ra-2ra-3von TreitschkeC. FrantzW. HasbachBluntschli    
 
JOSEPH EÖTVÖS
Der Einfluß der herrschenden Ideen
des 19. Jahrhunderts auf den Staat


"Die politische Revolution genügt nicht mehr, es ist eine soziale, deren man bedarf. Wie man vor einem halben Jahrhundert sein Ziel verfehlt zu haben glaubte, wenn man außer dem Staat nicht auch die Religion, die ihm zur Stütze diente in seinen Grundfesten erschütterte, so ist es jetzt die Familie, der Besitz, alles worauf die menschliche Gesellschaft bis jetzt beruth, jedes Band, welches irgendetwas zusammengehalten hat und einer neuen Gestalt als Kern dienen könnte, was angegriffen wird."

"Wir müssen bekennen, daß sich in unserem Staatsleben zwar vieles verändert hat, doch daß wir von der Befriedigung ebenso weit entfernt sind, wie damals, wo man sich mit der Frage: wie der Staat eingerichtet werden soll? zuerst wissenschaftlich zu beschäftigen anfing. Jetzt wie damals wird der Staat als jener Teil des menschlichen Daseins betrachtet, welcher vor allem geordnet werden muß, wenn nicht alles darüber zugrunde gehen soll. - Ja seit einiger Zeit ist das Gefühl des allgemeinen Mißbehagens, die Überzeugung, daß die Einrichtung unserer Staaten eine fehlerhafte ist, noch allgemeiner geworden."

"Bacon ist von der [irrigen] Ansicht ausgegangen, es handle sich in Dingen, die den Staat betreffen, nicht so sehr darum die Wahrheit, als darum eine Übereinstimmung der Meinungen zu erreichen, weil die Menschen, auch wenn sie alle in derselben Täuschung befangen sind, recht gut miteinander auskommen können."


Vorwort

Obwohl man das Zeitalter, in dem wir leben, des gröbsten Materialismus zu beschuldigen pflegt, so muß doch eine ruhige Beobachtung dessen, was um uns geschieht, jeden davon überzeugen, daß kaum ein Jahrhundert in der Geschichte zu finden ist, wo ganze Völker alle Rücksichten ihres materiellen Wohlseins der Verwirklichung gewisser Ideen williger zum Opfer gebracht hätten, als wir dies in unserem Jahrhundert sehen. Es folgt hieraus, daß alle Bewegungen der Gegenwart nur dann verstanden werden können, wenn man über jene Ideen, die diese Bewegungen hervorgerufen und ihre Richtung bestimmt haben, ins Klare gekommen ist. Soll die Wissenschaft etwas zur Beruhigung der allgemeinen Aufregung leisten, so muß sie vor allem den Sinn, den man den Begriffen, für die sich unsere Zeit begeistert, beilegt, sie muß den Einfluß, welchen diese Begriffe auf alle Verhältnisse, besonders auf den Staat, ausüben, klar zu erkennen, und uns dann die Bedingungen, unter welchen die Verwirklichung dieser Begriffe möglich ist, zu zeigen suchen.

Dies ist es, was ich in diesem Werk versucht habe.

Die Aufgabe, die ich mir stellte, war ihrer Natur nach eine doppelte.

Vor allem mußte untersucht werden: in welchem Sinn man die herrschenden Begriffe  Freiheit, Gleichheit  und  Nationalität  bis jetzt zu verwirklichen gesucht hat, welche Resultate dieses Streben hervorbrachte und zu welchen Resultaten das Verfolgen derselben Richtung wahrscheinlich führen wird. Und diese Fragen sind es, mit welchen sich der erste Teil dieses Werkes beschäftigt.

Dann war zu zeigen: ob dieser Sinn der richtige, d. h. derjenige ist, in welchem diese Begriffe wirklich eine Herrschaft auf das Gemüt des Menschen ausüben; in welcher Bedeutung sich die Mehrheit der Menschen für diese Begriffe begeistert, d. h. in welcher Bedeutung man dieselben eigentlich als die herrschenden Ideen der Zeit betrachten kann; ob diese Verwirklichung derselben in dieser Bedeutung überhaupt, und durch welche Mittel sie möglich ist - Fragen, die ich im zweiten Teil zu lösen gesucht habe.

Ob ich meine Aufgabe gelöst, ob dieses Werk, welches für mich das Ereignis ernster Studien und ernster Erfahrungen ist, etwas zur Entwirrung der in den politischen Wissenschaften herrschenden Mißverständnisse beitragen kann, mögen Andere entscheiden. Nur des  Einen  bin ich mir bewußt, daß das Streben nach Wahrheit der einzige Zweck ist, den ich dabei befolgt habe, und daher glaube ich mich auch den Lesern gegenüber zu dem Ausspruch berechtigt, daß sie meine Arbeit rein als wissenschaftlichen Versuch und nicht als Parteischrift beurteilen.

Ich kann mich getäuscht haben: täuschen wollen habe ich sicher niemanden, und so mag dieses Buch zumindest auf das nicht so ganz gewöhnliche Verdienst Anspruch erheben, daß in zwei starken Bänden über Politik nicht eine Zeile enthalten ist, von der der Verfasser selbst nicht überzeugt wäre.



Einleitung

Die große Mehrheit der Menschen bedarf, um sich wohl zu befinden, vor allem der Ruhe. Wie sich die Erde auch da, wo einst Vulkane gewütet haben, wenn die gewaltsame Störung vorübergegangen ist, von selbst mit Grün und Blüten bedeckt, so die menschliche Gesellschaft. Die Tätigkeit des Einzelnen vermag den unwirtlichen Boden zu einem Garten umzuwandeln, und der Mensch baut sich ein wohnliches Haus, wenn auch der Platz, auf dem es stehen muß, noch so schief und unregelmäßig ist, wenn diese Tätigkeit nur nicht gestört wird, und der davon überzeugt sein kann, daß der Grund, auf dem sein Gebäude ruht, nicht wanken wird. Epochen großer Umwälzungen müssen daher immer Zeiten unnennbaren Unglücks für Tausenden von Einzelnen sein, und wenn man im Augenblick, wo die Freiheit errungen wurde, oft nichts als Klagen hört, und das Volk, nachdem es seine Ketten zersprengt, sich in jene Zeit zurücksehnt, wo es dieselben noch getragen hat, so geschieht dies nicht darum, weil der Mensch - wie man oft in einer Anwandlung von Unmut behauptet - zur Sklaverei geboren ist, sondern es beweist nur, daß, nachdem wir nun einmal, um uns glücklich zu fühlen, tätig sein müssen, wir auch dasjenige, wodurch jede nützliche Tätigkeit bedingt ist, nicht entbehren können, und daß in einer Zeit, wo man alles Bestehende stürzen, oder zumindest wanken hat gesehen, manches Große gewonnen werden mag, doch immer nicht so viel um all die kleinen Hoffnungen zu ersetzen, die jeder Einzelne bei solchen Gelegenheiten verlieren muß.

Wer die Geschichte kennt, urteilt anders. Er weiß, daß auch ein zu langer Friede seine Gefahren hat, und Völker Gewässern gleich, wenn sie nichts bewegt, in Fäulnis übergehenr weiß, daß die Menschheit - wie die Natur - auch der Stürme bedarf, und daß es ebenso töricht ist, über einzelne Verwüstungen, die sie zurückgelassen hat, allzusehr zu klagen, wie wenn man nach einem Sommergewitter über den Ästen, die es gebrochen und den Blüten, die es geknickt hat, vergessen würde, daß es die Luft reinigt, die Erde befruchtet hat, und daß es für einen morschen Baum, den es umstürzte, für eine Blüte, die es brach, den Samen von tausend Bäumen, Blüten und Halmen weithin verbreitet über die Erde, auf daß sie sich überall mit üppigem Grün und frischem Laub bedecke. Der Einzelne, dessen Haus vom Blitzstrahl getroffen wurde, oder der unter einem Baum, welchen der Sturm entwurzelt hat, sein ganzes Leben hindurch Schatten zur finden hoffte, mag über ein Ereignis, welches ihm so großen Verlust brachte, in Klagen ausbrechen. Die Spanne Lebens bietet ihm ja für die Hoffnung, seinen Schaden ersetzt zu sehen, nicht Raum genug; doch der, dessen geistiges Auge durch Übung an der Vergangenheit erstarkt, in eine weitere Zukunft sieht, wird in den Verwüstungen des Augenblicks bloß die Bedingung einer neuen schöneren Entwicklung erkennen, und freudig hebt sich seine Brust, wie jene des Schiffers, den Stürme umstoßen, wenn er die Überzeugung hat, daß sein Fahrzeug nicht untergehen kann.

Woher kommt es, daß dies in unserer Zeit nicht der Fall ist, daß jetzt selbst jene, die die Bewegung heraufbeschworen haben oder ihr wenigstens hoffnungsvoll entgegensehen, sich nun von ihr mit Bangen abwenden, daß eben in den Reihen derjenigen, die ihren eigenen Vorteil dem des Ganzen oder zumindest dem Ruhm etwas Großes vollbracht zu haben, gerne aufopfern, nun eine fast größere Entmutigung eingetreten ist, als wir sie beim Volk selbst finden?

Es konnte ihnen nicht unbekannt sein, daß man die Fluten nicht aufregt, ohne daß viel Schmutz, der in der Tiefe ruhte, zur Oberfläche kommt, und daß im Kampf um die reinste Wahrheit immer Erscheinungen stattfinden, von denen man sich mit Ekel abwendet. - Auch gekränkte Eitelkeit kann diese Erscheinung nicht erklären. Weiß man ja doch, wie auch die trübste Welle im Augenblick, wo sie über den Felsen stürzt, rein und glänzend erscheint, und daß in Momenten großer Aufregung auch das Unreinste herrlich erscheinen kann; - wer wird in Tagen, wie den unseren, den Gefeierten einer Stunde um den kurzen Glanz beneiden, der doch, sowie sich die Flut beruhigt hat, verschwinden muß.

Es hat Zeiten gegeben, wo die Aufregung in Europa scheinbar noch allgemeiner war, als sie es jetzt ist. Die Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts hat sich auch auf jene Länder erstreckt, an denen die Ereignisse der jüngsten Zeit äußerlich spurlos vorbeigegangen sind und selbst in der Geschichte jener Staaten, die jetzt am meisten gelitten haben, finden wir Momente, die, wenn man nur die Störung der öffentlichen Ruhe und die damit verbundenen materiellen Leiden betrachtet, uns ein weit traurigeres Bild, als das der Gegenwart bieten. Der 30-jährige Krieg in Deutschland, die Kämpfe der  Ligue,  und die Widerrufung des Edikts von Nantes haben mehr Existenzen zerstört, haben schauderhaftere Folgen hervorgebracht, als die letzten Umwälzungen. Auch ist das Volk mit jenen, die seiner Dankbarkeit am würdigsten waren, nie anders verfahren als jetzt, und es ist gut für den Ruhm wirklich großer Männer, wenn sich der Haufen von ihnen zurückzieht, auf daß die Zukunft den Alleinstehenden in seiner ganzen Gestalt erkennen kann. Der Grund der allgemeinen Entmutigung, welche wir eben in den Reihen derjenigen wahrnehmen, die dem Volk als Führer dienen sollten, ist in anderen Ursachen zu suchen. Nicht die äußeren Erscheinungen, sondern vielmehr die ganz eigentümliche Art unserer Bewegungen müssen uns dieselbe erklären.

Der Kampf um die Staatsgewalt ist so alt, wie diese Gewalt selbst, und wenn PROUDHON recht hat, wenn er behauptet, jeder bürgerliche Gesellschaft habe damit begonnen, daß die Menschen eine Autorität unter sich konstituierten, so kann man behaupten, daß die Versuche, den Staat zu erschüttern, bis zur Entstehung der Staaten zurückreichen. Doch wie oft und heftig die Staatsgewalt auch angegriffen wurde, so ist es doch immer im Namen von Menschen oder Prinzipien geschehen, die sich an die Stelle der Bestehenden setzen wollten. Man wollte die Leitung der bürgerlichen Gesellschaft anderen übertragen, wollte die Bahn, die sie bisher verfolgt hat, verändern - aufheben wollte sie niemand. Jede Partei bot der bemühte sich zumindest der Gesellschaft jene Garantien der Ordnung zu bieten, ohne welche dieselbe nicht bestehen kann. Auch hat es vom Untergang des römischen Reiches an keine Zeit gegeben, wo nicht im Gedränge der Bewegung irgendetwas fest stehen geblieben wäre, an dem sich das Übrige, auch wenn es zusammengestürzt ist, wieder aufrichten konnte. Mitten in der größten Verwirrung des Mittelalters vollendete sich das Gebäude der Kirche, in dem die Humanität ihre Zufluchtsstätte finden konnte; auf der Grundlage des Raubes entwickelte sich der soziale Begriff des Besitzes, der zum Fundament der neuen Gesellschaft werden sollte, und ihr vom ersten Augenblick an einen Halt gab, und als in der Kirche namenlose Verwirrung einriß, war der Staat schon fest konstituiert, und durch ihn wurde es verhütet, daß die freie Forschung nicht alle Bande, die die Menschen in religiösen Gemeinschaften zusammenhielten, zerreißen konnte und sich die Christenheit, wenn auch getrennt wieder in feste Gemeinschaften zusammensetzen mußte, um später - wie in England während der Kämpfe des siebzehnten Jahrhunderts - in Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg der bürgerlichen Gesellschaft als Stützpunkt zu dienen. Und wie heftig, ja rasend man das Bestehende auch in anderen Zeiten angriff, so haben demselben doch nie seine Verteidiger gefehlt, die für dasselbe mit eben der Hingebung in den Kampf traten, weil auch sie dieselbe Überzeugung des Rechts, dasselbe Bewußtsein eine heilige Pflicht zu erfüllen beseelte, wie ihre Gegner.

