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CARL STUMPF
Erscheinungen
und psychische Funktionen

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"Will man das, was wir beim Urteilen innerlich erfahren, beschreiben, so läßt die bloße Aufzählung der Erscheinungen und ihrer Verhältnisse untereinander immer, man mag noch so erschöpfend damit vorgehen, einen Rest. Mit arithmetischen Resten ist dieser freilich insofern nicht vergleichbar, als er sich nicht gesondert von den Erscheinungen herstellen und erfahren läßt. Wir finden so überhaupt mit den Erscheinungen aufs engste verwoben und auf sie bezogen die Funktionen. Wir finden auch spezifische und generelle Verschiedenheiten der Funktionen: Zergliedern, Zusammenfassen, Bejahen und Verneinen, Begehren und Ablehnen sind qualitative Unterschiede im psychischen Verhalten, in der Art und Weise, wie der seelische Organismus arbeitet."

"Die Gesamtheit des unmittelbar Gegeben ist real. Denn sie ist das, wovon wir überhaupt den Begriff des Realen gewinnen, um ihn dann erst auf anderes zu übertragen. Die Erscheinungen sind real als Inhalte, worauf sich Funktionen beziehen, die Funktionen sind real als Funktionen, die sich an Erscheinungen betätigen, die Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Erscheinungen oder zwischen Funktionen usw. Von bloßen Erscheinungen können wir nicht in dem Sinne sprechen, als wären sie, ohne Bezug auf eine äußere Wirklichkeit, ein völliges Nichts. Die Erscheinungen gehören nur nicht der Wirklichkeit an, der sie das naive Denken zunächst zuschreibt, nämlich einer vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit."

Die erkenntnistheoretische Würdigung der Sinneserscheinungen hat in der neueren Philosophie eigentümliche Wandlungen durchgemacht. Den Rationalisten bis zur WOLFFschen Schule galten die sinnlichen Qualitäten als etwas in sich selbst mit Dunkelheit Behaftetes, darum Unwirkliches. Selbst die räumliche Ausdehnung, die DESCARTES noch als eine klare und deutliche Vorstellung gelten ließ, wird von LEIBNIZ, entschiedener noch von WOLFF, wegen der Unterschiedsschwelle als verworrene Perzeption aufgefaßt. KANT sieht dagegen in den durch Raum und Zeit geformten Erscheinungen die wahren Gegenstände der Wissenschaft und erkennt ihnen eine empirische Realität zu. Einflußreiche moderne Denker endlich wie MACH kennen überhaupt kein anderes Sein mehr als das der Erscheinungen. Diese selbst sind die gesuchten Wirklichkeiten, die einzigen "Elemente" des Universums. Weder dahinter gibt es etwas, noch davor, noch darüber, weder Physisches noch Psychisches, das nicht restlos in Erscheinungen aufginge. Die Atome wie die Energien der mathematischen Physik sind ihnen begriffliche Hilfskonstruktionen ohne jede reelle Bedeutung. Der alte Realismus, der die Dinge, wie sie erscheinen, für wirklich nimmt, wird so im Grunde rehabilitiert, und die letzte Weisheit der Erkenntnislehre fällt mit dem primitiven Ausgangspunkt allen Nachdenkens zusammen.

Die Grundfrage, um die es sich hier handelt, in der alle weiteren Differenzen wurzeln, betrifft das Verhältnis der Erscheinungen zu den physischen Funktionen. Sie führt auf psychologisches Gebiet. Da die Ansichten darüber auch die Psychologen noch in verschiedene Lager spalten, will ich im folgenden den Gegensatz ihrer Anschauungen erläutern und die Stellung der Funktionspsychologie gegenüber der Erscheinungspsychologie, soweit es in einer allgemeinen Übersicht möglich ist, begründen. Völlig ausgetragen werden ja solche prinzipielle Differenzen, wenn überhaupt, nur durch jahrundertelangen Kampf ums Dasein, durch die Fruchtbarkeit der Anschauungen für den Fortschritt der Wissenschaft.


