tb-1Streit mit der ModephilosophieKöhlerglaube und Wissenschaft     
 
IMMANUEL KANT
Streit der Fakultäten
[1798]

"Die philosophische Fakultät wird darum, weil sie für die  Wahrheit  der Lehren, die sie aufnehmen oder auch nur einräumen soll, stehen muß, insofern als frei und nur unter der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Regierung stehend gedacht werden müssen. Auf einer Universität muß also auch ein solches Departement gestiftet, d. h. es muß eine philosophische Fakultät sein. In Anbetracht der drei oberen dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf  Wahrheit,  (der wesentlichen und ersten Bedingung der Gelehrsamkeit überhaupt,) alles ankommt; die  Nützlichkeit  aber, welche die oberen Fakultäten [Theologie, Recht, Medizin] zum Zweck der Regierung versprechen, nur ein Moment von zweitem Rang ist."

"Das Volk setzt sein Heil zuoberst nicht in der Freiheit, sondern in seinen natürlichen Zwecken, also in diesen drei Stücken: nach dem Tod  selig,  im Leben unter andern Mitmenschen des  Seinen  durch öffentliche Gesetze gesichert, endlich des physischen Genusses des Lebens  ansich  (d. h. der Gesundheit und des langen Lebens) gewärtig zu sein."

Erster Abschnitt
Der Streit der philosophischen
Fakultät mit der theologischen.


Einleitung

Es war kein übler Einfall desjenigen, der zuerst den Gedanken faßte und ihn zur öffentlichen Ausführung vorschlug, den ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit, (eigentlich die derselben gewidmeten Köpfe,) gleichsam  fabrikenmäßig,  durch Verteilung der Arbeiten, zu behandeln, wo, soviel es Fächer der Wissenschaften gibt, soviel öffentliche Lehre,  Professoren,  als Despositäre derselben, angestellt würden, die zusammen eine Art von gelehrtem gemeinem Wesen,  Universität  (auch ohe Schule) genannt, ausmachten, die ihre Autonomie hätte, (denn über Gelehrte als solche können nur Gelehrte urteilen;) die daher mittels ihrer  Fakultäten  (kleiner, nach Verschiedenheit der Hauptfächer der Gelehrsamkeit, in welche sich die Universitätsgelehrten teilen, verschiedener Gesellschaften) teils die aus dem niederen Schulen zu ihr aufstrebenden Lehrlinge aufzunehmen, teils auch freie, (keine Glieder derselben ausmachende,) Lehrer,  Doktoren  genannt, nach vorhergehender Prüfung, aus eigener macht, mit einem von jedermann anerkannten Rang zu versehen (ihnen einen Grad zu erteilen), d. h. sie zu  kreieren  berechtigt wäre.

Außer diesen  zünftigen  kann es noch  zunftfreie  Gelehrte geben, die nicht zur  Universität  gehören, sondern, indem sie bloß einen Teil des großen Inbegriffs der Gelehrsamkeit bearbeiten, entweder der gewisse freie Korporationen  (Akademien,  auch  Sozietäten der Wissenschaften  genannt) als so viel Werkstätten ausmachen, oder gleichsam im Naturzustand der Gelehrsamkeit leben, und jeder für sich ohne öffentliche Vorschrift und Regel sich mit Erweiterung oder Verbreitung derselben als  Liebhaber  beschäftigen.

Von den eigentlichen Gelehrten sind noch die  Literaten  (Studierte zu unterscheiden, die, als Instrumente der Regierung, von dieser zu ihrem eigenen Zweck, (nicht eben zum Besten der Wissenschaften), mit eine Amt bekleidet, zwar auf der Universität ihre Schule gemacht haben müssen, allenfalls aber vieles davon, (was die Theorie betrifft) auch können vergessen haben, wenn ie nur so viel, als zur Führung eines bürgerlichen Amts, das seinen Grundlehren nach nur von Gelehrten ausgehen kann, erforderlich ist, nämlich empirische Kenntnis der Statuten ihres Amts, (was also die Praxis angeht,) übrig behalten haben, die man also  Geschäftsleute  oder Werkkundige der Gelehrsamkeit nennen kann. Diese, weil sie als Werkzeuge der Regierung, (Geistliche, Justizbeamte und Ärzte,) aufs Publikum gesetzlichen Einfluß haben und eine besondere Klasse von Literaten ausmachen, die nicht frei sind, aus eigener Weisheit, sondern nur unter der Zensur der Fakultäten von der Gelehrsamkeit öffentlichen Gebrauch zu machen, müssen, weil sie sich unmittelbar ans Volk wenden, welches aus Idioten besteht, (wie etwa der Klerus an die Laien,) in ihrem Fach aber zwar nicht die gesetzgebende, doch zum teil die ausübende Gewalt haben, von der Regierung sehr in Ordnung gehalten werden, damit sie sich nicht über die richtende, welche den Fakultäten zukommt, wegsetzen.


Einteilung der Fakultäten überhaupt

Nach dem eingeführten Gebrauch werden sie in zwei Klassen, die der drei oberen Fakultäten und die einer  unteren  eingeteilt. Man sieht wohl, daß bei dieser Einteilung und Benennung nicht der Gelehrtenstand, sondern die Regierung befragt worden ist. Denn zu den oberen werden nur diejenigen gezählt, deren Lehren, ob sie so oder anders beschaffen sein oder öffentlich vorgetragen werden sollen, es die Regierung selbst interessiert; da hingegen diejenige, welche nur das Interesse der Wissenschaft zu besorgen hat, wie sie es gut findet. Die Regierung aber interessiert das am allermeisten, wodurch sie sich den stärksten und dauerndsten Einfluß auf s Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegenstände der oberen Fakultäten. Daher behält sie sich das Recht vor, die Lehren der oberen selbst zu  sanktionieren;  die der untern überläßt sie der eigenen Vernunft des gelehrten Volkes. - Wenn sie aber gleich Lehren sanktioniert, so  lehrt  sie (die Regierung) doch nicht selbst; sondern will nur, daß gewisse Lehren von den respektiven Fakultäten in ihren  öffentlichen Vortrag  aufgenommen, und die ihnen entgegensetzten davon ausgeschlossen werden sollen. Denn sie lehrt nicht, sondern befehligt nur die, welche lehren, (mit der Wahrheit mag es bewandt sein, wie es wolle,) weil sie sich bei Antretung ihres Amts durch einen Vertrag mit der Regierung dazu verstanden haben. - Eine Ergierung, die sich mit den Lehren, also auch mit der Erweiterung oder Verbesserung der Wissenschaften befaßte, mithin selbst, in höchster Person, den Gelehrten spielen wollte, würde sich durch diese Pedanterei nur um die ihr schuldige Achtung bringen, und es ist unter ihrer Würde, sich mit dem Volk (dem Gelehrtenstand desselben) gemein zu machen, welches keinen Scherz versteht und alle, die sich mit den Wissenschaften bemengen, über einen Kamm schert.

