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ADAM MÜLLER
Die Elemente der Staatskunst

"Der Staat und alle großen menschlichen Angelegenheiten habe es an sich, daß sich ihr Wesen durchaus nicht in Worte oder Definitionen entwickeln oder einpressen läßt. Jedes neue Geschlecht, jeder neue große Mensch gibt ihnen eine andere Form, auf welche die alte Erklärung nicht paßt. So eine steife ein und für allemal abgefaßte Form, wie die gemeinen Wissenschaften vom Staat, vom Leben, vom Menschen umherschleppen und feil bieten, nennen wir:  Begriffe.  Vom Staat aber  gibt  es keinen Begriff. Unsere Väter hatten vom Staat den Begriff, daß er eine Zwangsanstalt sei. Dann sind andere Zeiten gekommen und das Beste, das Wichtigste hat sich nicht erzwingen lassen: - wir haben uns andere Begriffe gebildet, die jedoch nicht standhalten können, weil der Begriff keine Bewegung hat, der Staat aber sehr viele."

"Wenn sich der Gedanke, den wir von einem solchen erhabenen Gegenstand gefaßt haben, erweitert; wenn er sich bewegt und wächst, wie der Gegenstand wächst und sich bewegt: dann nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff der Sache, sondern  die Idee  der Sache, des Staates, des Lebens usw. Unsere gewöhnlichen Staatstheorien sind Anhäufungen von Begriffen und daher tot, unbrauchbar, unpraktisch: sie können mit dem Leben nicht Schritt halten, weil sie auf dem Wahn beruhen, der Staat lasse sich vollständg und ein für allemal begreifen; sie stehen still, während der Staat ins Unendliche fortschreitet."

"Es gab z. B. in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute, welche sich bemühten,  Begriffe  von der Getreideausfuhr zu geben; alle diese Begriffe und darauf gebaute Vorschläge waren aber unbrauchbar und nicht auszuführen. Da erschien die genialische und doch so elegante und zierliche, Behandlung dieses berühmten Problems des Abbé Galiani; und ein plötzliches Verstummen der alten, staatswirtschaftlichen Tonangeber und der Beifall von Frankreich und ganz Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte. Galiani gab keinen Begriff, keine Verfahrensregel, aber die  Idee  des Getreidehandels; nichts Einzelnes davon konnte angewendet werden: denn Galiani bewies eben, daß jede Regel nur auf einen bestimmten Fall anwendbar ist, daß es keine bestimmte Regel von bestimmten Fällen gebe und setzte den Staatswirt, der ihn verstand, in die klare und mutige Disposition, nun seinerseits zu tun, was nötig war."

Erste Vorlesung
[Daß es den politischen Systemen unserer Zeit an Bewegung mangle,
und daher die Theorie mit der Praxis in Widerspruch sei.]

Die Zusammensetzung eines Staates ist etwas so Großes, Mannigfaltiges und Unergründliches, daß die Eilfertigkeit und der Leichtsinn, womit das Studium desselben gegenwärtig, besonders in Deutschland, getrieben wird, billig befremden muß. Käme es bloß darauf an, die äußere Maschinerei, das Gerüst des erhabenen, nie zu vollendenden Baues zu beobachten und zu kennen, so möchte immerhin ein geübtes Auge, eine gewisse leicht zu gewinnende Fertigkeit in der Einsammlung von Kenntnissen, auch ein gutes Gedächtnis hinreichen, einen Meister der Staatskunde zustande zu bringen. Aber wer nennt den Staat eine Maschine und seine Glieder ein totes Räderwerk! wer vergleidht ihn mit einem Bau, und seine zarten empfindlichen Bestandteile mit kalten Steinmassen, die das Eisen erst regieren und formen und dann das Winkelmaß ordnen und führen muß? - Allerdings greift man nach allem Großen auf dem Gebiet der Kunst, wenn man die erste Empfindungen beschreiben will, welche die Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft erweckt. Die Monumente der Baukunst bieten sich dem Vergleich zuerst dar. Die Dauer vor allen Dingen, die Ewigkeit, welche aus ihnen redet, die kühnen Formen, die in sich selbst ruhende Größe: - alle diese Eigenschaften kommen auch dem Staat zu; - und so mag der erste Eintritt in die Staatswissenschaft für das Gefühl verwandt sein mit der Betrachtung der Trajans-Säule oder der Pyramiden.

Aber wo bleibt dieses, wo bleiben alle anderen Gleichnisse, wenn man die  Bewegung  der bürgerlichen Gesellschaft, ihr Fortschreiten, ihr Umsichgreifen, den rastlosen Umlauf ihrer Kräfte und Reichtümer wahrzunehmen anfängt! wenn die Geschichte uns den Staat durch ganze Jahrhunderte im ewigen Kampf und Wettlauf mit anderen Staaten zeigt! Ein ruhender Gladiator, ein schlafender Feldherr, sind der Darstellung würdig für den, der sie im Zirkus und auf dem Schlachtfeld gesehen hat: ebenso ist der stillstehende Staat, wie ihn die gemächliche Weisheit der politischen Lehrbücher zeigt, merkwürdig und sinnreich für diejenigen, die entweder selbst schon in das Leben eines Staates handelnd eingegriffen haben, oder doch die Geschichte kennen. Was sollen aber den andern das trockene Fachwerk, die dürre Regel und die toten Kenntnisse?

