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GEORG JÄGER
Erkenntniskritik und Staatswissenschaft
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"Über das allgemeine Gesetz des Denkens vermag sich auch die geschichtliche Erkenntnis nicht zu erheben. Sie bleibt unter dem Einfluß ihrer eigenen Gegenwart. Von ihr empfängt sie die Anschauungen, in die der Geist die geschichtlichen Eindrücke gießt. Die Objektivität der historischen Methode ist ebensosehr Schein und Selbsttäuschung, wie die Objektivität der Vernunfterkenntnis. Der wirksame Inhalt des Denkens wird von Kräften erzeugt, deren keine Methode Herr ist. Sie ist der Saum, der dem Gewebe Halt gibt und sich einbildet, selbst am Webstuhl des Denkens zu sitzen. Die Methode vermag keinen Denkinhalt zu schaffen."

"Wer die geistige Wirklichkeit, das Denken und seinen Gedankeninhalt aus dem Mechanismus materieller Kräfte erklären will, muß ihr zuerst ihr Wesen rauben: er muß das Denken töten und es in ein Objekt verwandeln, das seiner wahren Natur entfremdet ist. Das ist die ewige Schranke einer Erkenntnisweise, die die Gesamtheit der Erscheinungen nach dem Ideal eines mechanischen Zusammenhangs, nach der Idee notwendiger formaler Beziehungen erklären muß. Erkannte Notwendigkeit ist noch keine begriffene Notwendigkeit. Die Beobachtung einer gesetzmäßigen Folge von Vorgängen und die Erkenntnis notwendiger Bedingungen bedeutet noch kein Verständnis des Kausalzusammenhangs."

"Der Staat ist eine Rechtsorganisation der Gesellschaft und nicht nur ein Bündel politischer Einrichtungen oder ein Machtverhältnis. Staat wird er für das Bewußtsein des Menschen nicht als Inhaber der Macht, sondern als Erzeugnis, Organ und Träger der Rechtsbildung. Staatsbildung ist Rechtsbildung und Rechtsbildung Staatsbildung. Die Auflösung des Rechts ist Auflösung des Staates und die Zerstörung des Rechtsglaubens Zerstörung des Staatsbewußtseins."

"Die Staats- und Rechtsidee ist keine Vernunftidee, das Gesetz der Staats- und Rechtsbildung ist keine Vernunftnotwendigkeit. Es gibt keinen Vernunftstaat, kein Vernunftrecht und keine rationale Staatswissenschaft. Der Staatsbegriff ist allerdings eine Einheit, aber keine logische oder theoretische, durch die Erscheinungen des geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebens von der Vernunft zusammengefaßt werden, sondern eine praktische Einheit, eine Einheit des Willens und der Zwecke. Sie setzt Gegensätze voraus, die sich bedingen und nicht wie logische Widersprüche einander aufheben."


I.

Wissenschaft ist bewußte Erkenntnis der Wirklichkeit und des Gesetzes, das in ihr wirkt und nach dem sie begriffen wird. Die Voraussetzung jeder Wissenschaft, die diesem ihrem Begriff entsprechen soll, also auch der Wissenschaft, deren Gegenstand Staat und Recht sind, ist die Einsicht in die Bedingungen der Erkennbarkeit ihres Objekts und Klarheit über die Denknotwendigkeit, in der der Geist den Maßstab der Wahrheit findet. Nur im Zusammenhang mit einer Untersuchung über die Bedingungen der Erkennbarkeit ist ein Urteil einerseits über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis und andererseits über die Art und den Grad von Sicherheit möglich, die sie zu erreichen vermag.

Staat und Recht gehören, wie das geschichtliche und gesellschaftliche Leben, der Welt der Erscheinungen, der Erfahrungstatsachen an. Demnach unterliegen sie zunächst den gleichen Erkenntnisbedingungen, wie alle Erfahrungstatsachen, den Kategorien, durch die und nach denen die Erfahrungswissenschaft, Erfahrung nicht nur als Kette zufälliger Eindrücke, sondern als Wissenschaft möglich wird.

Die wichtigste dieser Kategorien ist die der Kausalität: Die Erscheinungen werden dadurch erkannt, zu einer Einheit zusammengefaßt und begriffen, daß sie in einem Kausalzusammenhang eingereiht werden, durch den ihr Dasein, ihr Wesen, ihre ihrem Begriff entsprechende Wirkungsweise und ihre Notwendigkeit erklärt wird und zwar nicht nur durch die äußere Verknüpfung mit anderen Erscheinungen, sondern nach einem in ihnen wirksamen Gesetz.

Wahrheit und Wirklichkeit stehen über unserem Denken und sind doch von ihm abhängig. Die Wahrheit, die für uns mit der Wirklichkeit zusammenfällt, besteht in einem als notwendig empfundenen Verhältnis einer Außenwelt zu unserem Denken.

Aus dem Denken stammt das Gesetz der Erkenntnis; denn das letzte und höchste Kriterium der Wahrheit, das Gefühl der Denknotwendigkeit, ist ein geistiger Vorgang und eine Tatsache des Bewußtseins. Die Wirklichkeit nach einem Gesetz begreifen, das unserem Denken entspringt, bedeutet jedoch keineswegs, in die Welt das Wesen unserer Vernunft gewaltsam hineinlegen und sie einer subjektiven Form unterwerfen. Es heißt vielmehr, sie in der Gestalt begreifen, in der allein sie für uns ein Dasein hat. Denn die Welt existiert für uns nur als Erscheinung durch ihr Verhältnis zu unseren Sinnen und zu unserem Denken. Die Gesetze der Erkenntnis werden zu objektiven Gesetzen der Welt und ihres Lebens. Der Tatsache des gesetzmäßigen Zusammenhangs unserer Vorstellungen entspricht die Notwendigkeit eines gesetzmäßigen Kausalzusammenhangs der Erscheinungen.

Wie die Welt für uns nur zustande kommt durch ein Verhältnis zu unserem Denken, so unser Denken nur durch ein Verhältnis zu einer Welt, zu einem Objekt des Denkens. Beide Elemente durchdringen sich im Wesen der Wahrheit und Wirklichkeit. Die Abhängigkeit von einem Objekt und die Unterwerfung unter die in ihm wirksame Notwendigkeit gehört ebensogut zur Wahrheit des Denkens wie die Unterwerfung unter sein eigenes innerstes Gesetz. Nicht in der Selbstbespiegelung, sondern in der gesetzmäßigen Wirklichkeit einer objektiven, außerhalb von uns stehenden, von uns erkannten und begriffenen Erscheinungswelt kommt uns Wesen und Notwendigkeit des Denkens zu Bewußtsein. Im Bild dieser objektiven Welt verschwindet der geistige Ursprung der notwendigen Anschauungs- und Erkenntnisformen, so daß wir diese, wie Raum und Zeit, als außerhalb von uns stehende Tatsachen empfinden. In der bewußten wissenschaftlichen Erkenntnis wird sich die Wahrheit des Denkens ihres eigenen Wesens bewußt, indem es sich in eine Wirklichkeit versenkt und ihre Gesetze zu schauen glaubt. Die Einsicht in diese Abhängigkeit, auf der die Objektivität der Wissenschaft beruth, gehört ebenso zu ihrer Selbsterkenntnis wie die Einsicht in den geistigen Ursprung der Denknotwendigkeit. Durch das Zusammenwirken beider Elemente unterscheidet sich die Wissenschaft einerseits vom trügerischen Blendwerk metaphysischer Spekulationen, andererseits von einem rohem Empirismus, der sich begnügt allerlei Erfahrungen aufzustapeln und äußerlich zu verbinden.

Die Abhängigkeit von einem Objekt bedeutet die Abhängigkeit von der besonderen Natur dieses Objekts. Die Empfindung der Notwendigkeit, das Kriterium der Wahrheit, ergibt sich aus dem Verhältnis, in dem das Denken, das Bewußtsein zu einer bestimmten Reihe von gleichartigen Erscheinungen steht: das Erkenntnisprinzip einer Wissenschaft spricht dieses Verhältnis aus. Demnach muß das Erkenntnisprinzip der Staatswissenschaft sich nach dem besonderen Wesen von Staat und Recht, von geschichtlichem und gesellschaftlichem Leben und nach dem Verhältnis richten, das kraft einer inneren Notwendigkeit zwischen ihnen und dem menschlichen Geist besteht.