Alle diese Umstände, worin der Freund der Ordnung und Gesittung auch in der aufgeregtesten Zeit Trost finden könnte, fehlen in unseren Tagen.

Es ist nicht eine gewisse Form der bürgerlichen Gesellschaft, nicht die Regierung gewisser Männer oder Grundsätze, es ist vielmehr das Bestehen einer bürgerlichen Gesellschaft, es ist das Recht irgendeiner Regierung überhaupt, welches man angreift. Die Zeit, in welcher man es offen aussprechen kann, "daß die Gesellschaft ihrer Natur nach unregierbar sein soll, und daß jeder, der es zu regieren unternimmt, als Usurpator und Tyrann betrachtet werden muß, den man für seinen Feind erklärt", wo man behaupten darf, "daß mit der Mündigkeit des Menschen jede Regierung aufhören muß", (1) und wo man nach solchen Äußerungen von vielen für einen Apostel der Wahrheit, von allen für einen zumindest höchst ausgezeichneten und gefährlichen Menschen gehalten werden kann; eine solche Zeit ist weit über die Grenzen hinausgegangen, in welcher sich auch die größten Umwälzungen sonst bewegten.

Nach sechzig Jahren beinahe ununterbrochener Revolutionen, wo man immer nur darauf bedacht war, wie man die Sieg möglichst vollständig macht und seine Gegner vernichtet; wo jede Partei mehr die Falschheit der Grundsätze seiner Widersacher, als die Wahrheit der eigenen sucht, wo jede mehr um den Besitz der Gewalt als darum besorgt war, sie vernünftig zu gebrauchen; wo jede Gewalt immer alles getan hat, was sie für möglich hielt, ohne zu bedenken, daß für die Dauer nur dasjenige möglich ist, was man als Recht erkennen kann, bis die Gewalt von einer Hand der anderen entrissen, zehnmal zerbrochen und wieder zusammengeleimt, schließlich alle Stärke verloren hat, und das Volk, nachdem es im Namen der ewigen Gerechtigkeit alles, was es früher für Recht hielt, mit Füßen getreten sah, schließlich den Maßstab, mit dem es über die Gerechtigkeit einzelner Handlungen urteilen soll, verloren zu haben scheint, äußert sich der Zweifel immer lauter: ob denn alle diese Anstrengungen nicht nutzlos, ob nicht die Hoffnung, durch die veränderte Staatsverfassung die Verhältnisse der Menschen zu bessern, ein eitles Gaukelspiel gewesen ist, die sich dadurch den Weg zur Gewalt bahnen wollten, um sie dann zum eigenen Vorteil auszubeuten? Die politische Revolution genügt nicht mehr, es ist eine soziale, deren man bedarf. Wie man vor einem halben Jahrhundert sein Ziel verfehlt zu haben glaubte, wenn man außer dem Staat nicht auch die Religion, die ihm zur Stütze diente in seinen Grundfesten erschütterte, so ist es jetzt die Familie, der Besitz, alles worauf die menschliche Gesellschaft bis jetzt beruth, jedes Band, welches irgendetwas zusammengehalten hat und einer neuen Gestalt als Kern dienen könnte, was angegriffen wird. - Die Menschheit soll neu geschaffen werden, es ist nicht genug, daß man zum Chaos zurückkehrt, alles muß in seine Atome aufgelöst werden, und schon ist die Zeit da, wo man für borniert gilt, wenn man das nicht einsehen will, und wo unbezweifelt republikanische Ansichten niemanden vor dem Namen eines Reaktionärs schützen, und das allgemeine Stimmrecht seine Vertreter nicht in den Reihen derjenigen sucht, die dieses Recht erkämpft haben, sondern wo man, um der Mehrheit zu gefallen, die Liebe zur Familie als einen Verrat an der allgemeinen Brüderlichkeit, den Besitz zu einem Diebstahl erklären muß.

Und während man das rechtliche Bestehen jeder bürgerlichen Ordnung leugnet, während alle Grundfesten der Gesellschaft wanken und nichts unangegriffen bleibt, was, wenn der große Bau zusammenstürzt, als Mittel, um einen neuen aufzurichten, dienen könnte, steht da die Gesellschaft nicht wehrloser als sie es je gewesen ist, verzagt noch vor dem Kampf, gleichsam ohne Verteidiger?

Wenn man die Progression, in welcher die Partei des Umsturzes sich in den letzten Jahren ausgebreitet hat, betrachtet, so mag uns allerdings für einen Augenblick bange werden, doch ist es sicher nicht die Zunahme der antisozialen Parteien, die uns ernste Besorgnisse einflößen kann. Wenn auch all die Stimmen, welche man in Frankreich für sozialistische Kandidaten abgegeben hat, nach reiflicher Überlegung und vollem Selbstbewußtsein in die Wahlurne geworfen worden sind, wenn jene, die mit der gegenwärtigen Verwaltung unzufrieden sind, die Opposition unterstützt haben, auch wirklich den Umsturz der Gesellschaft zum Zweck hatten - was doch offenbar nicht anzunehmen ist - so befindet sich diese Partei doch noch immer in der Minderheit und niemand täuscht sich hierüber weniger, als die Partei selbst, die, wenn sie die Hoffnung hätte, bald eine Majorität zu erlangen, sicher das beste Mittel dazu nicht vernachlässigen könnte, und wie andere politische Parteien fest behaupten würde, sie habe dieselbe schon erlangt, während sie doch gerade das Gegenteil tut. (2)

Die wahre Gefahr ist vielmehr in den Ansichten und Handlungen jener Partei oder besser gesagt, jener unendlichen Mehrheit zu suchen, die das Bestehende erhalten will, und wer die Ereignisse der jüngsten Zeit aufmerksam beobachtet hat, kann sich hierüber nicht täuschen.

Die große Umgestaltung aller Verhältnisse im Jahre 1848 hat einen eigentümlichen Charakter, den wir in der Geschichte kaum bei einem anderen Ereignis gleicher Größe wiederfinden. Man begründet in Frankreich eine Republik, ruft in Deutschland eine Parlament zusammen, welches für alle Länder des weiland römischen Reiches Gesetze machen soll, mit einer Allgemeinheit, wie sie keiner anderen Gewalt in diesem Land je zugekommen ist, erhebt sich in Italien gegen die Fremdherrschaft und jede absolute Gewalt, hebt in der österreichischen Monarchie alle Reste mittelalterlicher Institutionen plötzlich auf, die Gleichheit vor dem Gesetz, die freie Presse und das Vereinsrecht, die Aufhebung aller konfessionellen Bevorzugungen, aller Zünfte und Privilegien, ja selbst eine bedeutende Veränderung des ganzen Besitzstandes, indem man da, wo bäuerliche Verhältnisse bestanden, dieselben aufhebt, und hierdurch allen größeren Grundbesitzern einen Teil ihrer Einkünfte entzieht, für welche sie in einer unbestimmten Zukunft entschädigt werden sollen, - all dies geschieht in wenigen Tagen, und ohne daß man im Ganzen eine andere Aufregung als die allgemeine Freude bemerken würde. Was am 4. August 1789 für Frankreich geschehen ist, geschah nun für einen großen Teil Europas, und so groß der Verlust für sehr viele auch gewesen ist, erhebt sich doch kaum eine Klage über das, was geschehen war. - Wie wenn das Gestade, welches der Strom lange unbemerkt unterwaschen hat, auf einmal einstürzt, und durch die Flut verschlungen wird, so geschah es hier. Als das, was Jahrhunderte Bestand hatte, verschwand, waren auch fast seine Spuren verloren, kaum schien es begreiflich, wie vor kurzem eine so ganz andere Ordnung der Dinge hat bestehen können, da diejenigen, die sie aufrechterhielten, sich so auf einmal mit der Veränderung zu befreunden schienen. Wo sollen wir den Grund dieser höchst auffallenden Erscheinung finden?

Ist dasjenige, was geschehen ist, als natürliche Entwicklung der bestehenden Verhältnisse zu betrachten, können wir sagen, daß dasjenige, was so viele Völker so leicht errangen, eine längst gereifte Frucht war, die bei der ersten leisen Berührung zu Boden fallen mußte? - Wer die Verschiedenheit des Kulturzustandes jener Völker, welche an den Errungenschaften des Jahres 1848 teilgenommen haben, betrachtet, wird dies nicht behaupten, auch müßte dasjenige, was seit dem geschehen war, jeden enttäuschen. Nie hat sich der Satz, daß nur dasjenige, als vollbrachte Tatsache zu betrachten ist, was den Begriffen der Zeit entspricht und ein notwendiges Ergebnis der Verhältnisse ist, mehr bewahrheitet als hier.

Oder war es eine überwiegende Mehrheit, welche eine so große Umwälzung in allen diesen Staaten vollbracht hat? Auch das wird niemand sagen, nachdem in Frankreich selbst jene, die an der Spitze der Bewegung standen, und in deren Interessen es liegt, dieselbe als das Werk einer großen Mehrheit darzustellen, offen bekennen: dieselbe sei durch eine verhältnismäßig kleine Minderheit ohne Teilnahme ja selbst gegen die Wünsche der Mehrheit vollbracht worden. Dasselbe können wir von anderen Ländern sagen. Nirgends war es das Volk, welches die Initiative der Veränderungen ergriff, an vielen Orten mußte es für dasjenige, was man überall, ohne es zu fragen, bestimmte, erst gewonnen werden.

Nicht weil es die Verhältnisse so mit sich brachten, nicht weil es eine unwiderstehliche Mehrheit gebot, ist das Bestehende in den Staub gesunken.  Die wahre Ursache, die einzige, liegt darin, daß es niemand zu verteidigen wagte.  Und man wagte es nicht, das Bestehende zu verteidigen, weil diejenigen, in deren Beruf und Macht es lag,  nicht an ihr Recht glaubten,  weil sie das Gebäude, das sie schützen sollten, selbst für so baufällig gehalten haben, daß sie dasselbe bei der ersten Erschütterung verließen und es preisgaben.

Wenn es je ein großes Ereignis gab, welches nicht einer großen Tat, sondern bloß einer großen Schwäche zuzuschreiben ist - und die Weltgeschichte erzählt uns viele solche Ereignisse - so ist es dieses, und nie hat sich ein Sieger mehr über das Ergebnis seines Angriffes verwundert, als hier, wo bloß diejenigen, die man besiegt, im Voraus davon überzeugt waren. Was in den letzten Jahren geschah, ist nur ein Beweis, daß die Staatsgewalt ein Meer ist, wo derjenige, der den Glauben verloren hat, untergeht, und politische Kämpfe oft Gottesurteilen gleichen, bei denen derjenige, der ohne Überzeugung in die Schranken tritt, auch dem Schwächeren unterliegen muß.

Oder wie will man es sonst erklären, daß Länder, wo jene Verhältnisse, welche nach der Behauptung einiger die Revolution erzeugt haben sollen, in höherem Maße bestanden, von jeder Umwälzung freigeblieben sind? Mitten im zunehmenden Wohlstand und ohne daß irgendetwas den nahenden Sturm verkündet hätte, sind so viele Staaten einer plötzlichen Umgestaltung entgegengegangen; warum hat Belgien mit einer Bevölkerung von 7000 Einwohnern auf die Quadratmeile den Sturm ohne zu wanken überstanden, warum ist England, wo doch die Übel des Industrialismus viel größer sind, warum in Irland mit den drückendsten landwirtschaftlichen Verhältnissen die öffentliche Ruhe nicht gestört worden, nachdem doch hier die Partei der Chartisten [Reformer - wp], dort die Zahl der Repealer [Liberale - wp] sicher im Vergleich größer ist, als es jene der Sozialisten und Republikaner im Februar 1848 in Frankreich war? Wie sollen wir diese Erscheinungen erklären, wenn wir die Ursache des Erlebten nicht vielmehr in den Handlungen und besonders den Überzeugungen jener, die regieren, als in jenen des Volkes suchen wollen.