In der  Bewegung  also, vor allen Dingen, will der Staat betrachtet sein, und das Herz des wahren Staatsgelehrten soll, so gut wie das Herz des Staatsmannes, in diese Bewegung eingreifen. Die Aufgabe für beide ist keineswegs ein willkürliches Anordnen toter Stoffe; das Glück der Völker läßt sich nicht ausstreuen, wie Geld; das Streben einer Nation läßt sich nicht abfinden, oder richten, durch einzelne, klug vorgeschriebene und angewendete Arzneien; - das Werk der Politik ist nie abgemacht, so daß der Staatsmann nach Hause, oder in den Privatstand, zurückkehren könnte. Kurz, man begibt sich, als Staatsmann und als Staatsgelehrter, entweder ganz hinein in den Umschwung des politischen Lebens und trägt den Stolz, die Schmerzen des erhabenen Staatskörpers, wie seine eigenen, auf immer; oder man bleibt ewig außerhalb.

Das nun ist das wohlfeile, vielbeliebte und vielgetriebene Gewerbe der Stubenpolitik! Diese geht immer davon aus, daß der Staatsmann müßig und herzlos, gleich ihr selbst, außerhalb des Staates stehe, und meint, der Staat könne durch einen hier und dort angelegten Hebel nun sogleich in seine wahren Angeln gehoben werden - als ob ein kranker Staat durch einen tüchtigen Vorsatz der Besserung, oder durch ein verschriebenes Rezept unmittelbar zu heilen sei! - Und dies ist noch die edlere Gattung, da sie den Staatsmann ehrenvoll mit einem Arzt vergleicht. -

Noch unwürdiger denken jene, welche Verfassungen und Gesetze, alles Erhabene, was der Staatsmann beschließt, mit Kleidern vergleichen, die er seinem Staate zuschneidet und anpaßt, und die, wenn der Staat sie abgetragen hat oder herausgewachsen ist, nur abgelegt zu werden brauchen. Die Französische Revolution hat gelehrt, daß man den Staat entfleischt, während man ihn bloß von veralteten Unwesentlichkeiten zu entkleiden wähnt; daß das Reformieren eines Staates durchaus nichts gemein hat mit dem Ausmustern einer Garderobe; kurz, daß man sich in das Herz des Staates, in den Mittelpunkt seiner Bewegung, begeben muß, wenn man das Wesen des Staates begreifen und auf ihn wirken will.

Lange Friedenszeiten sind für die Kultur der Staatswissenschaft nicht günstig, eben weil die innere Natur des Staates unter heftigen  Bewegungen,  unter Revolutionen und Kriegen, am deutlichsten ans Licht tritt. - Ist nicht CICEROs politische Weisheit eine Frucht der Gährungen und Revolutionen in der Römischen Republik, die sich gerade damals zu einer Monarchie umzugestalten strebte? Hat die Republick der vereinigten Niederlande nicht besonders den Kriegen um ihre Freiheit, den Kämpfen mit dem Meer, mit Spanien, Frankreich und England, die Reihe großer Staatsmänner und Staatsgelehrten zu verdanken, unter denen Namen, wie die von ORANIEN, van de Witt und HUGO GROTIUS glänzen? - Was bildete MACCHIAVELLI und GUICCIARDINI? Welche Zustände zogen BURKE groß? - Alle diese Meister lernten nicht aus Lehrbüchern, Statistiken und Staatskalendern und nicht durch müßige Stubenspekulation, sondern im Leben, in der Bewegung, den Staat kennen. Ihre Neigungen, die größten wie die geringsten, waren ganz hingegeben an das Vaterland;  ihr  Schicksal eins mit dem  seinigen.  Als sich nun von außen und innen Feinde in den verschiedensten Gestalten erhoben; hier mit Waffen der Klugheit, dort mit Waffen des Armes und dann wieder mit Waffen der Beredtsamkeit gefochten werden mußte; als hier ein auflodernder Volksaufstand besänftig, dort der Zwiespalt erbitterter Parteien mit kluger Hand verglichen, dort feindselige Elemente, die eindringenden Wellen des Ozeans zurückgewiesen, dann wieder der Handel und der Kredit unterstützt, oder eindringenden Heeren die Spitze geboten und tausend Verarmten und Unglücklichen aufgeholfen werden sollte: da war die einzige, größte Schule der Staatsweisheit und der Vaterlandsliebe eröffnet und jene Lehrer der Welt  mußten  daraus hervorgehen. -

Denn wie der Mensch unter Leiden und Unglück sein Herz kennen lernt, so lernen unter Kalamitäten [Unglücke - wp],  Bewegungen  und Stürmen aller Art die Völker sich selbst kennen und achten. Das Glück verzieht, verwöhnt, schläfert ein und isoliert die Menschen, wie die Völker; da hingegen das Unglück wach hält, reizt, bindet und erhebt.

Ebenso ein langer Friede. Wieviel verborgene Tugend, wieviel unsichtbares Schönes, aber auch wieviel verdeckte Schlechtigkeit kommt zum Vorschein, wenn einmal nach langem Frieden der Krieg das Innerste einer Nation, bis in die geringfügigen Familienverhältnisse hinein, aufwühlt! Der Regierung und den Untertanen fällt es, wie Schuppen, von den Augen: sie erkennen einander gegenseitig, und alles Glück, das sie gemeinschaftlich besessen haben, wird erst in der Gefahr zum Glück; im Sturm, in der  Bewegung  fühlen sie zuerst den Wert des Bleibenden und Dauernden; vieles ehemals Großgeachtete verschwindet, vieles ehemals Kleine wird bedeutend. Kurz, das Wesentliche am Staat, das, wovon seine Existenz abhängt, kommt am deutlichsten unter Bewegungen und Kriegen zum Vorschein. Was die Menschen eigentlich auf Leben und Tod verbindet, so, daß eine bürgerliche Gesellschaft, ein politisches Ganzes, ein Staat, aus ihnen entsteht - diese Bande und ihre Kraft müssen am besten geprüft und studiert werden können, wenn viele feindselige Mächte zusammentreten, um sie aufzulösen und zu zerstören. -