Der eigenartige Charakter der Staatswissenschaft ist eine Tatsache: er folgt aus dem eigenartigen Charakter ihres Gegenstandes und der besonderen Natur des Verhältnisses, in dem das Bewußtsein zu ihm steht. Die Wissenschaft ist eine Form menschlichen Denkens und menschlicher Erkenntnis. Sie schafft also die Vorstellungen nicht, in denen dieses in seiner Tatsächlichkeit notwendige Verhältnis zum menschlichen Gemeinschaftsleben und zu Staat und Recht, den Formen, in denen dieses sich verwirklicht, eine geistige Gestalt gewinnt, sondern setzt sie voraus und hängt von ihnen ab. Ihre Aufgabe ist deshalb nicht, sich über das menschliche Denken zu erheben, sondern aus den Vorstellungen die subjektiven, willkürlichen, zufälligen Bestandteile auszuschalten und eine allgemeingültige Denknotwendigkeit festzustellen, die als Wahrheit empfunden wird. Wie ist es nun der Staatswissenschaft möglich, dieses zufällige, willkürliche, subjektive Element zu überwinden, das doch einmal im menschlichen Denken nach seinem Ursprung und seiner Gestalt liegt, und so Gewißheit, Kraft und Autorität einer Wissenschaft zu gewinnen?

Eine Erkenntnislehre, die Wahrheit und Wirklichkeit auf das Gefühl der Denknotwendigkeit und das Zusammenwirken von Anschauungs- und Denkformen mit äußeren Eindrücken und Erfahrungen begründet, scheint vor der Pforte der Skepsis zu stehen. Denn gerade durch das Zusammenwirken zweier Elemente schwindet der feste Boden einer einheitlichen Notwendigkeit: die Einheit der Erkenntnis und mit ihr die Einheit der Welt. Denn diese wird nicht hergestellt durch das bunte Spiel äußerer Eindrücke, sondern durch einen einheitlichen Erklärungsgrundsatz, den das Denken als allgemeingültig und notwendig empfindet. Steht nun das Denken zu verschiedenen Erscheinungsreihen in einem verschiedenen Verhältnis, dann löst sich die Einheit der Denknotwendigkeit auf; diese besteht nur noch in einem subjektiven Gefühl, das auch Selbsttäuschung beruhen kann. Das einheitliche Prinzip und der letzte Erklärungsgrund verschwinden, in denen Wahrheit und Wirklichkeit den ruhenden Pol finden.

Trotzdem lehnte die Erkenntniskritik die Skepsis als eine Unmöglichkeit ab. Durch die Skepsis würde sie ihr eigenes wissenschaftliches Dasein zerstören. Das Vertrauen auf die Wirklichkeit der Wahrheit schöpfte sie aus dem tatsächlichen Bestand einer exakten unbedingt sicheren Wissenschaft, der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft. In ihnen fand das Wahrheitsgefühl Sicherheit und volle Befriedigung und erhobe sich über seine subjektive Zufälligkeit zu allgemeingültiger Gewißheit. In ihnen wurde das Ideal der Erkenntnis geschichtliche Wirklichkeit: ein notwendiges Denken pflanzte sich fort in einem stetigen Fortschritt der Wissenschaft.

Dieses glänzende Vorbild erschüttert jedoch das Selbstvertrauen der Staatswissenschaft, sobald sie sich der Eigenart ihrer Erkenntnisweise bewußt wird. Sie besitzt das Sicherheitsgefühl nicht, das der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft die geschichtliche Tatsache ihres kontinuierlichen Entwicklungsganges gab, bei dem jede Erkenntnis die feste Grundlage neuer Erkenntnisse bildete.

In der Jugendzeit der modernen Wissenschaft glaubten die staatswissenschaftlichen Denker allerdings in der mathematischen Methode ein universales Prinzip aller Erkenntnis zu besitzen. Geblendet durch die Ergebnisse und die Gewißheit der Mathematik und der Naturwissenschaft, hofften sie nach ihrem Vorbild und ihrem Erkenntnisgesetz die Staatslehre zum Rang einer Wissenschaft zu erheben, die Gesetze des Staatslebens nach einer unumstößlichen sicheren Methode zu entwickeln und die Probleme des politischen Denkens mit der Objektivität zu lösen, mit der die Astronomie die Bewegungen der Himmelskörper bestimmt.

Das Naturrecht machte ernst mit dieser Idee: es war der erste systematische Versucht, Staat und Recht aus ihren ewigen, mit ihrem Ursprung und Dasein gegebenen Wurzeln, aus dem Wesen der menschlichen Natur zu begreifen und sie so in die Universalität des Naturzusammenhangs, ihr Erklärungs- und Erkenntnisprinzip in die Einheit und Allgemeingültigkeit naturwissenschaftlich-mathematischer Erkenntnis einzuschließen. Das war sicher ein großer verheißungsvoller Gedanke. Aber der Versuch scheiterte und mußte scheitern. Indem der Begriff der  Natur  projiziert wurde auf die menschliche Natur und die natürliche Grundlage der Gesellschaft, verlor er seine Einheit, und das auf ihm aufgebaute Erkenntnisprinzip büßte die Einfachheit und den absoluten Charakter mathematischer und mechanischer Anschauungsformen ein. Was den naturrechtlichen Denkern als natürliche Ursache und natürlicher Inhalt von Staat und Recht vorkam, war nicht eine unbedingte letzte Notwendigkeit, sondern ein Spiegelbild der in ihrer eigenen Zeit wirksamen Entwicklungstendenzen. Denn die soziale Natur, der Inbegriff der in der menschlichen Gemeinschaftsbildung wirksamen Kräfte, offenbart und entfaltet sich im geschichtlichen Bildungsprozeß von Staat und Recht und nicht in einem eingebildeten, vorgeschichtlichen oder übergeschichtlichen Naturgesetz.

Ausgehend von einer naturrechtlichen Gedankenwelt, entwarf die klassische Nationalökonomie die Grundrisse einer exakten Gesellschaftslehre: Wert, Arbeitslohn, Kapitalzins, Grundrenge wurden als Stammbegriffe aufgefaßt, die den gesetzmäßigen Raumanschauungen der Mathematik glichen, als notwendige ökonomische Anschauungsformen, die nur der vernünftigen Entwicklung zu bedürfen schienen, um mit unbedingter Gültigkeit und Denknotwendigkeit Klarheit und Genauigkeit zu verbinden, fähig, jeden ökonomischen Erfahrungsinhalt zu fassen, zu gliedern und zu beherrschen, wirksam und erkennbar in den Erscheinungen und doch vermöge ihrer logischen Natur über den Erscheinungen stehend. Indem man aus ihnen ein System beharrlicher, gesetzmäßiger und vernunftgemäßer Beziehungen entwickelte, glaubte man die notwendige Wirkungsweise ökonomischer Vorgänge bestimmen und die Notwendigkeit erkennen zu können, die dem gesellschaftlichen Zusammenwirken der Menschen und ihren Rechtsbeziehungen ihren wahren und wirksamen Inhalt gibt. So wurde ein System geschaffen, in dem sich das Wesen wissenschaftlicher Wahrheit zu vollenden schien: die Einheit von begriffener Notwendigkeit und Tatsachen, von vernünftiger Erkenntnis und erfahrungsmäßiger Wirklichkeit.

Im Wertbegriff glaubte diese sozialwissenschaftliche Dialektik die notwendige Anschauungsform, den Grundbegriff gefunden zu haben, von dem aus sie die ökonomisch-gesellschaftliche Welt in einer ihrem Wesen und der menschlichen Betrachtungsweise angemessenen Art erklären und aufbauen kann. Aber eine bloße Form vermag das Leben nicht zu erklären und nicht zu gestalten und ist nicht imstande, dem Denken einen Spiegel zu geben, in dem es sich selbst wiedererkennt. Deshalb erfüllte die klassische Nationalökonomie in der Idee des Arbeitswertes die Wertform mit einem bestimmten Inhalt. Diesen entnahm sie dem Leben, dessen geistiges Erzeugnis sie selbst war. Sie war der theoretische Ausdruck der Vorstellungen einer Produktionsgesellschaft, deren wichtigste Lebensbetätigung die produktive Arbeit ist. So mußte es sein. Denn seinen wirksamen Inhalt empfängt der Wertbegriff aus dem Gesellschaftszustand, in dem er sich selbst bildet, und aus der Gesamtheit der ökonomisch-rechtlichen Verhältnisse, aus denen er als Maßstab des Urteils hervorwächst.