Es muß zum gelehrten gemeinen Wesen durchaus auf der Universität noch eine Fakultät geben, die in Ansehung ihrer Lehren vom Befehl der Regierung unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen, die Freiheit habe, die mit dem wissenschaftlichen Interesse, d. h. mit dem der Wahrheit zu tun hat, wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein muß; weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommen würde, die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist und keine Befehle etwas für wahr zu halten, (keine  crede  [glauben - wp], sondern nur ein freies  credo  [Ich glaube - wp]) annimmt. - daß aber eine solche Fakultät, unerachtet dieses großen Vorzugs (der Freiheit), dennoch die untere genannt wird, davon ist die Ursache in der Natur des Menschen anzutreffen: daß nämlich der, welcher befehlen kann, obgleich er ein demütiger Diener eines anderen ist, sich doch vornehmer dünkt, als ein anderer, der zwar frei ist, aber niemandem zu befehlen hat.


I.
Vom Verhältnis der Fakultäten
Begriff und Einteilung der oberen Fakultäten

Man kann annehmen, daß alle künstlichen Einrichtungen, welche eine Vernunftidee, (wie die von einer Regierung ist,) zugrunde haben, die sich an einem Gegenstand der Erfahrung, (dergleichen das ganze gegenwärtige Feld der Gelehrsamketi,) praktisch beweisen soll, nicht durch bloß zufällige Aufsammlung und willkürliche Zusammenstellung vorkommender Fälle, sondern nach irgendeinem in der Vernunft, wenngleich nur dunkel liegenden Prinzip und darauf gegründeten Plan versucht worden sind, der eine gewisse Art der Einteilung notwendig macht.

Aus diesem Grund kann man annehmen, daß die Organisation einer Universität in Ansehung ihrer Klassen und Fakultäten nicht so ganz vom Zufall abgehangen habe, sondern daß die Regierung, ohne deshalb eben ihre frühe Weisheit und Gelehrsamkeit anzudichten, schon durch ihr eigenes gefühltes Bedürfnis, (mittels gewiser Lehren aufs Volk zu wirken,)  a priori  auf ein Prinzip der Einteilung, was sonst empirischen Ursprungs zu sein scheint, habe kommen können, das mit dem jetzt angenommenen glücklich zusammentrifft; wiewohl ich ihr darum, als ob sie fehlerfrei sei, nicht das Wort reden will.

Nach der Vernunft (d. h. objektiv) würden die Triebfedern, welche die Regierung zu ihrem Zweck, (auf das Volk Einfluß zu haben,) benutzen kann, in folgender Ordnung stehen: zuerst eines Jeden  ewiges  Wohl, dann das  bürgerliche  als Glied der Gesellschaft, endlich das  Leibeswohl  (lange leben und gesund sein). Durch die öffentlichen Lehren in Anbetracht des  ersten  kann die Regierung selbst auf das Innere der Gedanken und die verschlossensten Willensmeinungen der Untertanen, jene zu entdecken, diese zu lenken, den größte Einfluß haben; durch die so sich aufs  zweite  beziehen, ihr äußeres Verhalten unter dem Zügel öffentlicher Gesetze halten; durch die  dritte  sich die Existenz eines starken und zahlreichen Volkes sichern, welches sie zu ihren Absichten brauchbar findet. - - Nach der Vernunft würde also wohl die gewöhnliche angenommene Rangordnung unter den oberen Fakultäten stattfinden; nämlich zuerst die  theologische,  darauf die der  Juristen  und zuletzt die  medizinische Fakultät.  Nach dem  Naturinstinkt  hingegen würde dem Menschen der Arzt der wichtigste Mann sein, weil dieser ihm ein  Leben  fristet, darauf allererst der Rechtserfahrene, der ihm das zufällige  Seine  zu erhalten verspricht und nur zuletzt, (fast nur wenn es zum Sterben kommt,) ob es zwar um die Seligkeit zu tun ist, der Geistliche gesucht werden; weil auch diese selbst, so sehr er auch die Glückseligkeit der künftigen Welt preist, doch, da er nichts von ihr vor sich sieht, sehnlich wünscht, vom Arzt in diesem Jammertal immer noch einige Zeit erhalten zu werden.



Alle drei obere Fakultäten gründen die ihnen von der Regierung anvertrauten Lehren auf  Schrift,  welches im Zustand eines durch Gelehrsamkeit geleiteten Volks auch nicht anders sein kann, weil ohne diese es keine beständige, für jederman zugängliche Norm, danach es sich richten könnte, geben würde. Daß eine solche Schrift (oder Buch)  Statuten,  d. h. von der Willkür eines Oberen ausgehende, (für sich selbst nicht aus der Vernunft entspringende) Lehren enthalten müsse, versteht sich von selbst; weil diese sonst nicht als von der Regierung sanktioniert, schlechthin Gehorsam fordern könnte, und dieses gilt auch vom Gesetzbuch, selbst in Anbetracht derjenigen öffentlich vorzutragenden Lehren, die zugleich aus der  Vernunft  abgeleitet werden könnten, auf deren Ansehung aber jenes keine Rücksicht nimmt, sondern den Befehl eines äußeren Gesetzgebers zugrunde legt. - Vom Gesetzbuch, als dem Kanon, sind diejenigen Bücher, welche als (vermeintlich) vollständiger Auszug des Geistes des Gesetzbuchs zum faßlichen Begriff und sicheren Gebrauch des gemeinen Wesens (der Gelehrten und Ungelehrten) von den Fakultäten abgefaßt werden, wie etwa  die symbolischen Bücher,  gänzlich unterschieden. Sie können nur verlangen als  Organon,  um den Zugang zu jenem zu erleichtern, angesehen zu werden und haben gar keine Autorität; selbst dadurch nicht, daß sich etwa die vornehmsten Gelehrten von einem gewissen Fach darüber geeinigt haben, ein solches Buch statt Norm für ihre Fakultät gelten zu lassen, wozu sie gar nicht befugt sind, sondern sie einstweilen als Lehrmethode einzuführen, die aber nach Zeitumständen veränderlich bleibt und überhaupt auch nur das Formale des Vortrags betreffen kann, im Materialen der Gesetzgebung aber schlechterdings nichts ausmacht.

