G. LukacsT. G. Masaryk | ||||
Die Staatsauffassung des Marxismus [ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode]
Vorwort Die Aufgabe, die ich mir bei dieser Auseinandersetzung mit KELSEN gestellt habe, ist auf die Prüfung seiner Marxkritik beschränkt, hat also mit seinem eigenen rechtslogischen Standpunkt für diesmal nichts zu tun. Diese Einschränkung des Gegenstandes war nicht nur durch den Zweck geboten, der ja nicht auf einer Erörterung von KELSENs Rechts- und Staatstheorie, sondern auf die Gesellschafts- und Staatsauffassung des Marxismus ging; sondern sie war auch dadurch gerechtfertigt, daß KELSEN selbst immer wieder betonte - mit welchem Recht, wird sich zeigen - daß er nur eine immanente Kritik des Marxismus geben will, also eine Kritik nicht von seinem Standpunkt, sondern von dem des Marxismus selbst. Es konnte daher nicht nur, je es mußte sogar die eigene Lehre KELSENs vom Wesen des Rechts und des Staates ganz außer Betracht bleiben, womit aber nicht gesagt ist, daß eine Auseinandersetzung mit derselben nicht gerade für uns Marxisten eine dringende Notwendigkeit ist. Ich halte eine widerspruchslose Begründung des Marxismus, in dem ich ein soziologisches System erblicke, wie ich schon öfter dargelegt habe, ohne ein erkenntnistheoretisches Verständnis seiner Voraussetzungen für unmöglich. Das Kernproblem des Marxismus, die materialistische Geschichtsauffassung, das Verhältnis der Ideologie zur Ökonomie, speziell der Macht zum Recht ist nur durch eine klare Besinnung über die Funktionsweise des Geistigen überhaupt zu bewältigen, und hierzu ist Erkenntniskritik besonders in der noch wenig bearbeiteten Richtung der sozialen Erkenntnisbedingungen vonnöten. Unter den Erkenntniskritiker der Rechts- und Staatsformen nimmt KELSEN heute wohl eine erste Stelle ein; viel tiefer und viel konsequenter als die STAMMLERsche Rechtslogik nimmt er die Bearbeitung des Problems: wie ist Gesellschaft, wie ist Staat und Recht möglich? in Angriff. Aber gerade weil ich der Ansicht bin, daß auch er nicht bis zum Ende der kritischen Arbeit gelangt ist, sondern vorzeitig bei der normativen Form stehen geblieben ist, statt bis zu ihrer naturalen Form vorzudringen, in welcher sich eine transzendentale Beziehung des Individualbewußtseins auf eine immanente Vielheit von nebengeordneten Bewußtseinszentren ergibt, die noch zum seinstheoretischen Tatbestand des Einzelbewußtseins gehört - gerade deshalb halte ich eine Auseinandersetzung vom marxistischen Standpunkt mit den bedeutenden rechtslogischen Schriften KELSENs für unerläßlich. Doch dies kann keinesfalls im Rahmen der vorliegende Arbeit geschehen. Der Gewinn dieser anderen Auseinandersetzung für uns wird jedenfalls ein viel erfreulicherer sein als bei der vorliegenden. Denn während wir uns in dieser jetzigen Polemik wesentlich negativ gegen KELSEN verhalten müssen, der hier auch gar nicht mit seinem spezifischen Geist wirken kann, werden wir uns dort, selbst wo wir glauben über seine Auffassung von Recht und Staat hinausschreiten zu müssen, jedenfalls durch eine Fülle von Licht über das Wesen dieser sozialen Erscheinungen in unserem eigenen Denken bereichert und besser orientiert sehen. Es handelt sich im folgenden um eine Darlegung der marxistischen Grundauffassung von Staat und Gesellschaft. Vielfältige Erfahrungen in öffentlicher und privater Diskussion haben mich belehrt, daß es immer noch nicht überflüssig ist, zu wiederholen, was die Richtung, die in den "Marx-Studien" vertreten ist, unter marxistischer Auffassung versteht. Das ist nicht die kümmerliche Bemühung und das eifervolle Streiten um das, was MARX und ENGELS auf den Seiten soundsovieler Schriften gesagt