ra-2J. BinderA. HeilingerR. StammlerA. Affoltervon Wieser    
 
IWAN ILJIN
Die Begriffe
von Recht und Macht

[Versuch einer methodologischen Analyse] (1)
[1/2]

"Das Recht ist eine Norm, die Norm ist ein logischer Satz (d. h. eine in Worten ausgedrückte Verbindung zwischen zwei Denkinhalten, die sich in ihrem partiellen logischen Zusammenfallen äußert), welcher eine gewisse Ordnung (d. h. eine bestimmte konstante Beziehung zwischen Elementen einer Vielheit) als gesollte festsetzt."

"Der Jurist wird niemals die von ihm zu Anfang bewerkstelligte künstliche und bedingte Isolation vergessen. Aber eben diese vorhergehende und nachfolgende Wendung des erkennenden Gedankens zum Bewußtsein der notwendigen wechselseitigen Zusammengehörigkeit der einzelnen Seiten des Gegenstandes, nämlich zuerst zur irrationalen Synthese des nicht erkannten Gegenstandes, als gegebenen, und dann zur rationalistischen Synthese des erkrankten Gegenstandes, als aufgegebenen - verbürgt die Möglichkeit der Beobachtung einer streng methodologischen Folgerichtigkeit und Reinheit in der Isolierung und Untersuchung der einzelnen Seiten des zu erkennenden Gegenstandes."


§ 1.

Die Frage nach der wechselseitigen Beziehung zwischen Recht und Macht (2) verdient aus einer ganzen Reihe von Gründen das besondere Interesse der Juristen auf sich zu lenken. Denn, einerseits spielt dieses Problem eine bedeutsame Rolle in der  Geschichte der politischen Lehren.  Die verschiedenartigsten philosophischen, politischen und juristischen Doktrinen treten an es heran, um ihm diese oder jene Deutung und Lösung zu geben, und wenn wir uns nur jene Lehren vergegenwärtigen, welche auf eine oder andere Weise Macht und Recht einander  nähern  wollten, so entfaltet sich vor uns eine lange Reihe von Anschauungen, welche im Ganzen und dem Wesen nach völlig verschiedenartiger Natur sind. In dieser oder jener Modifikation finden wir diese Verwebung sowohl bei den Sophisten, als auch bei MACHIAVELLI, bei den Monarchomachen, bei dem Naturalisten HOBBES, bei SPINOZA, bei dem extremsten Individualisten, STIRNER, bei HALLER, bei GUMPLOWICZ und vielen anderen. Das Ideenmaterial häufte sich durch Jahrhunderte um dieses Problem, und dessen Wesen gewann allmählich einen immer subtileren und verwickelteren Charakter. Die Vorfindbarkeit gleichartiger Lösungen in den entgegengesetzten Doktrinen müßte schon ansich die Aufmerksamkeit des Forschers an dieses Problem fesseln.

Dazu kommt andererseit die  praktische Lebendigkeit  dieser Frage. Die verschiedensten sozialen Gruppen sind an irgendeiner praktischen Lösung des Konflikts zwischen Recht und Macht, an der Herstellung einer sogenannten "richtigen" Wechselbeziehung zwischen diesen Momenten des gesellschaftlichen Lebens, interessiert. Und, obwohl das praktische Interesse, das zum Kampf für den Triump des "machtlosen Rechts" oder zur Teilnahme an der "rechtlosen Macht" nötigt, im allgemeinen auch das theoretische Interesse zum Problem zu erwecken fähig ist, so wird doch die Wichtigkeit und Notwendigkeit der entsprechenden wissenschaftlich-analytischen Beleuchtung des Problems noch weitaus nicht in genügendem Maß eingesehen.

Die  theoretische Kompliziertheit  des Problems ist seine dritte Eigenschaft, welche das Interesse des Forschers daran zu fesseln fähig ist. Unter den juristischen Theoretikern muß das Problem über die Wechselbeziehungen von Recht und Macht das Interesse der Vertreter aller einzelnen Disziplinen erwecken: die Fragen über die Bestimmung des Rechts, über seine Bildung, seine Anwendung und seinen Inhalt liegen jedem theoretischen Juristen als solchem nahe, und jenes Problem befindet sich eben in engster Beziehung zu diesen Fragen. Die Begriffe von Recht und Macht selber gehören zu den schwersten und kompliziertesten in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens überhaupt. Etwas Erschöpfendes über diese Begriffe zu sagen, erscheint bis auf den heutigen Tag als Aufgabe von unüberwindlicher Schwierigkeit, und es könnte überhaupt scheinen, daß das Problem ihrer Wechselbeziehung zur Zahl gewisser unlösbarer Fragen zugerechnet werden muß.

Somit, wenn wir uns die Aufgabe stellen, etwas über jenes Problem zu sagen, so tun wir das nicht, weil dieses uns seinem Wesen nach als einfach erscheint, und seine Lösung als leicht erreichbar; sondern weil einige allgemeine Gesichtspunkte, welche sich in letzter Zeit in der Philosophie und Rechtsphilosophie allmählich bilden, unserer Meinung nach, auf einen Weg weisen, dessen Verfolgung vielleicht einiges analytisches Licht in dieses Problem zu bringen erlauben wird.

Um aber diesen Weg betreten zu können, muß man vor allem anerkennen, daß einer geschichtlich philosophischen und praktischen Beleuchtung des Problems unumgänglich seine theoretische Analyse vorhergehen muß. Das Wesen einer Anschauung über Recht und Macht kann in keinem uns geschichtlich bekannten System verstanden werden, wenn wir nicht vorerst den Versuch machen, diese ideellen Gebildet in die Begriffe der modernen Wissenschaft zu übersetzen: denn der Prozeß der Klärung der überlebten Lehren besteht wesentlich in ihrer Übersetzung in die Sprache moderner Begriffe. Ebenso setzt die kritische Betrachtung dieser Lehren voraus, daß das Problem auf diese oder eine andere Weise schon gelöst, daß die richtige Wechselbeziehung zwischen den Begriffen schon gefunden ist. Der praktische Politiker schließlich, der über die "Macht des Rechts" oder das "Recht der Macht" spricht, muß sich zunächst klar und deutlich den ganzen inneren logischen Sinn dieser Wortkombinationen vorstellen können; die theoretische Analyse der Begriffe ist es aber eben, welche seine Überlegungen und Handlungen auf die nötige Höhe des Verständnisses zu bringen imstande ist. Also ist es dem Juristen wer er auch sein mag, notwendig, mit der theoretischen Analyse des Problems anzufangen.

Wir werden versuchen, das Problem über die Beziehung von Recht und Macht hier in einem allgemein juristischen Sinn zu fassen. Das bedeutet, daß wir von jenen Fragestellungen, von denen aus es behandelt wird, und von den speziellen Fragen und Schwierigkeiten, welche für dasselbe in den einzelnen Wissenszweigen erwachsen, absehen und an es vom Standpunkt der allgemeinen Rechtslehre herantreten wollen. In die erste Reihe tritt folglich für uns die Analyse  der Begriffe  von Macht und Recht, und zwar in einer ganz bestimmten Beziehung.

Grenzen wir aber unsere Aufgabe noch vollständiger und genauer. Wir werden von der Frage abstrahieren, was in ethischer oder sozialphilosophischer Beziehung wertvoller sein soll - Recht oder Macht; oder welches von den beiden vom politischen Standpunkt aus dem anderen dienen soll, d. h. ob das Recht das Ziel und die Macht das Mittel sein soll, d. h. ob das umgekehrte Verhältnis das zutreffende ist. Wir werden auch die Frage beiseite lassen, welches von den beiden Prinzipien im Prozeß der geschichtlichen Entwicklung den Sieg über das andere davontrug, und welches Ursache, welches Wirkung war. Uns interessiert hier weder das, was im gesellschaftlichen Leben stattfinden soll, noch auch das, was in geschichtlicher Wirklichkeit faktisch existiert hat. All dies sind Fragen von hoher Bedeutung und großem Interesse. Aber nicht auf ihnen liegt in dieser Abhandlung der Schwerpunkt. Wir werden versuchen, die Analyse der Begriffe von Macht und Recht hier vom Standpunkt einer  allgemeinen Methodologie der juristischen Disziplinen  durchzuführen.