Daher schöpft der biblische Theologe, (als zu oberen Fakultät gehörig,) seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der  Bibel,  der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem  Landrecht,  der Arzneigelehrte  seine ins Publikum gehende Heilmethode  nicht aus der Physik des menschlichen Körpers, sondern aus der  Medizinalordnung.  - Sobald eine dieser Fakultäten etwas als aus der Vernunft Entlehntes einzumischen wagt, so verletzt sie die Autorität der durch sie gebietenden Regierung und kommt ins Gehege der philosophischen, die ihr alle glänzenden, von jener geborgten Federn ohne Verschonen abzieht und mit ihr nach dem Fuß der Gleichheit und Freiheit verfährt. - Daher müssen die oberen Fakultäten am meisten darauf bedacht sein, sich mit der unteren ja nicht in Mißheirat einzulassen, sondern sie fein weit in ehrerbietiger Entfernung von sich abzuhalten, damit das Ansehen ihrer Statuten nicht durch die freien Vernünfteleien der letzteren Abbruch leidet.


A.
Eigentümlichkeit der theologischen Fakultät

>Daß ein Gott sei, beweist der biblische Theologe daraus, daß er in der Bibel geredet hat, worin diese auch von seiner Natur (selbst bis dahin, wo die Vernunft mit der Schrift nicht Schritt halten kann, z. B. vom unerreichbaren Geheimnis seiner dreifachen Persönlichkeit) spricht. Daß aber Gott selbst durch die Bibel geredet habe, kann und darf, weil es eine Geschichtssache ist, der biblische Theologe, als ein solcher, nicht beweisen; denn das gehört zur philosophischen Fakultät. Er wird es also als Glaubenssache auf ein gewisses, (freilich nicht erweisliches oder erklärliches)  Gefühl  der Göttlichkeit derselben, selbst für den Gelehrten, gründen, die Frage aber wegen dieser Göttlichkeit (im buchstäblichen Sinn genommen) des Ursprungs derselben im öffentlichen Vortrag ans Volk gar nicht auf werfen müssen; weil dieses sich darauf als eine Sache der Gelehrsamkeit doch gar nicht versteht und hierdurch nur in vorwitzige Grübeleien und Zweifel verwickelt werden würde; da man hingegen hierin weit sicherer auf das Zutrauen rechnen kann, was das Volk in seine Lehrer setzt. - Den Sprüchen der Schrift einen mit dem Ausdruck nicht genau zusammentreffenden, sondern etwa moralischen Sinn unterzulegen, kann er auch nich befugt sein, und, da es keinen von Gott autorisierten menschlichen Schriftausleger gibt, muß der biblische Theologe eher auf eine übernatürlicher Eröffnung des Verständnisses durch einen in alle Wahrheit leitenden Geist rechnen, als zugeben, daß die Verunft sich darein menge und ihre, (aller höheren Autorität ermangelnde) Auslegung geltend mache. - Endlich was die Vollziehung der göttlichen Gebote an unserem Willen betrifft, so muß der biblische Theologe ja nicht auf die Natur, d. h. das eigene moralische Vermögen des Menschen (die Tugend), sondern auf die Gnade, 8ein übernatürliche, dennoch zugleich moralische Einwirkung) rechnen, deren aber der Mensch auch nicht anders, als mittels eines inniglich das Herz umwandelnden Glaubens teilhaftig werden, diesen Glauben selbst aber doch wiederum von der Gnade erwarten kann. - Bemengt der biblische Theologe sich in Anbetracht irgendeines dieser Sätze mit der Vernunft gesetzt, daß diese auch amit der größten Aufreichtigkeit und dem größten Ernst auf dasselbe Ziel hinstrebte, so überspringt er, (wie der Bruder des ROMULUS,) die Mauer des allein seligmachenden Kirchenglaubens und verläuft sich in das offene freie Feld der eigenen Beurteilung und Philosophie, wo er, der geistlichen Regierung entlaufen, allen Gefahren der Anarchie ausgesetzt ist. - Man muß aber wohl merken, daß ich hier vom  reinen (purus, putus)  biblischen Theologen rede, der vom verschrieenen Freiheitsgeist der Vernunft und Philosohie noch nicht angesteckt ist. Denn sobald wir zwei Geschäfte von verschiedener Art vermengen und ineinander laufen lassen, können wir uns von den Eigentümlichkeiten jedes einzelnen derselben keinen bestimmten Begriff machen.


B.
Eigentümlichkeit der Juristenfakultät

Der schriftgelehrte  Jurist  sucht die Gesetze der Sicherung des  Mein  und  Dein,  (wenn er, wie er soll, als Beamter der Regierung verfährt,) nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch. Den Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben, desgleichen die Verteidigung wider die dagegen gemachte Einwendung der Vernunft kann man billigerweise von ihm nicht fordern. Denn die Verordnungen machen allererst, daß etwas recht ist, und nun nachzufragen, ob auch die Verordnungen machen allererst, daß etwas recht ist, und nun nachzufragen, ob auch die Verordnungen selbst recht sein mögen, muß von den Juristen als ungereimt geradezu abgewiesen werden. Es wäre lächerlich, sich dem Gehorsam gegen einen äußeren und obersten Willen darum, weil dieser, angeblich, nicht mit der Vernunft übereinstimmt, entziehen zu wollen. Denn darin besteht eben das Ansehen der Regierung, daß sie den Untertanen nicht die Freiheit läßt, nach ihren eigenen Begriffen, sondern nach Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt über Recht und Unrecht zu urteilen.