oder nicht gesagt haben. Dies erscheint uns vielmehr als eine wesentlich nur literaturgeschichtlich interessierende Angelegenheit, als eine theoretisch nicht weiterführende, wohl aber leicht in eine unfruchtbare Scholastik ausmündende Beschäftigung. Daher würde ein Einwand, daß irgendeine der im folgenden entwickelten Lehren sich nicht ausgesprochen bei MARX und ENGELS findet, also höchstens Adlerismus, nicht aber Marxismus ist, den Standpunkt unserer Untersuchung überhaupt nicht treffen, sofern nicht zugleich bewiesen wird, daß diese Lehre den Grundvoraussetzungen des Denkens bei MARX und ENGELS widerspricht. Denn für uns ist der Marxismus kein fertiges System, kein Paragraphenbuch, zu dem nur ein durch den Text des Gesetzes beschränkter Kommentar möglich ist, sondern eine grundlegende theoretische Denkweise. Sie verlangt, ja sie treibt uns durch ihre innere Konsequenz dazu, nicht nur über die Resultate ihrer Schöpfer weiterzudenken, sondern vor allem diese selbst aus ihrer starren Buchform in jene lebendige Einheit zu setzen, in welcher alle Widersprüche und Unvollständigkeiten, wie sie notwendig stets entstehen, wenn das Gedankenganze sich in die Beschränktheit und Zerteilung sprachlicher Mitteilung einkleidet, möglichst behoben werden. Darum schrieben wir bereits im Programmartikel dieser "Marx-Studien" (Bd. 1, Seite VII), daß wir es für unsere Aufgabe halten, in der Fortentwicklung der marxistischen Gedanken "zu sehen, nicht nur, wie immer das Wort bei MARX recht gehabt hat, sondern wie aber doch der Geist, aus dem es hervorgegangen ist, recht behält und behalten kann". Dies scheint mir allein der Weg zu sein, auf dem "Marxismus" nicht das bedeutet, als was die Gegner ihn immer noch betrachtet wissen wollen: eine Weltauffassung eines einzelnen, wenn auch bedeutenden Menschen, sondern das, als was wir ihn halten und betätigen: eine neue, nicht mehr zu verlierende Richtung unseres wissenschaftlichen Bewußtseins. Trotz aufmerksamer Bemühung ließen sich an einzelnen Stellen des Buches Wiederholungen nicht vermeiden. Das Komplexe des Gegenstandes der Untersuchung bringt es mit sich, daß er niemals im Ganzen, sondern immer nur mit einem Teil seines Inhaltes Objekt der Erörterung ist. Nur durch eine begriffliche Zerlegung läßt sich die ungemeine Fülle des geschichtlich lebendigen Inhalts der Gesellschaft überhaupt einer theoretischen Bewältigung zuführen. Dadurch wird aber das, was zusammengehört und ein Ganzes ist, in eine unnatürliche Isolierung gebracht und widersetzt sich auch gedanklich dieser Vergewaltigung, indem es fortwährend auch begrifflich zur Ergänzung mit dem zurückstrebt, was jeweils außerhalb der theoretischen Abstraktion geblieben ist. Man kann nicht von Freiheit sprechen, ohne den Begriff der Herrschaft zu bestimmen, nicht von Anarchismus, ohne den des staatlichen Zwangs zu erörtern, nicht von Diktatur, ohne den der Revolution klar erkannt zu haben. Aber alle diese Begriffe verlangen auch wechselseitig untereinander ihre Inbezugsetzung und erzwingen so eigentlich in jedem Kapitel, das von einem derselben handelt, die Ergebnisse des anderen heranzuziehen oder vorauszusetzen. So ergeben sich Wiederholungen, die einfach unvermeidlich sind, weil sie zur Sache gehören. Sie sind nur eine Jllustration der Schwäche menschlicher Mitteilung überhaupt, die hintereinander sagen muß, was man auf einmal denkt. Da aber so viele gerade bei den hier behandelten Begriffen überhaupt nichts denken, kann es vielleicht berechtigt sein, sich mit dem Zauberwort zu trösten: Du mußt es dreimal sagen. Schließlich muß ich noch erwänen, daß mir KELSENs jüngstes Buch "Der soziologische und der juristische Staatsbegriff", das