Ideen wirken nicht bloß auf jene, für die die Folgerungen, die man daraus ziehen kann, günstig sind. Ihr Einfluß ist ein allgemeiner, ja er ist bei jenen, die sich durch dieselben in ihrer Stellung bedroht sehen, fast immer am mächtigsten. - Auch mit den Ideen unseres Jahrhunderts ist dies der Fall. - Die Begriffe der  Freiheit  und  Gleichheit,  die Überzeugung, daß es unrecht ist, wenn der Staat gewisse Klassen seiner Bürger zum Nachteil anderer bevorzugt, ist vielleicht weniger allgemein ins Volk gedrungen, als man glaubt. Die große Mehrzahl der Bewohner Frankreichs war es sich schwerlich klar bewußt, daß eine Verfassung, welche das Prinzip der Gleichheit als Hauptgrundsatz anerkennt und die die Ausübung der politischen Rechte auf ein Hundertstel der Bevölkerung beschränkt hat, den größten Gegensatz in sich selbst enthält, und daß ein Königtum, welches außer dem Willen des souveränen Volkes keine Grundlage besitzt und seinen eigenen Willen dem derjenigen, die man  fictione juris  für das Volk hält - der Wähler - zu substituieren bemüht ist, sich selbst untergräbt. - Doch auch wenn die große Mehrheit des Volkes hierüber auch im Dunkeln war, die höheren Klassen der Gesellschaft waren es sicher nicht. Wie die Begriffe der  Gleichheit  und  Volkssouveränität  für eine große Mehrheit derselben längst zur theoretischen Überzeugung wurden, so waren es eben die Staatsmänner in Frankreich, die die Unhaltbarkeit der bestehenden Verhältnisse einsahen. Es war ihnen bekannt, daß alle jene Mittel, die so viele Verwaltungen seit der Julirevolution angewendet hatten, um die Staatsmaschine in ihrer Richtung zu erhalten, die Grundlagen derselben erschütterten, daß mancher große Minister, der sich durch Bestechungen seinen Einfluß gesichert hat, nicht anders verfährt, als der Bach, wenn er, indem er die Räder der Mühle treibt, zugleich ihre Fundamente unterwäscht; kein Staatsmann konnte sich darüber täuschen, daß die Gesetzgebung, die dem Thron als Stütze dienen sollte, so oft als Waffe gebraucht wurde, daß sie im Kampf verletzt niemandem mehr als Stützpunkt dienen kann; und als nun im Namen des Volkes einige Tausende gegen das Bestehene auftraten, zog man sich zurück, nicht weil man unvermögend war, zu widerstehen, sondern weil man es im Gefühl seines Unrechts nicht einmal zu versuchen wagte.

Soll es verwundern, wenn unter diesen Verhältnissen auch den Kühnsten bange wird, wenn derjenige, der mit der Gegenwart unzufrieden keinen Sturm scheut, um bessere Verhältnisse hervorzubringen, nun oft fast hoffnungslos in die Zukunft blickt, von der er nichts als neue Zerstörungen erwarten kann?

Wohl scheint das Ungewitter, welches alle erschreckt, vorbeigezogen zu sein, die materielle Bewegung ist mit materieller Kraft unterdrückt, und wenn man auch manches nicht wieder aufzurichten vermag, so sucht man sich doch das Übrige, was man wanken sah, wieder wohnlich einzurichten. Die Ursachen, die die Ereignisse der jüngsten Zeit herbeiführten, bestehen übrigens jetzt wie ehedem, und wer wird es leugnen, daß sie früher oder später dieselben Resultate erzeugen können? Man hat den Aufruhr in den Straßen besiegt, doch in den Geistern besteht er fort. Nicht ein einziger jener Zweifel, die man gegen die Rechtmäßigkeit des Bestehenden erhoben hat, ist durch die großen Ereignisse der letzten Jahre gelöst worden. Ist denn die französische Revolution nur dazu bestimmt, Zweifel und Täuschungen zu erzeugen, nur dazu, ihre Triumphe mit Ruinen zu bedecken - klagt GUIZOT (3) in der Bitterkeit seines Herzens. - Sucht doch, sucht nur in dieser Gesellschaft, die ihr seit 1789 so oft zerstört und wieder aufgebaut habt, etwas, was ihr noch zerstören könnt und ich verbürge mich, daß ihr außer dem Eigentum nichts finden werdet (4), ruft THIERS triumphierend aus. Sind nicht alle Grundsätze, alle Rechte, alle Begriffe über die Gewalt und Freiheit seit dem 22. Februar verwirrt, haben LOUIS BLANC und CAUSSIDIÈRE oder ihre fanatischen Angreifer je gewußt, was sie taten? frägt PROUDHON (5) und wer wagt es ihm zu antworten? - Wie fern sich die Parteien auch stehen, wie sehr sie sich gegenseitig anfeinden mögen, das wird keine leugnen, äußert sich BARAUTES (6) - daß die Unordnung überall verbreitet ist, die Unruhe sich aller Gemüter bemächtigt hat, daß von der höchsten Stufe der Gesellschaft bis zu ihrer letzten Armut die Allgemeinheit der Interessen in Frage gestellt, Angriffe auf alle gemacht hat und keiner etwas anderes als Leiden für die Gegenwart und düstere Ungewißheit für die Zukunft übrig geblieben ist, daß es keine andere Politik, keine anderen nationalen Gedanken mehr gibt, als die persönlichen Kümmernisse, und die öffentliche Meinung nichts ist, als der einmütige Ruf nach der Rückkehr des besseren Zustandes der Privatinteressen.

Und wird die in ihrem Inneren durchwühlte Gesellschaft im Fall eines neuen Angriffs demselben besser widerstehen können, als vor zwei Jahren? Man wird jede gewaltsame Störung der Ruhe zu unterdrücken wissen. Die Staatsgewalt ist überall gerüsteter, als sie es damals war, und wird die Zügel der Regierung nicht zum zweiten Mal aus Überraschung fallen lassen. Große Heere verbürgen die öffentliche Sicherheit. Doch wenn man den Aufruhr niederkämpft, wenn man die Ordnung auf diese Art hergestellt hat, ist es wohl die Gesellschaft, die sich ihre Rettung selbst zu verdanken hat? ist es der Glaube an das eigene gute Recht, die Überzeugung, daß das Bestehende wirklich gut und zweckmäßig ist, dem man den Sieg zu verdanken hat?

Wohl wird man gegen die Feinde der öffentlichen Ordnung zu Felde ziehen, der für sein Haus, jener für sein Gewerbe oder seine Kapitalien, alle, weil sie dasjenige, was man begründen will, für unmöglich halten, oder vor einer ungewissen Zukunft zurückschaudern - für den Staat selbst wird kaum einer von Tausenden in die Schranken treten. Man bekämpft den Umsturz, doch nur damit es nicht noch schlimmer wird; man will die offenen Feinde der Verfassung vernichten, um nicht die Möglichkeit, sie nach eigenem Gutdünken zu verändern, auf immer zu verlieren. Wer wird glauben, daß Verhältnisse, von deren Zweckmäßigkeit fast niemand überzeugt ist, Republiken, die zur Monarchie, Monarchien, die zur Republik als Übergang dienen sollen, eine Gesellschaft, die an ihrer eigenen Berechtigung zweifelt, den Angriffen so kühner Feinde lange widerstehen können? Wer sieht es nicht ein, daß, so oft man auch im Namen der Gesellschaft siegen mag, der Sieg immer nur eine Vorbereitung zu einem neuen Kampf sein muß, nachdem der Angriff auf die Gesellschaft als notwendige Folge jener Verhältnisse zu betrachten ist, für deren Erhaltung man gekämpft und gesiegt hat - und daß die bürgerliche Gesellschaft auf diesem Weg dahin kommen muß, worin sich nach HOBBES' bestrittener Ansicht die Menschen im Naturzustand befanden, zu einem ewigen Krieg aller gegen alle, worin die Gesellschaft vielleicht immer siegen wird, doch nur, nachdem sie ohne Unterlaß zu kämpfen gezwungen war?

Wenn man nun statt unnützer Klagen, bei denen sich am Ende doch höchstens stilistische Verdienste erwerben lassen, die wahre Lage der Dinge ruhig ins Auge faßt, um erst das Übel ganz zu erkennen, ehe man für dasselbe ein Mittel der Abhilfe sucht, sind es zwei Erscheinungen, die unsere Aufmerksamkeit vor allem in Anspruch nehmen.

Erstens.  Die Allgemeinheit dieser Verhältnisse im ganzen Westen Europas.  (7)

Zweitens.  Daß alle Mittel, welche man zur Verbesserung angewandt hat, bis jetzt zu keinem befriedigenden Resultat geführt haben. 

Aus ersterem folgt,  daß wir die Ursache der Übel unserer Zeit nicht in den besonderen Verhältnissen einzelner Staaten zu suchen haben, sondern daß ihnen etwas zugrunde liegen muß, was allen Staaten, wo wir sie wahrnehmen, gemeinsam ist. 

Das Letztere muß uns überzeugen,  daß der Weg, auf dem man bestehenden Übeln abzuhelfen versucht hat, nicht der richtige sein kann. 

Wenn wir nun die Frage stellen, worin dasjenige besteht, was allen jenen Staaten, auf welche sich die Bewegung ausdehnt, gemeinsam ist? kann die Antwort nicht schwer sein.

Wie keine Institution, so hat auch die katholische Kirche ihr Ziel nicht vollkommen erreicht. Der erhabene Gedanke aller größeren Päpste, die Christenheit unter der geistigen Leitung eines ohne Rücksicht auf Stand oder Geburt gewählten Oberhauptes durch gemeinsame Gesetze zu einem großen Ganzen zu vereinen, ist nie vollkommen verwirklicht worden. - Wie auch die erhabendste Idee, wenn man sie zu verkörpern sucht, auf Augenblicke wenigstens in den Staub gezogen wird, und jede Institution, die um ins Leben zu treten, der Menschen bedarf, nicht von den Fehlern ihrer Zeit frei bleiben kann, so ist dies auch mit dem Papsttum geschehen; so streng man übrigens über die Fehler desselben urteilen mag, eines bleibt gewiß,  daß das Papsttum alle Völker, über die es einmal geherrscht hat, geistig zu einem Ganzen vereinigt hat.  Die große Kirchenspaltung des sechzehnten Jahrhunderts hat das kirchliche Band, das einst alle Völker des Westens umschloß, äußerlich zerrissen; einzelne sind schneller, andere langsamer vorangeschritten, doch wie das Papsttum den Begriff einer legalen wenn auch bloß passiven Resistenz der geistigen Gewalt, gegenüber der materiellen Willkür allen diesen Völkern verkündet, und mit ihm den Keim bürgerlicher Freiheit bei allen niedergelegt hat, so sind sie auch alle in ihrer späteren Entwicklung geistig verwandt geblieben, und wenn sich die Bewegung unserer Zeit bloß auf jene Völker beschränkt, die einst dem Schoß der römischen Kirche angehört haben, wenn keines derselben von der allgemeinen Aufregung frei geblieben ist, so ist es eben  die Gemeinsamkeit der Geistesrichtung und die durch die Identität der Begriffe, von welchen sie ausgegangen sind, bedingte Einheit aller,  die uns diese Erscheinung erklären müssen. An Lage und Verhältnissen, an Größe und Macht in ihrer Geschichte und gegenwärtigen Stellung gleicht keines der westlichen Völker den andern. Die Grundlage ihrer Zivilisation ist ihnen allen gemeinsam, und wenn wir von Portugal bis Polen, von Siebenbürgen bis über den atlantischen Ozean bei Völkern, die auf ganz verschiedenen Kulturstufen stehen, und die sich oft Jahrhunderte lang angefeindet haben, überall eben was die wichtigsten Beziehungen des Lebens betrifft, dieselben Begriffe wiederfinden, so muß wohl auch dasjenige, was in den Verhältnissen dieser Völker identisch ist, im einzigen gesucht werden, worin sie nicht voneinander abweichen, nämlich in gewissen  Begriffen,  die ihnen allen gemeinsam sind.

Ist diese Ansicht richtig, und hat man sich davon überzeugt, daß man nie mehr und ernster damit beschäftigt war, alle Verhältnisse den herrschenden Begriffen der Zeit anzupassen, und dadurch jene Übel, welche aus dem Gegensatz zwischen dem Begriff und der Wirklichkeit immer entstehen, zu beseitigen, als eben jetzt, so kann nur eine von zwei Möglichkeiten angenommen werden.

Entweder muß der Irrtum in den Begriffen selbst - oder er muß in ihrer Anwendung liegen. 

Entweder ist der ganze Entwicklungsgang der christlichen Zivilisation nichts als eine lange Verirrung, wodurch die Menschheit zu einem Resultat gekommen ist, welches nicht zu verwirklichen sein dürfte;

Oder die ganze Wissenschaft und Staatskunst haben sich getäuscht, indem die die herrschenden Begriffe mißverstanden haben und die Lösung ihrer großen Aufgabe den Staat der Vernunft - das heißt der Überzeugungen der Staatsglieder - gemäß einzurichten, auf einem falschen Weg versucht haben.