So ist die Zeit, in der wir leben, eine große Schule der Staatsweisheit. Glücklich, wer ein großes Herz in diese Schule mitbringt, sich durch allen Schein von gänzlicher Zerrissenheit alter Bande nicht blenden läßt und gerade in dieser fürchterlichsten Bewegung mit angemessener Kraft die Wesentlichkeiten festhält, welche jetzt vielleicht deutlicher als je zu erkennen sind! Wir haben Staaten dekomponieren [sich zerlegen - wp] sehen, und können über ihre Komposition Rechenschaft geben. - Daß wir, die denkenden Zeitgenossen einer allgemeinen politischen Revolutionen, unterstützt durch einen ausgebreiteten literarischen Kommerz und Gedankenverkehr, wie er bei keiner ähnlichen früheren Weltbegebenheit stattfand, vom Wesen der Staaten mehr wissen können, als frühere Zeitalter, ist demnach klar, wenn mich auch die Erfahrung widerlegen möchte. Weniges ist nämlich geschehen; und in demselben Maß, wie die Politik sich aller Köpfe bemächtigt hat und das tägliche Brot des großen Haufens geworden ist, hat sie aufgehört, die Gemüter einzelner großgearteter und tiefsinniger Menschen zu beschäftigen. Der Ernst, den dieses Studium vor allen anderen fordert, ist nicht weiter vorhanden; die Entstehung außerordentlicher Werke über die Gesetzgebung und Staatskunst wird nicht mehr, wie ehemals, begünstigt durch die Ehrfurcht ganzer Völker und Jahrhunderte vor Talenten und gewaltigen Arbeiten des Geistes; die meisten trauen ihrem eigenen Talent mehr zu, als der in einem einzigen Kopf vereinigten Weisheit einer ganzen Nation. Und wie wenigen gilt der Beschluß eines ganzen Jahrhunderts oder die Arbeit eines MONTESQUIEU mehr, als das Resultat von der eigenen Überlegung einer Virtelstunde! -

Nichtsdestoweniger können wir - die Ungunst der Zeit sei, welche sie wolle - von der bürgerlichen Gesellschaft mehr wissen, als die früheren Zeitalter. Was wir wissen, unternehme ich in seinen großen Grundzügen zu zeigen, da es bis jetzt noch kein anderer oder besserer unternommen hat. Ich bitte meine Zuhörer (und Leser) nur, den Umfang meines Geschäftes zu erwägen, so brauche ich sie nicht weiter um Nachsicht zu bitten. Ich erinnere sie an die alles übersteigende Erhabenheit meines Gegenstandes, so brauche ich ihnen nicht erst anzukündigen, daß die Individuen, und mit ihnen alle gemeine Parteilichkeit und Persönlichkeit, in den Hintergrund treten werden.

Die  Staatswissenschaft,  die ich meine, soll den Staat im Flug, in seiner Bewegung, auffassen; daher genügt mir keine von den bisherigen Theorien dieses Studiums vollständig: sie sind sehr gründlich und fleißig in der Aufzählung des gesamten zu einem Staat erforderlichen Apparates; sehr sinnreich in der Angabe der zu treffenden Anordnungen; im Vorrechnen der Vorteile und Nachteile von jedem zu verfügenden Gesetz oder Institut; sie sind, um ein Gleichnis aus der Arzneikunst zu gebrauchen, vollständig in der Anatomie des Staates, und klug im Beschreiben der Heilmittel für seine Krankheiten: aber, wenn es darauf ankommt, die ganze Lebenserscheinung eines Staates auf eine angemessene Weise zu ergreifen, so fehlt es ihnen selbst an dem dazu erforderlichen Leben.

Die meisten Staatslehren z. B. sind fast allein auf den Friedensstand einer Nation berechnet: sie enthalten Kapitel vom Krieg und von Kriegsanstalten; sie geben dem milden, humanen, philanthropischen Wesen, welches sie  "Staat"  nennen, und welches eben nicht gern Blut sehen mag, nun zuletzt noch Schild und Helm, ohne dafür zu sorgen, daß jeder Muskel, jeder Nerv des Staates zum Krieg gerüstet sein, daß jeder Blutstropfen des Staates, wie er auch für den Frieden glühen möge, dennoch Eisen enthalten müsse; kurz, sie betrachten den Krieg als eine bloße Ausnahme von allen Friedensregeln, als ein schreckliches Interregnum [Zwischenherrschaft - wp] des Zufalls, und, sobald er ausbricht, ist ihre gesamte Friedensweisheit zu Ende. Der Staat trägt, nach ihnen, zwei ganz widersprechende Staaten in sich: einen Kriegsstaat und einen Friedensstaat; zwei Scharen von Beamten, Kriegsbeamte und Friedensbeamte, die miteinander in Widerspruch sind, wie ihr beiderseitiges Geschäft. Die gesamte Kraft, welche der Staat im  Frieden  braucht, bedeutet wenig oder gar nichts, und bleibt unbenutzt im  Krieg;  die gesamte Kriegskraft ist umgekehrt untätig im  Frieden. 

Der alte goldene Spruch:  Wenn du den Frieden willst, so bilde dich kriegerisch aus!  wird von ihnen entweder gar nicht geachtet, oder doch  so  ausgelegt: "Wenn du Frieden willst, so mache die gehörigen Vorkehrungen zum Krieg, baue Festungen und rekrutiere deine Armee!" Damit ist aber nichts gewonnen; der Krieg ist und bleibt das bloße Gewerbe einer einzelnen Zunft, und wird nicht zur Nationalangelegenheit. Jener herrliche Spruch will sagen: der Kriegszustand ist ebenso natürlich, wie der Friedenszustand; der Staat ist allenthalben beides zugleich: ein  liebreiches  und ein  streitendes  Wesen; und der Gedanke, der Mut des Krieges muß alle Familien, alle Gesetze, alle Institutionen des ganzen Friedens durchdringen. Jeder Staat hat nicht bloß von außen, sondern auch von innen, ewige Feinde, geheime und öffentliche; oft ist gerade seine Trägheit und seine Friedensliebe der gefährlichste. Wie der Kommerzminister eines Landes auf das Ausland und auf das Inland zugleich sehen muß, ebenso der Kriegsminister auf beide, ebenso jeder Beamte, jeder Bürger, ohne Unterlaß auf beide.