sich übrigens nicht mehr mit dem Marxismus beschäftigt, sowie eine, wie es scheint das gleiche Theam wie dieses Buch behandelnde Schrift von HERBERT SULTAN "Gesellschaft und Staat bei Karl Marx und Friedrich Engels" erst während der Korrektur zugegangen sind, so daß ich deren Inhalt nicht mehr berücksichtigen konnte. Aus dem Dialog zwischen Dionysodoros und Ktesippos: D.: "Würden wir uns widersprechen, wenn wir von derselben Sache beide dieselbe Rede führten, oder würden wir in diesem Fall nicht dasselbe sagen?" K.: "Dies gebe ich zu." D.: "Wenn aber keiner von beiden die der Sache eigentümliche Rede redete, würden wir dann einander widersprechen, oder würde in diesem Fall nicht vielmehr keiner von uns die Sache auch nur erwähnen?" K.: "Auch dies gebe ich zu." D.: "Aber wenn nun ich die der Sache eigentümliche Rede sage, du aber eine andere, die einer anderen eigen ist, würden wir uns dann widersprechen? Oder steht es dann nicht vielmehr so, daß ich die Sache sagt und du sie überhaupt nicht sagts? Wer sie aber nicht sagt, wie kann der dem widersprechen, der sie sagt?" - Platon, Euthydemos 268 A. Politik und Soziologie Man kennt die Sprache für gewöhnlich als ein Mittel der Verständigung. Aber die Geschichte der Philosophie und des Streites um wissenschaftliche Probleme zeigt das Gegenetil. Und das ist ein zwar altbeklagtes, aber scheinbar doch ganz unentrinnbares Verhängnis der Geistesgeschichte, welches bewirkt, daß die Erörterung so vieler Kernprobleme des Denkens schon Jahrtausende währt - man denke nur an den Streit um die Willensfreiheit - und doch immer wieder sich mit denselben Argumenten abquält, ohne weiter zu kommen, weil nicht einmal über den Wortsinn der Begriffe, zum Beispiel von Wille und Freiheit, eine Verständigung erzielt oder auch nur beabsichtigt wird. Da ist es nun freilich ein betrübender und zugleich lächerlicher Anblick, zu sehen, wie so viele dieser endlosen und zuweilen erbittertsten Streitigkeiten im Grunde bloße Wortstreitigkeiten sind, einfach hervorgerufen durch die Tatsache, daß beide Teile dasselbe Wort nennen, aber jeder etwas anderes damit meint. Woher kommt diese doch eigentlich seltsame Erscheinung, doppelt seltsam, wenn sie sich bei Denkern findet, die sonst hervorragen durch eine besondere Schärfe ihres Geistes und die Konsequenz ihrer eigenen Gedankenentwicklung? Der Grund liegt darin, daß auch der Gelehrte, obwohl er es aus sich heraus besser wissen sollte, nur zu häufig übersieht, daß die Sprache ihre Allgemeinbedeutung, worin sie jedes persönliche Moment, jede subjektive Färbung abgestreift hat, eigentlich nur in den Floskeln des typischen Alltagsverkehrs hat, daß aber darüber hinaus jeder seine eigene Sprache spricht. Und das gilt gerade von der Sprache des Denkers in umso höherem Maße, je mehr er ein origineller, das heißt schöpferischer Denker ist. Wenn man also an die Worte einer Theorie nur so herangeht, wie sie dem geläufigen Sprachsinn nach dastehen, wird man nie sicher sein, auch den Geist erfaßt zu haben, aus dem sie entsprungen sind, und das Nichtverständnis ist unausweichlich, trotzdem man vielleicht für seine Meinung zahllose Zitate buchstäblich aus den Schriften des betreffenden Denkers anzuführen vermag. Die Worte eines Denkers sind eben keine fixierten Bedeutungsinhalte wie die Wörter im Wörterbuch einer Sprache. Sie sind ein lebendiges Denken, Funktionen seiner Geistesarbeit, die eine ebensolche Funktion im Hörer anregen wollen. Ohne diesen Kontakt werden diese Worte freilich zum bloßen Wortschwall und, in den Büchern gedruckt, zu bloßen Begriffen aus dem Wörterbuch der Sprache. Aber zu ihrem Verständnis genügt dies nicht, sondern man braucht dazu das