I. Erläuterung der Ausdrücke
und der Standpunkte

Wir gebrauchen im Nachstehenden das Wort  Erscheinungen  zunächst ganz absehend von der Realitätsfrage, nur als gemeinschaftliche Bezeichnung für folgendes:
    a) Für die Inhalte der Sinnesempfindungen. Zu ihnen rechnet die neuere Psychologie mit Recht auch die räumliche Ausdehnung und Verteilung der Gesichts- und der Berührungseindrücke, da das Quantitative dieser Empfindungsinhalte in gleicher Weise wie das Qualitative gegeben ist. Zumeist wird auch die zeitliche Dauer und Folge als Sinnesinhalt betrachtet. Obgleich in Bezug auf die Zeit noch Schwierigkeiten bestehen, wollen wir sie hier den Sinnesinhalten zuordnen, da sich alle folgenden Betrachtungen auf zeitliche Eigenschaften in gleicher Weise wie auf Sinnesinhalte anwendbar zeigen. (1) Das sogenannte Lust- und Schmerzmoment der Empfindungen hingegen lassen wir hier beiseite, da die theoretische Auffassung der rein sinnlichen Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit noch zu großen Differenzen unterliegt. Ich habe jedoch nichts einzuwenden, wenn man auch sie einfach den Erscheinungen zuordnet, nicht als Attribute, sondern als besondere Klasse. (2)

    b) Für die gleichnamigen Gedächtnisbilder, die "bloß vorgestellten" Farben, Töne usw. Ohne über das Verhältnis dieser Klasse zur ersten etwas zu präjudizieren, wollen wir sie als Erscheinungen  zweiter Ordnung  von jenen als Erscheinungen erster Ordnung unterscheiden.
Zwischen Erscheinungen bestehen gewisse  Verhältnisse.  Sie sind in und mit je zwei Erscheinungen gegeben, nicht von uns hineingelegt, sondern darin oder daran wahrgenommen. Sie gehören zum Material der intellektuellen Funktionen, sind nicht selbst Funktionen, noch auch Erzeugnisse von solchen.

Als  psychische Funktionen  (Akte, Zustände, Erlebnisse) bezeichnen wir das Bemerken von Erscheinungen und ihren Verhältnissen, das Zusammenfassen von Erscheinungen zu Komplexen, die Begriffsbildung, das Auffassen und Urteilen, die Gemütsbewegungen, das Begehren und Wollen. Es soll damit nicht eine scharfe und erschöpfende Klassifikation gegeben sein, sondern nur eine Übersicht der wichtigsten Beispiele. Wenn wir intellektuelle und emotionelle Funktionen scheiden, gebrauchen wir auch diese alte und bequeme Unterscheidung ohne Präjudiz in Hinsicht ihrer definitiven Genauigkeit.

"Funktion" ist also hier nicht im Sinn einer durch einen Vorgang erzielten  Folge  verstanden, so wie man etwa die Blutzirkulation als Funktion der Herzbewegung bezeichnet: sondern im Sinne der Tätigkeit, des Vorgangs oder Erlebnisses selbst, so wie die Herzkontraktion selbst als eine organische Funktion bezeichnet wird. Ich betone das, weil gelegentlich eine dem Wortlaut nach mit der unsrigen identische oder ähnliche Fragestellung in jenem ganz anderen Sinn verstanden wird. (3)

Die Frage, wie wir von psychischen Funktionen Kenntnis haben, wird verschieden beantwortet. Für den Einen sind nur Erscheinungen unmittelbar gegeben. Für den Zweiten außer ihnen noch das Bewußtsein im allgemeinen, das sich allenfalls auch selbst zum Gegenstand werden kann, aber in sich keine Unterschiede findet. Alle angeblich verschiedenen Funktionen werden entweder als Erscheinungsunterschiede definiert oder aber als unbewußte Funktionen, die wir nur aus den Erscheinungen erschließen können. Für den Dritten sind die emotionellen Funktionen unmittelbar gegeben, intellektuelle nur erschlossen. (4) Für den Vierten sind Funktionen von beiderlei Art unmittelbar gegeben.

Die erste Position vertritt die gesamte Assoziationspsychologie. Aber nicht sie allein. Die Behauptung, daß alles psychisch Erfahrbare, abgesehen von den Sinnesempfindungen, sich durch die Regeln der Assoziation erklären lasse, ist nur eine besondere Form der allgemeineren Lehre, daß alles psychisch Erfahrbare in Erscheinungen bestehe. Es könnte für die Erscheinungen zweiter Ordnung noch andere Gesetze als die Assoziationsgesetze geben. Von den heutigen Physiologen und Psychiatern huldigen die meisten, von den Experimentalpsychologen viele, dieser rein phänomenalistischen Anschauung hinsichtlich des unmittelbar Gegebenen.

Die drei letzten Ansichten führen zu einer Funktionspsycholgie, aber die erste von ihnen steht der reinen Erscheinungspsychologie, aber die erste von ihnen steht der reinen Erscheinungspsychologie sehr nahe, da über jenes allgemeine undifferenzierte Bewußtsein nicht viel auszusagen ist. Nur in der Form einer Psychologie des Unbewußten wird man von da aus eine Untersuchung psychischer Funktionen noch zulassen können. Wenn daher weiterhin von Erscheinungspsychologie und Funktionspsychologie die Rede ist, sind vorzugsweise die beiden extremen Standpunkte, der erste und vierte, gemeint, in denen sich der Gegensatz am schärfsten und reinsten ausprägt. Da ich den vierten zu vertreten gedenke, seien einige Erläuterungen darüber sogleich beigefügt.