Es ist unmöglich ein drittes anzunehmen, und so groß die Verehrung vor jenen, die sich mit den Staatswissenschaften in den letzten Jahrhunderten beschäftigt haben, auch ist, so gern man sich vor der Einsicht so vieler Staatsmänner und Staatskünstler, die die Ergebnisse der Wissenschaft ins Leben zu führen gesucht haben, auch beugen mag, so wird niemand die erstere Möglichkeit annehmen wollen ehe er die letztere wohl geprüft zu verwerfen gezwungen ist, besonders nachdem dasjenige, was wir erfahren, ganz dazu geeignet scheint, das blinde Vertrauen, mit welchem man die Ergebnisse der Wissenschaft anzunehmen gewohnt war, wankend zu machen.

So weit die Geschichte zurückreicht, finden wir keine Zeit, wo die Wissenschaft einen so unbedingten Einfluß auf den Staat ausgeübt hätte wie jetzt. Wie die erste französische Konstituante ihr Verfassungswerk mit der Erklärung der Menschenrechte begann, und hiermit die Ergebnisse der Staatswissenschaften als dasjenige aufgestellt hat, was durch die Verfassung ins praktische Leben eingeführt werden sollte, so ist man seitdem überall auf derselben Bahn forgeschritten. In vielen Ländern war die Leitung des Staates Männer übergeben, die zugleich in der Wissenschaft vorangingen, anderwärts bemühte man sich, ihrem Beispiel zu folgen. Die unbefriedigenden Resultate müssen daher notwendig auch gegen die Wissenschaft, welche bei allen Versuchen als Leuchte gedient hat, Zweifel erregen, und zwar umso mehr, wenn man die Resultate betrachtet, die der menschliche Geist in derselben Zeit, wo er sich an einer zweckmäßigen Einrichtung des Staats nutzlos abgemüht hat, auf einem anderen Gebiet des Wissens erreicht hat.

Während sich viele ausgezeichnete Geister mit der Frage beschäftigten, wie der Staat zum Wohl der Gesamtheit eingerichtet werden kann, haben andere die verborgenen Kräfte der Natur zu erforschen und dieselben zum Wohl der Menschheit zu gebrauchen gesucht, und welcher Unterschied tritt uns entgegen, wenn wir die Resultate dieser Tätigkeit auf beiden Gebieten untersuchen?

Kein Jahr vergeht, wo in den Naturwissenschaften nicht die bedeutendsten Entdeckungen gemacht werden. Wie ein Eroberer, dem nichts widerstehen kann, schreitet der menschliche Geist immer weiter, die Geheimnisse der Natur erschließen sich seiner Macht und die verborgenen Kräfte der materiellen Welt sind ihm dienstbar geworden.

Auf dem Gebiet der Staatswissenschaften finden wir das Gegenteil.

Tausende von Bänden sind geschrieben, alte Grundsätze sind fünfzigmal in neue Formen gegossen, als große Entdeckungen verkündet worden, doch wenn bei praktischen Wissenschaften - worunter die Staatswissenschaft doch sicher zu zählen ist - nur dasjenige als Fortschritt betrachtet werden kann, was praktische Resultate hervorgebracht hat, so müssen wir bekennen, daß sich in unserem Staatsleben zwar vieles verändert hat, doch daß wir von der Befriedigung ebenso weit entfernt sind, wie damals, wo man sich mit der Frage: wie der Staat eingerichtet werden soll? zuerst wissenschaftlich zu beschäftigen anfing. Jetzt wie damals wird der Staat als jener Teil des menschlichen Daseins betrachtet, welcher vor allem geordnet werden muß, wenn nicht alles darüber zugrunde gehen soll. - Ja seit einiger Zeit ist das Gefühl des allgemeinen Mißbehagens, die Überzeugung, daß die Einrichtung unserer Staaten eine fehlerhafte ist, noch allgemeiner geworden.

Auch ein falsches Prinzip ist besser als gar keines, und die fehlerhafteste Ordnung ist dem vollkommenen Mangel derselben vorzuziehen, und so mußte sich, als man die Einrichtungen des Staates nach Grundsätzen zu verbessern anfing, und an die Stelle der mittelalterlichen Verwirrung eine Ordnung begründete, manches zum Besseren wenden, während die Grundsätze des Christentums, nachdem es ein Jahrtausend herrschte, immer tiefer ins Leben eingriffen, und einen sittlichen Fortschritt, ein immer mächtigeres Gefühl der Humanität erzeugten, welches man irrtümlich den in den Staatsverfassungen geschehenen Veränderungen zuschrieb (8). Doch je weiter wir auf dieser Bahn fortgeschritten sind, je allgemeiner bemächtigt sich unser der Zweifel, ob es denn wirklich der richtige Weg ist, den wir befolgt haben und während es viele gibt, die es schon jetzt aussprechen, es wäre besser gewesen, wenn man ihn nie betreten hätte und die gerne auf den Punkt zurückkehren wollten, von dem man ausgegangen war, suchen andere kühn neue Bahnen, und wenden sich mit eben der Verachtung vom Staat der Gegenwart ab, mit dem sie dieß um ein Jahrhundert früher dem mittelalterlichen Staat gegenüber getan hätten.

Während wir auf dem Gebiet der Naturwissenschaften eine fast wunderbare Schnelligkeit des Fortschritts erblicken, der doch, wenn uns nicht alle Erwartungen täuschen, nur der Beginn einer immer weiteren, immer großartigeren Entwicklung ist, sind wir in den Staatswissenschaften dahin zurückgekehrt, von wo aus wir ausgegangen sind, zum früheren Zweifel, der nach so vielen Versuchen und Erfahrungen nur noch trostloser geworden ist.

Wo liegt die Ursache dieses so verschiedenen Ergebnisses der beiden Richtungen, in denen sich der menschliche Geist bewegt hat?

Ein Teil derselben mag wohl in der Natur des Gegenstandes zu suchen sein, mit dem sich beide Wissenschaften beschäftigen. Die materielle Welt bewegt sich nach ewigen Gesetzen, jedes Geheimnis, das man ihr abgelauscht hat, ist entdeckt für ewige Zeiten, und kann als Schlüssel weiteren Forschens dienen - nicht so der Mensch, der ewig wandelbar heute nicht ist, wie gester war und von hundert Gefühlen und Empfindungen hin und her getrieben, jeden Augenblick seine Stellungen ändert, und den Beobachter durch einen nie endenden Wechsel irre führt. - So sagt man. - Ich halte einen Großteil dieser Klagen für übertrieben, indem es mir scheint, daß jene Veränderungen, die wir in der Natur des Menschen in verschiedenen Epochen wahrzunehmen glauben, bloß dem zuzuschreiben sind, daß man seine Aufmerksamkeit einer anderen Seite derselben zugewendet hat. Meiner festen Überzeugung nach hat man sich in den Menschen nicht darum so oft getäuscht, weil sie sich plötzlich verändert, sondern darum, weil man dasjenige, was in ihrer Natur unwandelbar bleibt, nicht anerkennen wollte. (9)

Ich will mich übrigens hierüber nicht in eine weitere Behandlung dieser Frage einlassen, und zugeben, daß der geringe Fortschritt, den wir in den Staatswissenschaften gemacht haben,  zum Teil  der größeren Schwierigkeit des Gegenstandes zuzuschreiben ist; daß übrigens die Ursache nicht ganz hierin zu finden ist, davon können wir uns leicht überzeugen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit dem Gang zuwenden, den die Naturwissenschaften befolgt haben, ehe sie in das Stadium ihrer schnellen Entwicklung getreten sind.

Ich erbitte mir hier die besondere Aufmerksamkeit des Lesers, da der ganze Mensch meiner Arbeit davon abhängt, inwiefern die im Folgenden ausgesprochenen Ansichten richtig sind.

Es hat eine Zeit gegeben, wo auch die Natur als ein Buch mit sieben Siegeln vor den Menschen lag. Weit davon entfernt, die Natur als etwas leichter Ergründliches als den Menschen zu halten, haben vielmehr Viele in der Überzeugung der vollkommenen Analogie, welche zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos besteht, im Menschen den Schlüssel gesucht, der uns alle Geheimnisse der Natur erschließen soll. Mit rastloser Mühe hat man sich diesem Feld des Wissens zugewendet, welches in einer Zeit, wo Forschungen auf dem Gebiet der Theologie oder Politik noch gefährlich waren, eben für die ruhigsten Geister am anziehendsten war. Und was waren die Resultate all dieser Anstrengungen? Schüler unserer Tage blicken mit stolzem Lächeln auf eine Zeit, wo selbst große Astronomen wie TYCHO BRAHE, sich ernsthaft mit der Feststellung der Grundsätze der Astrologie beschäftigten, wo man sich in der Medizin mit jener Kenntnis des menschlichen Körpers begnügte, die GALEN sich durch die Sektion von Affen verschafft haben soll, wo die Chemie das  elexirium vitae  und den Stein der Weisen zu finden suchte, und  Chiromantie  [Handlesen - wp] und Nekromantie [Totenbeschwörung - wp] als Wissenschaft betrachtet wurden, während dasjenige, was in diesem Ringen nach Unmöglichem zufällig Nützliches zutage gefördert wurde, als mißlungener Versuch betrachtet worden ist, wie dies dem großen GLAUBERUS geschah, als er statt des Steins der Weisen sein berühmtes Salz gefunden hatte.

Wer die Ursachen dieses Zustandes, in welchem sich die Naturwissenschaften damals befanden, kennen will, den verweise ich an BACONs Werke (die ohnehin niemandem, der sich mit irgendeiner Wissenschaft ernsthaft beschäftigt, unbekannt sein sollten); ich erinnere hier bloß, was auch jeder meiner Leser wissen wird: daß der schnelle Fortschritt aller Naturwissenschaften von jenem Augenblick an zu zählen ist, als BACONs Grundsätze allgemein anerkannt wurden und man in diesem Zweig der Wissenschaft jene Bahn betrat, die er vorgezeichnet hatte. Nur nachdem man eingesehen hatte, daß die syllogistische Form und alle Künste der Logik bloß insofern von Nutzen für den Fortschritt der Wissenschaft sein können, als die Begriffe, von denen man ausgeht, richtig sind (10), und daß es der Wissenschaft wenig nützen würde, wenn auch alle großen Geister aller Zeiten ihre Arbeit vereinigen wollten, solange man sich nicht von der Wahrheit der Grundbegriffe überzeugt hat, da der Fehler, welchen man bei der Feststellung dieser begangen hat, durch die Richtigkeit des Denkens bei ihrer Anwendung nicht gut gemacht werden kann - (11). Nur nachdem man sich überzeugt hat, daß die beste Art etwas zu beweisen wirklich die Erfahrung ist (12) und nachdem man sich in der Wissenschaft von jenen Worten befreit hat, denen der Begriff ebenso fehlt, wie wir für manche Begriffe kein Wort finden (13). Nur von diesem Augenblick an haben sich der Naturwissenschaft die Bahnen eines unbegrenzten Fortschritts eröffnet.

Und wenn wir nun unsere Aufmerksamkeit der gegenwärtigen Lage der Staatswissenschaften zuwenden, finden wir in der Art, wie sie behandelt werden, nicht all das wieder, was BACON zu seiner Zeit als die Ursache der Stagnation der Wissenschaft überhaupt angenommen hat? Finden wir nicht dieselbe Sucht und Leichtigkeit, allgemeine Grundsätze aufzustellen, von denen sich das übrige, ohne die Erfahrung weiter zu berücksichtigen, auf rein theoretischem Weg ableiten läßt? (14) Beweisen wir im Gebiet der Staatswissenschaften nicht denselben Hang, überall nach Analogien zu schließen, und jede einzelne Tatsache zum System zu erheben? (15) Geben wir uns nicht dieselbe Mühe, dasjenige, was wir einmal angenommen haben, weil wir es glaubten oder angenehm fanden, immer bestätigt finden, und jede Erfahrung, welche dagegen spricht, zu verachten oder so lange an ihr herumzudeuten, bsi sie in unseren Kram paßt (16), wie wir unsere einmal ausgesprochene Ansicht faßlich darstellen und in Worten Anderen klar machen können, als daß wir dieselbe zu berichtigen suchten? Könnte man der Staatswissenschaft unserer Zeit nicht auch den Vorwurf machen, daß all ihr Reichtum die Habe Weniger ist, und alle Hoffnung und alles, auf was wir stolz sind, aus dem Hirn von sechs Menschen hervorgegangen ist? (17) Zwar sind es nicht mehr PLATO, ARISTOTELES, ZENO, EPIKUR und THEOPHRASTUS, in deren Schriften wir gleichsam wie in Kerkern gefangen sitzen, und von denen man nicht abweichen darf, wenn man nicht für einen Störenfried und gewissenlosen Neuerer gehalten werden will (18). Doch hat sich die neue Zeit neuere Namen für ihre Anbetung gefunden, und selbst damals, als die scholastische Philosophie der Pariser Universität eine größere Zahl von Schülern anzog, als Paris damals Bürger hatte, so daß PHILIPP AUGUST, wie man behauptet, deswegen die Mauern der Stadt erweitern ließ, hat man den Grundsätzen des Stagiriten - keine größere Verehrung bewiesen, als dies jetzt mit den Ansichten einzelner Lehre der Staatswissenschaften der Fall ist. - Es wäre wirklich verwunderlich, wenn wir, nachdem man so lange ganz denselben Weg verfolgt, es in den Staatswissenschaft nicht auf denselben Punkt gebracht hätten, auf welchen BACON die Naturwissenschaften zu seiner Zeit gefunden hat.

