehen wir unter Charakter die volle, in sich ruhende, sich selbst behauptende Persönlichkeit, so gibt es keinen besseren Anlaß, diese Eigenschaft zu bewähren, als wenn die Willkür mit dem Recht zugleich die Person antastet. Die Formen, in denen das verletzte Rechts- und Persönlichkeitsgefühl dagegen reagiert, ob unter dem Einfluß des Affekts in einer wilden und leidenschaftlichen Tat, ob mit maßvollem, aber nachhaltigem Widerstand, sind für die Intensivität der Kraft des Rechtsgefühls in keiner Weise maßgebend, und es gäbe keinen größeren Irrtum, als dem wilden Volk, bei dem die erstere Form die normale ist, oder dem Ungebildeten ein regeres Rechtsgefühl beizulegen, als dem Gebildeten, der den zweiten Weg einschlägt. Die Formen sind mehr oder weniger Sache der Bildung und des Temperaments, aber der Heftigkeit, Leidenschaftlichkeit steht die feste Entschlossenheit und Unbeugsamkeit, die Nachhaltigkeit des Widerstandes vollkommen gleich. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Das hieße, daß die Individuen und Völker um ebensoviel an ihrem Rechtsgefühl einbüßen würden, wie sie an Bildung zunehmen. Ein Blick auf die Geschichte und das bürgerliche Leben reicht aus, um diese Meinung zu widerlegen. Ebensowenig ist der Gegensatz des Reichtums und der Armut dafür maßgebend. So verschieden auch der ökonomische Maßstab ist, mit dem beide ein und dieselbe Sache werten, so kommt doch derselbe, wie oben bereits ausgeführt, bei der Verletzung des Eigentums gar nicht zur Geltung, hier handelt es sich nicht um den materiellen Wert der Sache, sondern um den idealen Wert des Rechts, also um die Energie des Rechtsgefühls in besonderer Richtung auf das Eigentum, und nicht wie das Vermögen, sondern wie das Rechtsgefühl beschaffen ist, gibt darüber den Ausschlag. Den besten Beweis dafür liefert das englische Volk; sein Reichtum hat seinem Rechtsgefühl keinen Abbruch getan und mit welcher Energie sich dasselbe selbst in bloßen Eigentumsfragen bewährt, davon haben wir auf dem Kontinent oft Gelegenheit, uns zu überzeugen, an jener fast typisch gewordenen Figur des reisenden Engländers, der dem Versuch einer Prellerei von Seiten der Gastwirte und Lohnkutscher mit einer Mannhaftigkeit entgegentritt, als gälte es, das Recht Altenglands zu verteidigen, zur Not seine Abreise verschiebt, Tage lang am Ort bleibt und den zehnfachen Betrag von dem ausgibt, was er sich zu zahlen weigert. Das Volk lacht darüber und versteht ihn nicht. Es wäre besser, wenn es ihn verstände. Denn in den wenigen Gulden, die der Mann hier verteidigt, steckt in der Tat Altengland, und daheim in seinem Vaterland begreift ihn ein jeder und wagt es daher auch nicht so leicht, ihn in seinem Recht zu verkürzen. Ich beabsichtige nicht, Ihnen weh zu tun, aber der Ernst der Sache drängt mir eine Parallele auf. Ich versetze einen Österreicher von derselben sozialen Stellung und denselben Vermögensverhältnissen in dieselbe Situation; wie wird er handeln? Wenn ich meinen eigenen Erfahrungen in dieser Beziehung trauen darf, so werden es von Hundert nicht Zehn sein, die das Beispiel des Engländers nachahmen. Die andern scheuen die Unanehmlichkeit des Streits, das Aufsehen, die Möglichkeit der Mißdeutung, der sie sich aussetzen könnten, einer Mißdeutung, die ein Engländer in England gar nicht zu fürchten braucht und bei uns ruhig in Kauf nimmt: kurz sie zahlen. Aber in dem Gulden, den der Engländer verweigert und der Österreicher zahlt, liegt ein Stück England und Österreich, liegen Jahrhunderte ihrer beiderseitigen politischen Entwicklung und ihres sozialen Lebens. Ich bin damit auf einen Gedanken geraten, der mir einen bequemen Übergang zum Folgenden bahnt. Lassen Sie mich die bisherige Ausführung mit demselben Satz schließen, mit dem ich sie oben begonnen habe: die Behauptung des verletzten Rechts ist ein Akt der Selbsterhaltung der Person, und darum eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selber.

LITERATUR Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872
    Anmerkungen
    1) Ein Zitat aus meinem "Geist des römischen Rechts", Bd. II, § 28 (zweite Auflage, Seite 67).
    2) Bis zur Karikatur getrieben von STAHL, in der in meinem "Geist des römischen Rechts", Bd. II, § 25, Anm. 14, mitgeteilten Stelle aus einer seiner Kammerreden.
    3) In der Novelle  Michael Kohlhaas von HEINRICH von KLEIST, auf die ich unten noch des Näheren zurückkommen werde, läßt der Dichter seinen Helden sagen: Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch!
    4) Ich bin genötigt, weiter unter nochmal darauf zurückzukommen.
    5) Einen interessanten Beleg dazu bieten unsere kleinen deutschen Universitätsstädte dar, die vorzugsweise von den Studierenden leben: die Stimmung und Gewohnheiten der Letzteren in Bezug auf das Geldausgeben teilt sich unwillkürlich auch der bürgerlichen Bevölkerung mit.
    6) siehe meinen "Geist des römischen Rechts", Bd. III, § 60.