Die moderne Rechtslehre dringt mit immer größerer Bestimmtheit und immer prinzipiellerem Verständnis zur Anerkennung dessen durch, daß das Recht selber ansich ein im höchsten Grad kompliziertes und vielseitiges Gebilde ist, daß es einge ganze Menge von einzelnen Seite und Formen des "Seins" besitzt. Jede dieser Seiten geht in das Wesen dessen ein, was mit dem gemeinsamen Namen "Recht" bezeichnet wird, aber jede von ihnen stellt ihrer Natur nach etwas in so hohem Grad Eigentümliches dar, daß sie eine besondere, spezielle Bestimmung und Betrachtung neben den anderen voraussetzt und fordert. Wenn die allgemeine Untersuchung des Gegenstandes auch nur eine dieser Seiten übersieht, so ist sie nicht vollständig; wenn die Erforschung der einen Seite mit derjenigen einer anderen zusammenfließt, so entsteht zuweilen die ganze Untersuchung geradezu zu entwerten droht. Dieser Gesichtspunkt gibt demgemäß zu, daß eine einzige universelle und exklusive Forschungsart im Recht, welche alle übrigen zu verrängen und zu ersetzen imstande wäre, nicht existiert. Im Gegenteil, es gibt viele Forschungswege in der Rechtswissenschaft; jeder einzelne von ihnen ist wertvoll, notwendig und unersetzlich. Der Glaube an einen heilbringenden methodologischen Monismus fällt dahin und macht den Platz für ein prinzipielles Zugeständnis  des methodologischen Pluralismus  frei (3).

Die ganze Rechtslehre beginnt von diesem Standpunkt aus sich zu komplizieren, zu gliedern, zu differenzieren. Die juristischen Disziplinen beginnen nunmehr sich nicht nur nach dem Charakter der zu regelnden Verhältnisse zu gliedern, sondern nach dem jeweiligen Gesichtspunkt, von dem das Recht als solches betrachtet wird. An das Recht in seiner ganzen Kompliziertheit von ihrem eigentümlichen Standpunkt aus herantretend, löst jede methodologisch gesonderte Disziplin an jenem die Seite ab, welche für sie bedeutsam ist, und erklärt eben diese Seite für die wesentliche auf ihrem Gebiet, für diejenige, welche  für sie  das gesuchte Wesen des Rechts darstellt. Es entsteht auf diese Weise nicht  eine  Bestimmung des Rechts, sondern einige, vielleicht viele, und keine von diesen Bestimmungen kann und soll einen Anspruch auf Exklusivität machen. Alle zusammen und gemeinsam können sie erst prätendieren [Anspruch erheben - wp], erschöpfend das Wesen des Rechts erfaßt zu haben. Zwischen diesen einzelnen Betrachtungsarten, zwischen diesen methodologischen Reihen in der Rechtslehre kann eine größere oder geringere Verwandtschaft oder Fremdheit statthaben. Die Fremdheit der einzelnen Reihen kann bis zur völligen und vollständigen Abgewandtheit voneinander gehen. Und eben in diesem letzten Fall befinden sich die Begriffe, die zu einer Reihe gehören, im Verhältnis zu den Begriffen einer anderen Reihe in einer Ebene, die ihrem ganzen Wesen nach der ersten gegenüber andersartig, unähnlich und heterogen erscheint. Es existieren Reihen der Rechtserkenntnis, welche nicht nur keinerlei Lösung für die Fragen, die in einer anderen Reihe entstehen und verankert sind, liefern, sondern welche die Übertragung und  Aufstellung dieser Fragen  in ihrer eigenen Sphäre schlechterdings  nicht dulden.  Solche Reihen müssen als in methodologischer Hinsicht  wechselseitig indifferente  charakterisiert werden, und die Einsicht in diese Indifferenz ist eine der unmittelbarsten und wichtigsten Aufgaben der ganzen Rechtserkenntnis als solcher. So sind sich z. B. die historische Betrachtung und die soziologische Analyse der Rechtserscheinungen verwandt und fließen zusammen und ineinander; ebenso haben die philosophische Bewertung dieser Erscheinungen und ihre politisch-theologische Betrachtung einige Berührungspunkte. Während dagegen z. B. die dogmatische Bearbeitung der Rechtsnormen, welche den Aufbau eines Systems juristischer Begriffe zum Ziel hat, und die soziologische Erläuterung der Rechtserscheinungen sich in zwei gänzlich verschiedenen Ebenen bewegen, in gewissen Beziehungen in die Lage  wechselseitig indifferenter  Reihen kommen und in bestimmten Fragen geradezu eine direkte Gegensätzlichkeit aufweisen können.

Wir wollen noch bemerken, daß das  Prinzip der methodologischen Indifferenz  durchaus nicht den Sinn hat und auch nicht haben soll, als stünden bestimmte Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens in keinerlei realem Zusammenhang miteinander, als bedingten und bestimmten sie einander in keiner Weise. Das Wesen dieses Prinzips besteht lediglich in einem gewissen,  bedingt anzuerkennenden, erkenntnistheoretischen Kunstgriff,  der in einer  logischen Abstraktion  von bestimmten Seiten des Rechts bei der Analyse seiner anderen Seiten besteht. Um bestimmter zu reden,  indem wir das Recht in der logischen Reihe erforschen, sehen wir von jenen seinen Eigentümlichkeiten ab, die es als reale Erscheinung charakterisieren.  Hier werden nicht zwei Erscheinungen einander gegenüber gestellt, sondern: einerseits wird das Recht als Erscheinung, andererseits das Recht als Etwas, was außerhalb der Realitätsebene liegt, betrachtet. Darüber folgt Wesentliches weiter unten.

Die Analyse der Begriffe von Recht und Macht, welche wir hier vorhaben, durchführen, heißt zu zeigen versuchen, ob die Möglichkeit besteht, daß eine bestimmte methodologische Reihe der Rechtsforschung, oder eventuell einige solcher Reihen, sich als verwandt herausstellen zu jener wisenschaftlichen Ebene, in welcher der Machtbegriff ruht. Und falls es sich erweisen sollte, daß eine solche Verwandtschaft oder Kreuzung der methodologischen Reihen überhaupt möglich ist, so wird es nur noch übrig bleiben, zu verfolgen und zeigen, für welche Reihen im Speziellen dies möglich ist und in welchem Grad. Dadurch wird auch die korrelativ damit verbundene Frage ihre Lösung finden, ob das Recht so eine Seite hat, welche keinesfalls eine methodologische Annäherung an den Machtbegriff, geschweige denn eine Identifizierung mit diesem, duldet. Und falls dem so ist, wird man untersuchen müssen, was für eine Seite des Rechts dies ist. Dies wird uns die Möglichkeit gewähren, zu entscheiden, ob es überhaupt angängig ist, das Recht als Macht zu betrachten, ob dies überhaupt methodisch zulässig ist, und falls es zulässig ist, wird sich herausstellen müssen, welche Nuancen dieser beiden Begriffe dabei im Spiel sind. Erst dann gelangen wir in den Besitz eines Kriteriums zum Verständnis und zur kritischen Betrachtung der ganzen Reihe der uns historisch überlieferten Lehren, welche Recht und Macht verschwisterten oder gar identifizierten. Erst dann auch wird der reale Politiker die Möglichkeit bekommen, sich mit voller Klarheit und Deutlichkeit vorzustellen, in welchen Hinsichten das Recht zur Macht wird, und welche Maßregeln dem Recht in der Ausübung seiner Funktionen förderlich oder hinderlich sein können.


§ 2.

Wir wollen vor allem feststellen, daß der Begriff der Macht, wie er auch sonst bestimmt werden mag, stets in  der realen Reihe  liegt, stets eine  ontologische  Bedeutung hat, während  der Begriff des Rechts auch außerhalb der realen Reihe liegen kann,  und das Merkmal des Seins, so oder anders konstruiert, unter seinen Prädikaten  fehlen kann. 

Der Begriff der Macht hat also stets eine ontologische Bedeutung.

Wenn er vom  naiv-realistischen  oder speziell vom geläufig  naturalistischen  Standpunkt aus betrachtet wird, so versteht man gewöhnlich unter Macht eine gewisse Eigenschaft, genauer eine gewisse Fähigkeit der Gegenstände und Dinge, welche eine konkrete Realität besitzen. In diesem Fall erscheint die Macht als reale (gleichgültig ob sich betätigende oder nicht betätigende) Fähigkeit der empirischen wirklichen Dinge.

Tritt man andererseits zum Machtbegriff vom  metaphysischen  Gesichtspunkt heran, so kann Macht eine dreifache Bedeutung erhalten: entweder bildet die Macht das Wesen der Substanz selber (so stand es bei LEIBNIZ) (4) oder sie ist deren Attribut (Standpunkt SPINOZAs) (5), oder sie erhält die Bedeutung von etwas, was vom Angehören an ein substantielles Substrat frei ist (so bei FICHTE) (6). In allen diesen drei Fällen besitzt die Macht eine (gleichgültig - ob selbständige oder unselbständige) metaphysische Realität.