Unmittelbar gegeben  nennen wir, was als Tatsache unmittelbar einleuchtet. Daß über unmittelbar Gegebenes Streit sein kann, darf nicht wundernehmen, da die Existenz einer Sache außer allem Zweifel stehen und doch die Beschreibung ihrer genaueren Details Schwierigkeiten machen kann. So ist es auch bei den unmittelbar einleuchtenden allgemeinen Gesetzen, den logischen Axiomen. Mir scheint nur die Beschreibung des unmittelbar Gegebenen nur dann mit erschöpfender Vollständigkeit möglich, wenn man dreierlei dazu rechnet: Erscheinungen, Funktionen, endlich Verhältnisse zwischen den Elementen jeder dieser Gattungen und zwischen den Elementen der einen und anderen Gattung. Es ist z. B. sicher eine unvollständige Beschreibung, wenn man sagt, alles "Urteilen" bestehe in der bloßen Gegenwart einer Summe von regelmäßig verknüpften oder in sonstigen Verhältnissen stehenden Erscheinungen. Will man das, was wir beim Urteilen innerlich erfahren, beschreiben, so läßt die bloße Aufzählung der Erscheinungen (auch der Erscheinungen zweiter Ordnung) und ihrer Verhältnisse untereinander immer, man mag noch so erschöpfend damit vorgehen, einen Rest. Mit arithmetischen Resten ist dieser freilich insofern nicht vergleichbar, als er sich nicht gesondert von den Erscheinungen herstellen und erfahren läßt. Wir finden so überhaupt mit den Erscheinungen aufs engste verwoben und auf sie bezogen die Funktionen. Wir finden auch spezifische und generelle Verschiedenheiten der Funktionen: Zergliedern, Zusammenfassen, Bejahen und Verneinen, Begehren und Ablehnen sind qualitative Unterschiede im psychischen Verhalten, in der Art und Weise, wie der seelische Organismus arbeitet.

In diesem Sinn ist von Wahrnehmung und Beobachtung psychischer Funktionen seit LOCKE und LEIBNIZ (von älteren Denkern ganz zu schweigen) vielfach die Rede. In neuerer Zeit stehen unter den Deutschen SIGWART, LOTZE, F. BRENTANO und alle, die von ihm ausgingen, (5) ferner DILTHEY, VOLKELT, B. ERDMANN, TH. LIPPS (6) ausdrücklich auf diesem Standpunkt. Sie finden sich nicht überzeugt durch den Einwand, daß wir unser Sehen doch nicht wieder sehen, schließlich vielmehr gerade aus diesem Umstand, daß wir vom Sehen durch eine andere Richtung des Bewußtseins Kenntnis erhalten müssen wie von den Farben. Sie leugnen, daß das Bewußtsein des Sehens sich reduziere auf die mit den Farbenerscheinungen gleichzeitig auftretenden Gedächtniserscheinungen, die uns das Bild des Sehorgans und dgl. vorführen. Noch weniger halten sie solche Deutungen für möglich gegenüber dem Bewußtsein des Urteilens oder des Wollens. Sie glauben das seelische Leben und Weben in sich selbst zu erfassen, Farben und Töne aber nur als Inhalte von Wahrnehmungsakten, also einer besonderen Klasse seelischer Funktionen. Inhalt und Akt sind nach dieser Lehre in einer noch näher zu beschreibenden Weise miteinander verknüpft, aber nicht aufeinander zurückführbar.

Auch die zahlreichen neueren Psychologen, die einen essentiellen Unterschied zwischen Empfindungen und bloßen Vorstellungen behaupten, statuieren an diesem Punkt wenigstens das Gegebensein funktioneller Unterschiede. Denn da die gesehene von der bloß vorgestellten Farbe sich nicht durch Farbenton, Helligkeit, Intensität oder sonst ein inhaltliches Merkmal unterscheiden soll: was kann mit dem essentiellen, qualitativen oder spezifischen Unterschied gemeint sein, als eben ein funktioneller Unterschied, eine verschiedene Art des psychischen Verhaltens zur gleichen Erscheinung? Und da diese Verschiedenheit zu den Tatsachen des Bewußtseins gerechnet wird, so nimmt man, soviel ich sehe, in diesem Punkt funktionelle Unterschiede als unmittelbar gegeben an.