In einem Stück aber ist es mit der Juristenfakultät für die Praxis doch besser bestellt, als mit der theologischen; daß nämlich jene einen sichtbaren Ausleger der Gesetze hat, nämlich entweder an einem Richter, oder, in der Appellation von ihm, an einer Gesetzkommission und (in der höchsten) am Gesetzgeber selbst, welches in Anbetracht der auszulegenden Sprüche eines heiligen Buchs der theologischen Fakultät nicht so gut wird. Doch wird dieser Vorzug andererseits durcheinen nicht geringeren Nachteil aufgewogen, nämlich daß die weltlichen Gesetzbücher der Veränderung unterworfen bleiben müssen, nachdem die Erfahrung mehr oder bessere Einsichten gewährt, hingegen das heilige Buch keine Veränderung (Verminderung oder Vermehrung) statuiert und für immre geschlossen zu sein behauptet. Auch findet die Klage der Juristen, daß es beinahe vergeblich ist, eine genaue bestimmte Norm der Rechtspflege (jus certum [sicheres Recht - wp]) zu hoffen, beim biblischen Theologen nicht statt. Denn dieser läßt sich den Anspruch nicht nehmen, daß seine Dogmatik nicht eine solche klare und auf alle Fälle bestimmte Norm enthält. Wenn überdem die juristischen Praktiker, (Advokaten oder Justizkommissarien,) die dem Klienten schlecht geraten und ihn dadurch in Schaden versetzt haben, darüber doch nicht verantwortlich sein wollen  (ob consilium nemo tenetur  [Niemand haftet für seinen Rat. - wp]), so nehmen es doch die theologischen Geschäftsmänner (Prediger und Seelsorger) ohne Bedenken auf sich und stehen dafür, nämlich dem Ton nach, daß alles so auch in der künftigen Welt abgeurteilt werden wird, als sie es in dieser abgeschlossen haben; obgleich, wenn sie aufgefordert würden, sich förmlich zu erklären, ob sie für die Wahrheit all dessen, was sie auf biblische Autorität geglaubt wissen wollen, mit ihrer Seele Gewähr zu leisten sich getrauten, sie sich wahrscheinlicherweise entschuldigen würden. Gleichwohl liegt es doch in der Natur der Grundsätze dieser Volkslehre, die Richtigkeit ihrer Versicherung keineswegs bezweifeln zu lassen, welches sie freilich desto sicherer tun können, weil sie in diesem Leben keine Widerlegung derselben durch Erfahrung befürchten dürfen.


C.
Eigentümlichkeit der medizinischen Fakultät

Der Arzt ist ein Künstler, der doch, weil seine Kunst von der Natur unmittelbar entlehnt und deswegen von einer Wissenschaft der Natur abgeleitet werden muß, als Gelehrter irgendeiner Fakultät untergeordnet ist, bei der er seine Schule gemacht haben und deren Beurteilung er unterworfen bleiben muß. - Weil aber die Regierung an der Art, wie er die Gesundheit des Volkes behandelt, notwendig großes Interesse nimmt; so ist sie berechtigt, durch eine Versammlung ausgewählter Geschäftsleute dieser Fakultät (praktischer Ärzte) über das öffentliche Verfahren der Ärzte durch ein  Obersanitätskollegium  und Medizinalverordnungen Aufsicht zu haben. Die letzteren aber bestehen wegen der besonderen Beschaffenheit dieser Fakultät, daß sie nämlich ihre Verhaltensregeln nicht, wie die vorigen zwei oberen, von Befehlen eines Oberen, sondern aus der Natur der Dinge selbst hernehmen muß, - weshalb ihre Lehren auch ursprünglich der philosophsichen Fakultät im weitesten Verstand genommen, angehören müßten, - nicht sowohl in dem, was die Ärzte tun, als in dem was sie unterlassensollen: nämlich  erstens,  daß es für das Publikum überhaupt Ärzte,  zweitens,  daß es keine Afterärzte [Pseudoärzte - wp] gibt (kein  jus impune occidendi  [Recht zu töten - wp] nach dem Grundsatz:  fiat experimentum in corpore vili  [mit einem leblosen Körper darf man experimentieren - wp]). Da nun die Regierung nach dem ersten Prinzip für die  öffentliche Bequemlichkeit,  nach dem zweiten für die  öffentliche Sicherheit  (in der Gesundheitsangelegenheit des Volkes) sorgt, diese zwei Stücke aber eine  Polizei  ausmachen, so wird alle Medizinalordnung eigentlich nur die  medizinische Polizei  betreffen.

Diese Fakultät ist also viel freier, als die beiden ersten unter den oberen, und der philosophischen sehr nahe verwandt; ja, was die Lehren derselben betrifft, wodurch Ärzte  gebildet  werden, gänzlich frei, weil es für sie keine durch höchste Autorität sanktionierte, sondern nur aus der Natur geschöpfte Bücher geben kann, auch keine eigentlichen Gesetze, (wenn man darunter den unveränderlichen Willen des Gesetzgebers versteht,) sondern nur Verordnungen (Edikte), welche zu kennen nicht Gelehrsamkeit ist, als zu der ein systematischer Inbegriff von Lehren erfordert wird, den zwar die Fakultät besitzt, welchen aber, (als in keinem  Gesetzbuch  enthalten,) ,die Regierung zu sanktionieren nicht Befugnis hat, sondern jener überlassen muß, indessen sie durch Dispensatorien [Arzneibücher - wp] und Lazarettanstalten den Geschäftsleuten derselben ihre Praxis im öffentlichen Gebrauch nur zu befördern bedacht ist. - Diese Geschäftsmänner (die Ärzte) aber bleiben in Fällen, welche, als die medizinische Polizei betreffend, die Regierung interessieren, dem Urteil ihrer Fakultät unterworfen.


