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BERNHARD SCHMEIDLER
Über Begriffsbildung und Werturteile
in der Geschichte

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"Eine Begriffsbildung, die sich nicht auf allgemeingültige Werte als Prinzipien stützen kann, entbehrt selbst der Allgemeingültigkeit, ist willkürlich, eine Bearbeitung der Geschichte durch derart gebildete Begriffe kann nicht mehr Wissenschaft heißen."

"Durch keine Logik der Welt wird sich dem, der nicht richtig oder überhaupt nicht denken will, in dem jener Trieb nicht lebt, beweisen lassen, daß er richtig denken müsse, da er ja, um den Beweis anzunehmen und auf sich wirken zu lassen, das als notwendig zu beweisende Resultat, das Richtigdenken oder den Willen dazu, bereits in sich vollzogen haben muß, als welcher Vollziehung sich dann allerdings der Wille dazu als logisch letzte, notwendige Grundlage und Voraussetzung in aller Exaktheit erweisen läßt, aber nicht als objektiv gültige Pflicht, als absoluter Wert für alle Menschen."

Einleitung
Über den inneren Zusammenhang
der behandelten Probleme

Alle Wissenschaft ist ein Gestalten und Ordnen der Wirklichkeit. Die Fülle der Erscheinungen in ihrer bunten Mannigfaltigkeit wird einer Analyse unterworfen, nach bestimmten Prinzipien wird das Einzelne voneinander unterschieden und wieder in Gruppen zusammengefaßt, in andere Zusammenhänge gebracht, als sie sich in der Erscheinung zunächst darbieten. Es ist der Prozeß der Begriffsbildung, den wir damit beschreiben. Wenn nun diese Veränderung, die dadurch mit der Wirklichkeit vorgenommen wird, nicht eine willkürliche, ungeregelte sein soll, - gleichviel ob diese Bearbeitung eine "wahre" ist oder nicht, welches wieder noch eine andere Frage ist -, so muß die Begriffsbildung nach festen unabänderlichen, allgemein anerkannten Prinzipien vor sich gehen. Die Naturwissenschaft ist zu solchen Prinzipien der Begriffsbildung gelangt und sich der Natur derselben bewußt geworden. Sie beachtet an den Dingen nur das, was sich in Raum und Zeit quantitativ messen, als gleich oder ungleich unterscheiden läßt und stellt alle Beziehungen fest, die sich an den Dingen in dieser Hinsicht aufdecken lassen. So ist sie zu einem System von Begriffen gelangt, das die Wirklichkeit in ihrer quantitativen Bestimmtheit beschreibt und wiedergibt. Die Geschichtswissenschaft ist sich über die Richtung, die sie mit ihren Forschungen innezuhalten hat, noch nicht so klar geworden. Indem sie noch keinen allgemeinsten Begriff oder ein System von solchen, in Beziehung auf die sie die Wirklichkeit bearbeiten will, aufgestellt hat, scheint es der Willkür des einzelnen Forschers überlassen zu sein, welche Erscheinungen und in welchem Sinn er sie bearbeite; und indem die Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes nach den Begriffen der Quantität unmöglich, ein Unding ist, indem der Forscher gezwungen ist, mit anderen Fähigkeiten seines Ich als dem Messen von Sinnesempfindungen seinen Stoff zu ergreifen, indem er ihn nachfühlend zu verstehen sucht, scheint auch hier wiederum eine reichliche Fehlerquelle erschlossen, persönlicher Willkür ein weiter Spielraum gelassen zu sein; auch beim besten Willen zur Wahrheit wird sich doch leicht die persönliche Begabung und Fähigkeit zur mehr oder minder guten Auffassung der verschiedenen Gebiete geschichtlichen Lebens geltend machen und es ist vielfach die Meinung aufgestellt worden, daß schon hierin notwendigerweise eine Beeinträchtigung der Sicherheit und Allgemeingültigkeit der Ergebnisse liegt. So scheint dem Forscher die Möglichkeit gegeben, sich nach persönlicher Vorliebe seinen Stoff auszusuchen und abzugrenzen und wieder bei der Auffassung des so Begrenzten scheint er seine Neigung und Abneigung frei walten lassen zu können oder, wie man sagt, die Auswahl und Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes sind von den Werturteilen und persönlichen Eigenschaften des Bearbeiters abhängig. Da aber Auswahl und Bearbeitung nichts anderes sind, als der oben charakterisierte Prozeß der Begriffsbildung, so tritt hiermit der innere Zusammenhang zutage, der zwischen dem Problem der Begriffsbildung und dem der Werturteile in der Geschichte besteht.