Ausdrücklich sei bemerkt, daß die Behauptung, es gebe eine Wahrnehmung psychischer Funktionen als solcher, nicht notwendig die Leugnung unbewußter psychischer Funktionen einschließt. So läßt ja der dritte unter den obigen vier Standpunkten die intellektuellen Funktionen unbewußt vor sich gehen. Aber auch der vierte schließt das Vorkommen unbewußter Zustände und Tätigkeiten, die den wahrgenommenen psychischen Tätigkeiten bis auf das Merkmal der Bewußtheit gleich wären, nicht a priori aus. Über diesen Punkt soll hier nichts festgesetzt werden.

Auch den Voluntarismus sowie die Frage nach dem "Tätigkeitsgefühl" und die nach dem Ichbegriffe lassen wir hier unberührt. Mag das Wollen die Grundfunktion sein oder nicht, mag das vieldeutige Tätigkeitsgefühl wie immer interpretiert werden, - hier ist nur die Frage nach dem  Bewußtsein  des Wollens und Tuns, und diese Frage ist unabhängig von der Art, wie man sich zu jenen Angelegenheiten stellt. Das nämliche gilt vom Ichbegriff. Bewußtsein der psychischen Funktionen ist nicht ohne weiteres Bewußtsein einer Substanz hinter den Funktionen. Die Funktionspsychologie ist verträglich mit der Anschauung, daß die Seele zu fassen sei als ein Ganzes von Funktionen und Dispositionen, wobei dann aber natürlich auch der Körper ebenso nur als ein Ganzes physischer Vorgänge, Eigenschaften, Kräfte, Dispositionen gilt, die Ansichten über das Verhältnis dieser beiden Komplexe zueinander aber zunächst völlig frei bleiben. (7) Glaubt man gleichwohl Gründe zu haben, zu jenem Ganzen psychischer Funktionen und Dispositionen, das wir Seele nennen, noch eine uns nicht gegebene Konstante hinzuzudenken, oder sie als einen zwar mitgegebenen, aber nicht für sich bemerkbaren Teil jenes Ganzen zu betrachten, so ist sie doch eben immer nur erschlossen, nicht unmittelbar gegeben im obigen Sinne. Was als Tatsache unmittelbar einleuchten soll, muß wahrnehmbar sein. (8)

Mit dem Problem der Willensfreiheit hängt die uns beschäftigende Frage nur insofern zusammen, als die Erscheinungspsychologie das Wollen nicht anders als deterministisch auffassen kann (sie müßte dann etwa die Freiheit in irgendwelchen unbewußt-psychischen Akten suchen). Dagegen ist der Funktionspsychologe nicht etwa als solcher zugleich Indeterminist. Wenn das Wesentlichste im geistigen Leben die Funktionen, die Erscheinungen nur ihr Material sind, so können doch die Funktionen streng gesetzlich mit den Erscheinungen, untereinander und mit ihren außerbewußten oder außerpsychischen Bedingungen verknüpft sein. Die Anerkennung der Funktionen als Bewußtseinstatsachen bedeutet weiter nichts als die Anerkennung einer Anzahl von Variablen, die man außer den in den Erscheinungen selbst gegebenen (Qualität, Intensität usw.) zur Beschreibung des unmittelbaren Tatbestandes und seiner Veränderungen für erforderlich hält. Die Formeln, in welche diese Variablen eingehen, können sehr mannigfacher Art sein, sich auch quantitativen Bestimmungen überhaupt entziehen. Gleichwohl kann der Satz, daß unter genau gleichen Umständen genau gleiche Folgen eintreten müssen, auch hier seine Gültigkeit haben; wenigstens enthält der eingeführte Begriff psychischer Funktionen an sich keine Veranlassung, ihn zu bestreiten.

Ich füge noch kurz bei, wie ich das Verhältnis des unmittelbar Gegebenen zum Realitätsbegriff fasse; nicht weil dies für den Gedankengang im folgenden von positiver Bedeutung wäre, sondern nur um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen:
    Die Gesamtheit des unmittelbar Gegeben ist  real.  Denn sie ist das, wovon wir überhaupt den Begriff des Realen gewinnen, um ihn dann erst auf anderes zu übertragen. (9) Die Erscheinungen sind real als Inhalte, worauf sich Funktionen beziehen, die Funktionen sind real als Funktionen, die sich an Erscheinungen betätigen, die Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Erscheinungen oder zwischen Funktionen usw. Von "bloßen Erscheinungen" können wir nicht in dem Sinne sprechen, als wären sie, ohne Bezug auf eine äußere Wirklichkeit, ein völliges Nichts. Die Erscheinungen gehören nur nicht  der  Wirklichkeit an, der sie das naive Denken zunächst zuschreibt, nämlich einer vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit. (10)
Nicht bloß aber sind Erscheinungen und Funktionen, jedes in seiner Weise und in seiner Stellung gegenüber dem anderen, real, sondern sie bilden unter sich eine reale  Einheit.  Denn sie sind in engster Verknüpfung miteinander gegeben, und es ist das nämliche undefinierbare Bewußtsein, in dem Erscheinungen und Funktionen gegeben sind.