Die Delphische Überschrift:  Erkenne dich selbst!  ist die erste Regel, so gut für den Staat, wie für den einzelnen Menschen. Wie will sich aber der Staat selbst erkennen? Reicht es aus, daß er seine Ressourcen, Produkte, Land, Leute, Summen und Umlauf des Geldes, Gesetze und wohltätigen Anstalten kennt? Damit begreift er sich noch ebensowenig, wie ein Mensch, der, in sein Wohnzimmer verschlossen, sich selbst beobachtete, seinen Puls befühlte, und seine Nahrung abwöge. Dies führt Staaten und Menschen zur Hypochondrie: diese zur Menschenscheu; jene zu Neutralitätssystemen oder zur Staatenscheu, aber nicht zur Selbsterkenntnis. Im beständigen regen und beweglichen Umgang mit Seinesgleichen lernt der Mensch besonders sich selbst kennen: ebenso der Staat seine Eigenheit, sein Gewicht, seine Physiognomie, seine Kraft und seine Liebenswürdigkeit nur im beständigen, streitenden und friedlichen Umgang mit anderen Staaten.

Der  Staatsgelehrte  kann demnach den Kriegszustand nicht außerhalb seiner Staatslehre, als etwas damit Unverträgliches und Unnatürliches, stehen lassen, sondern er soll machen, daß die ganze Lehre gänzlich vom Gedanken des Krieges allgegenwärtig durchdrungen und beseelt werde. Nie soll er den Frieden ohne den Krieg, nie die Ruhe ohne die Bewegung darstellen. Diese Ergänzung der Wissenschaft ist ihr Hauptgewinn bei allen traurigen, nur aus unrichtiger Ansicht des Krieges und der Staatsbewegung hergeflossenen, Erfahrungen der Zeit.

Ebenso soll die  Staatskunst,  die ich meine, den Staat im Flug, im Leben, in der Bewegung behandeln, nicht bloß Gesetze hinein werfen und hinein würfeln, und dann müßig zusehen, wie es gehen wird. Der Staatsmann soll die allgegenwärtige Seele der bürgerlichen Gesellschaft sein und kriegerisch und friedlich zugleich handeln. Je größer die Bewegung des Meeres ist, umso mehr wird die Ruhe des Steuermannes gerühmt. Kraft und Ruhe müssen zusammenkommen, wenn ein Künstler werden soll. Vornehmlich bedarf der Staatskünstler beider; sein Stoff, das Volk, fordert beides, hat eine Art von Sehnsucht so gut nach Frieden, wie nach Krieg. Es ist nur Täuschung, wenn man glaubt, daß die Völker mehr den Frieden begehrten. Wären sie für beides erzogen, wie sie jetzt bloß für den dumpfen, trägen, lebenslosen Besitz und für die Stube - denn darin besteht ja ihr vielgerühmter Friede - erzogen sind: so würden sie auch beides verlangen. Die Tiergeschlechter mag man einteilen in wilde und zahme; dem Menschen lassen man beides: was ihn  groß  macht, seine  Kraft;  und was ihn  reizend  macht, seine  Milde. 

Soviel über den Geist und die Natur des ganzen Geschäftes. - Wie sich der wahre Staatsmann und der echte Staatsgelehrte zueinander verhalten, kann, nach diesen einleitenden Betrachtungen, keine schwierige Frage sein. Vor Gott sind sie einander gleich, wie auch die Welt sie unterscheiden möge: der eine regiert den Staat; der andere erzieht Staatsmänner. Aber sobald die Staatsgelehrsamkeit einzeln, und abgesondert und leblos, für sich auftritt, sehen wir einen von den gemeinen Handwerkern, welche wir im Leben  Theoretiker  zu nennen pflegen. Ebenso hört die Staatskuns auf Kunst zu sein, wenn sie sich von der Staatsgelehrsamkeit absondert und nun in der Gestalt des bloßen dürren Praktikers auftritt.

Und diese beiden Figuren wollen wir nun näher betrachten. Vor allen Dingen bemerken wir an beiden eine gegenseitige gründliche Verachtung. Der Theoretiker stützt sich auf die Vernunft, auf die schulgerechte, symmetrische Form seiner Ansicht, und auf allgemeine Gesetze; der Praktier auf Erfahrung, auf die Realität und Bedeutung seines Geschäftes, und auf die Lokalität. Der eine schwebt in den Lüften über allen Ländern und Zeiten; der andere hält sich an seinen Grund und Boden, und an das, was er mit Händen greifen oder von seinem Büro aus übersehen kann. Und so geht es dann, wenn sie beide zueinander kommen, d. h. wenn der Praktier ein politisches Buch, oder der Theoretiker eine praktische Anstalt untersucht, wie bei jenem berühmten Gastmahl, welches der Fuchs und der Storch einander gaben: jeder begehrt andere Speise und in anderen Gefäßen, als der andere ihm vorsetzen kann. Der eine wirft dem andern seine idealistischen Träumereien vor, die, meint er, zwar am Arbeitstimsch glänzen möchten, in der Wirklichkeit aber grund- und bodenlos wären; der andere spricht von Schlendrian, beschränkten Gesichtspunkten und Verleugnung aller Prinzipien; und wie sie auch beide hierin Recht haben mögen, so taugen doch beide nichts. -