Wird der Machtbegriff schließlich vom Standpunkt einer kritischen Erkenntnistheorie behandelt, so bekommt er die Bedeutung eines Begriffs, welcher an die Gegebenheit der sinnlichen Anschauungen vom Verstand, der die Erfahrung als ein System wissenschaftlich-gewisser Behauptungen konstituiert, herangebracht wird; es ist ein Begriff, welcher zur Erklärung der sinnlich realen Phänomene dient. In diesem Fall ist die Macht (Kraft) selber nicht etwas Reales, aber sie ist eine Prädikabilie des reinen Verstandes, die nur auf das angewandt werden kann, was selber sinnlich real ist. So war es z. B. bei KANT (7).

Diese drei verschiedenen Standpunkte gegenüber dem Machtbegriff können außerdem, zusammenfließend und sich verwebend, neue kompliziertere Lehren ergeben, so z. B. die empiristische mit der metaphysischen Nuance vereinigend oder die kritische mit der metaphysischen usw.

Eins ist allen Lehrern über die Macht gemeinsam: das ist die Verlegung ihrer in die reale Reihe. Die Macht ist entweder selber real-empirisch oder metaphysisch, in der Zeit oder außerhalb der Zeit, selbständig oder abhängig, - oder sie ist ein Prinzip zur Erkenntnis des Realen. Deshalb eben sagten wir, daß der Machtbegriff stets ontologische Bedeutung hat. Wenn dabei die Realität, in deren Schoß die Vorstellung der Macht ruht und sich entwickelt, jenseits der Gegebenheit errichtet, aus einem Begriff abgeleitet wird, so sprechen wir von einer metaphysischen Realität der Macht; wenn dagegen diese Realität der unmittelbaren Gegebenheit entnommen wird, der Anschauung und Wahrnehmung, so wird sie unumgänglich in einer zeitlichen Reihe gedacht und erhält also eine empiristische Bedeutung. Deshalb können wir als Voraussetzung feststellen, daß alles, was in der Zeit gedacht wird, z. B. als Entstehendes, sich Entwickelndes, eine Ursache in der Vergangenheit Habendes, durch das Präexistierend oder Koexistierende Bedingtes - zugleich als empirisch Reales gedacht wird. So können wir dann folgern, daß alles, was in der Reihe untergebracht wird, in welcher die Machtvorstellung liegt, vom methodologischen Standpunkt gesehen in der realen Reihe seinen Ort hat: selber die Bedeutung eines Realen, im metaphysischen oder empirischen Sinn erhält. Dies erhellt sich noch aus folgenden Erwägungen.

Wir können nämlich noch etwas, als allen Auffassungen von der Macht Gemeinsames, und die Erkenntnisrolle dieses Begriffs dem Wesen nach aufklärendes, feststellen. Unter "Macht" wird immer  die Fähigkeit des Realen zum Wirken verstanden. 

Die Macht ist stets eine  Fähigkeit,  gleichgültig, ob sie das Wesen selber des Dings, oder bloß dessen Eigenschaft bildet, oder die Rolle einer Verstandeskategorie spielt: mit dem Begriff der Macht wird stets die Vorstellung von einer gewissen Fähigkeit, welche entweder im rein potentiellen Zustand verbleibt, oder sich schon entlädt, verbunden. Diese Fähigkeit kann ferner entweder einen physischen oder psychischen (vom Standpunkt der Metaphysik oder Empirie gedeuteten) Charakter haben, oder sich in weiteren Spielarten dieser Hauptarten darstellen; aber stets wird sie als Fähigkeit gedacht.

Dabei wird sie gewöhnlich verbunden mit der Vorstellung irgendeines  Trägers,  welcher selber als Glied der  realen Reihe  erscheint: als Element der Außen- oder der Innenwelt.

Schließlich ist diese Fähigkeit eine Fähigkeit  zum Wirken  im allgemeinsten und weitesten Sinn dieses Wortes, mag dieses Wirken sich als Selbsterhaltung äußern, wie bei SPINOZA, oder in schöpferischer Selbstentwicklung, wie bei Fichte, oder in kausaler Bestimmung anderer Elemente der realen Reihe, wie bei KANT und den Empiristen. Und inwiefern wir eben die empiristische Reihe im Auge haben werden, werden wir von der kausalen Bedeutung der Macht sprechen, von der Macht als einer Fähigkeit ein kausal-bestimmendes Moment in der physischen oder psychischen Sphäre zu sein.

Um mit dieser notwendigerweise schematischen Analyse des Machtbegriffs abzuschließen, fügen wir noch folgendes hinzu. Die Möglichkeit, die Macht als rein "ideales" Prinzip, in der Art des "Geistes" bei HEGEL oder der vom psychologischen und anthropologischen Aspekte losgelösten, rein transzendentalen, kantischen Kategorie, zu deuten, widerlegt durchaus nicht unsere These über die reale Bedeutung dieses Begriffs. Diejenige Auffassung des "Idealen", welche in diesem Fall die Vorstellung der Macht (Kraft) aufsaugt, erscheint entweder selber als eine neue, vielleicht verfeinerte Art des Realen, oder sie wird ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach als logisches Mittel zur Feststellung oder Begründung eines Urteils über das Reale bestimmt. Und in diesem Fall ist die Macht (Kraft), wenn auch ideal gedeutet, entweder etwas Seiendes, oder eine Eigenschaft des Seienden, oder ein Prädikat, welches nur auf das Seiende anwendbar ist. So ist der Geist HEGELs real im Sinne höherer Realität; die transzendentale Kategorie ist nur auf das "Zeitliche" und somit Reale anwendbar. Also partizipiert vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus die Macht stets an der realen Reihe, weil entweder das Prädikat des Seienden ihr zugesprochen werden kann, oder sie selber ein Prädikat des Seienden bildet, oder schließlich beides zugleich zutrifft.

Daraus erhellt sich, daß, wenn der Rechtsbegriff mit dem Machtbegriff Fühlung findet, geschweige denn von ihm aufgesogen werden soll, notwendig ist, daß er selbst in die ontologische Reihe versetzt würde, daß das Recht auf diese oder eine andere Weise selber ein Glied der realen Reihe würde, die Bedeutung von etwas Realem erhielte. Abgesehen davon können die Begriffe von Recht und Macht nicht aneinanderrücken, und, wenn wir beobachten, daß diese Begriffe in diser oder jener Lehre in eine solche Wechselbeziehung geraten, bei welcher der Rechtsbegriff durch den Machtbegriff bestimmt wird (d. h. die Macht als Gattungs-, das Recht als Artbegriff erscheint), oder aber die Merkmale des Rechtsbegriffs und die Merkmale des Machtbegriffs sich in einem dritten Begriff vereinigen, gleichsam als in ihrem logischen Sprößling, so können wir überzeugt sein, daß das Recht, wenn auch stillschweigend, so oder anders schon zum Glied der realen Reihe wurde, reale Bedeutung erhielt. In diesem Fall können wir mit Sicherheit sagen: diese Doktrin stellt das Recht als etwas Reales vor. Wenn dabei die Macht als metaphysische Realität gedacht wird, so erhält das Recht die Bedeutung einer metaphysischen Realität; wird aber die Macht dabei in einem empiristischen Sinn gedeutet, so erhält das Recht die Bedeutung einer empiristischen Realität, d. h. das Recht wird als ein Reales, das in der Zeit existiert, vorgestellt.


§ 3.

Jetzt können wir zu der Frage übergehen, welche methodologischen Reihen dem Recht zugänglich sind, d. h. von welchen methodologischen Gesichtspunkten man an diesen Begriff herantreten darf. Wobei, falls sich unter diesen Reihen solche von realem Charakter aufweisen lassen, werden wir entscheiden müssen, wie sich in ihnen der Begriff des Rechts bestimmen läßt und in welchen Formen er sich dem Machtbegriff nähern kann; falls sich aber Reihen, die dem Realen fremd und von jeder Ontologie frei sind, vorfinden sollten, so werden wir fragen, welche Bedeutung der Rechtsbegriff in ihnen erhält, und zu welchen Folgen der Einfall des Machtbegriffs in diese Reihen führen muß.

Vor allen Dingen hat gewöhnlich der Jurist, wenn er vom Recht spricht, zwei allgemeine und grundlegende Bedeutungen von ihm im Auge: das Recht im objektiven und das Recht im subjektiven Sinne, d. h. die rechtlichen Normen und die subjektiven Berechtigungen, die aus diesen Normen abgeleitet werden. Dadurch wird die Frage nach der Wechselbeziehung Recht und Macht nach zwei fundamentalen Richtungen verzweigt: je nachdem, ob mit dem Machtbegriff der Rechtsbegriff im objektiven oder der Rechtsbegriff im subjektiven Sinn konstruiert werden soll. Folglich ist es notwendig, nacheinander zu erwägen, ob einer Rechtsnorm die Bedeutung von Macht zugeschrieben werden kann, und ob einer Berechtigung die Bedeutung von Macht zugeschrieben werden kann. Wir beginnen mit der Analyse der ersten Frage.