Die folgenden Ausführungen haben es sich zum Ziel gesetzt, in ausführlicher Erörterung das Wesen und die Bedingungen der Begriffsbildung in der Geschichte zu untersuchen, zunächst in der Auseinandersetzung mit einer gegenwärtig vertretenen, nicht ohne Beifall gebliebenen Theorie; aufgrund der alsdann gewonnenen eigenen Resultate wird fernerhin der Versuch gemacht werden, zu bestimmen, welcher Anteil in Wahrheit Wertgesichtspunkten irgenwelcher Art in der historischen Methodik und in der Entwicklung der Geschichtschreibung eingeräumt werden kann.


I. Kapitel
Die historische Begriffsbildung

1.

Der Anknüpfungspunkt für Untersuchungen über die Natur der Begriffsbildung in der Geschichte ist durch ein Werk gegeben, welches in ausführlicher Erörterung eben diese Aufgabe zu lösen sucht, das Buch von RICKERT "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung." (1) Jede weitere Untersuchung auf diesem Gebiet muß, zumal bei dem Beifall, den dieser Autor auch bei Historikern gefunden hat, (2) an seine Resultate anknüpfen, Annahme oder Ablehnung derselben begründen. Beschäftigen wir uns also zunächst mit den Aufstellungen RICKERTs.

Der Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist die Unendlichkeit der Wirklichkeit in extensiver und intensiver Hinsicht, welche die Erkenntnis der Welt durch Beschreibung und Schilderung im Einzelnen unmöglich macht. Es muß ein Verfahren gefunden werden, um diese Unendlichkeit zu überwinden, die Wirklichkeit in ihren wesentlichen Beziehungen und Eigenschaften dem Geiste faßbar, dem sprachlichen Ausdruck untertan zu machen. Die Anfänge eines solchen Verfahrens treten in der gewöhnlichen Sprache und den Allgemeinbedeutungen der Worte zutage, vollendet wird das Werk durch die wissenschaftliche Begriffsbildung. In dieser, soweit sie, nach RICKERTs Ausdruck naturwissenschaftlich ist, werden die gemeinsamen Merkmale der Dinge zusammengefaßt und hervorgehoben, die einmaligen und individuellen weggelassen, so daß sich durch Auslassung von immer mehr speziellen Merkmalen eine Stufenleiter immer umfassenderer Begriffe übereinander erhebt, wobei aber auch der speziellste niemals eine individuelle Erscheinung in ihrer ganzen Fülle wiedergibt. Das Individuelle ist also nach den Formen und Bedingungen unserer Erkenntnis die absolute Grenze der Begriffsbildung in der Naturwissenschaft.

Aber noch in einem anderen Sinne läßt sich sagen, daß diese Wissenschaft dem Individuellen feind ist, das Allgemeine sucht. Nicht nur, daß sie unfähig ist, jenes in einfachen Begriffen auszudrücken und wiederzugeben, sie hat auch gar nicht das mindeste Verlangen danach; sie strebt ihrer Natur nach, d. h. infolge der Struktur, der Art der Bildung ihrer Begriffe dahin, möglichst allgemeine Theorien über alles Sein aufzustellen, alles individuelle Sein in Beziehungen letzter, allgemeinster Dinge, die sich schließlich auch wieder als eine begrifflich fixierte Summe konstanter Bedingungen erweisen, aufzulösen, zu notwendig allumfassenden Aussagen, zu Naturgesetzen fortzuschreiten; erst dann ist die Überwindung der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in Wahrheit vollauf gelungen, das mit der Begriffsbildung begonnene Werk vollendet und gerechtfertigt.

Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung strebt also mit aller Energie, bei der Bildung des einzelnen Begriffs wie in der Richtung des ganzen Systems der Begriffe vom Besonderen zum Allgemeinen hin.

Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist damit erschöpft, sie ist mit der Auflösung der Wirklichkeit in allgemeinste Elemente und Aufstellung der zwischen ihnen stattfindenden Beziehungen, der Naturgesetze, zufrieden. Sie erklärt die einzelnen Erscheinungen, indem sie sie auf die allgemeinen Gesetze und ihre Komplikation zurückführt, sie gipfelt in der mechanischen Weltauffassung.



Den Nachweis, daß die naturwissenschaftliche Begriffsbildung sich ihrer Natur nach stets vom Individuellen entfernt, macht RICKERT zum Ausgangspunkt seiner Begriffsbestimmung des Historischen. Dieses beschäftigt sich nach seiner Meinung stets mit der individuellen Wirklichkeit, der Tatsächlichkeit der Dinge, nicht mit der Geltung der Begriffe. Nicht als ob die Geschichte versuchte, die volle individuelle Wirklichkeit durch ihre Begriffsbildung abbildend wiederzugeben - das ist ja prinzipiell unmöglich -, aber da sie auf die Tatsächlichkeit des Einzelnen, nicht auf die Geltung des Allgemeinen ausgeht, so bedarf sie einer anderen Begriffsbildung aufgrund anderer Prinzipien als die Naturwissenschaft, die die Wirklichkeit und Tatsächlichkeit durch ihre Begriffe niemals wiedergeben kann, da sie sich immer weiter von ihr entfernt, je vollkommener ihre Begriffe werden. Sehen wir nunmehr zu, welches diese Prinzipien sind, durch welche nach RICKERT die historische Begriffsbildung vor sich geht.

Nach seiner Meinung kommen die historischen Begriffe nicht durch Vergleichung der Erscheinungen und Hervorheben des Gemeinsamen zustande, sondern durch Beziehung der Dinge auf allgemeingültige Werte. Eine Erscheinung wird dadurch historisches Individuum, daß wir sie als eine untrennbare Einheit aufgrund einer Beziehung zu einem allgemeingültigen Wert ansehen, daß wir diejenigen ihrer Eigenschaften, durch die sie wertvoll oder wertfeindlich ist oder in irgendeiner Beziehung zum Wert steht, aus der Fülle der übrigen Eigenschaften hervorheben und zu einem Begriff zusammenschließen. Eine Bearbeitung und zwar eine Vereinfachung der Wirklichkeit, findet also dabei ebenso statt, wie bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, aber nicht das Allgemeine, sondern ein Wert ist das Prinzip der Auswahl. Wenn die Naturwissenschaft durch ihr Verfahren zu einer unbedingten Überwindung der intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit kommen will, muß sie die abstrahierten Elemente auf eine unbedingt allgemeingültige Weise in Beziehung zueinander setzen, sie muß Naturgesetze aufstellen, wenn die Geschichte durch ihr Prinzip zu einer allgemeingültigen, nicht willkürlichen Bearbeitung der Wirklichkeit kommen will, muß sie sich auf allgemeingültige Werte stützen, aufgrund ihrer die Auswahl vornehmen.

Wir stoßen also hier auf eine allgemeine philosophische Grundlage des ganzen Systems, ohne deren Gültigkeit es auch hinfällig wird. Eine Begriffsbildung, die sich nicht auf allgemeingültige Werte als Prinzipien stützen kann, entbehrt selbst der Allgemeingültigkeit, ist willkürlich, eine Bearbeitung der Geschichte durch derart gebildete Begriffe kann nicht mehr Wissenschaft heißen. Prüfen wir also zunächst diese philosophische Grundlage der Geschichtsmethodik, wie sie nach RICKERT beschaffen ist.