Jeder pflegt das, was er mühsam gelernt hat, für Wissenschaft zu halten, und wenn man heutzutage Jemanden davon überzeugen will, daß er, der doch Hunderte von Bänden gelesen hat und vielleicht einige geschrieben hat, außer einer sehr zweckmäßigen gymnastischen Übung seines Geistes weder die Wissenschaft, noch sich selbst in derselben weiter gebracht, so wird er vermutlich ebenso mit einem verächtlichen Lächeln über eine so anmaßende Unwissenheit darauf antworten, als dies um ein Paar Jahrhunderte früher derjenige getan haben würde, der sein Leben dem Studium der 17 Foliobände der Werke THOMAS von AQUINs oder den 12 des DUNS SCOTUS gewidmet hat, und dem man gesagt hätte, die Zeit wird kommen, wo man all die Mühe, die er sich gegeben hat, für nutzlos halten, ja wo man kaum begreifen wird, wie ausgezeichnete Geister sich zu so einer erbärmlichen Selbstqual zwingen konnten. Doch wenn man die Sache frei von wissenschaftlichen Vorurteilen - obwohl diese von allen die hartnäckigsten sind - betrachtet, muß man bekennen, daß zwischen dem Stand der politischen Wissenschaften der Gegenwart und jenem der Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert die größte Ähnlichkeit besteht.

Nachdem man die Lehren von HOBBES und ROUSSEAU, PUFENDORF und HELVETIUS mit allen Künsten der Logik in einer unendlichen Reihe von Schlußfolgerungen bis an die Grenzen des Möglichen, ja weit darüber hinaus verfolgt hat, ohne sich ernsthaft damit zu beschäftigen, ob sie nich alle demselben Grundgedanken entspringen, und ob sie überhaupt wahr sind, nachdem man, statt sich damit zu befassen, die Grundlagen des wissenschaftlichen Baues zu erweitern, auf das alte Fundament immer mehr und mehr hinaufgebaut hatte, bis man zu schwindliger Höhe angelangt nicht mehr weiter konnte: ist die Wissenschaft dahin gekommen, daß demjenigen, der sich ihr widmet, fast nichts übrig bleibt, als das, was sein Vorgänger geschaffen hat, wieder abzutragen, um es in etwas veränderter Form genau zur selben Höhe und nicht um einen Gedanken weiter wieder aufzurichten, und so dem nächstfolgenden wieder das Geschäft des Abtragens zu hinterlassen, während der andere die schwierige Arbeit logischen Zusammenfügens verachtend in einem kühnen Flug sich ihrer Phantasie überlassen, um in der blauen Leere der höchsten Regionen zu verschwinden, oder nach kurzer Anstrengung herabzusinken und im Schlamm unterzugehen. Man hat sich nie mehr mit dem  elixirium vitae,  mit der Alchemie und Astrologie beschäftigt, wie man sich heutzutage mit den Mitteln die ganze Menschheit glücklich zu machen, den ewigen Frieden, das tausendjährige Reich der Glückseligkeit zu begründen, abmüht. Man tut es mit demselben Ernst, mit derselben wissenschaftlichen Genauigkeit, mit demselben Aufwand an Zahlen und Chiffren, mit welchen sich jene, die den Stein der Weisen suchten, umgaben, um sich und andern glauben zu machen, daß sie keine Träumer, sondern ruhige Forscher der Wahrheit sind, und wenn BACON recht hatte, als er sagte, die Wissenschaft sei wie der Glaube, den man nur an seinen Werken erkennen kann, und daß man eine solche Wissenschaft, die keine Früchte oder statt derselben bloß die Dornen und Disteln eines bitteren Streites tragen, für eitel erklären muß (19), wenn er sich nicht getäuscht hatte, indem er behauptet, die Richtigkeit unserer Grundsätze lasse sich bloß durch die Anwendbarkeit derselben wirklich beweisen (20), was zumindest bei den praktischen Wissenschaften nicht zu leugnen ist, so ist es auch meines Erachtens höchste Zeit, daß man den Rat dieses großen Denkers nun auch auf dem Gebiet der Staatswissenschaften befolgt und statt die Macht des menschlichen Geistes zu bewundern und zu erheben, seine wahren Hilfsmittel, die ihm auch auf diesem Gebiet zu Gebote stehen, zu finden sucht (21), daß man endlich einsieht, wie man auch in diesem Kreis des menschlichen Wissens nur dann zu wirklichen Resultaten gelangen kann, wenn man statt dem menschlichen Geist Flügel zu verleihen ihn mit Gewichten beschwert, die ihn an dem rein irdischen Gegenstand, mit dem er sich beschäftigen soll, festhalten (22).

BACON selbst hat seine Methode des Forschens nicht auf die Staatswissenschaften angewendet, zum Teil wohl darum, weil dieselben damals nicht in den Kreis der praktischen Wissenschaften gehörten, zum Teil, weil BACON von der irrigen Ansicht ausgegangen ist, es handle sich in Dingen, die den Staat betreffen, nicht so sehr darum die Wahrheit, als darum eine Übereinstimmung der Meinungen zu erreichen, weil die Menschen, auch wenn sie alle in derselben Täuschung befangen sind, recht gut miteinander auskommen können. (23) Jetzt haben sich die Verhältnisse verändert. Von allen Wissenschaften übt keine einen größeren Einfluß auf das tägliche Leben aus, als jene, welche sich mit der Einrichtung des Staates beschäftigt. Man ist zur Überzeugung gekommen, daß eine dauernde Übereinstimmung der Meinungen nur dann möglich sein kann, wenn man bis zur Wahrheit vorgedrungen ist. Man hat erfahren, wie es gewisse Begriffe gibt, die, wenn auch noch so allgemein angenommen, keine Befriedigung erzeugen, weil es bei Begriffen, die im praktischen Leben angewendet werden sollen, nicht bloß darauf ankommt, daß dieselben den Überzeugungen der Menschen, sondern auch darauf, daß sie der wahren Lage der Dinge entsprechend sind, - wie sollte sich die Überzeugung nicht schließlich Bahn brechen, daß bei einer Wissenschaft, die in unserer Zeit in die Reihe der praktischen Wissenschaften gehört,  der einzige sichere Weg des Fortschritts gleichfalls die Erfahrung ist,  und daß es bloß darauf ankommt, ob und wie man diesen Weg verfolgen kann?

Die Beispiele sind besonders in unserer Zeit nicht selten, wo man den Staat als  materia vilis  [billiges Material - wp] zu betrachten scheint, mit der man ungehindert experimentieren kann. Von der bescheidenen Anforderung jener, die sich 4 Millionen Franken und eine Quadratlieue [ca. 20 km² - wp] erbitten, um ihr Musterphalanstére zu errichten, bis zu jenen, die, um ihre Ideen zu versuchen, die ganze Kraft des Staates dazu gebrauchen, alles, was früher bestanden hatte, der Erde gleich zu machen, scheint der Gedanke des praktischen Experimentierens im Großen für viele sehr anziehend zu sein. Jeder Vernünftige wird aber einsehen, wie zwecklos, ja verderblich jedes solche Beginnen ist. Auch muß es uns klar sein, daß die  einzelnen  Erfahrungen auf dem Gebiet der Staatswissenschaften nie jenen Grad der Sicherheit gewähren können, wie dies bei den Naturwissenschaften der Fall ist. Geschichtliche Fakta lassen sich nie mit jener Vollkommenheit analysieren, manche Elemente derselben entgehen ganz unserer Aufmerksamkeit, und das Gewicht der einzelnen Begriffe und Handlungen, welche gewisse Resultate erzeugt haben, läßt sich nicht mit jener Genauigkeit bestimmen, mit welcher der Chemiker die stöchiometrischen [mathematische Berechung chemischer Verbindungen - wp] Verhältnisse der Elemente, aus welchen ein Körper besteht, anzugeben weiß: doch aus all dem folgt bloß, daß die Staatswissenschaften nie jenen Grad absoluter Gewißheit erreichen werden, welchen wir bei Naturwissenschaften finden, und daß die Erfahrung hier auf einem anderen Weg zu suchen ist, aber durchaus nicht, daß wir die Erfahrung vernachlässigen und die Grundlagen unserer Überzeugung in transzendentalen Spekulationen suchen sollen.

Die einzelnen Erfahrungen, deren die Staatswissenschaft bedarf, brauchen nicht erst gemacht zu werden. Mehr als zwei Jahrtausende der Geschichte, in welcher die Entwicklung einer ganzen Zivilisation, die die Grundlage der unseren ist (der griechisch-römischen), abgeschlossen vor uns daliegt, und in der wir den Gang der christlichen Gesellschaft bis auf unsere Tage verfolgen können, ist uns zugänglich, und um jede dieser Erscheinungen richtig zu beurteilen, ist uns im eigenen Gefühl ein Schlüssel gegeben, wie er uns bei keiner anderen Wissenschaft zu Gebote steht.

Wie uns die bildlichen Darstellungen des Altertums davon überzeugen, daß sich in der äußeren Gestalt des Menschen nichts verändert hat, so gibt uns Redekunst, Geschichte und Poesie denselben Beweis für die Gefühle und Ansichten der Menschen, und für seine Zeitgenossen hat jeder den besten Maßstab ihrer Ansichten in sich selbst. Die ewige Wahrheit, die dem Gebot zugrunde liegt, daß man den Nächsten tun soll, wie wir wünschen, daß an uns selbst gehandelt wird, ist die sicherste Richtschnur, nach der wir die Handlungen Anderer in unserer Zeit beurteilen können.

Das Gebiet, wo die Staatswissenschaft ihre Erfahrungen zu suchen hat, ist mithin die Geschichte; das Mittel Täuschungen zu entgehen ist die Überzeugung, daß,  so groß die Verschiedenheit auch sein mag, welche zwischen den einzelnen Ereignissen in der Weltgeschichte besteht,  der Mensch sich immer gleichgeblieben ist,  daß er - um mich eines allgemeinen Bildes zu bedienen - so weit er auch gekommen ist, so verschieden die Gegenstände, die ihn umgeben auch sein mögen, immer auf dieselbe Art weiter geschritten ist; denn die Natur ist ja ebenso ewig und unwandelbar im Menschen, wie in anderen Geschöpfen der Erde, nur kann sie hier wie überhaupt bloß durch die Erfahrung erkannt werden, und das ist meiner festen Überzeugung nach der einzige Weg, auf welchen jede wissenschaftliche Forschung über den Staat zu praktisch nützlichen Resultaten gelangen kann.

Fassen wir das Gesagte kurz zusammen. - Nachdem die Gefahren, welche durch den Kampf gegen das Bestehende der öffentlichen Ruhe drohen, allen Staaten des westlichen Europa gemeinsam sind, so muß auch die Ursache, welche ihnen zugrunde liegt, in demjenigen, was allen diesen Staaten gemeinsam ist, gesucht werden, und dies ist bloß in den in allen diesen Staaten herrschenden Begriffen und in dem Gegensatz, in welchem der Staat überall mit diesen herrschenden Begriffen steht, zu finden.

Soll daher den bestehenden Übeln abgeholfen werden, so ist dies nur dann möglich, wenn man entweder den Staat so einzurichten vermag, daß derselbe den herrschenden Begriffen vollkommen entspricht, oder wenn sich diese Begriffe selbst verändern.

Die ganze Geschichte der letzten fünfzig Jahre wird durch das fortgesetzte Streben ausgefüllt, den Staat nach den herrschenden Begriffen der Zeit umzugestalten, ohne daß alle diese Bemühungen zu einem andern Resultat geführt hätten, als daß das Übel, welches sie heilen sollten, noch größer wurde und zwar eben in dem Maß, in welchem man sich bei den einzelnen Verfassungen dem aufgestellten Ideal mehr genähert hat. Das Heilmittel unserer Übelstände muß mithin notwendig in der Berichtigung der herrschenden Begriffe gesucht werden.

