ra-2F. SanderH. ArendtE. BurkeK. KautskyA. Liebertvon Wiese    
 
EMIL LEDERER
Einige Gedanken zur
Soziologie der Revolutionen


"Zweierlei ist jeder echten Revolution wesentlich: daß sie Idee ist und daß sie eine soziale Kraft mobilisieren kann. Als Idee muß sie umfassend sein, sie muß eine wahrhaft universale Idee sein, um jene allgemeine Ergriffenheit zu erregen, welche der psychische Nährboden für die revolutionäre Bewegung ist. Und sie muß eine soziale Kraft mobilisieren, stark genug, um den herrschenden Apparat niederzuwerfen."

"Führer, aus einem friedlichen Milieu heraus gewählt, auf Aufgaben der friedlichen Entwicklung eingestellt, sind meist nur mit den Problemen ihrer Klassenorganisation vertraut. In den Wirbel einer gewaltsamen sozialen Bewegung hineingestellt, sind sie geneigt, die Maßstäbe ihrer Friedensexistenz anzulegen, sie sind nur schwer großen Ideen zugänglich und werden die Institutionen der Klasse, welche sie mitschaffen halfen, nicht gern aufs Spiel setzen. Wenn man es stark ausdrücken will, so kann man sagen, daß die moderne wirtschaftliche Entwicklung eine soziale Bürokratie zu Führern bestimmt. Diese soziale Bürokratie ist ebenso wie die staatliche außerhalb jeder Fühlung mit den Intellektuellenschichten ihrer Zeit. Diese gelten ihr als Literaten, welche Phantomen nachjagen. Ist es doch begreiflich, daß Menschen, welche ihr ganzes Leben begrenzten Aufgaben widmen, die Tragweite von Ideen unterschätzen, selbst wenn auch sie nur einer, in Zweckgebilde eingegangenen, Idee vergangener Jahrzehnte das Dasein verdanken.


Vorbemerkung

Der vorliegende Versuch, dem ein im Frühjahr 1918 im Wiener Freundeskreis gehaltener Vortrag zugrunde liegt, wurde Anfang September 1918 niedergeschrieben und dann dem Verlag zur Veröffentlichung übergeben. Er erscheint jetzt in unveränderter Fassung, sosehr auch die inzwischen hereingebrochene Flut des Geschehens zu einer - das Tatsächliche einbeziehenden - Weiterführung der Grundgedanken reizte. Jedoch gerade das überwältigend Nahe und Unmittelbare des Geschehens schließt es vorerst noch aus, dieselbe Distanz der Betrachtung zu wahren, so daß alles, was heute hinzugefügt werden könnte, auch bei weiterer Geltung der hier vertretenen Gesichtspunkte, gleichsam in einer anderen Ebene läge - die Gleichmäßigkeit der Darstellung zerreißend. Es sei also gestattet. om einigen kurzen Randbemerkungen die Beziehungen zur gegenwärtigen Lage anzudeuten. Soweit wir nach der Fülle aller Nachrichten, welche auf uns einstürmten, zu einem einheitlichen Bild gelangen können, entzündete sich die Revolution im Widerstand der Marine und der Armee gegen die nutzlose Fortsetzung eines bereits unabwendbar verlorenen Krieges. War auch dieser ungeheure Ausbruch sich selbst ordnender Massenkräfte psychologisch durch die unerträgliche Spannung der Kaiserkrise auf politischem Gebiet vorbereitet - es war in der Entstehung und im Verlauf eine Aktion militärischer Massen. Da aber jede große Volksbewegung in einem Industriestaat zu einer  Arbeiter bewegung werden muß (denn der Arbeiter geht in bewegten Zeiten auf die Straße, d. h. also er streikt, was schon die Zusammenfassung der Arbeiter nach Betrieben, ihre Formierung als Klasse abseits vom Demos bedeutet) und da in der politischen Spannung seit Jahren die Disposition für eine Erhebung der Arbeiterklasse angesammelt war - so wuchs aus dieser Revolte des Militärs mit einem Schlag die Revolution des Proletariats empor.