Wenn irgendeine These existiert, welche auf eine weitere Anerkennung bei den Juristen rechnen kann, so ist es die Behauptung, daß das Recht  eine Norm  oder  eine Gesamtheit von Normen  ist. Ein Jurist, welcher nicht gewillt wäre, dies zuzugeben, würde gewiß alle in Erstaunen versetzen. Aber wenn der Rechtsbegriff - nach streng logischer Weise  per genus proximum  [nach dem nächsthöheren Gattungsbegriff - wp] definiert - in den Normbegriff mündet, so ist es am Platz, zu fragen, was denn eigentlich eine Norm sein soll. Unter einer Norm verstehe ich  einen  Satz, welcher eine gewisse Ordnung als sein sollende behauptet. (8) Dabei haben die Begriffe der  Ordnung,  des  sollenden  und des  Satzes  folgenden logischen Charakter.

Die  Ordnung  ist eine bestimmte  konstante Beziehung zwischen den Elementen einer Vielheit.  So setzt dann eine Ordnung unbedingt die Gegenwart  nicht eines Elements,  sondern zweier oder vieler voraus. Als minimum - zweier -, als Maximum - einer positiven Unendlichkeit von Elementen. Die Ordnung, welche in den inneren Beziehungen eines einzigen Elements zu sich selber gedacht wird, setzt voraus, daß dieses Element bedingterweise in mehrere Elemente niederen Rangs geteilt ist. Dabei ist es für den  allgemeinen  Begriff der Ordnung gleichgültig, was das für Elemente sind: ob Menschen, ob Erlebnisse, Planeten usw. (9) Weiter setzt der Begriff der Ordnung voraus, daß zwischen diesen Elementen eine  gewisse Beziehung  stattfindet, denn Elemente, welche außerhalb jeder Beziehung zueinander gedacht werden, gleichsam aus verschiedenen wechselseitig indifferenten Ebenen hervorgeholt, können weder Ordnung noch Unordnung ergeben: man braucht sich nur die "Abwesenheit von Beziehung" als Ordnun vorzustellen versuchen und man überzeugt sich sogleich, daß sie selber die Bedeutung einer gewissen Art von Beziehung erhalten. Dabei ist für den Gattungsbegriff der Ordnung - und wir haben jetzt eben ihn im Auge - irrelevant, welcher Art diese Beziehung ist: ob eine Wechselbeziehung menschlicher Seelen, oder eine assoziative Verbindung, oder die Schwerkraft usw. Schließlich - wird diese Beziehung als  konstant  gedacht, und die Konstanz bildet jenes spezifische Merkmal, welches den Artbegriff der Ordnung vom Gattungsbegriff der "Beziehung" unterscheidet. Diese Konstanz kann in der Sukzession oder der Koexistenz oder in beiden zugleich gedacht werden, aber sie muß stets aufweisbar sein und hat stets ein gewisses Schema zur Grundlage, welche es gestattet, diese Beharrlichkeit oder Wiederholung zu konstatieren. Also ist die Ordnung  eine gewisse konstante Beziehung zwischen den Elementen einer Vielheit. 

Diese Ordnung wird in der Norm als  gesollte  aufgestellt. Wenn ein Satz eine bestimmte konstante Beziehung zwischen Elementen einer Vielheit als eine Verallgemeinerung, welche durch die Analyse einer räumlichen oder räumlich-zeitlichen Gegebenheit (d. h. der Wirklichkeit) gewonnen ist, ausdrückt, so formuliert er ein Gesetz, welches man als  positives  charakterisieren darf. In diesem Fall haben wir das Resultat einer induktiven Forschung vor uns, welches etwas darüber, was ist, aussagt, und zwar nicht in Bezug auf die Frage, ob es ist, sondern in Bezug auf die Frage,  wie  es ist, d. h. in Bezug auf die typischen Relationen zwischen den Elementen des Seienden (10). In einer konkreten Anwendung wird dabei diese Relation geläufig als existierend, reale, gedacht, unabhängig davon, ob sie als diese bestimmte sein  soll  oder nicht. Wenn dagegen der Satz eine gewisse konstante Beziehung zwischen Elementen einer Vielheit festsetzt, ohne im  letzten Grund  und dem wesen seiner Bedeutung nach auf einer Analyse der Wirklichkeit zu beruhen und ohne die Absicht, eine abstrakte Formel für dasjenige, was in jener geschieht, zu liefern, sondern die Bedeutung dieser konstanten Beziehung als einer  geltenden  behauptet, dabei als einer geltenden  auch außerhalb der Realität,  aber als  bestimmt, die Vollendung der eigenen Bedeutung  im allgemeinen hier nicht weiter zu erörternden Sinn dieses Wortes  durch Realisation  zu erlangen, (11) dann formuliert dieser Satz eine  Norm  im allgemeinen Sinn dieses Wortes. In diesem Fall haben wir einen Satz vor uns, welcher aussagt, daß etwas  sein soll,  unabhängig, ob es in der Wirklichkeit ist oder nicht. Die Norm stellt eine  gewisse konstante Beziehung zwischen Elementen einer Vielheit,  eben als  gesollte,  fest. (12)

Schließlich haben wir, wenn wir über einen Satz sprechen, folgendes im Auge. Ein  "Urteil überhaupt"  kann entweder als psychischer Akt behandelt werden und ist dann ein Moment des realen Prozesses in seiner ganzen gegebenen empirischen Kompliziertheit; oder als eine  Verbindung zwischen  zwei (der einfachste Fall)  Begriffen, d. h. gedachten Inhalten,  dem  Subjekt und dem Prädikat;  dieses Band wird durch den konventionellen, einer ontologischen Bedeutung entbehrenden Ausdruck  "ist"  bezeichnet und besteht im "partiellen"  logischen  Zusammenfallen (in Anbetracht dessen, daß ein völliges Zusammenfallen einen einzigen Begriff ergeben, und der Satz in eine Tautologie verwandelt würde). Dieses Band wird stets  in Worten  ausgedrückt und kann auch nicht umhin, in Worten ausgedrückt zu werden. Den Ausdruck "Satz" gebrauchend, nehmen wir ihn in der zweiten Bedeutung und halten es für zweckmäßig, dies im Besonderen zu betonen, weil die Sprache noch nicht einen besonderen allgemein anerkannten Ausdruck für den logischen Begriff des Urteils und einen besonderen für einen psychologischen Begriff, geprägt hat.

Die These  "Recht ist eine Norm"  lautet also in entwickelter Form folgendermaßen:
    Das Recht ist ein logischer Satz (d. h. eine in Worten ausgedrückte Verbindung zwischen zwei Denkinhalten, die sich in ihrem partiellen logischen Zusammenfallen äußert), welcher eine gewisse Ordnung (d. h. eine bestimmte konstante Beziehung zwischen Elementen einer Vielheit) als gesollte festsetzt.
Oder:
    Das Recht ist eine Norm, die Norm ist ein logischer Satz.
Daraus muß notwendig die Möglichkeit resultieren, das Recht als eine Norm und als einen Satz zu betrachten. Denn, wenn der Begriff des Satzes die Gattung, der Normbegriff aber die Art bildet, und alle Merkmale des Gattungsbegriffs nach allgemeiner Regel auch dem Artbegriff zukommen, so kommen der Norm alle Merkmale des Satzes zu; und ziehen wir in Betracht, daß dieselbe Relation von Gattung zur Art auch zwischen den Begriffen Norm und des Rechts stattfindet, so wird es klar, daß das Recht, auch an allen Merkmalen des Satzes teilnimmt. Also kann das Recht als Nrom und als Satz betrachtet werden.