Wörterbuch des Geistes, von dem sie ein Teil sind, die Erfassung des Ganzen jenes theoretischen Standpunktes, als dessen Elemente sich diese Begriffe darstellen. Dies umso mehr, als ihr Sinn ja vielfach jenseits der geläufigen Wortbedeutungen überhaupt zu suchen ist. Die Worte der kantischen Philosophie zum Beispiel vom Ding und von der Erscheinung, von Erfahrung und von Natur scheinen die gewöhnlichsten Wortbedeutungen zu sein, die es gibt; ein jeder führt diese Worte tagsüber unzähligemale im Mund. Aber wer es unternehmen würde, diese Worte bei KANT aus dem Sinn des deutschen Wörterbuches und nicht aus dem Geist der umstürzenden Enzyklopädie kantischen Denkens zu erfassen, müßte elend Schiffbruch erleiden. (1) Dasselbe gilt von den Wortbedeutungen bei MARX, der, was noch immer nicht genügend gewürdigt ist, auch eine grundstürzende, aber zugleich neuen Grund legende Denkweise gegenüber einem Stück unserer Erfahrung begründet hat, gegenüber dem gesellschaftlich-geschichtlichen Leben. Noch immer gilt MARX in einem großen Teil der gelehrten öffentlichen Meinung als ein wesentlich nationalökonomischer Denker, obgleich gerade er selbst die historische und theoretische Begrenztheit des bloß nationalökonomischen Standpunktes zu überwinden bestrebt war. Nicht umsonst hat er seine beiden ökonomischen Hauptwerke Schriften zur "Kritik der politischen Ökonomie" genannt und damit zum Ausdruck gebracht, daß er der ganzen nationalökonomischen Problemstellung kritisch gegenübertreten wollte, und zwar nicht durch eine neue, "bessere" Nationalökonomie, sondern durch die Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen Grundlagen und Zusammenhänge. Die Eigenbedeutung des MARX-ENGELS'schen Denkens liegt durchaus auf soziologischem Boden. Sie waren beide ganz und gar vom Problem des Wesens und der Gesetzlichkeit des gesellschaftlichen Lebens beherrscht. Dieses theoretische Interesse, allerdings geboren aus dem leidenschaftlichen praktischen Interesse an der Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft, gab ihrer Denkarbeit erst die Richtung zur Kritik der Nationalökonomie, wie dann auch ENGELS selbst immer wieder in seinen biographischen Notizen über sich und MARX allen Nachdruck darauf gelegt hat, daß ihre gesellschaftliche Grundtheorie, die materialistische Geschichtsauffassung, schon vor dem "Kommunistischen Manifest", schon 1845, fertig ausgebildet war, so daß sich die ökonomische Theorie nur als eine Anwendung der gewonnenen soziologischen Grundansicht darstellte (2). Werden MARX und ENGELS nicht als soziologische Denker aufgefaßt, geht man bei jedem ihrer Begriffe nicht auf den neuen soziologischen Sinn ein, den sie in die alte Wortbedeutung haben einfließen lassen, ja, betrachtet man diese soziologische Umwertung vollends nur als ein politisches oder gar agitatorisches Beiwerk, das überhaupt nicht zur wissenschaftlichen Begriffshöhe des Problems gehört, dann muß man freilich eine Fülle von Widersprüchen und Unsinnigkeiten im Marxismus "aufdecken", nur daß man ihn eine Sprache reden läßt, die nicht die seine ist, ja, die ihm geradezu unverständlich ist. Dies scheint mir nun der Fehler der Untersuchung zu sein, die KELSEN in seiner Schrift "Sozialismus und Staat" über das Verhältnis des Sozialismus zum Staat durchgeführt hat. (3) "Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus" nennt der Verfasser im Untertitel seine Arbeit und bezeichnet damit ziemlich genau selbst die Schranken seiner Auffassung des Marxismus. Denn dies macht gerade die für das Verständnis der Politik neue Wege erschließende Bedeutung des Marxismus aus, die aber auch für die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens überhaupt eine revolutionäre Wirkung hat, daß für seinen Standpunkt der Begriff einer Theorie der Politik als eines für sich bestehenden, von der Theorie des sozialen Lebens getrennten Systems unmöglich geworden ist. Eine "politische Theorie" des Marxismus, die man unabhängig von seiner soziologischen Theorie behandeln könnte, gibt es überhaupt nicht. Denn die Politik, das heißt die Aufstellung eigener und die Bekämpfung gegnerischer staatlicher Ziele, ist für den Marxismus nur ein Stück des kausalgesetzlichen Gesellschaftsprozesses. Und seinen Ablauf auch nach den in die Zukunft reichenden Tendenzen durch eine Verfolgung seiner Kausalfaktoren aufzuhellen, ist eben das Problem der soziologischen Theorie des Marxismus. Freilich muß KELSEN gerade an diesem Problem vorbeigehen. Denn er interpretiert den Marxismus, von dem er mit Recht hervorhebt, daß nach dessen Lehre der sozialistische Gesellschaftszustand "nicht ein aus sittlichen Gründen anzustrebendes Ideal, sondern das naturnotwendige Ergebnis eines gesetzmäßig ablaufenden sozialen Prozesses ist, so daß durch diese Auffassung der Wille des Proletariats, sein ganzes Streben und Planen ausgeschlossen wäre (Seite 2). Aber wer so folgert, der muß sich selbst das Eingangstor zu einer widerspruchslosen Erfassung der soziologischen Grundtheorie des Marxismus, der materialistischen Geschichtsauffassung, verschließen. Allerdings handelt es sich hier um ein geradezu typisches Mißverständnis dieser Theorie, hervorgerufen durch ihre Bezeichnung als "materialistische" Geschichtsauffassung und durch ihre Tendenz, auch die gesellschaftliche Entwicklung als naturnotwendig aufzuzeigen. Immer wieder wird dabei übersehen, daß sowohl MARX wie ENGELS auf das schärfste ihren Materialismus vom naturwissenschaftlichen, ihre "Natur" von der bewußt- und willenlosen Natur der physikalisch-chemischen Vorgänge unterschieden haben (4). Die Natur, von der MARX und ENGELS sprechen, ist die gesellschaftliche Natur des Menschen, das heißt als die menschliche Natur, wie sie nur in vergesellschafteter Form möglich ist, die Natur der Vergesellschaftung. Und damit sit ein für allemal menschliches Wollen und Streben, denkendes, zweckmäßiges und sittliches Urteilen in der eigenartigen Verbundenheit der Vergesellschaftung als ein integrierender Bestandteil dieser Natur gesetzt. Ja, die gesellschaftliche Natur besteht überhaupt nur in diesem tätig-wertenden Verhalten vergesellschafteter Menschen. Deshalb schrieb MARX bereits in seinen genialen Thesen über Feuerbach, in denen er gleichsam den gedanklichen Aufriß seiner Theorie entwarf, die Worte nieder, die das ärgerliche Mißverständnis des marxistischen "Materialismus" und "Naturalismus" schließlich doch unmöglich machen sollten: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus, des FEUERBACHschen eingerechnet, ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird, nicht aber als menschlich-sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite im Gegensatz zum Materialismus vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt." (5) Diese tätige Seite der Natur zu erfassen, sie einzugliedern in die Kausalerkenntnis, das Naturdasein der menschlichen Gesellschaft als einen Prozeß "umwälzender Praxis" zu erfassen, das ist das eigentliche Problem des Marxismus, das MARX und ENGELS vom Anfang ihres selbständigen Denkens mit der ganzen Leidenschaft eines unbeugsamen Denkerwillens verfolgen. So hatte MARX das Verhältnis des Willensmäßigen zum Kausalen in seiner Theorie bereits klassisch in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" formuliert mit den Worten: "Wir treten der Welt nicht doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniet nieder. Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen die die wahre Parole des Kampfes zuschreien. Wir zeigen ihr nur, worum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will." (6) Es handelt sich also nur darum, den ganzen geschichtlichen Prozeß, der in seiner willens- und wertungsmäßigen Form, in seinen geistigen "Prinzipien", nicht nur unberührt bleibt, sondern geradezu in diesen erfaßt wird, sich in seiner kausalen Determiniertheit, "aus den Prinzipien der Welt", das heißt aber in seiner soziologischen Bedingtheit bewußt zu machen. Denn das Bewußtsein, von dem MARX hier spricht, ist nichts anderes, als daß man die Welt aus dem ideologischen Traum über sich selbst aufweck, "daß man ihre eigenen Aktionen ihr erklärt." Und so wie MARX schrieb der junge ENGELS im ersten Brief an MARX: "Solange nicht die Prinzipien logisch und historisch aus der bisherigen Anschauungsweise und der bisherigen Geschichte und als die notwendige Fortsetzung derselben in ein paar Schriften entwickelt sind, solange ist es doch alles noch ein halbes Dösen und bei den meisten ein blindes Umhertappen." (7) Ganz übereinstimmend mit diesem Standpunkt der Jugendschriften drückt dann das "Kommunistische Manifest" denselben Gedanken bereits in der Sprache der materialistischen Geschichtsauffassung aus, wenn es sagt:
Was "naturnotwendig" auf dem Boden der Gesellschaft ist, muß also immer noch von Menschen überdacht, gewollt, gewertet und gebilligt sein, es muß, wie ENGELS dies wiederholt sagte, alles, was in der Geschichte wirksam sein soll, "durch den Kopf der Menschen" hindurch. Die Menschen, sagt abermals ENGELS, machen ihre Geschichten selbst (10). Und nur die Menschen, fügen wir hinzu; es macht sie niemand, auch nicht "die ökonomische Entwicklung" für sie. Auch die "dogmatischsten" Marxisten haben die "Naturnotwendigkeit" des ökonomischen Prozesses nie anders verstanden. So schreibt KARL KAUTSKY in seinem Buch "Das Erfurter Programm", das er selbst als einen "Katechismus der Sozialdemokratie" bezeichnet:
Die Ziele und Wertungen des politischen Geschehens erwachsen also nicht aus dem Marxismus, aus der Wissenschaft, sondern nur aus der Verflechtung des gesellschaftlichen Prozesses selbst. Sie sind nicht das Produkt, sondern das Objekt der wissenschaftlichen Erforschung. Und nur so viel ist richtig, aber auch entscheidend, daß die gewonnene theoretische Einsicht in den kausalgenetischen Prozeß des gesellschaftlichen Geschehens immer mehr selbst ein Kausalmoment dieses Geschehens werden muß, je mehr sie das Urteilen, Werten und Handeln von Menschen beherrscht. (13) Wie man einer solchen Auffassung, die gerade auf der scharfen Unterscheidung von Urteilen und Beurteilen, von Erkennen und Werten beruth, eine "seltsame Vermengung eines theoretisch-explikativen mit einem praktisch-politischen Gesichtspunkt vorwerfen kann, wie KELSEN dies tut (Seite 2 - 3), ist mir unverständlich. Dieser Vorwurf verkennt vielmehr gerade die Problemstellung der Soziologie überhaupt, die prinzipiell schon seit SAINT-SIMONs "Savoir, pour prévoir" [Wissen, um vorherzusehen. - wp] niemals auf die Verfolgung der sozialen Kausalität auch in die Zukunft weisende Dynamik des gesellschaftlichen Lebens aufgedeckt hat. Daher geht auch ganz daneben, was KELSEN weiter dem Marxismus vorwirft:
Es ergibt sich also eine notwendigt Verflochtenheit der normativen Richtungsbestimmtheit mit der Kausalität des Geschehens, indem die erstere die Form ist, in welcher die letztere auf der Ebene des Bewußtseins überhaupt möglich ist. Und hierin liegt auch zuletzt die Erklärung für die Vorstellung des Marxismus von der Naturnotwendigkeit einer fortschrittlichen Entwicklung des sozialen Prozesses, die so oft als Utopismus oder unkritischer Dogmatismus hingestellt wurde. Denn nun sieht man klar, wie sehr man am Wesen dessen vorbeigeht, was der Marxismus als soziale Naturnotwendigkeit erkannt hat, wenn man mit KELSEN meint, es sei ein Zufall, daß