Zuerst sucht er die objektive Gültigkeit und Notwendigkeit der historischen Methode, wie er sie auffaßt, als eine der naturwissenschaftlichen gleichwertige und gleichberechtigte zu erweisen. Das naturwissenschaftliche Verfahren der Begriffsbildung, welches auf die Zusammenstellung des Gleichen und Sonderung des Verschiedenen hinausläuft, findet seine Rechtfertigung der Wirklichkeit gegenüber im Begriff des Naturgesetzes, als absolut konstanter, quantitativ bestimmbarer Beziehungen zwischen den einfachsten, durch stets fortschreitende Abstraktion gefundenen letzten Dingen, ein Begriff, durch den allein das Ziel der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die Überwindung der individuellen Wirklichkeit in intensiver und extensiver Hinsicht als erreichbar erwiesen und objektiv gerechtfertigt wird. Das historische Verfahren der Begriffsbildung, welches auf Heraushebung von Individuen als der Fülle der Wirklichkeit durch Beziehung auf Werte hinausläuft, findet seine Rechtfertigung im Begriff des absoluten, unbedingt sein sollenden Wertes. Falls nämlich solche unbedingt allgemeingültigen Werte existieren, so ist, da in der Geschichte handelnde Individuen auftreten, die sich zu Kulturwerten, die jenen absoluten mehr oder weniger nahe stehen, positiv oder negativ verhalten und also im einmaligen Verlauf des Ganzen eine objektiv bedeutsame Stellung einnehmen, die Stellung eben dieser Individuen, der Gang aller Geschichte nur durch die Beziehung auf die objektiven Werte voll zu verstehen und zu erkennen, die Behandlung der Geschichte durch Beziehung auf allgemeingültige Werte eine absolute wissenschafliche Notwendigkeit. In kurzen Worten: Weil alles Geschehen von Gesetzen beherrscht wird, kann es durch die Erforschung und Aufstellung von Gesetzen erkannt und erklärt werden und weil alles menschliche Leben nach unbedingt allgemeingültigen Werten hinstrebt, kann es nur durch Beziehung auf solche Werte verstanden und gewürdigt werden.

Auf welche Weise aber gewinnt RICKERT die objektiven, unbedingt allgemeingültigen Werte, vergewissert er sich ihrer Existenz? Die kritische Logik stellt für das Denken diejenigen Normen auf, nach denen gedacht werden muß, wenn das Denken den Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit erhebt. Warum aber muß richtig gedacht werden, welches ist der Grund, die Existenzberechtigung dieser Normen? RICKERT findet diese überlogische Rechtfertigung der Logik in der Tatsache des pflichtbewußten Willens, im kategorischen Imperativ, der dem Menschen mit dem Ausdruck der unbedingten Geltung es Richtigdenkens als eines schlechthin absoluten Wertes gebieterisch gegenübertrete. Er meint so auf logischem Weg die überlogische Notwendigkeit des Richtigdenkes bewiesen, einen absoluten Wert abgeleitet zu haben. Es ist klar, daß dieser angeblich pflichtbewußt Wille nichts ist, als eine Herauswicklung und Darlegung des psychologischen Tatbestandes. Er soll die objektiv gültige Notwendigkeit beweisen, richtig zu denken - aber doch nur für diejenigen, die ihre Aufgabe bereits darin sehen, richtig zu denken und alle ihre Kraft daran setzen; für diese ist jener Wille allerdings die letzte Grundlage, die Voraussetzung all ihres Tuns. Ist er darum objektiv allgemeingültig und logisch als ein solcher zu erweisen? Durch keine Logik der Welt wird sich dem, der nicht richtig oder überhaupt nicht denken will, in dem jener Trieb nicht lebt, beweisen lassen, daß er richtig denken müsse, da er ja, um den Beweis anzunehmen und auf sich wirken zu lassen, das als notwendig zu beweisende Resultat, das Richtigdenken oder den Willen dazu, bereits in sich vollzogen haben muß, als welcher Vollziehung sich dann allerdings der Wille dazu als logisch letzte, notwendige Grundlage und Voraussetzung in aller Exaktheit erweisen läßt, aber nicht als objektiv gültige Pflicht, als absoluter Wert für alle Menschen. Inwiefern also dieser Wille mehr als eine einfache Tatsache, wie er selbst wieder, der ein Seinsollendes begründet, unbedingt sein soll, wie er sich als objektiv gültige Pflicht erweisen läßt, ist absolut nicht einzusehen.