Beim Behaupten dieser These müssen wir aber betonen, daß eine Rechtsnorm nicht nur aus einem, sondern auch aus einigen Sätzen bestehen kann; daß sie auch in der Form eines Schlusses formuliert werden kann und auch oft formuliert wird; und daß jeder Satz, der in eine Rechtsnorm eingeht, seinerseits eine Verbindung nicht nur zwischen zwei, sondern auch zwischen mehreren Begriffen stiften kann. Diese Begriffe können sich entweder auf dem Weg der Subordination (z. B. der Begriff der "Kanzleiverwaltung der Reichsduma", Artikel 29 der Verfassung der Reichsduma; oder "Der Kaiser hat  Verträge mit fremden Staaten  einzugehen", Artikel 11 der deutschen Reichsverfassung) vereinigen, oder ansich getrennt sein und dann ein kompliziertes Satzsubjekt bilden (z. B. "wer schuldig ist ... wer schuldig ist ... wer schuldig ist ... wird so und so bestraft", Artikel 73 des Russischen Strafgesetzbuchs vom Jahr 1903). Fügen wir noch hinzu, daß wir ganz bewußt den Beweis oder die Begründung des Untersatzes, welcher für den soeben formulierten Schlußsatz unentbehrlich ist, der Voraussetzung nämlich, welche die faktische Gegenwart der Normsätze in unserem Sinne des Wortes in positiven Rechtsmaterial aufzeigt, wegfallen ließen. Es genügt, sich auf das ganze geschriebene Recht zu berufen, um sich von der Last dieses Beweises zu befreien. Die ganze sogenannte dogmatische Rechtsbearbeitung faßt bewußt oder halbbewußt das Recht eben als Norm und als Satz auf, obwohl sie allerdings in der großen Mehrzahl der Fälle, deren Betrachtung mit Elementen, die aus anderen methodologischen Reihen stammen, zusammenfließen läßt. Dieser letztere Umstand bewog uns aber, mit größerer Aufmerksamkeit bei diesen Begriffen stehen zu bleiben, denn nur strenge methodische Reinheit und Folgerichtigkeit in der Bestimmung und Behandlung des Objekts der Rechtswissenschaft können uns die Auflösung unserer Hauptaufgabe möglich machen. (13)

Das Wesen der Sache liegt darin, daß beide aufgewiesenen Betrachtungsweisen (die Behandlung des Rechts als Satzes und als Norm) völlig von jeder Zeitlichkeit und Wirklichkeit abstrahieren, d. h. sich in einer Reihe, die dem Sein und der Realität fremd ist, bewegen können. Dies ist möglich  erstens  darum, weil man die Norm, als Regel des Gesollten, einer wissenschaftlichen Untersuchung in formaler Beziehung und nach dem Inhalt des Gesollten unterwerfen kann und soll, unabhängig davon, ob sie wirkt oder nicht wirkt, d. h. ob sie angewandt wird, oder nicht, und falls sie angewandt wird,  zu was  und  wie  diese Anwendung führt. Eine solche Analyse der Rechtsnormen wird geleistet, und wird geleistet werden, und ihr wissenschaftlicher Wert besteht eben darin, daß sie der einzige Weg zur Erkenntnis der Norm, als solcher, ist. Wir werden bald sehen, daß die anderen Betrachtungsweisen diesen Weg nicht ersetzen können, weil sie sich andere Aufgaben stellen, und zwar solche, welche diese Aufgabe als gelöst voraussetzen.  Zweitens  ist eine Lösung der Norm von Zeit und Wirklichkeit auch noch darum möglich, weil die  "Norm"  und  "das Bewußtsein einer Norm"  nicht ein und dasselbe sind. Die Norm kann ihrem Inhalt nach betrachtet werden, und zwar so, daß sie sich nicht als der Gedanke irgendjemand anderen, d. h. nicht als Gedanke dieses oder jenes Menschen oder einer bestimmten Gruppe von Menschen darstellt, sondern als gedachter Inhalt von normativem Charakter überhaupt und ansich selber. Etwas wird als Gesolltes aufgestellt; ich kann mich für diese Aufstellung und für dieses Gesollte interessieren, ohne zu fragen, in  wessen Bewußtsein  die Vorstellung von diesem Gesollten wohnt,  wie  sie sich in jenem gestaltet,  wie  sie auf die Gedanken, Gefühle, Handlungen des Betreffenden einwirkt usw. Das heißt natürlich nicht, daß diese letzte Gruppe von Fragen unwichtig, unnötig, oder bar jedes wissenschaftlichen Interesses ist. Durchaus nicht, im Gegenteil. Aber diese Serie von Fragen bewegt sich auf einer ganz anderen Ebene, auf einer Ebene, welche der logischen und der normativen Reihe fremdartig, heterogen ist.

Dasselbe wiederholt sich auch bei der Betrachtung des Rechts als eines Satzes. Wenn die  normative Betrachtung  sich für das Recht als  juristische Norm,  d. h. für ihren juristischen Charakter und den Inhalt ihrer Vorschriften 
interessiert, so hat es die  logische Betrachtung  mit dem Recht als eine  Satz  zu tun und stellt sich zur Aufgabe, die wissenschaftliche Klarlegung und systematische Bearbeitung jener Begriffe (wir nannten sie oben die gedachten Inhalte eines Satzes, das Subjekt und das Prädikat), welche im Satz verbunden werden. Diese Analyse kann wiederum bei völliger Abstraktion vom zeitlichen Milieu und zeitlichen Bedingungen vor sich gehen. Der Satz in seinem logischen Bestand und das Urteil als irgendjemandes Gedanke, d. h. als Bewußtseinsinhalt eines bestimmten Menschen oder einer bestimmten Gruppe oder sogar einer unbestimmten Vielheit von Menschen - sind ganz und gar verschiedene Dinge. Ich kann den logischen Inhalt eines Satzes und seiner Begriffe analysieren, ohne mich darum zu kümmern, ob er wirklich gedacht wird, oder vielleich von irgendjemandem auch nicht gedacht wird; ohne zu fragen, in wessen Bewußtsein er entstanden ist und wie dieser Vorgang des Entstehens vor sich ging, wie der letztere auf dieser oder jener Persons Gedanken oder Gefühle wirkte, in welchen assoziativen Verbindungen das Bewußtsein von diesem Satz sich hier befindet usw. Diese Fragen sind wichtig und wertvoll, aber sie bewegen sich nicht auf einer logischen, sondern auf einer psychologischen Ebene. (14)

Die Möglichkeit und der Wert der normativen Betrachtung des Rechts in einer Loslösung vom politischen, soziologischen, historischen und psychologischen Gesichtspunkt und die Möglichkeit der logischen Analyse des Satzes in Loslösung von der psychologischen Analyse des Urteilens müssen erhalten und erhalten allmählich in den letzten Jahren eine Anerkennung auf verschiedenen Gebieten des wissenschaftlichen Denkens - in der Logik und in der Jurisprudenz. Das ist zweifellos ein bedeutsamer Erfolg, welchen die methodologische Vertiefung der Erkenntnis gezeitigt hat, und er ist, wie ich glaube, in vielen Beziehungen interessant und wertvoll. Als Beispiel dazu dient unsere Frage über Recht und Macht.


§ 4.

Wir können vorläufig aber nur zwecks Vereinfachung der Darstellung übereinkommen, die logische und die normative Rechtsbetrachtung in einer gemeinsamen "juristischen" Betrachtung zu vereinheitlichen, dabei aber noch keineswegs diese juristische Betrachtung der moralischen, ästhetischen usw. gegenüberstellend. Der Terminus des "juristischen" setzt in unserer bedingten Benutzung durchaus nicht die Definition des Rechtsbegriffs als geleistet voraus, wie sich dies aus dem ganzen Gang unserer Untersuchungen erhellt; im Gegenteil, die Methode, die wir durch diesen Ausdruck zu bezeichnen wünschen, eröffnet selber erst überhaupt die Möglichkeit, eine enge, aber logisch-strenge und methodologisch reine Definition des Rechtsbegriffs zu gewinnen. Als Norm und Satz kann man nicht bloß das Recht, sondern auch die Moral und das Logische, als solches, und das Ästhetische, mit einem Wort all die Gebiete, welche nach ihrem Gegenstand einen normativen Charakter besitzen können, behandeln; und dort kann dieselbe methodologische Reihe (natürlich ebenfalls in bedingter Weise) als spezifisch moralische, logische, ästhetische charakterisiert werden. Mit einem Wort, wenn wir die normative und logische Rechtsbetrachtung als juristische bezeichnen, so hat dieser Ausdruck für uns eine "formal-methodologische" und nicht eine "material-gegenständliche" Bedeutung.

Und nun kann behauptet werden: inwiefern zugegeben wird, daß eine methodologische Abstraktion dieser juristischen Reihe von den zeitlichen Reihen, die auf diese oder eine andere Weise die rechtliche Wirklichkeit behandeln, möglich und wertvoll ist, insofern erweist sich, daß im Begriff des Rechts (als Satzes und Norm) somit eine Seite bloßgelegt ist, welche keine Annäherung an den Machtbegriff duldet. Denn, das Recht als Macht denken, heißt, das Recht als etas Reales denken, die juristische Reihe wird aber doch ihrem methodologischen Wesen nach durch eine vollständige und folgerichtige Loslösung von allem Realen, von aller Ontologie als solcher charakterisiert. Von realen Reihen aber abstrahieren, um sogleich unbemerkt oder unbewußt reale Begriffe hineingleiten zu lassen, ist eine augenscheinlich unzulässige Operation. Entweder ist die juristische Erforschung des Rechts zulässig, und dann muß sie konsequenz bis ans Ende ihre methodologische Bestimmtheit, welche wir oben festzustellen bemüht waren, bewahren, oder muß sie überhaupt als solche abgewiesen werden; dann entsteht aber in der Rechtserforschung eine unausgefüllte Erkenntnislücke.