Begriffe, welche einem halben Weltteil gemeinsam sind, welche einer ganzen Epoche ihre Richtung geben, sind aber nie willkürlich. Sie sind ein Ergebnis der ganzen Vergangenheit, und der Einzelne, so sehr er auch von der Unrichtigkeit der Volksbegriffe überzeugt sein mag, kann im Kampf gegen dieselben untergehen; doch sie zu besiegen oder auch nur bedeutend zu modifizieren vermag er nicht, denn wenn es auch töricht ist, behaupten zu wollen, daß Völker nicht irren können, so lassen sie sich doch nie anders als durch die unwiderstehliche Logik einer ganzen Reihe blutiger Ereignisse ihres Irrtums belehren. Ist daher der Gegensatz zwischen den herrschenden Begriffen und der bestehenden Staatsform ein  absoluter,  liegt die Ursache, wegen der alle Versuche, die bestehende Staatsform diesen Begriffen anzupassen, bisher mißlungen sind,  in der Natur  dieser Begriffe selbst, die in einem Staat, wie ihn der gegenwärtige Grad unserer Zivilisation erfordert, nicht zu realisieren sind, so ist der gegenwärtige Zustand ein wirklich hoffnungsloser.

Eine ruhige Beobachtung der Verhältnisse der Gegenwart belehrt uns jedoch, daß dies in unserer Zeit nicht der Fall ist.

Nicht die herrschenden Begriffe sind es, welche mit dem bestehenden Staat ihrer Natur nach in einen Gegensatz treten,  der Gegensatz liegt vielmehr in der Form,  in welcher man sie aufgestellt, in den Folgerungen, die man daraus gezogen hat, in der Art, in welcher man sie im Leben anzuwenden versucht; und, da es die Wissenschaft ist, der wir in all diesem gefolgt sind, so kann den bestehenden Übeln auch nur dann abgeholfen werden, wenn es uns die Irrtümer der Wissenschaft zu beseitigen und mit möglichster Klarheit zu beweisen gelingt, daß die Form, in welcher die Wissenschaft die herrschenden Begriffe der Zeit aufgestellt hat, nicht die richtige ist, was nur dann möglich ist, wenn man einen ganz anderen Weg einzuschlagen wagt, als den die Wissenschaft bis jetzt verfolgt hat.  Non est spes nisi in regeneratione scientiarum.  [Es gibt keine Hoffnung ohne eine Wiedererneuerung der Wissenschaft. - wp]

Wenn man nun den Gang, den die Staatswissenschaft in den letzten Jahrhunderten befolgt hat, aufmerksam betrachtet, findet man, daß es allerdings große Geister waren, die sich auf diesem Gebiet des Wissens beschäftigten, daß übrigens die Art, in der sie das taten, nicht diejenige ist, mit der sich in einer praktischen Wissenschaft die Wahrheit finden läßt.

Nicht transzendente Spekulationen, nur die Erfahrung ist es, die uns bei rein praktischen Wissenschaften leiten kann. Nur sie kann uns die Gewißheit geben, daß jene Grundsätze, von welchen wir bei unserem Denken ausgehen, wirklich richtig sind, nur durch sie können wir erkennen, wie wir dieselben in einzelnen Fällen anzuwenden haben. Und das ist es, was im gegenwärtigen Buch versucht werden soll.

Der gesellschaftliche Zustand ist meiner festen Überzeugung nach der einzig natürliche des Menschen. Jede Untersuchung, wie dieser gesellschaftliche Zustand entstanden ist, erscheint mir mithin als vollkommen überflüssig. Auf dem Punkt, welchen unsere Zivilisation erreicht, halte ich auch das Bestehen des Staates, ja das Bestehen großer Staaten für eine Notwendigkeit. Eine Auflösung aller bestehenden Staaten ohne die Vernichtung unserer Zivilisation ist meiner Ansicht nach undenkbar. Wie den gesellschaftlichen Zustand überhaupt, so nehme ich mithin auch jenen des Staates - und zwar größerer Staaten - als etwas Gegebenes an; bloß zwei Fragen sollen hier erörtert werden.
    1. Ob die herrschenden Begriffe der Zeit in jener Form, in welcher man sie aufgestellt hat, unter den gegenwärtigen Verhältnissen der Zivilisation, un ohne das Bestehen größerer Staaten unmöglich zu machen, zu verwirklichen sind?  Und wenn nicht, ob

    2. nicht ein Form zu finden ist, durch welche jener Gegensatz, der zwischen den herrschenden Begriffen und allen Staaten der Gegenwart nicht nur in dem Sinn, den man ihnen beilegt, sondern überhaupt besteht, gehoben werden kann, und welche Modifikationen in den Staaten der Gegenwart eintreten können, ohne sie aufzulösen, und eintreten müssen, damit sie den herrschenden Begriffen der Zeit entsprechen? da an keine Befriedigung zu denken ist, solange die wichtigsten Verhältnisse des Daseins, die durch den Staat bedingt sind, mit den Überzeugungen aller im Widerspruch stehen.
Das Ziel, das ich mir gesteckt habe, ist durchaus nicht das, eine Staatsform zu finden, welche dem Ideal des Staates am  vollkommensten  entspricht. Bloß für die Verhältnisse der Gegenwart soll eine zweckmäßige Staatsform gesucht werden.

Der Weg, auf dem dies geschehen soll, ist einfach der der  Erfahrung,  und wem das erstere als zu bescheiden, das letztere als anmaßende Sucht nach Originalität erscheinen sollte, dem bemerke ich bloß im Hinblick auf das erstere, daß mir der Satz,  das Bessere ist der Feind des Guten,  nicht halb so wahr scheint, als jener, daß das Beste - die Utopie - der Feind des Besseren - der Reform - ist; und daß Völker, auch wenn es ihnen gegeben wäre, den höchsten Grad denkbarer Vollkommenheit in ihren Institutionen zu erreichen, dies nur dann hoffen können, wenn sie, statt von ihrem Ziel zu träumen, demselben mutig entgegenschreiten: denn jedes Ziel kann nur nach einer gewissen Zahl von Schritten erreicht werden. Im Hinblick auf das zweite muß ich den Tadel wie den Ruhm der Originalität von mir weisen.

Will man es originell finden, daß man bei einer rein praktischen Aufgabe, die nur dann als gelöst zu betrachten ist, wenn sich ihre Lösung auch durch die Erfahrung bewährt hat, außer den Schlußfolgerungen der reinen Vernunft auch die Erfahrung zu Rate zieht; will man es anmaßend nennen, daß man Begriffe - oder eigentlich Worte - welche sich tausend - und darunter höchst ausgezeichnete - Gelehrte ruhig nachgesprochen haben, nicht früher als Grundlage eines Systems annehmen will, bis man über ihren wahren Sinn und ihre Richtigkeit ins Klare gekommen ist, ja daß man sich selbst dann nicht unbedingt dem ewig weiter fließenden Strom logischer Schlußfolgerungen überläßt, sondern wie man es bei dem Begriff, von dem man ausging, getan hat, die Richtigkeit jeder Schlußfolgerung durch die Erfahrung prüft, so beschränkt sich das ganze Verdienst und aller Tadel, welcher mir hierbei zukommt, höchstens darauf, dasjenige, was Tausende gefühlt haben: daß die Wissenschaft auf der Bahn, die sie bis jetzt verfolgt, nichts gefunden hat, was zur Befriedigung führen konnte, offen bekannt und eine Methode der Forschung, welche ein großer Mann vor zwei Jahrhunderten aufstellte, auf einen Gegenstand angewendet zu haben, für den sie sich der Natur der Sache nach vor allem zu eignen scheint.


Anmerkungen zur EINLEITUNG: Die zu BACONs Zeit und vor ihm in allen Wissenschaften angewendete syllogistische Methode des Forschens bestand darin, daß man von gewissen auf eine nur oberflächliche Erfahrung gegründeten Begriffen ausging, und sich bei der weiteren Entwicklung derselben damit begnügte, aus diesen logisch richtige Schlußfolgerungen zu ziehen, ohne sich weiter darum zu bekümmern, ob die Richtigkeit derselben auch durch die Erfahrung zu beweisen ist.

Diese Methode des Forschens hatte notwendig zwei für die Wissenschaft höchst verderbliche Folgen.
    1. Daß, auch in dem Fall, als der Begriff, von dem man ausgegangen war, auf Erfahrung oder genaue Beobachtungen gegründet war, man doch bei der weiteren Entwicklung desselben in eine immer größere Zahl von Irrtümern geraten mußte.

    2. Daß, nachdem der wahre Fortschritt jeder Wissenschaft darin besteht, daß sich die Zahl jener Begriffe vermehrt, deren Richtigkeit wir als bewiesen annehmen können, durch dieses formelle Weiterentwickeln einzelner Prinzipien die wirkliche Wissenschaft nicht befördert werden konnte, und der Fortschritt eigentlich bloß darin bestand, daß die Schwierigkeit, sich die Wissenschaft eigen zu machen, immer größer wurde, ohne daß man für die Mühe des Erlernens einen größeren Lohn zu erwarten gehabt hätte.
Die Philosophie BACONs hat, wie MACAULY (Edinb. Rev. Juli 1837) sehr richtig bemerkt, zwei leitende Ideen, von welchen sie ausgeht, die Nützlichkeit und den Fortschritt, sie ist eine wissenschaftliche Reaktion gegen jene Philosophie, welche sich in leeren Spitzfindigkeiten herumdrehte, doch eben darum ist sie auch von den natürlichen Fehlern jeder Reaktion nicht frei geblieben, und BACON ist wie jeder, der sich gegen eine starke Opposition eine eigene Bahn brechen mußte, in seinen Behauptungen zu weit gegangen, indem er der syllogistischen Form überhaupt jeden Nutzen abgesprochen und außer der Induktion alle anderen Schlußarten für überflüssig erklärt hat.

BACON selbst hat - wie schon GASSENDI gezeigt hat - in seinen Werken die verschiedensten Arten und Formen von Schlußfolgerungen angewendet; übrigens hat seine Behauptung über den ausschließlichen Nutzen der Induktion in Vielen die Meinung erzeugt, daß man nur dasjenige als eine Anwendung der Methode bedient hat, ja daß man dies ganz auf dieselbe Art tun muß, welche wir in den Werken jenes großen Mannes angewendet finden. -

Diese Ansicht berucht auf einem Irrtum. Das Verdienst BACONs um die Wissenschaft besteht nicht darin, die syllogistische oder überhaupt irgendeine Form des Denkens aus der Wissenschaft verdrängt zu haben. Nicht die Wissenschaft ist es, die die syllogistische Form des Denkens erfunden hat, sie hat sich ihrer nur bedient und zwar darum, weil diese Form des Denkens dem menschlichen Geist natürlich ist, und so liegt es ebensowenig in unserer Macht, das Denken in Syllogismen aus der Wissenschaft zu verbannen, als die ausschließliche Verehrung vor dem Syllogismus die Menschen je hindern konnte, daß sie zur Zeit der höchsten Blüte der Scholastik sich nicht auch sehr oft der Induktion bedient hätten. Das Verdienst BACONs besteht vielmehr, wie BUHLE (Geschichte der neuen Philosophie, Göttingen 1800, Bd. 2, Seite 961) sehr richtig bemerkt, darin, daß er vor allen Anderen auf das Studium der Erfahrung, auf die Anstellung von Beobachtungen und Versuchen drang, um die gemeine wissenschaftliche Erkenntnis teils zu läutern und zu berichtigen, teils zu erweitern. Auch die Behauptung, daß man in den Staatswissenschaften nur dann zu befriedigenden Resultaten kommen kann, wenn man sich bei denselben jener Methode bedient, welche BACON in den Naturwissenschaften angewendet hat, ist nur in diesem Sinn zu verstehen. Es soll weder irgendeine Form des Denkens, deren sich der menschliche Geist zu bedienen pflegt, da in der Wissenschaft vom Staat unbrauchbar, noch soll die Induktion als einziges Mittel der Erkenntnis bezeichnet werden, auch ist es nicht meine Absicht, die metaphysische Terminologie BACONs in den Staatswissenschaften einzuführen, sondern wie das Verdienst BACONs darin besteht, mit dem Satz: demonstratio longe optima es experentia [Der bei weitem besten Beweis ist die Erfahrung! - wp], statt scholastischen Künsteleien den einfachen Bonsens in das Gebiet der Wissenschaften eingeführt zu haben, so soll dasselbe hier auf dem Objekt der Staatswissenschaften versucht werden. Die Frage ist nur: ob die Anwendung dieser Methode in der Staatswissenschaft möglich ist?

Was die Ansicht BACONs selbst über diese Frage betrifft, kann darüber kein Zweifel bestehen. Er hat es klar ausgesprochen, daß er seine Methode des Forschens für ebenso allgemein anwendbar hält, wie es die vor ihm gebrauchte syllogistische gewesen ist (p 1, Aph. 27); doch haben andere dies aus mehreren Gründen geleugnet, deren wichtigste ich hier nur kurz berühren will.