Wir untersuchen nun, ob die psychischen Funktionen durch irgendwelche Prädikate des Erscheinungskreises selbst bestimmt werden können, ob umgekehrt irgendetwas von psychischen Funktionen den Erscheinungen immanent oder mit ihnen denknotwendig verknüpft ist, dann ob Erscheinungen und Funktionen, in gewissen Grenzen wenigstens, gegenseitig unabhängig variieren.


II. Unübertragbarkeit der Prädikate
und logische Trennbarkeit

Daß Funktionen nicht restlos in Erscheinungen auflösbar sind, können wir hier wohl voraussetzen, nachdem alle Bemühungen in dieser Hinsicht seit HOBBES in beinahe grotesker Weise sich als Erschleichungen darstellten. Solche Bemühungen rangieren neben dem Goldmachen und der Erfindung des Perpetuum mobile, ja noch erheblich tiefer. Jeder Versuch hat nur aufs Neue die Eigenart der beiden Gebiete gegeneinander ans Licht gestellt. Auch wer Funktionen nicht für etwas direkt Bewußtes hält, ist wenigstens hierüber mit den Funktionspsychologen einig.

Der Unterschied ist aber auch der schärfste, den wir kennen. Kein Prädikat der Erscheinungswelt (es sei denn die Zeit) kommt den psychischen Funktionen zu. Auch eine Intensität besitzen sie jedenfalls nicht in demselben Sinn wie die Töne, die Gerüche. Was wir an ihnen unterscheiden, sind Merkmale eigener Art, wie die Deutlichkeit der Wahrnehmungen, die Evidenz der Urteile, die Allgemeinheitsstufen der Begriffe. Daß bei emotionellen Funktionen ein Analogon zur Stärke sinnlicher Eindrücke vorhanden sein kann, braucht man darum nicht zu leugnen; es wird sichdann eben um eine Analogie, nicht um Intensität im identischen Sinne des Wortes handeln. (11)

Ebenso weisen die psychischen Funktionen eigenartige Verhältnisse mannigfachster Art unter sich auf, verschieden von allen Gattungen der Verhältnisse, die sich zwischen den Erscheinungen finden; beispielsweise die eigentümliche Verflechtung intellektueller mit emotionellen Funktionen, und wieder innerhalb der ersten das Verhältnis der Urteile zu den Begriffen, der Begriffe zu den Anschauungen, innerhalb der zweiten das Verhältnis des Wollens von Mitteln zum Wollen der Zwecke, des Wollens überhaupt zu seinen Motiven usw.

Umgekehrt kann aber auch kein funktionelles Prädikat den Erscheinungen zuerkannt werden. Wenn ich mir eine rote Farbe, eine Figur, eine Bewegung vergegenwärtige, so ist mir allerdings auch das Wahrnehmen und der ganze aktuell-psychische Zustand dabei bewußt, aber ich erfasse ihn nur  mit  der Farbe, nicht  in  ihr. Er ist nicht ein Merkmal der Erscheinung gleich der Helligkeit, der Ausdehnung.

Überhaupt ist der Begriff psychischer Funktionen  nicht  durch eine logische Notwendigkeit' mit dem der Erscheinungen verknüpft. Kein begriffiches Band läßt sich hier entdecken. Erscheinungen ohne darauf bezügliche Funktionen, Funktionen ohne Erscheinungen sind widerspruchslos denkbar (wenn auch nicht Funktionen ohne einen Inhalt überhaupt). Zu einem Ton gehören mit begrifflicher Notwendigkeit nur die Merkmale der Höhe, Stärke und dgl., die zur vollständigen Beschreibung der Erscheinung erforderlich sind. Das Merkmal des Wahrgenommenwerdens gehört nicht dazu. Es unterscheidet nicht einen Ton vom anderen. Es greift über die Erscheinung hinaus und in eine total andere Sphäre über.