Indem wir diese Losreißung der "juristischen" Analyse von der psychologischen, historischen und politischen, als sich in der realen Reihe bewegender, befürworten, fühlen wir uns ganz frei von dem Vorwurf, daß wir dem Recht irgendeine neue zeitlose Realität vindizieren, daß wir in einem Anti-Hisorismus stecken (15), daß wir der Logik eine gewisse exklusive Herrschaft in den politischen Instituten zuerkennen (DESLANDRES gegen LABAND) (16), daß wir an reale Definitionen glauben (GIERKE gegen LABAND) (17) usw. Die normative und die logische Rechtsbetrachtung sieht im Recht in keiner Beziehung etwas Reales; noch mehr, schon die Aufwerfung der Frage, ob das Recht in diesen methodologischen Reihen real ist, hat keinen Sinn; weder "ist" es hier, noch "ist" es nicht, es wird ihm weder ein Sein, noch ein Nichtsein zugeschrieben, denn das Prädikat "des Realen" hat in dieser Reihe keinen Sinn. Dabei ist die Loslösung des Rechts von der historischen, psychologischen und jeder anderen Realität gleich jedem anderen methodologischen Kunstgriff nur eine  bedingte Operation,  durch welche eine größtmögliche Bewußtwerdung des zu erkennenden Gegenstandes und eine methodologische Isolation der Forschungswege, die zum Zweck die Produktivität der wissenschaftlichen Erkenntnis, hat, angestrebt wird. Die Resultate, welche dank der juristischen Analyse der Rechtsnormen gewonnen sind, werden selbstverständlich nachträglich in die Rahmen einer historischen Epoche und zeitlicher Bedingungen einbezogen werden, denn der Jurist wird niemals die von ihm zu Anfang bewerkstelligte künstliche und bedingte Isolation vergessen. Aber eben diese vorhergehende und nachfolgende Wendung des erkennenden Gedankens zum Bewußtsein der notwendigen wechselseitigen Zusammengehörigkeit der einzelnen Seiten des Gegenstandes, nämlich zuerst zur  irrationalen  Synthese des  nicht erkannten  Gegenstandes, als  gegebenen und dann zur  rationalistischen  Synthese des  erkrankten  Gegenstandes, als  aufgegebenen  - verbürgt die Möglichkeit der Beobachtung einer streng methodologischen Folgerichtigkeit und Reinheit in der Isolierung und Untersuchung der einzelnen Seiten des zu  erkennenden  Gegenstandes. Das notwendige Korrelat des methodologischen Pluralismus ist eine methodologische Eindeutigkeit im Erkennen, und die  aufgegebene Synthese  des &marvin1ob.htmlnbsp;erkannten  Gegenstandes (in unserem Fall des Rechts im weitesten und allgemeinsten Sinn des Wortes) wird natürlich umso erschöpfender, tiefer und vollkommener die unendliche Kompliziertheit des irrational vorgestellten "gegebenen" Gegenstandes wiederzugeben vermögen, je subtiler dieser Gegenstand im Prozeß des Erkennens differenziert, und je konsequenter und strenger diese methodologische Differenzierung durchgeführt wurde. In demselben Maß, wie es wichtig ist, "vor" dem Eintritt in eine gewisse methodologische Reihe und "nach" dem Austritt aus ihr sich gegenwärtig zu halten, daß im eigentlichen Sinn der Gegenstand ein einheitlicher und ein ganzer ist, ist es auch vielleicht wichtig, diese Einheit und Ganzheit innerhalb der besonderen Erkenntnisreihe zu vergessen, und dies bezieht sich besonders auf jene Reihen, welche nach dem Prinzip der "methodologischen Indifferenz" gebildet werden.

So behandeln auch in unserem Fall alle Disziplinen, welche sich in der juristischen Reihe bewegen, - und müssen auch behandeln - das Recht in einer Auffassung, welche aus dem Bestand seiner Merkmale die Kategorien der realen Reihe und im besonderen die Machtkategorie ausschließt. Der Rechtsbegriff und andere juristische Begriffe dürfen hier nicht durch das Merkmal der Macht bestimmt werden; für den Juristen im engen Sinn des Wortes ist das Recht ein Satz und eine Norm und ist in keiner Beziehung Macht.  Das Recht als Satz und als Norm und das Recht als Macht sind Begriffe, welche in methodologisch indifferenten Reihen liegen.  Deshlab verflechten alle diese Konstruktionen, welche unmittelbar oder in verkappter oder spitzfindig verfeinerter Form in die juristische Definition das Machtmoment hineintragen, zwei methodologisch indifferente Reihen und müssen entweder als nicht juristische (im engeren Sinn des Wortes) gestempelt, oder aber kritisch revidiert werden.

Und dies bezieht sich vor allem auf die grundlegende juristische Bestimmung des Rechtsbegriffs selber. Die allgemeiner Rechtstheorie kann und soll in jenem Teil, wo sie diese Bestimmung untersucht, alle besonderen Seiten des Rechts in Rechnung stellen und einer Analyse unterwerfen. Aber ihre erste und hauptsächlichste Pflicht besteht in der Aufstellung einer rein juristischen Definition des Rechts, als eines Satzes und als einer Norm mit bekannten spezifischen Artmerkmalen. Dies ist unbedingt notwendig, weil nach logischer Ordnung die juristischen (im engen Sinn des Wortes) Bestimmungen den übrigen Untersuchungen und Bestimmungen vorhergehen. Für alle übrigen Arten der Untersuchung und folglich für alle übrigen methodologischen Reihen erweisen sich die juristischen Bestimmungen als notwendige Voraussetzungen, ohne welche jene keinen Schritt vorwärts kommen können. Dies wird schon an den zwei grundlegenden realen Reihen der Rechtserkenntnis - der psychologischen und der soziologischen klar.

So ist, was zunächst die psychologische Betrachtung angeht, das Recht für sie nichts anderes, als ein Rechtserlebnis oder ein Erlebnis des Rechts. Das ist das Recht, welches in den zeitlichen Strom des individuellen Bewußtseins, oder einer Reihe individueller Bewußtseine, als eins ihrer Inhalte eingeführt ist; in so einer realen Bedeutung analysiert auch wirklich der Psychologe das Recht. Aber der Begriff vom "Erlebnis einer Rechtsnorm" oder einer Berechtigung (bzw. einer Rechtspflicht) setzt voraus, daß die Rechtsnorm und die Berechtigung schon irgendwo definiert sind; sonst würde dem Psychologen jedes bestimmte Schema zur Abgrenzung seines Gegenstandes fehlen. Diese Definition muß dem Psychologen der Jurist liefern, wenn der Psychologe nicht im Dunkeln herumtappen und sein Objekt in der weiten und unbestimmten Sphäre zufälliger Einfälle auflösen will. Auf diese Weise setzt die psychologische Rechtsbetrachtung [dehnow] die juristische Definition, als ihr logisches apriori, als geleistet, voraus und stützt sich auch sie (18).

In derselben Lage befindet sich auch die soziologische Rechtserkenntnis. Wenn der Soziologe den Prozeß der Wechselbeziehung zwischen den menschlichen Seelen betrachtet, beschreibt und erklärt (19), so wird wohl der Soziologe als Rechtsgelehrter mit dem Recht in zwei Beziehungen zu tun haben:
    1. Das Recht wird für ihn zu einer  Erscheinung  werden, in der Bedeutung, daß es, als individuelles Erlebnis, die Beziehung des erlebenden Individuums zu anderen Gliedern der Gemeinschft bestimmt; in diesem Fall betrachtet der Soziologe das Recht von demselben Standpunkt, wie auch der Psychologe, aber in einem anderen Aspekt: ihn interessiert das Rechtserlebnis in seinem Einfluß auf die Beziehung des Individuums zu den ihm umgebenden Menschen und auf die Beziehung dieser letzteren zu ihm. In diesem Fall klärt sich die Art des Zusammenhangs zwischen der soziologischen und der juristischen Reihe auf durch Analogie mit der psychologischen Auffassung: der Begriff eines individuellen Rechtserlebnisses setzt auch in diesem Aspekt eine fertige juristische Definition des Rechts voraus.