Zweiter Abschnitt
Begriff und Einteilung der
unteren Fakultät

Man kann die untere Fakultät diejenige Klasse der Universität nennen, die, oder sofern sie sich nur mit Lehren beschäftigt, welche nicht auf den Befehl eines Oberen zur Richtschnur angenommen werden. Nun kann es zwar geschehen, daß man eine praktische Lehre aus Gehorsam befolgt; sie aber darum, weil es befohlen ist (de par le roi [vom König - wp], für wahr anzunehmen, ist nicht allein objektiv, (als ein Urteil, das nicht sein  sollte,)  sondern auch subjektiv, (als ein solches, welches kein Mensch fällen  kann,)  schlechterdings unmöglich. Denn der irren will, wie er sagt, irrt wirklich nicht und nimmt das falsche Urteil nicht in der Tat für wahr an, sondern gibt nur ein Fürwahrhalten fälschlich vor, das in ihm doch nicht anzutreffen ist. - Wenn also von der  Wahrheit  gewisser Lehren, die in einen öffentlichen Vortrag gebracht werden sollen, die Rede ist, so kann sich der Lehrer deswegen nicht auf höchsten Befehlt berufen, noch der Lehrling vorgeben, sie auf Befehl geglaubt zu haben, sondern nur wenn vom  Tun  geredet wird. Sodann aber muß er doch, daß ein solcher Befehl wirklich ergangen ist, desgleichen, daß er ihm zu gehorchen verpflichtet oder wenigstens befugt ist, durch ein  freies  Urteil erkennen, widrigenfalls seine Annahme ein leeres Vorgeben und Lüge ist. - Nun nennt man das Vermögen, nach der Autonomie, d. h. frei (überhaupt Prinzipien des Denkens gemäß) zu urteilen, die Vernunft. Also wird die philosophische Fakultät darum, weil sie für die  Wahrheit  der Lehren, die sie aufnehmen oder auch nur einräumen soll, stehen muß, insofern als frei und nur unter der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Regierung stehend gedacht werden müssen.

Auf einer Universität muß aber auch ein solches Departement gestiftet, d. h. es muß eine philosophische Fakultät sein. In Anbetracht der drei oberen dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf  Wahrheit (der wesentlichen und ersten Bedingung der Gelehrsamkeit überhaupt,) alles ankommt; die  Nützlichkeit  aber, welche die oberen Fakultäten zum Zweck der Regierung versprechen, nur ein Moment von zweitem Rang ist. - Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre magd sei, einräumen, (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau  die Fackel vorträgt  oder  die Schleppe nachträgt,)  wenn man sie nur nicht verjagt oder ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchslosigkeit, bloß frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloß die Wahrheit, zum Vorteil jeder Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Fakultäten hinzustellen, muß sie der Regierung selbst als unverdächtigt, ja als unentbehrlich empfehlen.

Die philosophische Fakultät enthält nun zwei Departemente, das eine der  historischen Erkenntnis,  (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem gehört, was die Naturkunde von empirischer Erkenntnis darbietet;) das andere der  reinen Vernunfterkenntnisse,  (reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten,) und beide Teile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander. Sie erstreckt sich ebendarum auf alle Teile des menschlichen Wissens, (mithin auch historisch über die oberen Fakultäten,) nur daß sie nicht alle, (nämlich die eigentümlichen Lehren oder Gebote der oberen) zum Inhalt, sondern zum Gegenstand ihrer Prüfung und Kritik, in Absicht auf den Vorteil der Wissenschaften macht.

Die philosophische Fakultät kann also alle Lehren in Anspruch nehmen, um ihre Wahrheit der Prüfung zu unterwerfen. Sie kann von der Regierung, ohne daß diese ihrer eigentlichen, wesentlichen Absicht zuwider handelt, nicht mit einem Interdikt [Ausschluß von den Sakramenten - wp] belegt werden, und die oberen Fakultäten müssen sich ihre Einwürfe und Zweifel, die sie öffentlich vorbringt, gefallen lassen, welches jene zwar allerdings lästig finden dürften, weil sie ohne solche Kritiker, in ihrem, unter welchem Titel es auch sei, einmal inne habenden Besitz ungestört ruhen und dabei noch despotisch hätten befehlen können. - Nur den Geschäftsleuten jeder oberen Fakultät, (den Geistlichen, Rechtsbeamten und Ärzten,) kann es allerdings verwehrt werden, daß sie den ihnen in Führung ihres respektiven Amts von der Regierung zum Vortrag anvertrauten Lehren nicht öffentlich widersprechen und den Philosophen zu spielen sich erkühnen; denn das kann nur den Fakultäten, nicht den von der Regierung bestellten Beamten erlaubt sein; weil diese ihr Wissen nur von jenen her haben. Die letzteren nämlich, z. B. Prediger und Rechtsbeamte, wenn sie ihre Einwendungen und Zweifel gegen die geistliche oder weltliche Gesetzgebung ans Volk zu richten sich gelüsten ließen, würden es dadurch gegen die Regierung aufwiegeln; dagegen die Fakultäten sie nur gegeneinander, als Gelehrte, richten, wovon das Volk praktischerweise keine Notiz nimmt, selbst wenn sie auch zu seiner Kenntnis gelangen, weil es sich selbst bescheidet, daß Vernünfteln nicht seine Sache ist, und sich daher verbunden fühlt, sich nur an das zu halten, was ihm durch die dazu bestellten Beamten der Regierung verkündet wird. - Diese Freiheit aber, die der unteren Fakultät nicht geschmälert werden darf, hat den Erfolg, daß die oberen Fakultäten, (selbst besser belehrt,) die Beamten immer mehr in das Gleis der Wahrheit bringen, welche dann, ihrerseits, auch über ihre Pflicht besser aufgeklärt, in der Abänderung des Vortrags keinen Anstoß finden werden, da er nur ein besseres Verständnis der Mittel zu ebendemselben Zweck ist, welches, ohne polemische und nur Unruhe erregende Angriffe auf bisher bestandene Lehrweisen, mit völliger Beibehaltung des Materialen derselben gar wohl geschehen kann.


Dritter Abschnitt
Vom gesetzwidrigen Streit der oberen
Fakultäten mit der unteren.