Es ist ganz richtig, wenn man behauptet, daß man durch die Erfahrung nur bei jenen Gegenständen schnell zu befriedigenden Resultaten kommen kann; bei welchem Experimente möglich sind; übrigens ist die Folgerung, die man hieraus auf die Unanwendbarkeit dieser Methode auf die Staatswissenschaften ziehen will, ebenso irrig, wie wenn man aus demselben Grund behaupten wollte, daß die induktive Methode nicht in der Astronomie angewendet werden kann. - Das Experiment ist nichts, als eine Art der Beobachtung, unstreitig die beste von allen, daß man dabei jene Gegenstände, die man beobachten will, selbst in jenes Verhältnis bringt, in welchem ihre gegenseitige Wirkung uns über ihre Eigenschaften Aufschluß gibt, während man dies sonst erwarten muß, und so nur viel langsamer zu einer genauen Kenntnis derselben gelangt, übrigens ist und bleibt das Experiment doch nur eine Art der Beobachtung und überall, wo Beobachtungen möglich sind, ist es auch die Induktion. - Da mithin [folglich - wp] kein vernünftiger Mensch die Behauptung aufstellen wird, der Staat liege außerhalb des Kreises jener Dinge, die sich beobachten lassen, fällt auch der ganze Grund, welcher gegen den Gebrauch der Erfahrung, als einziger Quelle unserer Kenntnisse in den Staatswissenschaften, angeführt wird, in sich zusammen, besonders, nachdem es zwar richtig ist, daß sich mit Staaten im Großen vernünftigerweise keine Experimente anstellen lassen, übrigens zur richtigen Erkenntnis der Natur des Staates, uns eben jene Mittel zu Gebote stehen, zu welchen wir bei der Erforschung aller größeren Naturphänomene unsere Zuflucht nehmen müssen. - Es liegt nicht in unserer Macht, Regen oder Gewitter zu erzeugen, und doch wird Niemand behaupten, daß die Kenntnisse, die wir über diese Gegenstände besitzen, nicht auf Erfahrungen beruhen. Da uns die Elemente, durch deren Zusammenwirken diese Phänomene entstehen, bekannt sind, und uns, um die Natur derselben zu erkennen, selbst das Mittel des Experiment im Kleinen zu Gebote steht, ist uns die Erkenntnis jener großen Erscheinungen möglich geworden, und derselbe Weg steht uns durch die genaue Beobachtung des Einzelnen und so viele Versuche, welche bei der Erziehung von Kindern und der Organisation kleinerer Gesellschaften täglich gemacht werden, - auch in den Staatswissenschaften offen.

Ein anderer Einwurf gegen die Anwendung der induktiven Methode, welche bei der Erziehung von Kindern und der Organisation kleinerer Gesellschaften täglich gemacht werden, - auch in den Staatswissenschaften offen.

Ein anderer Einwurf gegen die Anwendung der induktiven Methode auf Staatswissenschaften ist der:
    "daß die Geschichte der Menschheit uns viel weniger als jene der Natur bekannt ist, und uns nicht jene Masse von Tatsachen bietet, welche einer verläßlichen Induktion als Grundlage dienen könnten."
Was das erste anbelant, werden jene die den gegen den gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaften zu entscheiden kompetent sind, wahrscheinlich anderer Meinung sein, und auch ein Laie kann aus der Masse neuer Entdeckungen, welche auf diesem Gebiet in neuerer Zeit gemacht werden, den Schluß ziehen, daß eine Wissenschaft, wo täglich so viel Neues gefunden wird, unmöglich so weit fortgeschritten sei kann, als man dies behauptet. Das zweite beruth lediglich auf dem Irrtum, daß man Dinge vergleicht, die ihrer Natur nach keinen Vergleich, die ihrer Natur nach keinen Vergleich zulassen. Auch der Mensch ist eines jener unzähligen Wesen, die unsere Erde bewohnen und deren Kenntnis die Aufgabe der Naturwissenschaften bildet. Ist ja doch alles, was ausschließlich seine materielle Natur betrifft, die Konstruktion seines Körpers, der Einfluß dieser auf seine geistigen Funktionen, der Einluß klimatischer Verhältnisse auf die Gattung usw. immer den Naturwissenschaften beigezählt worden. Da nun die Kenntnis des Menschen einen Teil der Naturwissenschaften ausmacht, ist es ganz natürlich, daß uns bei dieser als Ganzem mehr Tatsachen bekannt sind, als wir über die Natur des Menschen besitzen; vergleichen wir übrigens die Tatsachen, die uns über die Natur des Menschen und sein Leben bekannt sind, mit jenen, welche uns zur Erkenntnis irgendeines anderen speziellen Gegenstandes in der Natur zu Gebote stehen, so werden wir finden, daß es keinen Gegenstand gibt, über welchen uns eine größere Zahl von Beobachtungen vorliegt, und daß keiner in irgendeinem besonderen Verhältnis die Aufmerksamkeit ausgezeichneter Geister so oft beschäftigt hat, als der Mensch im Verhältnis als Mitglied des Staates. - Übrigens zugegeben, daß all das, was man über die Beschränktheit unserer historischen Kenntnis im Vergleich zu den Naturwissenschaften anführt, richtig wäre, so folgt daraus allerdings so viel, daß man sich, wenn man die Methode der Induktion in den Staatswissenschaften anwendet, öfter täuschen wird, als in den Naturwissenschaften, aber es folgt nicht daraus, daß man dieser Methode entsagen muß, nachdem dieselbe auch in den Naturwissenschaften, besonders im Anfang zu manchen Irrtümern Veranlassung gegeben, ohne darum weniger zu ihrer schnellen Entwicklung beigetragen zu haben.
    "Wenn wir nicht mit den alltäglichen Erfahrungen in Widerspruch geraten wollen, so können wir unmöglich behaupten, daß dieselben äußeren Verhältnisse denselben bestimmenden Einfluß auf alle Menschen ausüben. Es ist die Verschiedenheit der Temperamente, die physische Konstitution, das Zusammentreffen zufälliger oder besonderer Verhältnisse, wovon hierin alles abhängt, so daß wir eher über die große Zahl der Regeln erstaunt sein müssen, welche man für die Leitung der Staatsangelegenheiten aus der Geschichte abstrahiert, und welche die Erfahrung bewährt hat, als daß man diesen ein größeres Gewicht beilegen sollte, als dieselben verdienen."
So spricht sich H. HALLAM (Introduction to the Literature of Europe, III. B. Ch. III. Sect. II. on the Philosophy of Lord Bacon) über die Unanwendbarkeit der Methode BACONs in den Staatswissenschaften aus.

Dieser Grund mag richtig sein, kann übrigens gegen den Gebrauch der Induktion in den Naturwissenschaften, welche sich mit Organismen beschäftigen, fast mit eben der anscheinenden Richtigkeit angewendet werden.

Die Erkenntnis jedes organischen Wesens ist immer mit größeren Schwierigkeiten verbunden. Wissenschaftliche Versuche, - welche unstreitig das beste Mittel der Forschungsmethode BACONs ausmachen, - sind bei organischen Wesen in viel beschränkterem Maß möglich, als dies im Kreis der anorganischen Natur der Fall ist. - Es ist der organischen Chemie gelungen, viele Substanzen zu analysieren, ohne daß sie es bis jetzt vermocht hätte, dieselben durch die Verbindung ihrer erkannten Bestandteile wieder zusammenzusetzen und z. B. Milch, Blut, Baumwolle usw. auf chemischem Weg zu erzeugen; soll man daraus den Schluß ziehen, daß BACONs Methode des Forschens in diesem Kreis der Wissenschaften von keinem Nutzen ist? oder muß man nicht bekennen, daß, obwohl man die Organe des tierischen Lebens nicht nur bei den Menschen, sondern überhaupt größtenteils nur durch die Beobachtung toter Körper erkennt, und unsere Kenntnisse über das Leben und das Wachstum der Pflanzen trotz aller Fortschritte der Mikroskophie in nur sehr kleinem Maß durch eine wirkliche Anschauung zu gewinnen sind, doch alles, was wir über diese Gegenstände wissen, ausschließlich dieser Art der Forschung zu danken ist? - Und worin besteht wohl unsere Wissenschaft im Kreis der organischen Natur?

Wir kennen den Samen der Pflanzen, wir wissen durch Erfahrung, daß er in eine gewisse Art Erde gelegt keimen wird, wir kennen einige jener Verhältnisse, welche sein Wachstum befördern oder stören, wir bestimmen die Höhe, bis zu welcher sich die Pflanze entwickeln wird, wir berechnen, wie vielfältigen Samen sie uns geben kann, und diese Wissenschaft ist, weil sie uns bei unseren Handlungen als Richtschnur dient, von der höchsten Wichtigkeit für das praktische Leben. Und doch gibt es wohl einen Menschen, der, wenn er ein einzelnes dem Anschein nach vollkommenes Samenkorn der Erde überläßt, mit Bestimmtheit auch nur so viel voraussagen könnte, daß es keimen und aufgehen wird, wissen wir die Höhe anzugeben, welche die aus einem besonderen Samenkorn entstandene Pflanze erreichen, die Menge des Samens oder der Frucht, die sie uns geben wird? Auch das einzelne Samenkorn hat - um mich so auszudrücken - seine eigene Individualität, der wir es zuschreiben müssen, daß es sich unter scheinbar ganz ähnlichen Verhältnissen mit einer größeren oder kleineren Keimkraft entwickelt, auch in diesem Fall ist es uns trotz aller Wissenschaft nicht möglich, alle zufälligen, ja auch nicht einmal alle gewöhnlichen Umstände genau zu bestimmen, durch welche das Wachstum eines Samenkorns befördert wird, wer wird darum den Nutzen, den uns eine genaue Beobachtung der Natur gebracht hat, in Zweifel ziehen wollen? -

Wenn es sich auch nicht leugnen läßt, daß die individuelle Verschiedenheit bei Menschen größer ist, als bei irgendeinem anderen organischen Wesen, so ist doch der Einwurf, den man gegen die Anwendung der induktiven Methode in den Wissenschaften, die auf der Kenntnis des Menschen beruhen, machen kann, nur derselbe, welcher sich gegen die Anwendung dieser Methode zur Erkenntnis organischer Wesen überhaupt machen läßt. Es wäre allerdings töricht, - um mich desselben Beispiels zu bedienen, welches HALLAM zur Erläuterung seiner Sätze gebraucht, - wenn Jemand daraus, daß SULLA die Diktatur niedergelegt hat, den Schluß ziehen zu wollen, jeder werde unter ähnlichen Verhältnissen dasselbe tun; doch hieraus folgt ebensowenig, daß man nach einer genauen Beobachtung der Verhältnisse Roms in jener Zeit nicht den Schluß ziehen kann, daß sich die republikanische Form in einem Staat, welcher in ähnliche Verhältnisse gekommen ist, nicht erhalten wird, als man denjenigen töricht schelten wird, der uns, wenn von einem einzigen Samenkorn die Rede ist, nicht sagen kann, welche Höhe seine Pflanze erreichen, oder wie oft es sich vervielfältigen wird, und doch, wenn von einem ganzen Weizenfeld oder dem Ertrag einer Million Samenkörner die Rede ist, dasselbe mit ziemlicher Genauigkeit zu bestimmen versucht.