Aber als der Wertbegriff einen bestimmten Inhalt empfing, verlor er den absoluten Charakter, den er beanspruchte und der einer unvermeidlichen Jllusion entsprang. Denn die bedingte Notwendigkeit erzeugt das Gefühl der absoluten Notwendigkeit, weil das Denken unter ihrer Herrschaft steht, jedoch nur so lange, wie ihre gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen dauern. Das Leben, das der Wertbegriff der klassischen Nationalökonomie in sich aufnahm und dem er seine Wirkungskraft verdankte, zog ihn in den Bereich seiner eigenen Entwicklung und bewährte an ihm seine gestaltende und zerstörende Gewalt. Er wurde folgerichtig durchdacht; die Dialektik des Denkens schien der notwendigen inneren Entwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu folgen. Dabei sprengte er die Formen, in die die klassische Nationalökonomie seine Wirkungsweise zu bannen suchte. Die Theorie, die sich aus der klassischen Nationalökonomie entwickelte, unterwarf die Kategorien des Arbeitslohnes, des Kapitalzinses und der Grundrente dem Gesetz der Wertbildung, das in der Arbeitswertlehre seine begriffliche Grundlage fand. Dabei trat ihr historisch bedingter Charakter zutage: notwendige Erscheinungen und Anschauungsformen sind Kapitalzins, Grundrente und Arbeitslohn nur innerhalb einer bestimmten, geschichtlichen Rechts- und Eigentumsordnung. Diese Erkenntnis zerstörte die Grundlagen der klassischen Nationalökonomie.

Immer wieder schritt das Leben über die Vorstellungen hinweg, die ihre Sicherheit im Zusammenhang mit einem allgemeingültigen Prinzip zu finden glaubten und eine absolute Notwendigkeit beanspruchten. Denn eine geschichtliche Notwendigkeit erzeugt den Inhalt des sozialen Denkes und mit ihm die Vorstellungen, in denen es den Maßstab der Wahrheit findet.

In der geschichtlichen Forschung und der historischen Erkenntnis ihres eigenen Wesens scheint demnach der Staatswissenschaft das einzige Erkenntnisprinzip zu bleiben, das dem Bildungsprozeß der Begriffe und der Tatsachen entspricht, ein Schutz gegen die Selbsttäuschungen der Vernunft, ein Mittel zum kritischen Verständnis des sozialen Lebens und Denkens.

Aber über das allgemeine Gesetz des Denkens vermag sich auch die geschichtliche Erkenntnis nicht zu erheben. Sie bleibt unter dem Einfluß ihrer eigenen Gegenwart. Von ihr empfängt sie die Anschauungen, in die der Geist die geschichtlichen Eindrücke gießt. Die Objektivität der historischen Methode ist ebensosehr Schein und Selbsttäuschung, wie die Objektivität der Vernunfterkenntnis. Der wirksame Inhalt des Denkens wird von Kräften erzeugt, deren keine Methode Herr ist. Sie ist der Saum, der dem Gewebe Halt gibt und sich einbildet, selbst am Webstuhl des Denkens zu sitzen. Die Methode vermag keinen Denkinhalt zu schaffen. Sie wird als Mittel gebraucht, bestimmte Gedanken als Erzeugnis einer notwendigen Anschauungsform oder Forschungsweise vor den Kräften zu schützen, die an ihnen rütteln. Der Dogmatismus der Methode erhebt sich über die Ideen und den wahren Bildungsprozeß der Gedanken. So sondert sich die Theorie vom Leben des Denkens und der Notwendigkeit einer Entwicklung, die sich von ihrer eigenen Vergangenheit befreit. Der Inhalt stirbt ab, der durch eine tote Form geschützt werden soll.

Die Staatswissenschaft hat das absolute System nicht gefunden, auf dem sie hätte weiterbauen können, wie die Astronomie auf der unverrückbaren Grundlage von NEWTONs  Philosophia naturalis.  Alle Forscher vererbten die Sisyphus-Arbeit, an die sie sich wagten, ihren Nachfolgern. Nicht in einer kontinuierlichen Entwicklung bestanden die Fortschritte staatswissenschaftlichen Denkens, sondern in der kritischen Auflösung der Begriffe, die in einer Phase der Geschichte für die Ewigkeit zu herrschen wähnten.

Trotzdem läßt sich das Nachdenken über Staat und Recht, über die Wirklichkeit menschlicher Gemeinschaftsbildung den Trieb nicht nehmen, Wissenschaft zu werden, Klarheit, Selbstgewißheit und Einsicht in seine eigene Notwendigkeit zu gewinnen. Trotz ihrer Vergänglichkeit und Bedingtheit behauptet die Staatswissenschaft ihren wissenschaftlichen Charakter. Worin besteht aber dann ihr Wahrheitsprinzip und Erkenntniswert, wenn sie die unbedingte Gewißheit der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, einen freien Standpunkt über ihrem Gegenstand nicht zu erreichen vermag?

Die Stärke der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft ist zugleich ihre Schwäche. Die Mathematik beschreibt und entwickelt die Formen und Bedingungen gesetzmäßiger Raum- und Größenanschauung, die mit unserer Anschauungsweise gegeben sind und denen sich deshalb alle empirischen Raumverhältnisse fügen müssen. Sie entwickelt notwendige Formen mit untrüglicher Sicherheit. Die in ihnen wirksamen Lebenskräfte aber kann sie uns nicht verständlich machen. Sie vermag sie nur zu messen, nicht zu erklären. Auch der Mechanismus des Naturgesetzes bleibt eine unbestreitbare, aber unbegriffene Notwendigkeit: dem Geist steht sie tot und fremd gegenüber. Denn für ihn ist die letzte unbedingt gewisse Wirklichkeit sein eigenes Leben und Denken, weil jeder äußere Vorgäng, um für das Bewußtsein Dasein zu gewinnen, zum Gedanken werden muß. Wer diese letzte Wirklichkeit, das Denken und seinen Gedankeninhalt aus dem Mechanismus materieller Kräfte erklären will, muß ihr zuerst ihr Wesen rauben: er muß das Denken töten und es in ein Objekt verwandeln, das seiner wahren Natur entfremdet ist. Das ist die ewige Schranke einer Erkenntnisweise, die die Gesamtheit der Erscheinungen nach dem Ideal eines mechanischen Zusammenhangs, nach der Idee notwendiger formaler Beziehungen erklären muß. Erkannte Notwendigkeit ist noch keine begriffene Notwendigkeit. Die Beobachtung einer gesetzmäßigen Folge von Vorgängen und die Erkenntnis notwendiger Bedingungen bedeutet noch kein Verständnis des Kausalzusammenhangs. Wie paradox es dem Selbstgefühl der Mathematik und Naturwissenschaft gegenüber klingen mag, sie sind niemals die volle Wahrheit, wohl eine solche, die den Verstand befriedigt und den Geist überwältigt, aber keine Wahrheit, die die Seele und die Gesamtheit ihrer Kräfte ergreift.

Der natürlichen Welt und der Welt der Raumverhältnisse gegenüber ist trotzdem diese Erklärungsweise die einzige wissenschaftlich mögliche. In der geschichtlichen und sozialen Welt dagegen wird der Kausalzusammenhang unserem Bewußtsein unmittelbar verständlich. Hier ist Leben von unserem Leben; hier spricht ein Geist zum anderen Geist; eine Wirkungskraft berührt sich mit der ihr verwandten. Denn die Ursache wirkt als Zweck. Die Wirkungskraft des Zwecks empfinden wir in uns selbst, während wir jede andere Notwendigkeit wohl wahrnehmen, aber nicht verstehen können. Der Geist, der im Menschen lebt, denkt und will, fühlt sich dem Gesetz, das Leben, Denken und Wollen in der Geschichte gestaltet, so nahe, daß er es zu begreifen glaubt. Denn er lebt mit ihm und ist ein Bestandteil seiner gestaltenden Kraft. So sehr ist uns die Wirkungskraft des Zweckes unmittelbar verständlich, daß wir selbst in der Erklärung der natürlichen Welt stets auf den Zweck und die Bestimmung eines Organismus unwillkürlich zurückgreifen.

Ein Gedanke, der bei der Erklärung der natürlichen Welt zu einem Widerspruch mit der Idee eines mechanischen Kausalzusammenhangs führt und dem hier nur ein sekundäres Recht zukommt, drängt sich in der Erkenntnis der geschichtlichen und sozialen Welt dem Denken mit unwiderstehlicher Gewalt als notwendiges Prinzip auf. Gerade bei den Vertretern materialistischer Staatstheorien beweist er seine Stärke, indem er sich ihnen aufzwingt trotz ihrer Voraussetzungen und ihres materialistisch-mechanistischen Erkenntnisprinzips: "Die Geschichte machen wir selbst", sagt MARX, wenn er den besonderen Vorzug der Staatswissenschaft, die Erkennbarkeit des gesellschaftlichen Lebens, das innere Verhältnis kennzeichnen will, in dem hier der denkende Geist zu den gestaltenden Ursachen steht: er kehrt also das materialistische Kausalverhältnis um und erkennt die Herrschaft eines Handelns an, das nach Zwecken verfährt. Einem verwandten unbewußten Zug des Denkens unterlag schon HOBBES, der Vater der neueren materialistisch-naturalistischen Staatslehre. Er leitete sogar die Sicherheit der Mathematik aus einem Erkenntnisprinzip ab, dessen überzeugende Kraft er im staatswissenschaftlichen Denken erfahren hatte: "Die Erkenntnis der Wahrheit, daß  2 + 3 = 5  ist, bedeutet die Einsicht, daß dieser Satz von uns geschaffen ist." (1) Er verlegt also den Ursprung unbedingter Gewißheit in unsere eigene schöpferische oder gesetzgeberische Tätigkeit und nicht in das objektive Dasein aprioristischer, als Notwendigkeit empfundener Anschauungs- und Denkformen.