Gesetzwidrig  ist ein öffentlicher Streit der Meinungen, mithin ein gelehrter Streit entweder der  Materie  wegen; wenn es gar nicht erlaubt wäre, über einen öffentlichen Satz zu  streiten,  weil es gar nicht erlaubt ist, über ihn und seinen Gegensatz öffentlich zu urteilen; oder bloß der Form wegen; wenn die Art, wie er geführt wird, nicht in objektiven Gründen, die auf die Vernunft des Gegners gerichtet sind, sondern in subjektiven, sein Urteil durch  Neigung  bestimmenden Bewegursachen besteht, um ihn durch List, (wozu auch Bestechung gehört) oder durch Gewal (Drohung) zur Einwilligung zu bringen.

Nun wird der Streit der Fakultäten um den Einfluß aufs Volk geführt, und diesen Einfluß können sie nur bekommen, sofern jede derselben das Volk glauben machen kann, daß sie das Heil desselben am besten zu befördern versteht, dabei aber doch in der Art, wie sie diese auszurichten gedenken, einander gerade entgegengesetzt sind.

Das Volk aber setzt sein Heil zuoberst nicht in der Freiheit, sondern in seinen natürlichen Zwecken, also in diesen drei Stücken: nach dem Tod  selig,  im Leben unter andern Mitmenschen des  Seinen  durch öffentliche Gesetze gesichert, endlich des physischen Genusses des Lebens  ansich  (d. h. der Gesundheit und des langen Lebens gewärtig zu sein.

Die philosophische Fakultät aber, die sich auf alle diese Wünsche nur durch Vorschriften, die sie aus der Vernunft entlehnt, einlassen kann, mithin dem Prinzip der Freiheit anhänglich ist, hält sich nur an das, was der Mensch selbst hinzutun kann und soll:  rechtschaffen  zu leben, keinem  Unrecht  zu tun, sich  mäßig  im Genuß und duldend in Krankheiten, und dabei vornehmlich auf die Selbsthilfe der Natur rechnend zu verhalten; zu welchem allem es freilich nicht eben großer Gelehrsamkeit bedarf, wobei man dieser aber auch größtenteils entbehren kann, wenn man nur seine Neigungen bändigen und seiner Vernunft das Regiment anvertrauen wollte, was aber, als Selbstbemühung dem Volk gar nicht gelegen ist.

Die drei oberen Fakultäten werden nun vom Volk, (das in obigen Lehren für seine Neigung zu  genießen,  und Abneigung sich darum zu  bearbeiten  schlechten Ernst findet,) aufgefordert, ihrerseits Propositionen zu tun, die annehmlicher sind; und da lauten die Ansprüche an die Gelehrten, wie folgt: - Was ihr  Philosophen  da schwatzt, wußte ich längst von selbst; ich will aber von euch als Gelehrten wissen: wie, wenn ich auch  ruchlos  gelebt hätte, ich dennoch kurz vor dem Torschluß mir ein Einlaßbillett ins Himmelreich verschaffen, wie, wenn ich auch  Unrecht  habe, ich doch meinen Prozeß gewinnen, und wie, wenn ich auch meine körperlichen Kräfte nach Herzenslust benutzt und  mißbraucht  hätte, ich doch gesund bleiben und lange leben kann. Dafür habt ihr ja studiert, daß ihr mehr wissen müßt, als unser einer, (von euch Idioten genannt) der auf nichts weiter, als auf gesunden Verstand Anspruch macht. - Es ist aber hier, als ob das Volk zum Gelehrten, wie zum Wahrsager und Zauberer ginge, der mit übernatürlichen Dingen Bescheid weiß; denn der Ungelehrte macht sich von einem Gelehrten, dem er etwas zumutet, gern übergroße Begriffe. Daher ist es natürlicherweise vorauszusehen, daß, wenn sich jemand für einen solchen Wundermann auszugeben nur dreist genug ist, ihm das Volk zufallen und die Seite der philosophischen Fakultät mit Verachtung verlassen wird.

Die Geschäftsleute der drei oberen Fakultäten sind aber jederzeit solche Wundermänner, wenn der philosophischen nicht erlaubt wird, ihnen öffentlich entgegen zu arbeiten, nicht um ihre Lehren zu stürzen, sondern nur der magischen Kraft, die ihnen und den damit verbundenen Observanzen das Publikum abergläubisch beilegt, zu widersprechen, als wenn sie bei einer passiven Übergabe an solche kunstreiche Führer sich alles Selbsttuns enthoben, und mit großer Gemächlichkeit durch sie zur Erreichung jener angelegenen Zwecke schon werde geleitet werden.

Wenn die oberen Fakultäten solche Grundsätze annehmen, (was freilich nicht ihre Bestimmung ist,) so sind und bleiben sie ewig im Streit mit der unteren, dieser Streit aber ist auch  gesetzwidrig,  weil sie die Übertretung der Gesetze nicht allein als kein Hindernis, sondern wohl agar als erwünschte Veranlassung ansehen, ihre große Kunst und Geschicklichkeit zu zeigen, alles wieder gut, ja noch besser zu machen, als es ohne dieselbe geschehen würde.

Das Volk will  geleitet,  d. h. (in der Sprache der Demagogen) es will  betrogen  sein. Es will aber nicht von den Fakultätsgelehrten, (denn deren Weisheit ist ihm zu hoch,) sondern von den Geschäftsmännern derselben, die das Machwerk (scavoir faire [praktische Geschicklichkeit - wp] verstehen, von den Geistlichen, Justizbeamten, Ärzten geleitet sein, die, als Praktier, die vorteilhafteste Vermutung für sich haben; dadurch dann die Regierung, die nur durch sie aufs Volk wirken kann, selbst  verleitet  wird, den Fakultäten eine Theorie aufzudrängen, die nicht aus der reinen Einsicht der Gelehrten derselben entsprungen, sondern auf den Einfluß berechnet ist, den ihre Geschäftsmänner dadurch auf das Volk haben können, weil dieser natürlicherweise dem am meisten anhängt, wobei es am wenigsten nötig hat, sich selbst zu bemühen und sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, und wo am besten die Pflichten mit den Neigungen in eine Verträglichkeit gebracht werden können; z. B. im theologischen Fach, daß buchstäblich glauben, ohne zu untersuchen, (selbst ohne einmal recht zu verstehen,) was geglaubt werden soll, für sich heilbringend ist, und daß durch die Begehung gewisser vorschriftsmäßiger Formalien unmittelbar Verbrechen abgewaschen werden können; oder im juristischen, daß die Befolgung des Gesetzes nach den Buchstaben der Untersuchung des Sinnes des Gesetzgebers enthebt.