BERKELEYs Behauptung, wir könnten Ausdehnung nur als wahrgenommene Ausdehnung denken, ist daher ein Mißverständnis. So kann der Phänomenalismus nicht begründet werden. In sich widersprechend ist prinzipiell weder der Realismus der Physiker noch selbst der des gemeinen Bewußtseins. (12) Nur indirekt, durch Schlüsse aus dem Detail der Erscheinungstatsachen, kann man solche Annahmen als undurchführbar erweisen. Es liegen gewiß auch in der Natur unserer  Raum-  und  Zeit vorstellungen selbst Anhaltspunkte zu solchen Schlüssen; wenn nicht die von KANT hervorgehobenen, so doch andere und beweisendere. Aber die bloße allgemeine Tatsache, daß wir die Erscheinungen nur als Empfindungs- und Vorstellungsinhalte kennen, liefert für sich allein noch keinen zwingenden Schluß in dieser Richtung. Daraus würde höchstens folgen, daß Erscheinungen, die objektiv, unabhängig von jedem Bewußtsein existierten, (13) doch mit irgendeiner uns vielleicht ganz unbekannten Funktion  X  in analoger Weise zusammenhängen müßten, wie die empfundenen Farben mit der Empfindungsfunktion zusammenhängen. Eine  psychische  Funktion, gattungsverwandt mit dem, was wir unter diesem Namen erfahrungsmäßig kennen, brauchte dieses transzendente  X  aber nicht zu sein.

Wir haben  innerhalb  des Erscheinungsgebietes selbst einen Fall, der hier gut als Erläuterung dienen kann. Farbe und Ausdehnung bilden untereinander gleichfalls ein Ganzes, in welchem sie nur durch Abstraktion auseinandergehalten werden können. Wollte nun einer schließen: "also kann Ausdehnung nicht ohne Farbe auskommen", so wäre das gleichwohl ein Fehlschluß. Tatsächlich zeigt uns der Berührungssinn, daß Ausdehnung ohne Farbe, wenn auch nicht ohne irgendein qualitatives Moment überhaupt, vorkommt. Und daß diese Ausdehnung etwa eine Ausdehnung in einem ganz anderen Sinne wäre, läßt sich durch nichts beweisen. Der blindgeborene SAUNDERSON verfaßte ein Lehrbuch der Geometrie. Wie langsam auch aus begreiflichen Gründen bei operierten Blindgeborenen die Übertragung der spezielleren Raumbegriffe und Namen aus dem haptischen in den optischen Raum vor sich geht: sie ist eben doch möglich und vollzieht sich zuletzt, ohne daß die Natur der bezüglichen Vorstellungen an irgendeinem Punkt ein unübersteigliches Hindernis in den Weg legte. Keinesfalls also handelt es sich um etwas ganz Unvergleichbares. Keinesfalls ist also der Schluß, es könne keine Ausdehnung geben, die nicht an optische Qualitäten gebunden wäre, ein zwingender Schluß.

Ganz analog steht es nun, scheint mir, mit dem Schluß, daß das, was wir unter dem Namen Erscheinungen zusammenfassen, nicht existieren könne, ohne Inhalt von psychischen Funktionen zu sein. Ich will nicht sagen, daß das Verhältnis zwischen Erscheinung und psychischer Funktion identisch sei mit dem zwischen Ausdehnung und Farbe. Es ist vielmehr sicher ein durchaus eigenartiges. Aber gemeinschaftlich ist den beiden Verhältnissen, daß im einen wie im anderen Falle die beiden Glieder doch nur durch Abstraktion auseinandergehalten werden können. Und so läßt sich jenes innerhalb der Erscheinungen wahrnehmbare Verhältnis wohl zur Erläuterung heranziehen für das, was man in einem solchen Fall schließen und nicht schließen kann. Ebensowenig wie trotz des innigen Zusammenhangs von Ausdehnung und Farbe eine farblose Ausdehnung einen logischen Widerspruch einschließt, ebensowenig ist es der Fall mit dem Begriff von Erscheinungen, die nicht Inhalte psychischer Funktionen wären.

Wenn KANT mit Recht darauf besteht, daß das Sein nicht Merkmal irgendeines Begriffs ist, so gilt hier Analoges: das Vorgestelltwerden und Gedachtwerden ist nicht Merkmal irgendeiner Erscheinung. SPINOZA hat daher auch richtiger gesehen als BERKELEY, wenn er lehrte, daß jedes der beiden Attribute, Ausdehnung und Denken,  "für sich erfaßt werden muß".  (14) Statt Ausdehnung und Denken sagen wir nur allgemeiner (aber den Intentionen SPINOZAs wie DESCARTES' entsprechend) "Erscheinung" und "psychische Funktion". In diesem Punkt ist in der Tat weder SPINOZA noch einer der Späteren über den Dualismus von DESCARTES wirklich hinausgekommen. Das uns gegebene Tatsachenmaterial zeigt eben schon in der Wurzel ein Doppelantlitz, und was man auch weiter über Einheit der Substanz und der Realität, über Panpsychismus, universalen Idealismus sagen mag:  diese  Zwiespältigkeit ist nicht wegzubringen.