So also ist es um den angeblichen tragischen "Methodensynkretismus", um die "seltsame Vermengung des theoretisch-explikativen mit einem praktisch-politischen Gesichtspunkt" beschaffen, die KELSEN dem Marxismus vorwirft. Es ist nicht nur keine Spur von all dem vorhanden, sondern im Gegenteil: der Marxismus beruth gerade auf der schärfsten begrifflichen Scheidung der Geschichte als sozialen Prozesses des Geschehens und als politischen Wollens und Handelns. Nur daß er nicht verzichtet, theoretisch dieses letztere zugleich als ein Stück des ersteren zu erfassen, und dies zustande bringt durch seinen Grundbegriff des vergesellschafteten Menschen, der als ein durch die Vergesellschaftung motiviertes und aus ihr heraus tätiges Subjekt der schaffende, "umwälzende" Kausalfaktor der materialistischen Geschichtsauffassung ist. "Das gesellschaftliche Leben", heißt es in den schon erwähnten Thesen über FEUERBACH, "ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationale Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis." (16) Es gehört zu diesem Begreifen der menschlichen Praxis, zu dieser theoretischen Einstellung des Marxismus, daß auch die "Mysterien" der politischen Praxis herausgehoben werden aus ihrer scheinbaren Selbständigkeit und aufgelöst werden in einem Zusammenhang der allgemein menschlichen Praxis überhaupt, das heißt dargestellt werden als Elemente der tätigen menschlichen Vergesellschaftung. Wie die ökonomischen wurden auch die politischen Begriffe in der Auffassung des Marxismus zu soziologisch-historischen Kategorien umgedacht, so daß, wie wir anfangs sagten, es eine selbständige politische Theorie des Marxismus gar nicht geben kann. Vielmehr wird jede Auffassung, die sich als eine solche selbständige politische Theorie ausgibt, sofort für den marxistischen Standpunkt selbst noch ein aufzulösendes Problem seiner soziologischen Kritik und Kausalerklärung, wie z. B. die Theorie des Liberalismus oder der jetzt so beliebten staatswissenschaftlichen Adam-Müllerei. Wir werden im folgenden an der Erörterung von KELSENs Kritik dessen, was er die politische Theorie des Marxismus nennt, noch im einzelnen und in aller Deutlichkeit sehen, zu welch notwendigen Mißverständnissen der MARXschen Grundauffassungen von Staat und Gesellschaft das Vorbeigehen am soziologischen Charakter auch des "politischen" Denkens bei MARX und ENGELS führen muß.
1) So ist es dann auch gerade KANT, der die sowohl für ihn wie für andere neuartige Denker nur allzuwenig beachtete Mahnung erlassen hat: "Zu einer neuen Wissenschaft mit den Vorurteilen gehen, als könne man sie mittels seiner schon sonst erworbenen vermeintlichen Kenntnisse beurteilen, obgleich die es eben sind, an deren Realität zuvor gänzlich gezweifelt werden muß, bringt nichts anderes zuwege, als daß man allenthalben das zu sehen glaubt, was einem schon sonst bekannt war, weil etwa die Ausdrücke jenen ähnlich lauten, nur daß einem alles äußerst verunstaltet, widersinnig und kauderwelsch vorkommen muß, weil man nicht die Gedanken des Verfassers sondern immer nur seine eigene, durch lange Gewohnheit zur Natur gewordene Denkungsart dabei zugrunde legt." ("Prolegomene", Reclam, Seite 37) 2) Vgl. hierüber besonders das Zeugnis FRIEDRICH ENGELS' in seiner Besprechung von MARX' Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" aus dem Jahr 1859, veröffentlich von MAX NETTLAU in den "Sozialistischen Monatsheten", 1900, Seite 38f, wo Engels die genannte Schrift als den Beginn der durch das Auftreten der deutschen proletarischen Partei hervorgerufenen wissenschaftlichen deutschen Ökonomie bezeichnet, die über die bürgerliche englisch-französische hinausschreiten konnte, und sagt: "Diese deutsche Ökonomie beruth wesentlich auf der materialistischen Auffassung der Geschichte, deren Grundzüge in der Vorrede des oben zitierten Werkes kurz dargelegt sind." Seite 40. Vgl. auch MAX ADLER, "Marx als Denker", zweite Auflage, Wien 1921, Seite 94f. 3) Archiv für Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, herausgegeben von KARL GRÜNBERG, Bd. IX, Seite 1 - 129, und separat als Buch erschienen (Leipzig 1920). - Wir zitieren nach der Buchausgabe, deren Seitenzahlen übrigens mit dem Archiv übereinstimmen. 4) Hierauf habe ich schon 1904 in meiner Marx-Studie "Kausalität und Teleologie" in einer ausführlichen Darlegung des Verhältnisses von MARX und ENGELS zum Materialismus aufmerksam gemacht. "Marx-Studien", Bd. I, Seite 302f, und neuerdings in meinem "Marx als Denker", Seite 52f, "Marxistische Probleme", 1922, II. Kap., schließlich "Engels als Denker", Berlin 1920, Seite 63f. 5) Vgl. "Marx über Feuerbach", Anhang zu FRIEDRICH ENGELS, "Ludwid Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", Stuttgart 1895, Seite 59, These I. 6) Aus dem literarischen Nachlaß von MARX und ENGELS, herausgegeben von FRANZ MEHRING, Stuttgart 1902, Bd. 1, Seite 332 7) Briefwechsel zwischen MARX und ENGELS, herausgegeben von BEBEL und BERNSTEIN, Stuttgart 1913, Bd. 1, Seite 1 8) KARL MARX, Der Bürgerkrieg in Frankreich", Berlin 1891, Seite 50 9) Vgl. MAX ADLER, "Marxistische Probleme", fünfte Auflage, Seite 197f 10) FRIEDRICH ENGELS, "Ludwig Feuerbach" etc., Seite 43f. Ebenso MARX, "Der 18. Brumaire", dritte Auflage, Hamburg 1885, Seite 7: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte etc.", und schon vorher in der großen Abrechnungsschrift "Die heilige Familie", in der sich bereits die Eigenzüge des Marxismus formen, wo es heißt: "Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die Geschichte, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen." - MARX-ENGELS' Nachlaß II, Seite 195. 11) KARL KAUTSKY, a. a. O., 1922, Seite 102. - Ganz im selben Sinne FRANZ MEHRING, "Über den historischen Materialismus", Anhang zur "Lessing-Legende", Stuttgart 1893, Seite 452-453, und GEORG PLECHANOW, "Beiträge zur Geschichte des Materialismus", Stuttgart 1896, Seite 225 - 227, wo geradezu ausgeführt wird, wie wegen dieser Eingliederung der tätigen, ideellen Natur des Menschen in den ökonomischen Mechanismus "für MARX das Problem der Geschichte auch im gewissen Sinn ein psychologisches Problem war." 12) Und es ist prinzipiell gar nicht ausgeschlossen, daß ein marxistischer Politiker eine Politik verfolgt, deren schließliches Fehlschlagen er theoretisch erkannt hat, deren momentane geschichtliche Notwendigkeit er aber trotzdem bewußt vollzieht, so gleichsam auf einem verlorenen Posten den Dienst der Geschichte verrichtend, weil nur so jene gewaltigen Wirkungen in der Gegenwart ermöglicht werden, die durch die radikale Zerstörung des Alten eine freilich erst späte größere Zukunft vorbereiten. Vielleicht ist dies das Bewußtsein so mancher der großen Führer des bolschewistischen Sozialismus. 13) Vgl. hierzu MAX ADLER, "Marxistische Probleme", Abschnitt "Wollen und Müssen", Seite 203f. 14) Vgl. hierzu MAX ADLER, a. a. O., Kapitel 1. 15) Vgl. hierzu MAX ADLER, "Der soziologische Sinn der Lehre von Karl Marx" und "Marx als Denker", Kap. VII, Seite 63f 16) Anhang zu ENGELS, "Ludwig Feuerbach", 8. These, a. a. O., Seite 61. |