Offenbar liegt hier eine Vermischung zweier Erkenntnisweisen vor, deren Eigenart wir uns vielmehr klar machen wollen, so wie sie sich aus dem notwendigen und tatsächlichen Verhältnis des Denkens zu einer Reihe von Erscheinungen, zu einem besonderen Gebiet der Erkenntnis und der Wirklichkeit ergibt.

Die unbedingte Gewißheit, die Mathematik und mathematische Naturwissenschaft für unser Denken haben, beruth auf dem Dasein ursprünglicher Anschauungsformen und Verstandesnotwendigkeiten. Sie treten in den Kreis des Bewußtseins und werden mit einem empirischen Inhalt erfüllt. Aber das Denken kann nicht mehr tun als sie anerkennen, ihre Wirkungen beobachten und die Folgerungen durchdenken, die sie enthalten.

Die Erscheinungen des staatlichen und rechtlichen, des geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebens kann allerdings unser Geist ebensowenig schaffen wir die Erscheinungen des natürlichen Lebens. Die gesetzgeberische Kraft sozialer Zweck ist keine unbeschränkte, freie Schöpferkraft. Die Geschichte und ihre realen Bedingungen kann sie nicht erzeugen, nicht "machen". In dieser Beziehung müssen wir MARX gegen seine eigene Inkonsequenz verteidigen. Denn auch die Zwecke haben ihre notwendigen geschichtlichen und gesellschaftlichen Ursachen und bedürfen der Kausalerklärung. Wohl aber stellt unser Bewußtsein die Bedingungen, nach denen uns Vorgänge und Zustände des gesellschaftlichen Lebens als Staat und Recht vorkommen, als solche auf unser Denken und Wollen wirken und also für uns Staat und Recht im Sinne ihres notwendigen Begriffs sind. Die Idee von Staat und Recht, die zu ihrem Wesen gehört, ist ein Werk unseres Bewußtseins. Weil Staat und Recht dem Gebiet des Willens angehören und nach ihrer Idee gestaltet werden müssen, werden die Bedingungen, nach denen sie ihr Wesen erfüllen, zu Zwecken und zwar zu notwendigen Zwecken. Denn Staat und Recht sind notwendige Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens.

Diese notwendigen Zwecke werden zu einem Maßstab des Urteils und einem Gesetz des Willens, so daß ein Zwang, eine innere Nötigung entsteht, die Einheit von Idee und Wirklichkeit, die Wahrheit von Staat und Recht herzustellen. Weil der Staat die notwendige Form menschlichen Gemeinschaftslebens ist, ist seine Verwirklichung die Verwirklichung der Notwendigkeit, die das Gemeinschaftsleben in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung, unter bestimmten geschichtlichen Lebensbedingungen gestaltet. Daraus folgt, daß der wahre Staat nicht unter allen Umständen zusammenfällt mit einer erstarrenden politischen Organisation, die den Namen  Staat  trägt, aber nicht mehr die Verwirklichung menschlichen Gemeinschaftslebens darstellt.

Die Bedingungen, nach denen geschichtliche Vorgänge und Tatsachen als Staat und Recht beurteilt werden, stellt das Bewußtsein nicht als abstraktes Vernunftwesen, der Wille als freier sittlicher Wille, sondern den Willen und das Denken in einer geschichtlich bestimmten Gestalt. Denn auch die Notwendigkeit, die die Formen des Lebens gestaltet, besteht und wirkt nicht als abstraktes Vernunftgesetz, sondern als geschichtliche Notwendigkeit, die unlösbar mit der geschichtlichen Wirklichkeit verknüpft ist.

Die Bedingungen, nach denen Staat und Recht als Staat und Recht empfunden und begriffen werden, geben dem Denken und Wollen einen Maßstab des Urteils und des Entschlusses: er ist gültig, weil er aus der Notwendigkeit und dem Leben hervorwächst, die das Bewußtsein und die Wirklichkeit menschlicher Gemeinschaftsbildung gestalten.

Der Bildungsprozeß von Staat und Recht, die Verwirklichung des wirksamen Prinzips menschlicher Gemeinschaftsbildung und die Gestaltung des Staats- und Rechtsbewußtseins, der lebendigen Gemeinschaftsideen über und unter dem Spiel geschichtlicher Ereignisse sind zwei Seiten des gleichen Lebensvorgangs. Sie hängen von der gleichen Notwendigkeit ab. Dies ist die Kraft, die Leben und Denken, die Staat und Recht in ihrem wahren inneren Sein und Staats- und Rechtsideen zur Einheit nötigt. Sie stellt die innere Kongruenz zwischen Begriff und Gegenstand, zwischen der wirksamen Ursache menschlicher Gemeinschaftsbildung und dem sozialen Denken her. Sie vollzieht das Todesurteil an absterbenden Theorien, die zur Unwahrheit werden. Sie erzeugt den Maßstab, nach dem sich eine tote Staats- und Rechtsgelehrsamkeit von den Gedanken unterscheidet, die aus dem Leben geboren werden und in ihrer Wirkungskraft das Kennzeichen der Wahrheit, des festen Zusammenhangs mit einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeit und Wirklichkeit tragen.

Mathematik und Naturwissenschaft nähern sich in einem kontinuierlichen Fortschritt einer ewigen Wahrheit, die sie immer klarer und vollkommener entwickeln. Die Notwendigkeit, die sie suchen, ist nicht entwicklungsfähig; sie steht über der Geschichte der Erscheinungen und des Denkens, ohne selbst eine Geschichte zu haben. Denn die Naturgeschichte, die Entwicklung der natürlichen Welt ist die Wirkung einer letzten und höchsten Notwendigkeit, nicht diese Notwendigkeit selbst. Weil nun Mathematik und Naturwissenschaft sich selber geschichtlich entfalten, entsprechen sie niemals ganz ihrem eigenen Ideal; niemals können sie den vollen Inhalt der ewigen unabänderlichern Wahrheit und Wirklichkeit ausdrücken, über die sie den Geist aufklären wollen. Das ist die Unvollkommenheit, die trotz des Scheins der Vollkommenheit zu ihrem Wesen gehört.

Die Staatswissenschaft ist der geistige Ausdruck des geschichtlichen Lebens, mit und in dem sie sich entwickelt. Sein nächstes und unmittelbares Erzeugnis ist ein staatliches und rechtliches Denken, ein Bewußtsein, in dem sich die Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit, die Bildung der relativen Wahrheit geschichtlich bedingter Begriffe nach dem Gesetz vollzieht, das Denken und Wirklichkeit beherrscht. Dieses Bewußtsein wird nicht durch die Staatswissenschaft geschaffen. Beansprucht sie das, dann macht sie sich selbst zum Gesetz der Wahrheit und Notwendigkeit, statt sich ihm zu unterwerfen. Sie vermag es auszulegen und in Begriffe zu fassen. Ein absolutes Gesetz auszusprechen, darauf muß sie verzichten. Das Dasein der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit vermag sie nicht zu erklären, sondern nur die Umbildung der geschichtlichen und ökonomischen Tatsachen zu Staat, Recht und einem ökonomisch-gesellschaftlichen Organismus. Denn erst durch diese Umbildung werden die Tatsachen einer notwendigen Form und einer notwendigen Idee unterworfen. Ansich sind die geschichtlichen und ökonomischen Tatsachen nicht notwendig im Sinne einer Denknotwendigkeit, sondern sie schaffen sich eine solche, weil sie da sind.

Ein aprioristische Denknotwendigkeit kann sich nur aus dem Dasein notwendiger Anschauungs- oder Denkformen ergeben, wie bei der mathematischen Erkenntnis. Die Staatswissenschaft aber vermag die Kette angeblicher Notwendigkeiten nicht in die Zukunft fortzusetzen, ohne durch die Macht der ungeahnten Tatsachen der Nichtigkeit ihres Prophetenanspruches überführt zu werden. Sie kann erkennen, was sich in seinen Wirkungen bemerkbar macht, nicht voraussagen, was geschehen wird, weil es geschehen muß.