In einem Land wie Deutschland - wo bei verschlossenen Türen regiert wird, und wo, wenige glückliche Staaten ausgenommen, die Regierungsbeschlüsse über die Häupter uneingeweihter Untertanen hergehen, wie der Wind und die Wolken, von denen niemand sagen kann, woher sie kommen, und wohin sie fahren, oder was sie bedeuten - muß diese Spaltung noch viel größer sein, als in England, wo die Verfassung, die hinreißende Gewalt, die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit des öffentlichen Lebens einen eigentlichen Theoretiker nicht einmal aufkommen läßt. Das berühmte Buch von ADAM SMITH ist eins von den wenigen Büchern der Briten, welche man theoretisch nennen könnte, weil die Lehre der Handels- und Gewerbefreiheit, die darin aufgestellt ist, auf die geschlossene Persönlichkeit der Staaten, auf ihren abgesonderten Charakter, und auf ihre notwendige kriegerische Stellung untereinander, zu wenig Rücksicht nimmt. Indessen, wie viele Spuren eines reichen, tätigen Lebens dieses Buch enthält, fühlt man erst, wenn man es in der mageren Gestalt deutscher vermeintlicher Bearbeitungen wiedersieht, wo die Resultate von ADAM SMITHs Leben nur systematisch aufgestutzt und zierlich in Reih und Glied erscheinen. Es ging ADAM SMITH in Deutschland, wie dem Philosophen KANT, von dem die Dichter der Xenien sagten:
    "Setzt doch ein einziger Reicher so viele Arme in Nahrung!
    Wenn die Könige bau'n, haben die Kärrner zu tun. - "
Gewisse politische Schriftsteller und seinwollende Philosophen haben das frische und gesunde Fleisch jenes erhabenen Buches zergliedert, appretiert [veredelt - wp] und wieder zergliedert, so, daß vom praktischen Gehalt des Urhebers nichts übrig bleibt, als Resultate, die nur Wert haben für den, der in die Handels- und Denkweise des großen und liebenswürdigen Mannes eingegangen ist, und ihn selbst noch höher schätzt, als sein Buch. -

Mit diesem Gerippe von ADAM SMITH nun stellen sich unsere Theoretiker den alten Praktikern aus der Schule COLBERTs und FRIEDRICHs II. gegenüber. - Um die Schwerfälligkeit dieser vollenden, fehlt weiter nichts, als ein solcher revolutionärer Leichtsinn der Gegner. Hat es ihnen bisher noch an den gehörigen Gründen für die Handelssperre gefehlt, so bietet die Unwissenheit der Theoretiker sie ihnen jetzt dar; und beim ganzen Streit verliert niemand mehr, als der unglückliche Staat, gewinnt aber auch niemand mehr, als der echte und unbefangene Staatsgelehrte oder Staatsmann, der hier leibhaftig die beiden widrigen Extreme vor sich sieht, die er zu vermeiden hat.

In Deutschland ist nun die Mitte zwischen diesen beiden Extremen doppelt schwer zu treffen.  Einerseits,  weil unseren Theoretikern durch den Überfluß an literarischen Kommunikationsanstalten die Ansicht der entferntesten Staaten besonders erleichtert ist und wir also vorzüglich eingeladen werden, uns auf eine idealistische Höhe zu begeben, von der aus es uns überhaupt kein wirklicher Staatsmann, ja die Welt selbst nicht, mehr recht machen kann;  andererseits,  weil unsere Praktiker, diew enigen höheren Beamten in den größeren Staaten ausgenommen, in so enge Wirkungskreise gewiesen, von so kleinlichen Verhältnissen beengt, in so eigensinnige Lokalitäten gepreßt sind, daß sie die Pedanterei ebenso schwer vermeiden können, wie unsere Theoretiker die Schwärmerei.

Deshalb aber ist auch Deutschland ein sehr schönes Theater für den, welcher den Staat in allen seinen Details, und den Staatsmann, wie den Staatsgelehrten, in seinen Verirrungen kennen lernen will. Dessen ungeachtet ist bei den Praktikern, hier und überall, mehr Gemüt und wahre lebendige Wissenschaft, als bei den Theoretikern: es läßt sich mehr bei ihnen lernen; die Wirklichkeit in ihrer Allgewalt und mit ihren nie ruhenden Forderungen steht ihnen beständig zur Seite und erhält sie lebendig: sie sind mehr in die Bewegung des Staates verflochten und mit ihrer ganzen anderweitigen Existenz an sie gebunden; sie sind innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, während die Theoretiker sich beständig draußen halten, und, wenn sie Unrecht haben, nicht zu greifen sind. -

Für diese gibt es eine Kunst des Staatenbaus, wie des Orgelbauens oder es Uhrmachens; und darin besteht nun die ganze Weisheit der BUCHHOLZE und der verschiedenen Staatsratgeber in Deutschland. Einen Mechanismus angeben und das Gewicht nachweisen, welches die Maschine in Bewegung setzen soll; ein Räderwerk von Institutionen und sozialen Körperschaften, und dann die Bedürfnisse erster Notwendigkeit, oder der Magen, als Gewicht daran gehängt und die Intelligenz dem Ganzen als Pendel oder Korrektionsinstrument beigegeben: - das heißt bei ihnen  ein Staat.  All das erkennen, heißt den Staat als große, aus mehreren kleinen Sachen zusammengesetzte, Sache begriffen haben; das Grobe, Körperliche am Staat, die sichtbare Masse, ist nun gesehen, das Handgreifliche alles ergriffen. Aber das Wichtigste ist dennoch übersehen und verfehlt.