    2. Das Recht erweist sich in der soziologischen Reihe aber weiter als eine rechtliche Erscheinung im engeren und bestimmteren Sinn des Wortes. Das Recht ist nach dieser Auffassung eine Rechtsnorm, welche, durch ihre Anwendung, in den faktischen Bestand gesellschaftlicher Beziehungen als Schema dieser Beziehungen einbezogen ist.
Das Recht erhält im Augenblick seiner Anwendung eine neue Bedeutung, die Bedeutung eines Faktums: war in der juristischen Reihe das Recht eine Norm, so erhält es in der soziologischen Reihe nach seiner Anwendung die Bedeutung eines der Momente im realen Bestand gesellschaftlicher Beziehungen (20). Es erscheint hier wieder als Erlebnis, wird aber schon durch eine unbestimmte Mehrheit von psychischen Einheiten, nicht nur als Norm, sondern auch als ein faktisch sich realisierendes Schema und als eine aus der Norm in Bezug auf einen konkreten Fall abgeleitete Reihe von Berechtigungen und Verpflichtungen erlebt, gewöhnlich mit dem Bewußtsein einer bestimmten Sanktion (in der Form von bevorstehenden realen Folgen einer Abweichung) usw. Mit einem Wort eine rechtliche Erscheinung ist für den Soziologen  eine Beziehung zwischen den Menschen, wie sie sich herstellt nach der Anwendung der Rechtsnorm auf sie und während des ganzen Verlaufs des realen Wirkens der letzteren.  Es ist klar, daß der Begriff einer Rechtsnorm oder im Spezialfall der Inhalt einer gegebenen Rechtsnorm und folglich auch deren formale Bedeutung als einer solchen, wie auch die Begriffe, die in ihr verwendet wurden, - all dies hier als schon bekannt ausgeführt, als notwendig (zum Zweck der Abgrenzung des Gegenstandes einer soziologischen Rechtswissenschaft) (21) und als an irgendeinem anderen Ort festgestellt, vorausgesetzt wird. Also auch die soziologische Rechtslehre setzt eine schon geleistete juristische Definition voraus und stützt sich auf diese (22).

Endlich setzt auch die politische Rechtsbetrachtung, welche sich ihrem Wesen nach in einer realen Reihe bewegt, eine ausgeführte juristische Analyse voraus. Der politische Gesichtspunkt versetzt das Recht in eine teleologische Kette, d. h. in eine Reihe von Zwecken und Mitteln (23). In dieser Reihe hat jedes Glied, außer dem höchsten und tiefsten (dem Endziel und dem Ausgangspunkt), eine doppelte Bedeutung: für jedes höhere Glied ist es Mittel, für jedes tiefere Ziel. Das oberste Glied - der Endzweck - wird in seinem Inhalt transzendental (durch Deduktion aus einem System von Werten) begründet, alle übrigen Glieder dagegen sind durch empirisch-kausale Verbindungen, welche induktiv festgestellt oder hypothetisch konstruiert und in der Ordnung einer zeitlichen Sukzession zwischen allen niederen Gliedern auf dem höheren (bzw. den höheren) statuiert werden, begründet. Auf diese Weise wird die ganze teleologische (politische) Reihe in einem zeitlichen Schema, d. h. als real seiend gedacht. Mag nun das Recht hier bloßes Ziel, mag es zugleich Zweck und Mittel sein, - es wird als etwas gedacht, was der Realisation unterliegt, was realisiert wird oder selber etwas realisiert, es wird Recht als Erscheinung oder rechtliche Erscheinung; sowohl dieser oder jener Begriffe setzt ein festgesetztes Prinzip der Auswahl des Rechtlichen vom Nichtrechtlichen voraus, setzt voraus, daß das Recht als Norm und Begriff schon feststeht. Also setzt auch die politische Rechtsbetrachtung eine perfekte juristische Analyse voraus.

Wenn aber die juristische Definition und Untersuchung des Rechts einen logischen Primat gegenüber den psychologischen, soziologischen und historischen Definitionen und Untersuchungen hat, so kann eben, von unserem Standpunkt aus, der Übergang von der ersten Reihe zu den übrigen als Vindizierung einer Bedeutung von Macht für das Recht charakterisiert werden. In den übrigen vorgeführten Betrachtungsweisen wird nämlich das Recht zum Glied der realen Reihe. Es erhält die Bedeutung eines psychisch- oder gesellschaftlich-realen Moments, welcher in einer realen Wechselwirkung mit anderen Momenten derselben Reihe steht. Das Bewußtsein einer Rechtsnorm kann auf diese Weise bestimmen, und bestimmt auch, in der Seele des Menschen die anderen Inhalte seines Bewußtseins, es kann in ihm bestimmte neue Gefühle, Wollungen, Gedanken erwecken, erhalten oder verändern. Das Recht als Bewußtseinsinhalt oder (weiter gefaßt) als Erlebnis erweist sich hier als fähig, einen kausal bestimmten Moment in der psychischen Sphäre zu sein: - "es wird zur Macht". Ebenso wird das Recht durch seine Anwendung, d. h. durch seine Einbeziehung in reale Prozesse des gesellschaftlichen Lebens, zum Faktor, welcher auf reale Weise die gesellschaftlichen Beziehungen bestimmt. Das Recht, wie man sich ausdrückt, erscheint hier als "gesellschaftliche Macht".
LITERATUR Iwan Iljin, Die Begriffe von Recht und Macht, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. 18, Berlin 1912