Die Staatswissenschaft entwickelt sich mit der Wirklichkeit und dem Leben, mit einer Rechts- und Staatsbildung, die ihre Zwecke und Begriffe aus ihrem eigenen geschichtlichen Charakter und ihrer eigenen inneren Entwicklung schöpft. Eine absolute Staatswissenschaft ist ein Phantom, wie ein absolutes staatliches und rechtliches Denken. Die Bedingungen, die der Erkenntnis von Staat und Recht gestellt werden, verändern sich mit dem geschichtlichen Wesen von Staat und Recht. Die Staatswissenschaft vermag die Einheit mit dem Leben, das sie geistig erfassen will, zu erreichen, weil sie aus diesem Leben hervorwächst. Sie kann also einen vollen Wahrheitsgehalt gewinnen und als Wahrheit auf die Seele wirken. Aber die Folge, ja die Voraussetzung ist die Vergänglichkeit der Staatswissenschaft in jeder ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen. Denn Tod, Geburt und Leben gehören zusammen. Das Leben muß des Todeskeim in sich tragen, um sich zu erneuern. Die Erkenntnis, die der geistige Ausdruck eines Lebensgesetzes sein will, muß sich dem Entwicklungsgesetz unterwerfen, unter dem das Leben steht.

Die Staatswissenschaft ist mit der Wirklichkeit verwachsen. Deshalb vermag sie wahr zu sein. Aber der gleichen Tatsache entspringen auch die Schranken ihrer Wahrheit und ihre inneren Widersprüche: denn die Wirklichkeit ist einerseits Erscheinung und wirkt als Erscheinung, andererseits ist sie eine Wirklichkeit, die nicht in der Erscheinung aufgeht und ihr als verborgene Notwendigkeit gegenübersteht.


II.

Staat und Recht sind nicht zufällige geschichtliche Gebilde; sie sind notwendige Formen des Gemeinschaftslebens, notwendige Zwecke und Begriffe. Sie müssen aus einer Lebensnotwendigkeit geboren und mit einem lebendigen Bewußtsein verwachsen sein, wenn sie ihr Wesen erfüllen, als Staat und Recht wirken, Staat und Recht sein sollen.

Die geschichtlichen Ereignisse tragen den Charakter des Unbegreiflichen und Zufälligen. Das Denken trägt die Idee eines notwendigen Kausalzusammenhangs in sie hinein, ohne daß die Erkenntnis sie aus einer letzten Notwendigkeit ableiten könnte. Sie aus einem höchsten zwecksetzenden Willen zu erklären, ist religiöser Glaube oder spekulative Phantasie. Sie auf eine mechanische, materielle Ursache zurückzuführen, ist eine undurchführbare materialistische Hypothese. Erst in der Rechts- und Staatsbildung werden Ereignisse und Tatsachen einer gesetzmäßigen Form unterworfen und an eine Notwendigkeit des Gemeinschaftsleben, des Denkens und Wollens verknüpft. In dieser Gestalt erheben sich ihre Wirkungen über die Vergänglichkeit zufälliger Erscheinungen. Erst die Einsicht in das Wesen der Rechts und Staatsbildung verwandelt das Bild von Erinnerungen und Eindrücken, die der geschichtliche Empirismus aus dem Strom der Begebenheiten schöpft, in die Erkenntnis eines gesetzmäßigen Prozesses, der Leben, Denken und Wollen an eine verständliche Notwendigkeit bindet. Welches ist das Wesen und die Art dieser Notwendigkeit? Das ist die Frage, die sich die Staatswissenschaft stellen muß. Denn ihre Aufgabe ist, das Wesen, die wirksamen Kräfte und das Prinzip menschlicher Gemeinschaftsbildung zu verstehen, geleitet von den geschichtlichen Erscheinungen, aber unbeirrt durch den historischen Schein.

Der Erkenntnisgrundsatz der Staatswissenschaft gilt auch für die geschichtliche Erkenntnis. Die Geschichte ist nicht nur ein Spiel wichtiger Begebenheiten und bedeutender Taten. Ihr Inhalt und bleibendes Ergebnis ist die Gemeinschaftsbildung. Sie ist Staats- und Rechtsbildung. Als solche kann sie nach den Grundsätzen gesetzmäßiger Erkenntnis begriffen werden.

Rechtsbildung und Staatsbildung fallen dabei zusammen. Der Staat ist seinem Wesen nach Rechtsstaat, allerdings nicht im Sinne einer veralteten Rechtsstaatsidee, die seine Wirksamkeit und seine Rechtsnatur an bestimmte Begriffe der positiven überlieferten und absterbenden Rechtsordnung knüpfte und ihn darauf beschränkte, sein Verfassungsrecht auszuüben und die Verteilung subjektiver Rechte zu überwachen oder zu sichern.

Der Staat ist eine Rechtsorganisation der Gesellschaft und nicht nur ein Bündel politischer Einrichtungen oder ein Machtverhältnis. Staat wird er für das Bewußtsein des Menschen nicht als Inhaber der Macht, sondern als Erzeugnis, Organ und Träger der Rechtsbildung. Seine nach innen gerichtete Tätigkeit erhält dadurch, daß sie von ihm ausgeht, Form und Kraft des Rechts. Er lebt im Recht, in der Gesamtheit des Rechtszustandes, durch den er selbst seinen Charakter erhält. Er stirbt und verändert sich mit dem Recht. Denn wie die wahre Kontinuität seines inneren Lebens, so besteht die Erneuerung und Umwandlung eines Staates in der Erneuerung und Umbildung seines Rechtslebens, seiner gesellschaftlichen Struktur, der Zwecke und Prinzipien, durch die er ein einheitlicher Rechtsorganismus wird. Diese Rechtsbildung ist das wahre Leben des Staates. Staatsbildung ist Rechtsbildung und Rechtsbildung Staatsbildung. Die Auflösung des Rechts ist Auflösung des Staates und die Zerstörung des Rechtsglaubens Zerstörung des Staatsbewußtseins.

Die Schöpfungen der Gewalt, die die Geschichte entstehen und vergehen sah, gewannen Bestand und Lebenskraft erst, wenn sich unter ihrem Schutz eine Rechtsordnung im Einklang mit dem in ihrem Machtbereich wirksamen Gesetze menschlicher Gemeinschaftsbildung entwickelte. Ja, dieses bereitete ihnen den Weg, indem es die politischen Gebilde auflöste, die für seine Verwirklichung zu eng wurden. Gewannen die Reiche, die die Gewalt schuf, nicht in einer solchen Rechtsordnung die Grundlage einer Lebenseinheit, dann erhielten sie nicht die geistige und soziale Natur und Wirkungsweise eines Staates. Sie zerfielen und erlagen den Gemeinschaften, die durch eine geistige und soziale Notwendigkeit, durch ein wirksames Gesetze geordneten Gemeinschaftslebens geschaffen wurden.

Als Rechts- und Staatsbildung muß auch die gewaltigste geschichtliche Bewegung der Gegenwart, der Sozialismus, begriffen werden und zwar nicht nur da, wo er in der Gestalt einer radikalen Theorie auftritt, sondern da, wo er in unserem Rechtsleben als wirksame Kraft und erkennbare Wirklichkeit erscheint. Er hat begonnen die Grundlagen der subjektiven Rechte und den Charakter des Gemeinschaftslebens umzugestalten. Im öffentlich-rechtlichen Versicherungsrecht und der sozialen Schutzgesetzgebung setzt der Staat dem Recht, das sich auf der Freiheit des Eigentums und der Vertragsfreiheit aufbaut, ein neues Prinzip der Rechtsbildung zur Seite. Ihr Wesen geht nicht darin auf, daß Lücken und Mängel privatrechtlicher Einzelinstitutionen durch staatliche Fürsorge ergänzt und ausgeglichen werden und private und kommunale Wohltätigkeit durch eine staatliche Verwaltungstätigkeit und öffentlich-rechtliche Einrichtungen erweitert wird. Sondern der Staat organisiert die sozialen Schutzeinrichtungen: dadurch gibt er ihnen die Stärke, die Sicherheit und den Charakter des Rechts. Sie verwachsen mit seinem Leben und die subjektiven Rechte gliedern sich in ein soziales Gesamtrecht ein, in dem Leben und Rechtspersönlichkeit eine Sicherheit finden, die ihnen das Eigentumsrecht und die Vertragsfreiheit nicht gewähren. In dieser Rechtsbildung, in der sich sein soziales und geistiges Wesen, sein Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben und zum Bewußtsein und Recht der einzelnen Menschen ändert, wird er selbst ein neuer Staat. Er erneuert sich, indem er seine Rechtsorganisation einer Lebensnotwendigkeit anpaßt, die als notwendiger Zweck der Rechtsbildung empfunden wird.