Wir werden daher den angeblichen pflichtbewußten Willen einfacher und wohl richtiger den seiner selbst bewußt werdenden Willen nennen, der seiner selbst als eines agierenden Etwas, das stets handelt, sich betätigt, Stellung nimmt, inne wird, merkt, daß er seinem Wesen nach nicht anders kann, aber ein Merkmal, das auf eine objektive, unbedingt allgemeingültige Pflicht hinwiese, vermögen wir hier nicht zu entdecken; es ist die letzte Tatsache des Lebens, das Leben selbst, das RICKERT durch den pflichtbewußten Willen definiert, aber aus seinem Umkreis hinaus in ein objektives Allgemeingültiges, zu einem absoluten Wert, hat er uns nicht geführt.

Die unbedingt notwendige Anerkennung absolut allgemeingültiger Werte, die jedem Menschen zugemutet werden kann (3), läuft also auf die Anerkennung der Tatsache hinaus, daß alles Leben ein Streben, ein Zielesetzen, ein Werten und eine Bewegung nach Werten hin ist, daß der Begriff "Leben" ohne eine solche Bestimmung gar nicht gedacht werden kann. Irgendeinen inhaltlich bestimmten und in dieser Bestimmtheit absolut und notwendig allgemeingültigen Wert hat RICKERT nicht aufgezeigt und er kann aus dieser Tatsache auch gar nicht ableiten.

Daraus ergeben sich aber die wichtigsten Folgerungen einmal für die Möglichkeit einer positiven, allgemeingültigen historischen Weltanschauung und sodann für den Sinn, für die Berechtigung einer Bearbeitung der Wirklichkeit nach historischer Methode in RICKERTs Sinn.

Die Möglichkeit einer allgemeingültigen, positiven historischen Weltanschauung steht und fällt mit der Möglichkeit der Aufstellung eines Systems inhaltlich bestimmter absolut allgemeingültiger Werte. Die Frage nach der tatsächlichen Ausführbarkeit einer allgemeingültigen, nicht willkürlichen Bearbeitung der Wirklichkeit als Geschichte kümmert RICKERT dabei nicht so sehr, solange nur theoretisch die Möglichkeit offen bleibt: eine Geschichtsphilosophie, eine Universal- oder Weltgeschichte, meint er, brauche ein bestimmtes System von Kulturwerten, obwohl wir vielleicht niemals wissen werden, welchen inhaltlich bestimmten Sinn denn die Entwicklung des menschlichen Kulturlebens hat. Man wird gegen einen solchen Standpunkt, solange seine letzte Voraussetzung gilt, nichts Wesentliches einwenden können, wenn es auch immerhin bedenklich erscheint, daß sich von der theoretischen Möglichkeit so gar kein Weg zur Wirklichkeit zeigt, daß die als objektiv erwiesene Methode so gar nicht zu den inhaltlich bestimmten und unanfechtbaren Ergebnissen führt, wie die naturwissenschaftliche Methode auf ihrem Gebiet. Aber das könnte ein gegenwärtiger, vorübergehender Mangel sein, hoffnungslos wird der ganze Standpunkt erst, wenn ihm die Unterlage der theoretischen Möglichkeit entzogen wird, wenn die Auffindung von unbedingt allgemeingültigen Werten sich als unmöglich erweist. Eine allgemeingültige Bearbeitung der Wirklichkeit durch Beziehung auf Werte ist dann unmöglich, die persönlichen Werturteil müssen die Funktion der Auslese übernehmen, eine Möglichkeit, zu einer allgemeingültigen Geschichtsauffassung auf diesem Wege zu gelangen, besteht nicht mehr. Weder wird sich ein von allen gleichmäßig anerkannter Umfang des eigentlich Geschichtlichen herstellen lassen, da nicht alle dieselben Maßstäbe, auf die gewisse Ereignisse zu beziehen sind, auch als Werte anerkennen, sondern viele die darauf bezüglichen Ereignisse als völlig gleichgültig gar nicht mit in ihr Geschichtsbild aufnehmen werden, noch wird sich eine Übereinstimmung über die direkte Bewertung der Einzelereignisse herstellen lassen; in beiden Richtungen ist der subjektiven Willkür weiter Spielraum gelassen, das Ziel einer Allgemeingültigkeit der Aussagen, eine Objektivität der Bearbeitung der Wirklichkeit als Geschichte ist aufgrund dieser Methode prinzipiell unerreichbar.