Der wichtigste Einwurf gegen den Gebrauch der Induktion in den Staatswissenschaften ist ohne Zweifel folgender:
    Soll durch Induktion in den Staatswissenschaften derselbe Grad der Gewißheit erreicht werden, auf den wir in den Naturwissenschaften Anspruch erheben, so müssen wir annehmen, daß alle menschlichen Handlungen ebenso als das notwendige Resultat gewisser Verhältnisse zu betrachten sind, als wir dies von der Entwicklung anderer organischer Wesen behaupten können. Wohin ist dann der Begriff der menschlichen Freiheit und mit ihm alle Moral, aller sittlicher Verdienst gekommen? -
Es ist nicht meine Absicht, in eine erschöpfende Behandlung der Frage: über die Freiheit des menschlichen Willens einzugehen. Bei dem Hang, den wir im Kreis mehrerer Wissenschaften zur Aufstellung solcher Behauptungen wahrnehmen, wodurch die menschliche Freiheit vernichtet würde, ist es sehr zu wünschen, daß diese so wichtige Frage neuerdings zum Gegenstand ernsthafter Forschungen gemacht wird; übrigens ist es mir schwer begreiflich, wie die Behauptung: daß jede vernünftige Staatswissenschaft auf solche Kenntnisse zu gründen ist, welche man durch Erfahrung gewonnen hat, mit dem Prinzip der menschlichen Freiheit im Gegensatz stehen soll. Eine auf Erfahrung begründete Staatswissenschaft muß ebensogut wie jede andere mit der Kenntnis des Menschen beginnen, der einzige Unterschied ist der, daß sie - statt gewisse Sätze über die Natur des Menschen a priori aufzustellen, - diese Kenntnis durch Erfahrung zu begründen sucht. Da es nun Jedem eben aus der Erfahrung klar werden muß, welch bedeutenden Einfluß der freie Wille nicht nur im Leben des Einzelnen, sondern selbst zur Bestimmung der Schicksale ganzer Staaten ausübt, so muß jede wirklich auf Erfahrung begründete Staatswissenschaft notwendig von der Überzeugung ausgehen, daß der Mensch ein mit einem freien Willen begabtes Wesen ist; - und ich sehe nicht ein, wie hieraus irgendjemand die Folgerung ziehen kann, daß durch die Annahme des Prinzips der Freiheit zugleich der Nutzen einer auf diesem Weg gewonnenen Staatswissenschaft geleugnet werden muß. Wahr ist, wenn man die Freiheit des Menschen anerkennt, so wird sich niemand anmaßen, die Schicksale eines Staates mit derselben Bestimmtheit vorauszusagen, als man die Eklipsen des Mondes oder der Sonne bestimmt, man wird in der Geschichte etwas anderes, als die notwendige Entwicklung gewisser Ideen erblicken, bei deren Darstellung der Mensch bloß die Rolle des willenlosen Werkzeuges zu spielen hat, man wird den Einzelnen, der die Gesetze der Sittlichkeit verletzt, nicht von der ihn treffenden Schuld freisprechen, wird nicht behaupten, daß, weil ihn die Bahn, auf der er fortschritt, zu jenem Punkt führen mußte, wo wir ihn mit Schaudern erblicken, es nicht in seiner Macht gestanden hätte, umzukehren und sich eine andere Bahn zu wählen; - übrigens folgt aus all dem allerdings, daß uns die Erfahrung zur Beurteilung der Verhältnisse des Menschen nicht jenen Grad der Bestimmtheit' gewährt, auf welche wir durch die Beobachtung anderer Gegenstände der Natur Anspruch erheben können, ohne daß es darum weniger wahr bleibt, daß uns auf diesem Weg nicht sehr Vieles klar wird, und daß auch diese beschränkte Wissenschaft uns bei der Einrichtung unserer Staaten von höchstem Nutzen sein kann.

Denn erstens gibt es in jedem Staat Verhältnisse, die auf seine Entwicklung den größten Einfluß ausüben und nicht vom Willen der Staatsglieder abhängen.

Zweitens ist der Wille des Menschen zwar frei, und wir sind bei einzelnen Individuen, wo wir weder all ihre Eigenschaften noch jene Verhältnisse, welche auf den Willen derselben einfließen können, vollkommen zu kennen imstande sind, selten in der Lage, im Voraus zu bestimmen, in welcher Richtung sich dieser Wille äußern wird. Bei Dingen, wo die Entscheidung von Einem abhängt, ist daher immer sehr Vieles dem Zufall überlassen, übrigens nimmt diese Unsicherheit in dem Maße ab, wie die Entscheidung nicht von einem Einzelnen, sondern von einer Vereinigung Vieler abhängt, denn wie es immer gewisse Gründe sind, welche den Willen eines vernünftigen Wesens bestimmen, so ist der Einfluß dieser Gründe auf die Menschen im Allgemeinen leichter, als bei einem besonderen Individuen vorauszusetzen. - Augenblicke der höchsten Leidenschaft ausgenommen, sind es die Begriffe und Bedürfnisse der Menschen, welche ihren Willen entscheiden. - Und wie wir sowohl im Hinblick auf die Ideen, welche die Majorität des Volkes in einer gewissen Zeit beherrschen, und im Hinblick auf ihre allgemeinen Bedürfnisse weniger Täuschungen ausgesetzt sind, als wenn wir beides von einem besonderen Individuum bestimmen wollten, so können wir auch den Einfluß, den gewisse Verhältnisse auf die Bestimmung des Willens bei ganzen Völkern ausüben werden, leichter voraussetzen, und zwar umso mehr, als es nicht geleugnet werden kann, daß der einzelne Menschen die Freiheit des Willens besitzt, Massen von Menschen können auf diese Eigenschaft übrigens in viel kleinerem Maß Anspruch erheben.

Drittens ist ja die Aufgabe der Staatswissenschaften nicht die, dem Menschen ein bestimmtes unausweichbares Schicksal zu prophezeien, sondern vielmehr jene, seine freie Selbstbestimmung zum Guten und Nützlichen zu leiten. Nicht darum wird die Erfahrung zu Rate gezogen, nicht darum wird gezeigt, wie ein gewisser Weg, den man verfolgt, notwendig zum Unglück führen muß, damit wir uns alle ruhig in unser Schicksal ergeben und willenlos auf einer Bahn weiter taumeln, worauf andere ihren Untergang gefunden haben; sondern eben damit wir uns ermannen und andere Wege einschlagen. Wie sollte eine Wissenschaft zur Verlängerung der menschlichen Freiheit führen, die in dem Augenblick, wo man diese verleugnet, ganz zwecklos wird, so daß sich nur ein Unsinniger mit ihr beschäftigen könnte.

Nach den Ansichten des Altertums ist die Staatswissenschaft bloß ein - wenn auch der wichtigste - Teil der Ethik. Wie schon die Pythagoräer die menschliche Tugend als das Ziel der Politik erklärt, so ist die Hauptaufgabe des Gesetzgebers - nach PLATO (de legibus I. II. VI.) - darin zu suchen, die Menschen zur Tugend und sittlichen Vollkommenheit zu führen; dieselbe Auffassung finden wir bei CICERO (De repub. V. 1. 4.) Die neuere Zeit hat eine andere Bahn eingeschlagen, und durch eine strenge Sonderung des Rechts und der sittlichen Pflichten, den Staatswissenschaften, die sich mit jenen beschäftigen, ein selbständiges Gebiet angewiesen, übrigens muß jeder einsehen, daß neben dieser Trennung Moral und Staatswissenschaften immer analoge Disziplinen geblieben sind, und daß wir uns in den beiden derselben Mittel der Erkenntnis bedienen müssen. Wenn es nun außer allem Zweifel liegt, daß die Moral, insofern sie nicht auf der Religion beruth, jedes Sittengesetz aus der Erfahrung abstrahiert; wenn man anerkennen muß, daß die Richtigkeit gewisser sittlicher Gesetze eben dann als bewiesen zu betrachten ist, wenn man aus der Erfahrung gezeigt hat, wie dieselen durch alle Völker und zu allen Zeiten anerkannt waren, und ihre Befolgung zum Glück, ihre Verletzung zum Elend geführt hat, so muß uns die Erfahrung in den Staatswissenschaften wohl auf dieselbe Art nützlich werden.

Endlich muß es uns, wenn wir die Geistesrichtung unserer Zeit betrachten, klar werden, daß alle Ergebnisse der Staatswissenschaft nur insofern von praktischme Nutzen sein können, als man dieselben auf Erfahrungen zu begründen imstande ist.

Der Grad der Befriedigung, der sich von einer gewissen Einrichtung des Staates erwarten läßt, hängt nicht von ihrer absoluten Vollkommenheit, sondern von der Überzeugung aller Staatsangehörigen ab, daß man den Staat wirklich auf die möglichst zweckmäßigste Art eingerichtet hat.

Dieses Ergebnis kann nur auf zwei Arten erreicht werden.

Entweder sind gewisse Grundsätze so allgemein anerkannt, daß man dieselben bloß mit der möglichsten Konsequenz anzuwenden braucht, um jeden Zweifel, der sich gegen das rechtliche Bestehen der Staatseinrichtungen, denen sie als Grundlage dienen, erheben könnte, zum Schweigen zu bringen.

Oder es bestehen keine solchen Grundsätze, und die Zweckmäßigkeit der Staatseinrichtungen muß bewiesen werden. -

Das Erste kann nur da der Fall sein, wo den Einrichtungen des Staates die Religion als Grundlage dient; nur durch sie kann jene Übereinstimmung erreicht werden, wodurch jeder die Gesetze des Staates - auch wenn sie ihm sonst drückend scheinen - als eine Notwendigkeit, als das Gebot eines höheren Willens, gegen welchen er sich nicht auflehnen darf, ruhig erträgt. Es ist dies die Grundlage, welche den Staaten des Altertums ihre Festigkeit gab, es ist dies das Fundament, worauf selbst Zustände, wie wir sie im Mittelalter finden, Jahrhunderte lang bestehen können.

Wo der Staat nicht auf eine religiöse Grundlage gebaut ist, muß - im Falle man der Verfassung desselben, wie dies in neuerer Zeit fast überall geschehen ist, gewisse Prinzipien zugrunde gelegt hat - die Richtigkeit dieser Grundsätze, und wo man dies nicht getan hat, die Zweckmäßigkeit der einzelnen Einrichtungen erst bewiesen werden, und beides ist - da dieser Beweis nicht für einzelne Gelehrte, sondern für ganze Völker zu führen ist - nur mit solchen Gründen möglich, denen das Volk eine beweisende Kraft zuschreibt, d. h. durch Gründe der Erfahrung.

Von dem Augenblick, als die Wissenschaft die Bahn, welche sie bis ins 17. Jahrhundert verfolgt, verlassen und die Grundlage des Rechts nicht mehr in der Offenbarung des göttlichen Willens gesucht hat, ist die Erfahrung die einzige Quelle der Erkenntnis für sie geworden, und wenn MELANCHTONs Behauptung, daß die Gesetze der Natur jene der 10 Gebote sind (De lege naturali apodictica mehodus, Wittenberg 1566) und SALDENs (De jure naturalit et gentium juxta Disciplinam Ebraeorum, 1629) Ansicht, daß die Vernunft nicht als Erkenntnisquelle des Rechts betrachtet werden kann, sondern daß diese in Gott allein zu suchen ist, heutzutage als höchst unwissenschaftlich zurückgewiesen werden, so ist dies nur insofern vernünftig, als man auf eine andere Quelle der Erkenntnis hinweisen kann, und wenn man die Revelation [Offenbarung - wp] zurückgewiesen hat, so ist mir keine andere als die der Erfahrung bekannt. - Mag man daher immerhin behaupten, daß die Wissenschaft, die man auf diesesm Weg erlangen kann, eine sehr unsichere ist, so ist er doch der einzige, der uns offen steht, zumindest der einzige, auf welchem unsere Forschungen von praktischem Nutzen sein können. Es genügt nicht, wenn wir in der Staatswissenschaft das Wahre gefunden haben; die Hauptsache ist, daß man das Volk von der Richtigkeit des Gefundenen überzeugt, und wie man auch gewisse Grundsätze als Postulate der reinen oder praktischen Vernunft aufstellen und auf ihnen das Gebäude seiner Wissenschaft in einer schönen Reihe von Schlußfolgerungen weiterführen mag, so wird immer nur dasjenige allgemein als wahr angenommen werden, was man durch Erfahrungen zu beweisen vermag.
LITERATUR: Joseph Eötvös - Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat, Leipzig 1854
    Anmerkungen
    1) Pierre-Joseph Proudhon, Bekenntnisse eines Revolutionärs
    2) LOUIS BLANC, Pages d'Histoire de la Revolution de Février.
    3) GUIZOT, De la Démocratie en France.
    4) THIERS, De la propriété
    5) PROUDHON, Bekenntnisse eines Revolutionärs
    6) BARAUTES, Questions constituelles
    7) Die Gefahren, welche dem gegenwärtigen Staat in Frankreich drohen, scheinen in anderen Ländern entfernter, doch sie bestehen überall und niemand, der die Zeichen der Zeit aufmerksam beobachtet, wird behaupten, daß selbst das stolze  Albion  unter der Hülle äußerer Ruhe nicht manche Elemente verbirgt, die man niederzuhalten weiß, die aber doch jeden Nachdenkenden mit Besorgnis erfüllen müssen.
    8) Den größten Beweis hierfür finden wir darin, daß dieser Fortschritt nicht auf Länder mit gewissen Staatsverfassungen beschränkt blieb, sondern in solchen noch größer war, wo nur sehr kleine Veränderungen vorgenommen wurden. Ich führe hier bloß Deutschland im Gegensatz zu Frankreich auf.
    9) Die Schwierigkeit, über menschliche Verhältnisse zu urteilen, liegt vielmehr in der Natur des Beobachters und weniger in jener des zu beobachtenden Gegenstandes, dem gegenüber wir selten jener Ruhe fähig sind, die jede richtige Beobachtung erfordert.
    10) FRANCIS BACON, Novum Organum 1. Aphorismus, Seite XIV
    11) BACON, a. a. O., Seite XXX
    12) BACON, a. a. O., Seite LXX
    13) BACON, a. a. O., Seite LX
    14) BACON, a. a. O., Aphorismus 19 und 25
    15) BACON, a. a. O., Aphorismus 45
    16) BACON, a. a. O., Aphorismus 46
    17) BACON, Work I, Delineatio et Argumentum
    18) BACON, a. a. O., Aphorismus 90
    19) BACON, a. a. O., Aphorismus 73
    20) BACON, a. a. O., Aphorismus 124
    21) BACON, a. a. O., Aphorismus IX
    22) BACON, a. a. O., Aphorismus 104
    23) BACON, a. a. O., Aphorismus 27