Eine staatswissenschaftliche Erkenntnislehre, die vom Rationalismus nicht loskam, suchte die Notwendigkeit der Staats- und Rechtsbildung als Vernunftnotwendigkeit zu begreifen. Die Rechtsprinzipien waren für sie  dictamina rationis,  Vorschriften der Vernunft, nach denen ein gesellschaftliches Leben möglich ist. Um ihren Inhalt zu konstruieren und zu sichern, wandte KANT das logische Gesetz des Widerspruchs an.

Aber die Staats- und Rechtsidee ist keine Vernunftidee, das Gesetz der Staats- und Rechtsbildung ist keine Vernunftnotwendigkeit. Es gibt keinen Vernunftstaat, kein Vernunftrecht und keine rationale Staatswissenschaft.

Das Gesetz des Widerspruchs ist ein Gesetz des individuellen Urteils, nicht des geschichtlichen, rechtlichen und staatlichen Denkens. In diesem kann heute falsch sein, was gestern wahr war, weil heute tot ist, was gestern lebte. Der Staatsbegriff ist allerdings eine Einheit, aber keine logische oder theoretische, durch die Erscheinungen des geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebens von der Vernunft zusammengefaßt werden, sondern eine praktische Einheit, eine Einheit des Willens und der Zwecke. Sie setzt Gegensätze voraus, die sich bedingen und nicht wie logische Widersprüche einander aufheben. Der Charakter der Einheit wird bestimmt durch die Natur der Gegensätze: besteht der Gegensatz in einem Streit individueller Rechtsansprüche, dann erhebt sich über ihnen der Staat einer individualistischen Rechtsidee, der die individuellen Rechtsansprüche anerkennt und zum Frieden nötigt; besteht er in einem Klassenkampf, dann erhebt sich über ihm der Staat, der die Klassen zum Frieden zwingt und in einem Ausgleich des Klassenkampfes die soziale Einheit sucht.

Eine bloße Form kann niemals Erklärungsgrund des Staates und der Staatsidee sein, weder eine Vernunftgebot noch die abstrakte Idee der Freiheit noch die Rechtsform. Die Rechtsform vermag den Staat und den Staatsbegriff ebensowenig zu erzeugen wie die logische Form den Gedanken oder der kategorische Imperativ, das Pflichtgebot, den Zweck. Die geschichtliche und die gegenwärtige Ursache des Staates ist seine soziale, geschichtlich gestaltete Notwendigkeit. Sie ist der Rechtsgrund des Daseins. Denn sie ist der Grund seiner Wirkungskraft und seiner Herrschaft über das Bewußtsein, das Denken und den Willen. Eine juristische Konstruktion, die den Staat durch ein Gerüst juristischer Begriffe von außen stützt, ohne in seinem Leben und im Rechtsbewußtsein zu wurzeln, ist Rauch und Schall. Ja diese Notwendigkeit ist die eigentliche Substanz des Staates, weil sie die Gemeinschaftsbildung gestaltet. Ob sie sich durchsetzt, das kommt überhaupt nicht in Frage, sondern  wie  sie sich durchsetzt und durch  wen.  Die Machthaber, die ihr widerstreben, verurteilen sich selbst zur Ohnmacht. Sie gleichen den Riesen der göttlichen Komödie, die im Eis festgebannt, die Welt zu erschüttern, aber nicht zu bewegen vermögen. Jede lebendige Staatsgewalt fühlt sich als Organ der Notwendigkeit oder wie der religiöse Glaube dachte und empfand, als Organ einer Gottheit, die jeder Zeit und jedem Staat ihre besonderen Aufgaben stellt. In diesem Sinne hätten die hohenzollerischen Fürsten von sich sagen können:  L'état c'est moi!  Im preußischen Königtum lebte der Geist und die Notwendigkeit des Staates. Deshalb vermittelte das Verhältnis des Bewußtseins zum Königtum die geistigen Beziehungen zum Staat.

Die Notwendigkeit der Staats- und Rechtsbildung ist das Ding-ansich von Staat und Recht. Indem die Erkenntniskritik die Unmöglichkeit lehrt das Ding-ansich zu erfassen, scheint sie der Staatswissenschaft einen Weg zu eröffnen, sich von einem unerreichbaren Ziel zur schlichten Erforschung der erkennbaren Tatsachen zu wenden. Aber der Begriff des Dings-ansich bezeichnet nicht ein unbekanntes, dunkles Wesen, ein Gebiet, das unserem Verstand verschlossen wäre und durch andere Geisteskräfte ausgefüllt werden darf. Sondern es drückt ein Verhältnis der Erkenntnis zur Wirklichkeit aus, das in der Natur unseres Denkens und dem Wesen der Erscheinung begründet liegt. Wie alle Gesetze unserer Erkenntnis wird es objektiviert und als reales, aber unbekanntes Wesen in die Wirklichkeit hineinverlegt. Von der Pflicht, die in den Erscheinungen eine wirksame Notwendigkeit zu suchen, kann und keine Erkenntniskritik befreien, ohne die Wissenschaft zu zerstören. Ist eine Notwendigkeit begriffen, hört sie auf ein Ding-ansich zu sein. Weil sie ein Gegenstand unserer geistigen Anschauung wird und unter den Einfluß unseres Denkens getreten ist, wird sie Erscheinung. Hinter ihr erhebt sich also ein neues Ding-ansich: die Notwendigkeit, durch die sie selbst zur Notwendigkeit wird. Die Unmöglichkeit, das Ding-ansich in einem absoluten Sinn, eine letzte Notwendigkeit zu erkennen, bedeutet nichts anderes als die Unmöglichkeit, ein Ende dieser Reihe einander bedingender Notwendigkeiten zu erreichen, aber nicht den Verzicht auf ein Gesetz der Erkenntnis, durch das die Erfahrung erst zur Wissenschaft wird.

Das Ding-ansich von Staat und Recht ist die in der Eigenart menschlicher Gemeinschaftsbildung begründete Notwendigkeit das gesellschaftliche Leben als Staat und Recht zu organisieren. Der geistige Ausdruck dieser Lebensnotwendigkeit, das geistige Ding-ansich von Staat und Recht ist die Idee einer vollkommenen Rechtsorganisation. Jene Notwendigkeit und diese Idee wirken und bestehen nie in einer absoluten, sondern stets in einer geschichtlich bestimmten Gestalt. Mit dieser Formel ist keine positive Erkenntnis geboten, mit der sich ein realer Staat oder ein tatsächlicher Rechtszustand erklären ließe. Es ist uns eine Aufgabe gestellt, die immer wieder über ihre angebliche Lösung hinausführt. Selbst die Richtung, in der wir das Ding-ansich von Staat und Recht, die wirksame Notwendigkeit der Staats- und Rechtsbildung suchen müssen, wird uns durch sie nicht gewiesen.

Das Ding-ansich des staatlichen und geschichtlichen Lebens ist nicht der dunkle Untergrund der Rechtsorganisation, nicht eine transzendente Idee, nicht der Begriff der sozialen Natur des Menschen, die ihn über einen angeblichen, vorgeschichtlichen Naturzustand hinaushob und als lebendige, gegenwärtige Kraft der Gemeinschaftsbildung fortwirkt, nicht eine letzte Notwendigkeit, die sich in ihren Wirkungen zeigt, aber von ihnen trennen läßt. Im geschichtlichen Leben und Denken verschmelzen Wirklichkeit und Notwendigkeit für uns. Die Wirklichkeit ist die Notwendigkeit, die Denken, Wollen, und Erkenntnis gestaltet. Der wirksame Inhalt der Denknotwendigkeit, die ohne einen solchen Inhalt eine leere abstrakte Form ist, ist das Erzeugnis der geschichtlichen Wirklichkeit, die von einer übergeordneten Notwendigkeit aus gestaltet und begriffen werden soll. Das was dem Denken als Ding-ansich vorschwebt, ist also Wirkung und nicht Ursache.