Aber nicht nur das folgt aus der Nichtanerkennung absoluter Werte, sondern die ganze Geschichte, wie sie RICKERT auffaßt, wird für den, der seine Voraussetzungen nicht teilt, zu einer sinnlosen Wissenschaft: "Daß sie (4) (die Entwicklung des menschlichen Kulturlebens) überhaupt einen Sinn hat, ist uns durch den absoluten Wert des pflichtbewußten Willens als das Gewisseste verbürgt, das wir kennen, da er die Voraussetzung auch des Erkennens ist." Die Geschichte ist nun diejenige Wissenschaft, welche durch die Beziehung des Einzelnen auf Werte feststellt, welchen Anteil es an der Verwirklichung des Weltzieles, des absolut Seinsollenden gehabt hat und es danach als geschichtlich oder nicht geschichtlich qualifiziert. Für wen nun aber dieses Weltziel, dieses absolut Seinsollende unbewiesen ist, für den hat es auch gar keinen Sinn, die Ereignisse nach der Stellung zu gliedern, die sie dazu eingenommen haben, sie als die große Stufenleiter der Verwirklichung des Seinsollenden aufzufassen. Die Geschichte im RICKERTschen Sinne muß dann als ein Hirngespinst, ein gar nicht Vorhandenes, völlig Unbeweisbares erscheinen. Sie hat ohne die Grundlage allgemeingültiger Werte keine Möglichkeit einer wissenschaftlichen, allgemeingültigen Bearbeitung und kein Recht auf die Teilnahme eines wissenschaftlichen Menschen, der die Welt erkennen will, wie sie ist, aber nicht die Erscheinungen nach einer unbeweisbaren Bedeutung klassifizieren.
LITERATUR - Bernhard Schmeidler, Über Begriffsbildung und Werturteile in der Geschichte, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 3, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaflichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen und Leipzig (1896 und 1902).
    2) ERNST BERNHEIMs "Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1903, verhält sich fast durchweg zustimmend zu RICKERT, obwohl derselbe mit BERNHEIMs Ansichten oft genug keineswegs übereinstimmt. Ebenso einverstanden ist auch O. TROELTSCH, "Moderne Geschichtsphilosophie", Theologische Rundschau, Bd. 6, Heft 1 - 3. Scharf ablehnend nach Erscheinen der ersten Hälfte (1896). FERDINAND TÖNNIES: "Zur Theorie der Geschichte" (Exkurs). Archiv für systematische Philosophie, Bd. VIII, 1902, Seite 1f, doch ohne die RICKERTsche Position in ihrem Kern zu treffen und zu erschüttern; darauf RICKERTs Antwort: Über die Aufgabe einer Logik der Geschichte, ebenda in Heft 2, Seite 137 - 163, 1902. Im großen und ganzen auf demselben Standpunkt wie RICKERT steht in zahlreichen Veröffentlichungen A. D. XÉNOPOL; vgl. hauptsächlich: Les principes fondamentaux de l'historie, Paris 1899
    3) RICKERT sagt "jedem wissenschaftlichen Menschen" (Seite 390) und man könnte meinen, da die Anerkennung des Richtig-Denkens als unbedingten Wertes in der Tat jedem wissenschaftlichen Menschen zugemutet werden kann, so habe er hier doch einen allgemeingültigen Wert aufgedeckt. Das ist deshalb nicht der Fall, weil das Denken ja die Lebensbetätigung des wissenschaftlichen Menschen ist und das Richtig-Denkenwollen nur die logische Voraussetzung seines Tuns. Wirklich allgemeingültige Werte wären solche ethischer und ästhetischer Natur, deren Anerkennung jedem wissenschaftlichen Menschen zugemutet werden könnte; solche hat aber RICKERT nicht nachgewiesen.
    4) RICKERT, "Grenzen ... usw.", Seite 703