Man darf sogar noch folgendes hinzufügen. Wir wollen einmal zugeben, daß das Merkmal des Vorgestellt- oder Gedachtwerdens in jedem Denkmaterial schlechthin enthalten sei. Selbst dann würde unser Unterschied nicht verschwinden. Das Merkmal würde dann eben in den psychischen Funktionen ebenso wie in den Erscheinungen enthalten sein, denn auch auf psychische Funktionen richtet sich das Denken. Wir würden also sozusagen rechts und links in der Gleichung oder oben und unten im Bruch den nämlichen Faktor haben und könnten ihn zur Vereinfachung der Betrachtungen ruhig hinausdividieren.

Soviel zur Erläuterung und Erhärtung der These, daß keine logische Notwendigkeit Erscheinungen und psychische Funktionen verknüpfe. Die widerspruchslose Abtrennbarkeit ist aber auch das einzige an der Sache, das uns augenblicklich interessiert. Irgendwelche metaphysische Behauptungen sollen nicht damit verbunden sein.
LITERATUR: Carl Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen, Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907
    Anmerkungen
    1) Die räumliche und zeitliche Verteilung der Sinneserscheinungen sind keinesfalls als bloße Verhältnisse zu definieren. Der Unterschied zwischen Rechts und Links, Jetzt und Vorhin ist für unser Bewußtsein ein absoluter. Aber es gründen sich auf diese Unterschiede absoluter Orte und Zeiten Verhältnisse, ebenso wie auf die Unterschiede der Tonhöhe, der Farbenhelligkeit und anderer absoluter Eigenschaften.
    2) Siehe "Über Gefühlsempfindungen", Zeitschrift für Psychologie, Bd. 44, Leipzig 1907, Seite 1f
    3) So in der Abhandlung von D. S. MILLER, "The Confusion of Function and Content in Mental Analysis", Psychological Review II, 1895, Seite 535. Hier werden von den Inhalten die Funktionen im Sinne der Folgen unterschieden, die sich an die Gegenwart gewisser Inhalte knüpfen, Folgen, die aber selbst nur in inhaltlichen Veränderungen oder in der Beeinflussung unseres praktischen Verhaltens zum Vorschein kommen. Beispielsweise ein Begriff oder ein Urteil hat nach dem Verfasser sein ganzes Dasein nur in solchen, an konkrete Empfindungsinhalte geknüpften Folgeerscheinungen (what it does Seite 540). Das Ergebnis seiner Untersuchungen führt ihn dazu, die Funktionen in unserem Sinn zu leugnen, und zwar gerade darum, weil alles, was auf ihre Rechnung gesetzt wird, sich in Funktionen nach  seinem  Sinn auflöst. Wenn er frelich das Wollen als etwas Gegebenes zur Analyse des Urteils heranzieht, so zeigt sich schon daran, daß er seine Absicht an dieser Stelle jedenfalls nur sehr unvollständig ausgeführt hat. - - Auch der Gegensatz, den MARY WHITON CALKINS in ihrer deutschen Schrift "Der doppelte Standpunkt in der Psychologie" (1905) betont, deckt sich, soweit ich verstehe, nicht mit dem obigen, sondern mehr mit dem, den MILLER und andere Amerikaner im Auge haben. Besonders geht dies aus ihrer späteren Abhandlung, "Structural and functional Psychology", Psychological Review XIII, Seite 61f), hervor, wo Seite 73 "function" nach DEWEY definiert wird als "part played with reference  to reaching or maintaining an end",  und wo die Funktionspsychologie als eine Anwendung des modernen sogenannten Pragmatismus in der Philosophie hingestellt wird. - In ähnlicher Weise faßt J. M. BENTLEY den Gegensatz (Psychology of Organic Movements, American Journal of Psychology XVII, 1906, Seite 293f). Seine Abhandlung orientiert besonders über die Fassung dieser Prinzipienfragen unter den amerikanischen Psychologen.
    4) Dies lehrt z. B. DAVID HUME, Treatise on human Nature. Der umgekehrte Standpunkt dürfte von bedeutenderen Denkern nicht vertreten sein.
    5) Am nachdrücklichsten hat neuerdings HUSSERL in seinen "Logischen Untersuchungen" (1900, 1901) die Lehre von den "Akterlebnissen" vertreten und durchgeführt. Vgl. besonders II, Seite 359 und 471