Eine dialektische Staatswissenschaft suchte in einer logischen Formel, in einem juristischen Begriff wie dem Vertragsbegriff oder in der Idee der vollkommenen Rechtsorganisation den Erklärungsgrund von Staat und Recht, die Notwendigkeit und die notwendige Vorstellung, nach der Dasein, Wesen, Rechtsnatur von Staat und Recht, nach der der Bildungsprozeß von Staat und Recht begreifbar wird. Sie ist aus dem Sattel gehoben durch die historische Rechtsschule und die materialistische Geschichtstheorie. Beide geben dem Ding-ansich von Staat und Recht den positiven Inhalt, ohne den es leer und wirkungslos bleiben muß und beide stehen schließlich doch vor einem ungelösten Rätsel.
    "Die sichtbare geschichtliche Wirklichkeit", so lehrt die historische Rechtsschule, "ist das Reich staatswissenschaftlicher Erkenntnis und die Unterordnung unter die tatsächliche, geschichtliche, legitime Ordnung das Gesetz des Rechtswillens. Die Notwendigkeit, der sich Erkenntnis und Willen fügen müssen, ist die Summe von Tatsachen, die die geschichtliche Ursache und der Rechtsgrund einer anerkannten Ordnung und Gewalt bilden. Sie sind in Wirklichkeit das Lebensgesetz, das Ding-ansich von Staat und Recht. Der Weg über ihre geschichtliche Erscheinung hinaus führt in den Abgrund der transzendenten Spekulation und der Revolution, die dem Begriff von Staat und Recht, dem Wesen der Staats- und Rechtsbildung widerspricht."
Die Wirklichkeit selbst jedoch, auf die er sich beruft, widerspricht dem rechtsgeschichtlichen Dogmatismus. Der tatsächliche geschichtliche Prozeß der Staats- und Rechtsbildung beweist die Wirklichkeit und Notwendigkeit der Revolutionen, d. h. der fundamentalen Umänderung einer Rechtsordnung.

Mag er sich in langsamen Übergängen, unter Schonung von Namen und Formen vollziehen, das Resultat ist das gleiche. Jeder Rechtszustand beruth auf der Zerstörung eines früheren. Die Tatsachen selbst und die geistige Natur des Rechts erheben sich gegen die Herrschaft einer stabilen Überlieferung und gegen den rechtsgeschichtlichen Empirismus.

Durch die Gewohnheit, die Wiederholung von Vorgängen und die Dauer von Zuständen allein können Staat und Recht nicht entstehen. Man mag einen Menschen Tag für Tag ohne einen als gerecht empfundenen Grund prügeln: solange er nicht zum Hund herabgesunken, solange sein menschliches Bewußtsein nicht gänzlich abgestumpft ist, wird er die bloße Wiederholung von Gewalt und Willkür nicht als Recht empfinden. Gewohnheit war es, den kranken und invaliden und altersschwachen Arbeiter auf die Straße zu setzen und ihn der privaten oder öffentlichen Wohltätigkeit zu überlassen. Erst der Widerspruch, den ein sittliches Bewußtsein, das zum Rechtsgedanken erstarkte, gegen die Gewohnheit erhob, hat die Rechtsbildung unserer Zeit in neue Bahnen gelenkt und ein neues Recht geschaffen.

Gibt man der Gewohnheitslehre die Wendung, nicht die Gewohnheit ansich, sondern die Rechtsgewohnheit erzeuge Recht, so ist das eine gedankenlose Tautologie. Sie setzt voraus, was sie erklären will: das Dasein eines Rechts. In Wirklichkeit durchbricht eine kraftvolle Rechts- und Staatsbildung die Kette der Gewohnheiten. Sie setzt eine Rechtsidee oder eine politische Notwendigkeit einer toten, starren Gewohnheit entgegen. So schafft sie Leben, und dieses entweicht aus einem Recht, wenn es wieder zu einer gedankenlosen Gewohnheit erstarrt, die ohne Entwicklungsfähigkeit ihre Geltung nur ihrem Dasein verdankt.

Die Staats- und Rechtsbegriffe sind ebensowenig willkürliche Gebilde, wie Staat und Recht selber. Einem notwendigen und wirksamen Prinzip der Gemeinschaftsbildung entspringen die Ideen, die als soziale, geistige und sittliche Notwendigkeit empfunden werden und an die Formen und Begriffe des positiven Rechts ihren Maßstab legen. Der Kraft solcher Ideen können sich Staat und Recht nicht entziehen. Denn als notwendige Lebensformen sind sie selbst Geist und Leben; ihre geistige Natur, ein Leben im menschlichen Bewußtsein gehört zu ihrem Wesen. Deshalb ist die Wirkungsweise von Staat und Recht flüssig. Nicht alles, was sich so nennt, ist Staat und Recht, sondern was als Staat und Recht wirkt im Einklang mit einer lebendigen Idee.

Das Soll der Staats- und Rechtsideen, das einer Lebensnotwendigkeit und nicht der Willkür politischer Spekulation entspringt, ist eine Notwendigkeit und Wirklichkeit. Für Tausende verwandelt sich die Frage: Wie sollten Staat und Recht sein? in die revolutionären Fragen: "Ist das noch unser Staat und Recht?" und "Was ist unser Staat und Recht, die Verwirklichung der als notwendig empfundenen Zwecke des Gemeinschaftslebens?" Verschließt sich die Staatswissenschaft unter dem Vorwand der historischen Natur ihres Erkenntnisprinzips dieser Tatsache, dann verdient sie den Namen einer Wissenschaft nicht mehr: denn sie wagt nicht mehr der Wirklichkeit, der Wirklichkeit des Lebens und des Denkens, ins Auge zu sehen.

Ein offenes Nein auf jene erste Frage läßt sich unterdrücken. Aber ein Ja ebensowenig erzwingen, wie irgendein anderer Glaube. Das versteckte, nicht klar erkannte aber unbewußt empfundene Nein liegt in der politischen Passivität der Massen oder dem Wahnsinn des Anarchismus. Beide sind die Kennzeichen eines verkommenen Volkslebens, in dem die Organisation der Macht und der Zwangsgewalt nicht mehr mit einem lebendigen Prinzip der Gemeinschaftsbildung zusammenfällt, in dem dem Staat und Recht die soziale und geistige Wirkungsweise von Staat und Recht entschwunden ist, so daß sie der gespenstischen Macht einer glaubenslosen Kirche gleichen, und das deshalb in einem langsamen Todeskampf oder in wilden Fieberschauern dahinsiecht, ein Bild der Ohnmacht. Denn Staat wird eine Organisation nicht, weil sie Macht hat und den Schein der Unterwürfigkeit erzwingt, sondern weil sie Staat und Recht ist oder wird, wird sie zur Macht.

Ein Staat und ein Recht, die sich nur auf ihre eigenen Tatsächlichkeit, auf die Tatsächlichkeit eines gewordenen Zustandes, berufen, verzichten auf die lebendigen Wurzeln ihrer Kraft. Der Notwendigkeit, die ihr Dasein geschaffen hat, tritt eine stärkere Notwendigkeit und Wirklichkeit gegenüber, ein Gesetz des Werdens, das als geschichtliche Notwendigkeit wirkt, ohne sich durch die historische Gelehrsamkeit die geschichtliche Rüstung anlegen zu lassen.

Die Erkenntnis soll und will das Gesetz des Lebens aussprechen. Die Notwendigkeit, durch die der Staat zum Staat, das Recht zum Recht wird und die in der geschichtlichen Gestaltung des menschlichen Gemeinschaftslebens wirkt, verstehen wir nicht, wenn wir uns begnügen, das Bild der Gegenwart, die Erscheinung ihres staatlichen und rechtlichen Daseins mosaikartig zusammenzusetzen und die Herkunft der einzelnen Bruchstücke nachzuweisen, oder wenn wir das Denken der Gegenwart historisch in seine Elemente auflösen. Denn das Leben selbst, das Zusammenwirken seiner Elemente und die Erneuerung des Organismus mit seinen Teilen bedarf der Erklärung.