Hier ist nun ein wesentlicher nie beizulegener gesetzwidriger Streit zwischen den oberen und der unteren Fakultät, weil das Prinzip der Gesetzgebung für die erstere, welches man der Regierung unterlegt, eine von ihr autorisierte Gesetzlosigkeit selbst sein würde. - Denn da  Neigung  und überhaupt das, was jemand seiner  Privatabsicht  zuträglich findet, sich schlechterdings nicht zu einem Gesetz qualifiziert, mithin auch nicht, als ein solches, von den oberen Fakultäten vorgetragen werden kann, so würde eine Regierung, welche dergleichen sanktionierte, indem sie wider die Vernunft selbst verstößt, jene oberen Fakultäten mit der philosophischen in einen Streit versetzen, der gar nicht geduldet werden kann, indem er diese gänzlich vernichtet, was freilich das kürzeste, aber auch (nach dem Ausdruck der Ärzte) ein in Todesgefahr bringendes  heroisches  Mittel ist, einen Streit zu Ende zu bringen.


Vierter Abschnitt
Vom gesetzmäßigen Streit der oberen
Fakultäten mit der unteren

Welcherlei Inhalts auch die Lehren immer sein mögen, deren öffentlichen Vortrag die Regierung durch ihre Sanktion den oberen Fakultäten aufzulegen befugt sein mag, so können sie doch nur als Statue, die von ihrer Willkür ausgehen, und als menschliche Weisheit, die nicht unfehlbar ist, angenomen und verehrt werden. Weil indessen die Wahrheit derselben ihr durchaus nicht gleichgültig sein darf, in Anbetracht welcher die der Vernunft, (deren Interesse die philosophie Fakultät zu besorgen hat,) unterworfen bleiben müssen, dieses aber nur durch Verstattung völliger Freiheit einer öffentlichen Prüfung derselben möglich ist, so wird, weil willkürliche, obgleich höchsten Orts sanktionierte Satzungen mit den durch die Vernunft als notwendig behaupteten Lehren nicht so von selbst immer zusammenstimmen dürften, erstens zwischen den oberen Fakultäten und der unteren der Streit unvermeidlich, zweitens aber auch  gesetzmäßig  sein, und dieses nicht bloß als Befugnis, sondern auch als Pflicht der letzteren, wenngleich nicht die  ganze  Wahrheit öffentlich zu sagen, doch darauf bedacht zu sein, daß alles, was, so gesagt, als Grundsatz aufgestellt wird, wahr ist.

Wenn die Quelle gewisser sanktionierter Lehren  historisch  ist, so mögen diese auch noch so sehr als heilig dem unbedenklichen Gehorsam des Glaubens anempfohlen werden; die philosophische Fakultät ist berechtigt, ja verbunden, diesem Ursprung mit kritischer Bedenklichkeit nachzuspüren. Ist sie  rational,  ob sie gleich im Ton einer historischen Erkenntnis (als Offenbarung) aufgestellte wurde, so kann ihr (der unteren Fakultät) nicht verwehrt werden, die Vernunftgründe der Gesetzgebung aus dem historischen Vortrag herauszusuchen, und überdies, ob sie technisch- oder moralisch-praktisch sind, zu würdigen. Wäre endlich der Quell der sich als Gesetz ankündigenden Lehre gar nur  ästhetisch,  d. h. auf ein mit einer Lehre verbundenes Gefühl gegründet, (welches, da es kein objektives Prinzip abgibt, nur als subjektiv gültig, ein allgemeines Gesetz daraus zu machen untauglich, etwa ein frommes Gefühl eines übernatürlichen Einflusses sein würde,) so muß es der philosophischen Fakultät frei stehen, den Ursprung und Gehalt eines solchen angeblichen Belehrungsgrundes mit kalter Vernunft öffentlich zu prüfen und zu würdigen, ungeschreckt durch die Heiligkeit des Gegenstandes, den an zu fühlen vorgibt, und entschlossen dieses vermeintliche Gefühl auf den Begriff zu bringen. - Folgendes enthält die formalen Grundsätze der Führung eines solchen Streits und die sich daraus ergebenden Folgen.
    1) Dieser Streit kann und soll nicht durch friedliche Übereinkunft (amicabilis compositio [freundschaftliche Einigung - wp] beigelegt werden, sondern bedarf (als Prozeß einer  Sentenz,  d. h. des rechtskräftigen Spruchs eines Richters der Vernunft); denn es könnte nur durch Unlauterkeit, Verheimlichung der Ursachen des Zwistes und Beredung geschehen, daß er beigelegt würde, dergleichen Maxime aber dem Geist einer  philosophischen  Fakultät, als der auf öffentliche Darstellung der Wahrheit geht, ganz zuwider ist.

    2) Er kann nie aufhören, und die philosophische Fakultät ist diejenige, die dazu jederzeit gerüstet sein muß. Denn statuarische Vorschriften der Regierung in Anbetracht der öffentlich vorzutragenden Lhren werden immer sein müssen, weil die unbeschränkte Freiheit alle seine Meinungen ins Publikum zu schreien, teils der Regierung, teils aber auch diesem Publikum selbst gefährlich werden müßte. Alle Satzungen aber, weil sie von Menschen ausgehen, wenigstens von diesen sanktioniert werden, bleiben jederzeit der Gefahr des Irrtums oder der Zweckwidrigkeit unterworfen; mithin sind sie es auch in Anbetracht der Sanktionen der Regierung, womit diese die oberen Fakultäten versieht. Folglich kann die philosophische Fakultät ihre Rüstung gegen die Gefahr, womit die Wahrheit, deren Schutz ihr aufgetragen ist, bedroht wird, nie ablegen, weil die oberen Fakultäten ihre Begierde zu herrschen nie ablegen werden.