    6) In seinen neueren Schriften; früher hatte LIPPS, wenn ich seine Ausführungen recht verstehe, ein Bewußtsein physischer Funktionen als solcher bestritten.
    7) Die von WUNDT so genannte "Aktualitätstheorie" ist bereits von LOTZE und FECHNER nachdrücklichst vertreten worden. Weiter zurückgehend wird man natürlich HUME nennen, der nur fälschlich statt eines "Ganzen" eine bloß assoziative Vereinigung behauptet hat. Im Grund aber hat bereits LEIBNIZ diese Auffassung von der Seele, und zwar in richtigerer und tieferer Form als HUME.
    8) Wenn in der vorhererwähnten Schrift von MARY WHITON CALKINS die Funktionspsychologie als Ichpsychologie bezeichnet und dafür auch mein Name zitiert wird, so ist das ein Mißverständnis. Ich habe niemals daran gedacht, die Psychologie auf das Ichbewußtsein zu gründen.
    9) Dies hebt BENEKE in seiner Metaphysik richtig, wie mir scheint, hervor. Nicht für zwingend halte ich es dagegen, wenn man mit ihm aus diesem Umstand den Schluß ableitet, alles Reale müsse psychisch sein.
    10) Vgl. hierzu HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Schlußparagraph
    11) Die Intensitätsfrage ist ja auch bei den Erscheinungen noch nicht allgemein gelöst, zumal bei den Gesichtsempfindungen. Wenn man mit HENRI BERGSON (Essai sur les données immediates de la conscience, 1889, Kap. I) und FRANZ BRENTANO (Die Lehre von der Empfindung, Bericht über den 3. Internationalen Kongreß für Psychologie, München 1897, Seite 110f) weder den Erscheinungen noch den Funktionen Intensitätsunterschiede zugesteht, dann fällt natürlich die Frage nach gemeinsamen Eigenschaften in dieser Hinsicht überhaupt weg. Aber es ist dann allerdings auch ein Unterschied weniger.
    12) Vgl. BRENTANO, Psychologie, Seite 121. JULIUS BERGMANN, der 1870 in seinen "Grundlinien einer Theorie des Bewußtseins" den ganz richtigen Satz aufgestellt hatte, das Bewußtsein sei nicht analytisch in der Empfindung enthalten, wie etwa das Allgemeine im Besonderen, sondern synthetisch damit verknüpft, hielt doch 1886 in seinen "Vorlesungen über Metaphysik" (Seite 58 und 63) daran fest, daß die Annahme einer objektiven Existenz von Farben logisch widersprechend sei. "Das Vorgestelltsein gehört zwar nicht wie die Intensität in der Weise einer inneren Eigenschaft zur Farbe, aber es haftet derselben als eine Beziehung an, und von dieser Beziehung ist die Farbe ebenso unabtrennbar wie von der inneren Eigenschaft der Intensität". Das im Text Folgende richtet sich gegen diese, auch von vielen anderne vertretene, Behauptung.
    13) An diesem Ausdruck darf man hier keinen Anstoß nehmen. Wenn man der Ansicht ist, daß das Wort  Erscheinung  dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nach schon eine Beziehung auf ein Bewußtsein enthalte, so müssen wir auf die zu Anfang gegebene Erklärung des Sinnes verweisen, in dem  hier  das Wort genommen werden soll. In diesem Sinn enthält es keine Beziehung weder auf ein Seiendes noch auf ein Bewußtsein, enthält auch keine philosophische Theorie, sondern faßte nur das zusammen, was man weniger bequem einzeln als Farben, Töne usw. aufzählen könnte. -- Auch die Ausdrücke "Empfinungsinhalte", "Gedächtnisbilder", womit wir die beiden Hauptgruppen der Erscheinungen bezeichneten, sind in gleicher Weise nur Abbreviaturen [Abkürzungen - wp]. Wir könnten dafür sagen: "Die Töne (Farben) der oberen und die der unteren Intensitätszone", wenn anders man darin den wesentlichsten Unterschied zwischen gehörten und bloß vorgestellten Tönen findet. Daß der Unterschied nicht in der Funktion, sondern, primär wenigstens, in der Erscheinung selbst liegt, scheint mir gewiß.
    14) Ethica 1, prop. 10: "Unumquodque unius substantiae attributum per se concipi debet. [Alles was ist, ist in sich oder in einem anderen. - wp] Von der einheitlichen Substanz sehen wir hier ab; sie ist auch für SPINOZA keine Bedingung für den Satz, da er ja überhaupt nur  eine  Substanz kennt.