    Anmerkungen
    1) Hiermit äußere ich meinen tiefsten Dank Herrn Dr. SAMUEL LOURIÉ in Heidelberg, der mir so viel in der Übersetzung dieser Arbeit geholfen hat.
    2) Es ist von Anfang an ausdrücklich zu betonen, daß wir in der ganzen vorliegenden Untersuchung von dem, seinem Inhalt nach vieldeutigen Begriff der "Macht" nur denjenigen Aspekt im Auge haben, der diesen Begriff dem Begriff von "Kraft" annähert: "Macht" ist hier als Artbegriff zu "Kraft" (entelecheia) zu verstehen. Dies ist genug für unsere Untersuchung, weil der Artbegriff nach allgemeiner Regel alle Merkmale, die dem Gattungsbegriff anhaften, in sich hat. So auch hier; denn Macht ist immer Kraft, nur, als Begriff, für andere spezielle Wissenschaften zugespitzt, verfeinert und demgemäß in ihnen angewandt.
    3) Zu den Anhängern dieses Standpunktes zählen in der deutschen Wissenschaft:
      - LABAND, "Das Staatsrecht des Deutschen Reiches", Bd. 1, Seite VII-X
      - JELLINEK, "Allgemeine Staatslehre", Seite 23-48, sowie derselbe "System der subjektiven öffentlichen Rechte", §§ 12-20 und "Die Lehre von den Staatenverbindungen", §§ 3-16.
      - LASK, Rechtsphilosophie in der Festschrift für Kuno Fischer.
      - MAX WEBER, Rudolf Stammlers Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung, "Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 24
      - ALEXEJEW, Zur Lehre vom juristischen Wesen des Staates.
    4) Siehe LEIBNIZ, Die philosophischen Schriften, Ausgabe GERHARDT, Bd. 4, Seite 472; Leibnitii Opera Philosophica, Edition ERDMANN, Pars Prisz. Seite 146, 158, 191; Monadologia, Seite 18.
    5) Man kann diese Bezeichnung bedingt annehmen, ohne in die Betrachtung der spinozistischen Attributenlehre einzudringen, aus der Vergleichung der Stellen: SPINOZA, Ethica, Pars I. Def. IV, und Prop. XXXIV. Die Auffassung des "Attributs" SPINOZAs als einer ursprünglichen Kraft verficht KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, Seite 235, 383-395 und öfter.
    6) Das können wir bedingt annehmen in der Bedeutung, die von WINDELBAND, in seiner Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 2, Seite 211 aufgestellt wurde, dabei aber durchaus die Stellen Seite 41, 45, 393, 439 und einige andere der Wissenschaftslehre von 1794 im Auge behaltend.
    7) Siehe z. B. KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe ERDMANN, Seit 108
    8) Wir bemerken dabei, daß  die Norm  von unserem Standpunkt stets als eine gewissen Art von  Satz  erscheint, das  Recht  aber nicht immer eine  Norm  im Sinne unserer Definition ist. Jener Zustand des Rechts, in welchem es eine stabile logische Bedeutung erhält, welche in strenger sprachlicher Form fixiert ist, ist ein Produkt einer verhältnismäßig hohen und späten Entwicklung; das Recht kann lange Zeit hindurch im Zustand logischer Formlosigkeit und sprachlicher Unbestimmtheit verharren (z. B. das Gewohnheitsrecht überhaupt, oder einige Gebiete des englischen Staatsrechts, oder die rechtlichen Grundlagen der parlamentarischen Regierung), und in diesem Zustand ist es keine Norm (und dementsprechen keine Gesamtheit von Normen), sondern ein Erlebnis (oder eine Reihe von Erlebnissen) normativen Charakters. Die ganze weiter unten aufgestellte "juristische" Betrachtungsweise ist entweder auf diese Rechtsformen gar nicht anwendbar, oder nur im Maß der Möglichkeit, ihre logische und sprachliche Form klarzulegen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, wird das Recht zu einer Norm und zu einem Satz erst auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung, und die später Bewußtwerdung der "juristischen" Methode in ihrer Reinheit und Selbständigkeit  (der Prozeß dieser Bewußtwerdung ist bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen)  erscheint als eine völlig erklärbare und in hohem Grad bedeutsame Folge dieser Sachlage. Spricht man über die  Aufgabe  der weiteren  Rechtsbildung  und über die  Wege  einer weiteren  Rechtsentwicklung,  so könnte man vielleicht dabei als  Ziel  und als  faktische Tendenz  der Bewegung die  allmähliche Klärung und Herauslösung des logischen Elements  in den "geltenden" Rechtsnormen aufstellen.
    9) Ich übergehe hier im Beispiel die Begriffe, nicht als ob in den Beziehungen zwischen ihnen eine bestimmte Art von Ordnung unmöglich wäre, sondern weil in den Verhältnissen zwischen ihnen überhaupt nur Ordnung möglich ist, dabei eine solche Ordnung, deren Konstanz durch ihr ganzes Wesen gewährleistet wird; sie befindet sich in einer Ebene, welche außerhalb der Zeit liegt, und folglich keine Veränderung, keine Unbeständigkeit, keine Norm kennt. Denn das Denken partizipiert in der Zeit und ist einer Norm unterworfen; die Begriffe dagegen partizipieren weder an der Zeit, noch unterliegen sie einer Norm.
    10) Dabei nehmen wir bedingt an, daß das Einzelne dem Konkret-Empirischen und das Konkret-Empirische dem Seienden gleich ist. Dies nur zwecks Vereinfachung der Darstellung.
    11) Ich beschränke mich daher mit dieser Andeutung einer Bestimmung der Kategorie des Sollens, denn diese Bestimmung kann selber  in extenso  nur in einer besonderen erkenntnistheoretischen Untersuchung mit den Begriffen von Wert und Zweck befriedigend durchgeführt werden.
    12) Die Norm ihrem allgemeinen formellen Sinn nach setzt immer ein "Sollen" fest, auch wenn es sich in ihrem Inhalt um ein "können", "dürfen", "müssen", "mögen", "haben" und dgl. handelt. Dabei müssen wir ausdrücklich betonen, daß, obwohl das  Bewußtsein des Sollens  seiner Genesis nach sich in einigen speziellen Fällen in einem Zusammenhang mit dem "Wollen" erweist, so z. B. in der rechtlichen Wirklichkeit - im Zusammenhang mit  "fremdem  Wollen", - das Sollen doch in logischer Hinsicht und in der normativen Betrachtung von diesem realen Zusammenhang, wie auch von jedem anderen, als losgelöst gedacht werden kann und soll. Das reale Bestimmtsein wird hier nicht zu einem, das logische Wesen des Begriffs konstituierende Merkmal.
    13) Wir geben hier keine ausgeführte Definition des Begriffs einer Rechtsnorm in seiner spezifizierten Unterscheidung von den anderen Normarten, weil der Schwerpunkt für unsnicht in der Frage liegt,  welche  Norm eine rechtliche ist, sondern in der Frage, ob das Recht eine Norm ist, und ob es lediglich Norm ist oder noch etwas dazu. Die von uns vorgenommene Untersuchung hat nicht die Aufgabe, dem Begriff des Rechts eine vollständie, also auch gegenständliche, sozusagen "materielle" Definition zu geben, sondern nur die Aufgabe durch eine methodologische Analyse den Weg zu einer solchen Definition vorzubereiten, also festzustellen,  als was  das Recht definiert werden kann und soll; als Satz, als Norm, als individuelles Erlebnis, als soziales Erlebnis usw. Wir können hier sogar das Schema der eigentlichen Rechtsbestimmung nicht andeuten; die Lösung dieser Frage bedarf einer besonderen Untersuchung.
    14) Wir wollen dabei so verstanden werden, daß die methodisch-systematische Beziehung zwischen der logischen Reihe und der normativen Reihe der Rechtserkenntnis sich zu einer logischen Apriorität der ersteren gestaltet. Die logische Analyse des Rechts als Satzes geht in methodischer Hinsicht der normativen Analyse des Rechts voran. Das normative im Recht kann nicht verstanden und darf nicht untersuch werden, bevor der Sinn, der gedachte Sachgehalt des entsprechenden Satzes aufklärt ist. Über den weiteren methodologisch-systematischen Gliederbau der Rechtserkenntnis weiter unten.
    15) So z. B. kann STOERKs Einwand gegen die von LABAND angewandte Methode verstanden werden: "Zur Methodik des öffentlichen Rechts", Seite 70-90.
    16) DESLANDRES, "La crise de la science politique et le probléme de la méthode".
    17) GIERKE, "Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft", in Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1883.
    18) Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es ganz besonders interessant, daß der feinste, originellste und konsequenteste von den psychologischen Rechtsforschern - Professor PETRAZYCKI - das Recht bei der Festlegung seiner Definition nicht nur als Erlebnis analysiert, sondern auch als Norm, indem er den imperativ-attributiven Charakter im logischen Wesen der Rechtsnormen selber aufweist. Siehe seine "Meopia npaba", Bd. 1, Seite 53 und 56-59 (in russischer Sprache). In methodologischer Hinsicht ist dies schwerlich als folgerichtig zu bezeichnen, aber es zeugt von der Wichtigkeit und Unvermeidlichkeit des "juristischen Weges".
    19) Dabei abstrahiere ich vom Problem der Abgrenzung der Soziologie von der kollektiven Psychologie; diese Frage ist noch lange nicht gelöst und vielleicht sogar noch nicht klar genug in der Literatur aufgestellt worden; sie verlangt jedenfalls zu ihrer Lösung eine besondere selbständige Untersuchung.
    20) Als "Anwendung" des Rechts bezeichnet man zuweilen die logische Deduktion aus einer gewissen rechtlichen Norm, entsprechend einem gewissen konkret gegebenen oder abstrakt fingierten (kasuistische Sammlungen) Fall. Als psychischer, in der Seele des Richters vor sich gehender Prozeß aufgefaßt, wird diese Operation zum Bestandteil derjenigen Auffassung von "Anwendung" welche wir hier im Auge haben; ansich kann und darf jene Deduktion, nicht als "Anwendung des Rechts", sondern höchstens als "angewandte Analyse der Rechtsnormen" bezeichnet werden.
    21) Den Gedanken, daß eine Norm zur Abgrenzung des zu erkennenden Gegenstandes, nämlich der, durch sie regulierten Wirklichkeit dienen kann, finden wir wohl in etwas anderer Deutung und Wendung in dem geistreichen Artikel von MAX WEBER "Rudolf Stammlers Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIV, Seite 134-136.
    22) Dies bezieht sich auch auf die historische Rechtswissenschaft, insofern sie mit einem Gegenstand, der dem soziologischen nahe steht, zu tun hat; sie rückt an die erste Stelle das Zeitschema in den realen Prozessen des rechtlichen "Wirkens", vertieft sich gewöhnlich nicht (vielleicht wegen der objektiven Unmöglichkeit dies zu tun) in die psychischen Grundlagen der "Rechtsbeziehung", bescheidet sich bei der Beschreibung und der relativ oberflächlichen Erklärung der äußeren Erfolge eines inneren seelischen Prozesses und erhebt sich nicht zu höheren Verallgemeinerungen, indem sie mehr beim Konkreten, empirisch Einzigartigen usw. stehen bleibt. Mit einem Wort: insofern sie mit Rechtserscheinungen operiert, (ich sehe an dieser Stelle von einer "historischen" Vergleichung der Resultate einer juristischen Betrachtung, welche durch die Bearbeitung verschiedener Gesamtheiten von Rechtsnormen, die aus verschiedenen Epochen der Geschichte herausgehoben sind, ab: diese Reihe bleibt ihrem Wesen nach juristisch und irreal) insofern setzt sie fertige juristische Definitionen voraus.
    23) Aus der ganzen Lehre von  telos  führe ich hier nur jene Bestimmungen an, welche notwendig sind zur Bekräftigung der Grundthese der Arbeit: das übrige schiebe ich bedingterweise zurück.