    3) Dieser Streit kann dem Ansehen der Regierung nie Abbruch tun. Denn er ist nicht ein Streit der Fakultäten mit der Regierung, sondern einer Fakultät mit der anderen, dem die Regierung ruhig zusehen kann; weil, obgleich sie gewisse Sätze der oberen in ihren besonderen Schutz genommen hat, sofern sie solche der letzteren ihren Geschäftsleuten zum öffentlichen Vortrag vorschreibt, so hat sie doch nicht die Fakultäten, als gelehrte Gesellschaften, wegen der Wahrheit dieser ihrer öffentlich vorzutragenden Lehren, Meinungen und Behauptungen, sondern nur wegen ihres (der Regierung) eigenen Vorteils in Schutz genommen, weil es ihrer Würde nicht gemäß sein würde, über den inneren Wahrheitsgehalt derselben zu entscheiden, und so selbst den Gelehrten zu spielen. - Die oberen Fakultäten sind nämlich der Regierung für nichts weiter verantwortlich, als für die Instruktion und Belehrung, die sie ihren  Geschäftsleuten  zum öffentlichen Vortrag gegeben hat; denn die laufen ins Publikum, als  bürgerliches  gemeines Wesen, und sind daher, weil sie dem Einfluß der Regierung auf dieses Abbruch tun könnten, dieser ihrer Sanktion unterworfen. Dagegen gehen die Lehren und Meinungen, welche die Fakultäten unter dem Namen der Theoretiker untereinander abzumachen haben, in eine andere Art von Publikum, nämlich in das eines gelehrten gemeinen Wesens, welches sich mit Wissenschaften beschäftigt; wovon das Volks sich selbst bescheidet, daß es nichts davon versteht, die Regierung aber mit gelehrten Händen sich zu befassen, für sich nicht anständig findet. (1) Die Klasse der oberen Fakultäten, (als die rechte Seite des Parlaments der Gelehrtheit,) verteidigt die Statuten der Regierung, indessen, daß es in einer so freien Verfassung, als sie sein muß, wo es um Wahrheit zu tun ist, auch eine Oppositionspartei (die linke Seite) geben muß, welche die Bank der philosophischen Fakultät ist, weil ohne deren strenge Prüfung und Einwürfe die Regierung von dem, was ihr selbst ersprießlich oder nachteilig sein dürfte, nicht hinreichend belehrt werden würde. - Wenn aber die Geschäftsleute der Fakultäten in Anbetracht der für den öffentlichen Vortrag gegebenen Verordnung für ihren Kopf Änderungen machen wollten, so kann die Aufsicht der Regierung diese als  Neuerer,  welche ihr gefährlich werden könnten, in Anspruch nehmen, und doch gleichwohl über sie nicht unmittelbar, sondern nur nach dem von der oberen Fakultät eingezogenen alleruntänigsten Gutachten absprechen, weil diese Geschäftsleute nur  durch die Fakultät  von der Regierung zum Vortrag gewisser Lehren haben angewiesen werden können.

    4) Dieser Streit kann sehr wohl mit der Eintracht des gelehrten und bürgerlichen gemeinen Wesens in Maximen zusammen bestehen, deren Befolgung einen beständigen Fortschritt beider Klassen von Fakultäten zu größerer Vollkommenheit bewirken muß, und endlich zur Entlassung von allen Einschränkungen der Freiheit des öffentlichen Urteils durch die Willkür der Regierung vorbereitet.
Auf diese Weise könnte es wohl dereinst dahin kommen, daß die Letzten die Ersten, (die untere Fakultät die obere) würden, zwar nicht in der Machtausübung, aber doch in der Beratung des Machthabenden (der Regierung), als welche in der Freiheit der philosophischen Fakultät und der ihr daraus erwachsenden Einsicht, besser, als in ihrer eigenen absoluten Autorität, Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke antreffen würde.


Resultat

Dieser Antagonismus, d. h.  Streit  zweier miteinander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigter Parteien (concordia discors, discordia concors) ist also kein  Krieg,  d. h. keine Zwietracht aus der Entgegensetzung der Endabsichten in Anbetracht des gelehrten  Mein  und  Dein,  welches, sowie das politische, aus  Freiheit  und  Eigentum  besteht, wo jene, als Bedingung, notwendig vor diesem vorhergehen muß; folglich den oberen Fakultäten kein Recht verstattet werden kann, ohne daß es der unteren zugleich erlaubt bliebe, ihre Bedenklichkeit über dasselbe an das gelehrte Publikum zu bringen.
LITERATUR: Immanuel Kant, Streit der Fakultäten [1798] - Immanuel Kants Sämtliche Werke, Bd. 7, Ausgabe Hartenstein, Leipzig 1868
    Anmerkungen
    1) Dagegen, wenn der Streit vor dem bürgerlichen gemeinen Wesen (öffentlich z. B. auf Kanzeln) geführt würde, wie es die Geschäftsleute (unter dem Namen der Praktiker) gern versuchen, so wird er unbefugterweise vor den Richterstuhl des Volks, (dem in Sachen der Gelehrsamkeit überhaupt kein Urteil zusteht,) gezogen und hört auf, ein gelehrter Streit zu sein; da dann jener Zustand des gesetzwidrigen Streits, wie oben erwähnt, eintritt, wo Lehren den Neigungen des Volkes angemessen vorgetragen werden, und der Same des Aufruhrs und der Factionen [gegnerische Parteien - wp] ausgestreut, die Regierung aber dadurch in Gefahr gebracht wird. Diese eigenmächtig sich selbst dazu aufwerfendenn Volkstribunen treten sofern aus dem Gelehrtenstand, greifen in die Rechte der bürgerlichen Verfassung (Welthändel) ein und sind eigentlich die  Neologen  [Neulehrer - wp], deren mit Recht verhaßter name aber sehr mißverstanden wird, wenn er jeden Urheber einer Neuigkeit in Lehren und Lehrformen trifft. (Denn warum sollte das Alte eben immer das Besser sein?) Dagegen diejenigen eigentlich damit gebrandmarkt zu werden verdienen, welche eine ganz andere Regierungsform, oder vielmehr eine Regierungslosigkeit (Anarchie) einführen, indem sie das, was eine Sache der Gelehrsamkeit ist, der Stimme des Volkes zur Entscheidung übergeben, dessen Urteil sie durch Einfluß auf seine Gewohnheiten, Gefühle und Neigungen nach Belieben lenken, und so einer gesetzmäßigen Regierung den Einfluß abgewinnen können.