Die Aufgabe, die die historische Rechtsschule verkannte, brachte die materielle Geschichtstheorie dem wissenschaftlichen Denken wieder nahe, indem sie behauptet, sie durch ihre Hypothese gelöst zu haben. Das Ding-ansich von Staat und Recht, die Notwendigkeit, die die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihr geistiges Abbild erzeugt, das Todesurteil an absterbenden staatlichen und rechtlichen Formen des Gemeinschaftslebens vollzieht und einem neuen Inhalt neue Formen gibt, wollte sie entdeckt haben in der Notwendigkeit des leiblichen, des materiellen Daseins: sie enthält die Schranken und Bedingungen des Lebens, also auch des gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens. Weil dieses sich seinen Bedingungen anpassen muß, wirkt sie als gestaltende Ursache und als Entwicklungsgesetz. In ihr findet die Wissenschaft das einheitliche, alle Erscheinungen umfassende Kausalprinzip und die allgemein gültige Erklärungsweise, ohne die das Denken seine Einheit verlieren, den unmöglichen Dualismus zweier letzter Ursachen annehmen und Welt und Denken in verschiedene Wirklichkeiten und Wahrheiten zersplittern müßte. Es ist die Notwendigkeit, die die Einheit von äußerer Erscheinung und wirksamem Gesetz, von Begriff und objektiver Wirklichkeit herstellt, in der das Wesen der Wahrheit besteht. Sie erzwing also auch die Einheit von Recht und ökonomischer Wirklichkeit. Was ihr widerspricht, ist nur der Schein und Schatten eines Rechts, und die Revolution, durch die es beseitigt wird, zerstört nur den Widerspruch von Schein und Wahrheit. Indem sich Willen und Urteil dieser Notwendigkeit anpassen, folgen sie ihrem eigenen Gesetz, d. h. dem Gesetz, durch das sie selbst gestaltet werden. In einer solchen Anpassung besteht die Sittlichkeit, in der bewußten Erkenntnis des Zusammenhangs von ökonomischer Wirklichkeit und Idee die Wissenschaft.

Ein klares Verhältnis zur sichtbaren Wirklichkeit, auf die er sein Erkenntnisprinzip stützt, kann der Radikalismus der materialistischen Geschichtstheorie nicht gewinnen. Den sichtbaren Erscheinungen des geschichtlichen Lebens, der sichtbaren Staats- und Rechtsordnung stellt er eine höhere, stärkere Notwendigkeit gegenüber, durch die die sichtbare Rechtswelt zum Scheinwesen, das Rechtsbewußtsein, das an ihr haftet, zum Fetischismus herabgedrückt wird. Er läßt sich durch seinen revolutionären Charakter auf den Standpunkt der Kirchenväter, den Standpunkt der Weltverneinung bringen. Sie war auch bei den Kirchenvätern keine absolute Negation der Welt und der rechtlichen Ordnung. Eine solche ist für ein Prinzip unmöglich, das eine gestaltende Kraft in sich birgt. Sie ist und war stets die Negation einer bestimmten gesellschaftlichen Welt, einer Ordnung, die die sozialen, geistigen und sittlichen Bedürfnisse nicht mehr befriedigte. Aber weil sie fortfuhr, die äußere Erscheinung der Rechtsordnung zu beherrschen, trat ihre Verneinung als Negation der gesellschaftlichen Welt zugunsten einer Gemeinschaft auf, in der ohne den Namen des Staates ein wirksames Prinzip der Gemeinschaftsbildung Leben und Gestalt gewann.

Die Kirchenväter standen einer dem Tod geweihten Welt, dem Verfall, der Entgeistigung und Entsittlichung aller staatlichen und rechtlichen Institutionen gegenüber. Deshalb beurteilten sie die Erscheinungen des bürgerlichen Lebens von ihrem supranaturalistischen Standpunkt aus als Werk der Mächte des Todes oder der Dämonen. Eine solche Negation der positiven geschichtlichen Welt ist dagegen eine Staat gegenüber unverständlich, der seine Lebensenergie beweist nicht nur durch seine Herrschaft über die Formen des Rechts, sondern durch seine geistige und soziale Wirkungskraft, durch seine Gewalt über Denken und Wollen. Das ist die Tatsache, die die radikalen Wirklichkeitsapostel nicht beseitigen und nicht erklären können. Denn eine Notwendigkeit außerhalb der Welt der Tatsachen, eine transzendente Notwendwendigkeit dürfen sie nicht anerkennen. Durch seine Kraft aber bewährt sich der positive Staat als Erzeugnis und Organ des gegenwärtigen Lebens und einer gegenwärtigen Notwendigkeit.

Wer sich auf die Allgewalt einer einheitlichen Notwendigkeit beruft, die Äußeres und Inneres, Leib und Geist der Geschichte umfaßt, muß Staat und Recht in ihrer positiven Erscheinung als Frucht dieser Notwendigkeit anerkennen. Er muß sie eingliedern in eine gesetzmäßige, zusammenhängende Entwicklung. Ihrer inneren Kontinuität muß die Kontinuität der äußeren positiven Rechts- und Staatsbildung entsprechen. Denn beide hängen von der gleichen Notwendigkeit ab. Sie schließt das Wunder der willkürliche Revolution, den plötzlichen Bruch mit der Vergangenheit aus. Die Welt, die sich von innen heraus entwickelt, muß die Organe entfalten, die in sich die Entwicklungsfähigkeit tragen.

Eine Wirklichkeit hört dadurch nicht auf wirklich zu sein, daß man sie für unwirklich erklärt. Den Dualismus einer unsichtbaren und einer sichtbaren Wirklichkeit von Staat und Recht, der Erscheinung und einer als Idee empfundenen Notwendigkeit vermag die materialistische Geschichtstheorie nicht zu überwinden. Sie läßt ein geistiges Prinzip in ihre Feste ein. Ihm übergibt sie die Schlüssel der Erkenntnis und den Zügel des Willens. So erkennt sie, sich selbst zum Trotz, seine Unüberwindlichkeit und ursprüngliche Realität an. Denn sie unterscheidet zwischen der sichtbaren Rechtsorganisation und der unter der Oberfläche verborgenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Rechtsform und der Wahrheit des Rechts. Das ist ein Unterschied, den nur der Geist wahrnimmt, indem er sich über die äußeren Eindrücke einer sichtbaren Welt erhebt. Um ihre Zwecke durchzusetzen, appelliert sie an die Macht der Idee. Sie wird im Widerspruch mit ihren Erkenntnisgrundsätzen zu einem geschichtlichen Hylozoismus: die ökonomische Notwendigkeit ist zugleich Idee, als solche wird sie zur gestaltenden Kraft der ökonomischen Bewegung. Der Stoff selbst verwandelt sich in Kraft, Zweck und Geist.

Diese Metamorphose, die Verwandlung der Materie in Geist und Leben und der Produktionsnotwendigkeit in eine geistige Bewegung, in Staatsideen und Rechtszwecke ist das geheimnisvolle Lebensgesetz, dem das Verhältnis des staatlichen und rechtlichen, des sozialen Denkens zur Wirklichkeit und zur Erscheinung unterworfen ist. Die Notwendigkeit, die hinter ihr steht, ist das Ding-ansich, das sich über dem Ding-ansich der materialistischen Geschichtstheorie erhebt. Ihre Hypothese offenbart nur die Aufgabe es aufs Neue zu suchen. Es winkt als lockendes Ziel, aber sobald eine Theorie sein Bild in sich aufgenommen hat, offenbart es in ihrem Inneren die kritische Kraft einer unerreichbaren Wahrheit. Es greift sie an nicht von außen, sondern in ihren eigenen Voraussetzungen und notwendigen Folgerungen: die idealistische, denn Idee und Zweck sind Erzeugnisse einer objektiven Wirklichkeit und Notwendigkeit und losgelöst von ihr, ohnmächtige Abstraktionen und spekulative Trugbilder, - die materialistische, denn sie wird selbst zu einer Idee und gewinnt bei ihren praktischen Zielen ihre Stärke nur durch die Empfindung einer geistigen und sittlichen Notwendigkeit, - den Empirismus der historischen Rechtsschule, denn sie will Staat und Recht in ihrem Wesen als notwendige Gebilde verstehen, aber durch die Tatsachen allein wird weder der Staat zum Staate, noch das Recht zum Recht.

Es gelingt dem wissenschaftlichen Denken nicht, sein Verhältnis zum Leben und Bildungsprozeß von Staat und Recht auf eine einheitliche Formel zu bringen und Wirklichkeit und Notwendigkeit zu versöhnen. Denn unser Denken und Wollen gehört zum Leben des Staates und Rechts. In diesem notwendigen Verhältnis zu unserem Bewußtsein und Willen verliert die Wirklichkeit den objektiven Charakter eines Seins, das unabhängig von unserem Denken und Wollen der Erkenntnis ihr Gesetz gäbe. Andererseits wird unser Wollen und Denken und mit ihnen unsere Erkenntnis durch seine Abhängigkeit von der geschichtlichen Entwicklung selbst ein Bestandteil der geschichtlichen Wirklichkeit. Sie kommen von ihrem bedingten Charakter nicht los und sind deshalb unfähig, die Bedingungen einer notwendigen Erkenntnis und eines notwendigen Handelns frei aus ihrem eigenen Wesen zu entwickeln und so der Wirklichkeit das Gesetz einer Notwendigkeit vorzuschreiben.
LITERATUR - Georg Jäger, Erkenntniskritik und Staatswissenschaft, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 36. Jhg., München und Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) THOMAS HOBBES, De cive, Works, ed. Molesworth II, 118.