Alle nur denkbaren Elemente des Staates, alle Gesetze, Institutionen usw., sind nru von  einer  Seite sichtbar und zu berechnen: jedes für sich hat wieder sein eigenes persönliches, geheimnisvolles Leben und seine eigentümliche Bewegung; die erschöpfendste Erkenntnis desselben in toter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der Staatskunst muß erst wieder in die gemeine Wirklichkeit, zur Erfahrung, zurück; er mußt das Gesetz, die Institution, eine Zeit lang im freien Leben und in freier Bewegung betrachten; es muß sich in ihm ein Gefühl vom Wert und der Bedeutung, wie von der wahren Anwendung des Gesetzes bilden, was mehr sagen will, als der gründlichste Uhrmacherverstand von der Sache. Wie alle höheren Wissenschaften, so auch die Staatswissenschaften: sie wollen  erlebt,  nicht bloß  erkannt  und  erlernt  werden. Das heißt nun, wie BURKE es verlangt, "die Jahrhunderte fragen", und hinein konstruieren in die Wissenschaft, während die Systeme der gelehrten Handwerker in unseren Zeiten - sie mögen an die Geschichte appellieren, wie sie wollen - doch nur aus  einem  Moment geschöpft, wie für  einen  Moment berechnet sind. -

Der Streit der Theoretiker und Praktiker, wie ich ihn hier dargestellt habe, ist nicht zu schlichten, und zwar vornehmlich deshalb nicht, weil beide ganz verschiedene Gegenstände im Auge haben: der eine ein ganz unbegrenztes Gedankenbild; der andere eine steife, abgeschlossene Wirklichkeit: der eine den entschiedensten Widerwillen gegen alle Schranken; der andere eine ebenso entschiedene Abneigung gegen alle Freiheit: der Theoretiker, weil auf jedem Schritt seines idealistischen Weges seine Forderungen an die Menschen und sein Pochen, auf die Alleinherrschaft der Vernunft ungemessener wird; der Praktiker, weil ihm, mit jedem Tag seiner Geschäftsführung, die Notwendigkeit notwendiger, und die Gewohnheit mächtiger erscheint. Ferner verändern sich auf den ganz verschiedenen Wegen ihre Organisationen, ihre anderweitgen Ansichten vom Leben und vom Menschen so, daß Beziehungen und Verständnis unmöglich werden, und bei jeder Berührung beide einander nur in ihrer Einseitigkeit bestärken können.

Dennoch aber stützt sich der Theoretiker auf die nicht zurückzuweisende Autorität des Geistes und der Vernunft; der Praktiker auf das ebenso ehrwürdige Recht der physischen Bedürfnisse und der Erfahrung. - Und zum Regieren der Völker brauchen wir beides, Geist und Erfahrung, einer gewissen Theorie und einer gewissen Praxis. Wo sollen wir ein Vorbild, ein Muster von einer gediegenen Allianz beider finden? Denn, wenn die wahre Theorie und die wahre Praxis ebenso feindselig gegeneinander gestellt sind, wie der Theoretiker und der Praktiker, so gibt es weder Staatswissenschaft, noch Staatskunst, und es ist dann eine bloße Täuschung, wenn man glaubt, daß die Völker regiert würden; dann macht sich das ganze bürgerliche Wesen, wie wir es ums uns her sehen, von selbst.

Heutigen Tages macht sich auch die ganze Sache, fast überall, von selbst: es sind wenige Stellen der Welt, wo eigentlich regiert wird. Wie wenige Staatsmänner sind auf der einen Seite der Zeit und den unerbittlichen, immer ungestümeren Forderungen der Gegenwart und des physischen Lebens gewachsen, d. h. wahrhaft praktisch und zugleich gefaßt auf die Zukunft, auf die Nachwelt, auf die edleren Bedürfnisse eines besseren Geschlechts, d. h. wahrhaft theoretisch! - Die  Einen,  die praktischen, sind Sklaven der Gewohnheit und kleben am  Alten, d. h. an seiner Schale,  weil der Geist des Altertums gerade die Seele befreit und entbindet: die Schlacken der Vorzeit hängen an ihnen wie Kletten; die  anderen,  die theoretischen, faseln dafür in die Zukunft hinein, träumen von neuen Zeiten, ganz neuen Zuständen der Dinge; und darüber versäumen beide die große ahnungsvolle Gegenwart. -

Wenn man uns doch einen Staatsmann zeigen wollte, der so ganz in der Gegenwart stände und dabei dennoch die Rechte der Vergangenheit zu schonen und der Zukunft ins Auge zu sehen wüßte, gleichviel, ob bei den Zeitgenossen oder bei früheren Generationen! Sein Bild wollten wir uns dann tief in die Seele drücken - nicht, um ihn nachzuahmen; denn das recht Große läßt sich nicht nachahmen; man kann nur, von seinem Geist erfüllt, wieder Großes, und ganz verschiedenartiges Großes, tun. Deshalb wähle ich, unter Vielen, einen Einzigen: nicht einen Zeitgenossen und noch Lebenden, weil wir sein ganzes politisches Leben übersehen müssen; nicht einen ganz Alten, damit seine Denkungs- und Handlungsweise uns ganz begreiflich sei; nicht einen Landsmann, damit die Verschiedenheit des Theaters, auf dem er regierte, vom unsrigen uns zwingt, den Geist seines Handelns zu begreifen und uns nicht etwa mit bloßem Festhalten und Aneignen der Äußerlichkeiten zu begnügen; endlich einen solchen, an den wir beständig mit Freiheit appellieren können, weil er in der bedeutendsten Handlung seines Lebens, in der Mißbilligung der Französischen Revolution, und in der Protestation dagegen, mit den jetzigen Machthabern von Europa übereinkommt - EDMUND BURKE. Seine Werke und sein Leben kann unser Jahrhundert aufzeigen, wenn das Zeitalter des HUGO GROTIUS, MACCHIAVELLI und WILLIAM CECIL uns fragt, ob wir Staatsmänner unter uns gehabt haben. Hier ist praktisches Leben, hier ist Geist und Theorie; Ehrfurcht, ungebundene, vor dem Altertum, freie Sorge für die Zukunft; hier erscheinen Staatsmann und Staatsgelehrter in  einer  Person, nirgends, wie bei so vielen, selbst vortrefflichen andern, der Geist einzeln, abgeschöpft wie ein Schaum auf  einer  Schüssel, und die Praxis einzeln, wie eine Hefe oder Bodensatz, auf einer  andern.  Seine Werke lassen sich nicht destillieren; es lassen sich von ihnen keine Begriffe abziehen, in versiegelten Flaschen aufbewahren, und, wie es in den gewöhnlichen Schulen der Staatswissenschaft geschieht, vom Lehrer auf den Schüler, vom Vater auf den Sohn, weiter geben. Ebensowenig lassen sich praktische Kunstgriffe von ihm lernen. Begreift man aber den wirklichen historischen Fall, von dem er spricht, so hat man zugleich seinen Geist begriffen; begreift man den Gedanken, der ihn bewegt, so sieht man denselben zugleich ausgedrückt im wirklichen Leben, richtig und gewaltig ausgedrückt. -

Der Staat und alle großen menschlichen Angelegenheiten habe es an sich, daß sich ihr Wesen durchaus nicht in Worte oder Definitionen entwickeln oder einpressen läßt. Jedes neue Geschlecht, jeder neue große Mensch gibt ihnen eine andere Form, auf welche die alte Erklärung nicht paßt. So eine steife ein und für allemal abgefaßte Form, wie die gemeinen Wissenschaften vom Staat, vom Leben, vom Menschen umherschleppen und feil bieten, nennen wir:  Begriffe Vom Staat aber  gibt  es keinen Begriff. -

Unsere Väter hatten vom Staat den Begriff, daß er eine Zwangsanstalt sei. Dann sind andere Zeiten gekommen und das Beste, das Wichtigste hat sich nicht erzwingen lassen: - wir haben uns andere Begriffe gebildet, die jedoch nicht standhalten können, weil der Begriff keine Bewegung hat, der Staat aber sehr viele, wie ich zu Beginn meiner Betrachtungen zeigte. -

Wenn sich der Gedanke, den wir von einem solchen erhabenen Gegenstand gefaßt haben, erweitert; wenn er sich bewegt und wächst, wie der Gegenstand wächst und sich bewegt: dann nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff der Sache, sondern  die Idee  der Sache, des Staates, des Lebens usw. Unsere gewöhnlichen Staatstheorien sind Anhäufungen von Begriffen und daher tot, unbrauchbar, unpraktisch: sie können mit dem Leben nicht Schritt halten, weil sie auf dem Wahn beruhen, der Staat lasse sich vollständg und ein für allemal begreifen; sie stehen still, während der Staat ins Unendliche fortschreitet. - Es gab z. B. in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute, welche sich bemühten,  Begriffe  von der Getreideausfuhr zu geben; alle diese Begriffe und darauf gebaute Vorschläge waren aber unbrauchbar und nicht auszuführen. Da erschien die genialische und doch so elegante und zierliche, Behandlung dieses berühmten Problems des Abbé GALIANI; und ein plötzliches Verstummen der alten, staatswirtschaftlichen Tonangeber und der Beifall von Frankreich und ganz Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte. GALIANI gab keinen Begriff, keine Verfahrensregel, aber die  Idee  des Getreidehandels; nichts Einzelnes davon konnte angewendet werden: denn GALIANI bewies eben, daß jede Regel nur auf einen bestimmten Fall anwendbar ist, daß es keine bestimmte Regel von bestimmten Fällen gebe und setzte den Staatswirt, der ihn verstand, in die klare und mutige Disposition, nun seinerseits zu tun, was nötig war. - Diesen wichtigen Unterschied zwischen der  Idee  und dem  Begriff,  auf den ich in jedem Abschnitt meiner Darstellung zurückkommen werde, zu erkennen, gibt es kein gefälligeres Mittel, als die Lektüre der "Dialogues sur le commerce des blés." -

So nun im großen, freien Stil, so  ideenweise,  lernt sich die Staatswissenschaft in BURKEs Werken. Weder vom bloßen Verstand ausgehend, noch bloß von der Not des Augenblicks und dem Drang der Umstände, sind sie eine ewig offene und doch freie Schule der Welt; der ganze Mensch, verflochten mit seinem Leben und allen seinen Schicksalen in die Schicksale der Welt und des Vaterlandes, spricht zum ganzen Leser, und reißt ihn mit sich fort in die Bewegung, indem er ihm den Mut und den Geist gibt, zu tragen, zu dulden, zu trotzen und zu helfen, zu bessern und weiter zu begeistern, wo es von nöten ist.

Der bestimmte Fall kommt nicht wieder, die Welt gebiert eine neue Erscheinung nach der anderen; aber der Geist der aus den Werken solcher Staatsmänner ausgeht, ist ewig, weil es kein abstrakter, abgezogener Geist, sondern ein lebendiger Geist ist, der nur begriffen wird, insofern man das zu ihm gehörige Fleisch, die damals reale und praktische Lage der Sachen, das heißt, die Theorie in der Praxis, zugleich mitbegriffen hat. Darum sind die Memoiren von SULLY, dem Kardinal RETZ, und von NOAILLES lehrreicher, als alle systematischen Handbücher der Staatskunst, weil sei beides, den Geist und das Faktum, als eins mit einem Schlag geben; weil  Bewegung in ihnen ist.  - Hat man sich in einem solchen Studium erstlich die Freiheit und dann die praktische Beweglichkeit erworben, welche die Politik verlangt: nun, dann mag der Schwarm systematischer und theoretischer Stubenstaatsmänner und vertrockneter Registraturenpraktiker kommen; jetzt, da sich schon ein Gefühl politischen Lebens und ein Kern unabhängiger Gesinnung in uns gebildet hat, sind jene einseitigen Figuren höchst lehrreich: denn erstlich wissen wir jetzt ihre lebenslose Weisheit mit eigener Kraft zu beleben; dann erhalten sie uns die Extreme gegenwärtig, in deren Mitte wir uns bewegen sollen, und bringen in uns den Gewinn, welchen wir von BURKE, SULLY und GALIANI davon getragen haben, zum Bewußtsein. - Soviel von BURKEs Schriften; und nun noch ins Besondere ein Wort von seinem Leben.

Als einen Abtrünnigen hat ihn die Zeit, haben ihn seine Freunde, unter FORs Anführung, ausgeschrieen, weil er die Partei der Freiheit im ersten Moment des Ausbruches der Französischen Revolution verließ, nachdem er sein ganzes vorheriges Leben hindurch auf ihrer Seite gestanden hatte. Eben in dieser seiner Apostasie [seinem Abfall - wp] kam es zum Vorschein, wie hoch er über den ganzen Troß seiner Freunde, vernehmlich FOR, GREY und ERSKINE, hervorragte. Er gab seine zwanzigjährige Freundschaft mit FOR an einem einzigen Tag auf, da es nun entschieden war, daß dieser es mit dem toten  Begriff  "Freiheit", und nicht mit der  Idee  derselben, zu tun hatte. In Frankreich raste dieser Begriff, und zerstörte alles Vorhandene, Geordnete; alles, wofür BURKE, neben seinem Gottesdienst der Freiheit, in seinem großen Herzen noch hinlänglichen Raum hatte. Er wollte nicht für einen toten Begriff eine lebendige Welt verschleudert sehen; er warf das ganze Gewicht seines Herzens und seiner Beredtsamkeit zur Ehre der  Idee  "Freiheit", in die Schale der königlichen Gewalt - damals, als noch die ganze Welt entweder im ersten Entsetzen vor der ungeheuren Begebenheit verstummte, oder im Taumel des Götzendienstes, vom Begriff der Freiheit befangen, der Nationalversammlung Beifall zujauchzte. Unter allem Tumult jenes Augenblicks war ihm der Charakter und die ganze künftige Bahn dieses Ereignisses so klar, wie er es in seinen berühmten "Betrachtungen über die Französische Revolution", sich selbst zum Zeugnis und allen kommenden Geschlechtern zur Lehre, niedergeschrieben hat.

Das nun ist die Gewalt der  lebendigen Idee,  und ihr erhabener Sieg über den toten Begriff! In einer ganz veränderten Welt, wie die vom Jahr 1790, findet sie sich auf der Stelle wieder; das Chaos selbst kann sie nicht verwirren: denn sie trägt die Seele aller Ordnung, den Mut des wahren Regierens, unüberwindlicher und unauslöschlicher in sich, als die eigene Lebensflamme. - Inzwischen zerreibt sich der trockene Begriff unter den Stößen der Zeit: das Schicksal treibt unerbittlich seinen Spott mit ihm, und verdreht ihn, daß zuletzt die Freiheit von der Tyrannei nicht mehr zu unterscheiden ist; es zwingt einen FOR, von sich selbst abtrünnig zu werden, während BURKEs freie Abtrünnigkeit jedem kommenden Geschlecht immer deutlicher im Licht wahrer Treue erscheint. - Alles, was im Staat oder im Leben nach Begriffen und Grundsätzen erbaut ist, vergeht im bewegten Fluß der Zeit. Welche Wirkung ist von allen gerühmten  Maximen  des Kardinals RICHELIEU jetzt noch übrig? Die  Idee  aber ist ewig; denn sie  ist,  sie  lebt. 

In ähnlicher Abtrünnigkeit vom Begriff zu Ehren der Idee erscheinen - damit ich noch einiger bekannten und leichteren Beispiele gedenke - der Kardinal-Erzbischof von Wien MIGAZZI, in seinem Übertritt von der Jansenistischen Partei zur Jesuitischen, gerade in dem Augenblick, und nicht eher, als bis die Jesuitische Partei allenthalebn unterdrückt wurde; - ferner JOHANN von MÜLLER in seiner glänzenden Jugend, als er, der in den Sinn jeder Partei, also auch der Aufgeklärten, einzugehen wußte, gerade zum Verteidiger der damals unterdrückten, der päpstlichen, wurde.

Im steifen Verharren auf dem Buchstaben gewisser Begriffe und Grundsätze liegt das Geheimnis der Treue und der Festigkeit nicht; wie sich ja überhaupt der erhabene Sinn weder des menschlichen, noch des politischen Lebens nicht in Worten und Buchstaben abfassen läßt. Nur in der Bewegung kann sich die Ruhe und die Treue zeigen; nur in der Beweglichkeit die Festigkeit des Herzens: denn ein Herz ist auf andere Weise ruhig, als ein Stein. Wie ruhig ist die Natur in aller ihrer ewigen Bewegung!

Demnach ist das, was ich unter Bewegung des Staates, und der ihr angemessenen Beweglichkeit des Staatsgelehrten, wie des Staatsmannes, meine, und auf welche Art ich die Idee vom Begriff unterscheide, so klar, wie es zu unerem weiteren gegenseitigen Verständnis nötig ist.
LITERATUR: Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, Berlin 1809