Wenn wir diese Revolution mit dem naheliegenden Beispiel der russischen vergleichen, so zeigen sich mehrere wesentliche Unterschiede:
    1. Das Ziel der militärischen Bewegung: Waffenstillstand, Anbahnung der Friedensverhandlungen, war mit der Erhebung schon erreicht. Die einförmig graue Masse der Soldaten fand mit ihren überall in gleicher Weise spontan aufgetauchten Forderungen so gut wie keinen Widerstand; die Ereignisse in Rußland hatten in dieser Hinsicht der deutschen Erhebung vorgearbeitet.

    2. Die große Masse der deutschen Soldaten zeigt eine sozial außerordentlich mannigfaltige Struktur. Es fehlten daher in der  militärischen  Revolution zunächst die  sozialen  Forderungen - anders als in Rußland, dessen Armee, überwiegend aus Bauern bestehend, die Landreform, bzw. Landverteilung, als selbstverständliche Folge der neuen Freiheit ins Auge faßte. So ergibt sich

    3. eine etwas zufällige Verknüpfung der Arbeiter- mit den Soldatenräten. Die revolutionäre Masse ist nicht sozial homogen.
Bei allen Verschiedenheiten nach Stamm und Land ist den deutschen Revolutionen  bisher  die große Organisiertheit gemeinsam: alle Massenkräfte schießen in die gegebenen Formen von Kaserne und Gewerkschaften, deren Gehäuse geräumig genug sind, um die Bewegung zu fassen. Aber diese Organisation ist zunächst eine abstrakte; da schon in den ersten Tagen das alte, bis dahin herrschende System restlos zusammenbrach, sehnt sich die Masse offenkundig nach einer bildhaften Parole. Nur der Sozialismus war fähig, sie ihr zu bieten, umso mehr als ja schon durch die offizielle Ideologie das Schlagwort in Umlauf gesetzt wurde, der Krieg sei eine Auswirkung der kapitalistischen und imperialistischen Interessen (allerdings nur auf Seiten der Gegner). In den Sozialismus hat sich daher die ganze Massenbewegung  geflüchtet;  in den Sozialismus, welcher gegenüber der zerstörenden Gleichgültigkeit der kapitalistischen Maschinerie an das unverbrüchliche Recht des Menschen auf leibliche und seelische Existenz appelliert und das Ideal der Gleichheit aus der politischen in die wirtschaftliche Sphäre übersetzt. Aber die Idee des Sozialismus war in Deutschland nicht getragen von einer starken Schicht der Intellektuellen, die für sie lebten und in der Revolution die Erfüllung ihrer glühendsten Wünsche fanden: sie wurde aufgenommen von den Partei- und Gewerkschaftsinstanzen, welche - eine soziale Bürokratie - während des Krieges  die  Politik und  die  Ordnung so vielfach unterstützten, die jetzt in der Revolution zusammenbrach. Der revolutionäre Kern der Massen, die leidenschaftlichen, die verbissenen und die hartnäckigen Vertreter des revolutionären Prinzips, die zu Tausenden monate- und jahrelang in den Kerkern geschmachtet hatten, im härtesten militärischen Arbeitsdienst vielfach aus politischen Gründen gefesselt wurden solange der sieghafte Militarismus allüberall im Volk bis tief in die Reihen der sozialistischen Partei restlos die Gemüter beherrschte, - sie sind mißtrauisch gegenüber dieser bürokratischen Hierarchie und entbehren der führenden Idee. So können diese dunkel-geheimnisvollen Kräfte, welche sonst der Bewegung Schwung verleihen und die Schutzwehr gegen die Möglichkeit einer Gegenrevolution sind, nur blind und verworren zur Auswirkung kommen. In einer unglückseligen Verkettung der Umstände sind dumpfe Vorstellungen in ihnen von einer finsteren diktatorischen Gewalt des Proletariats über die anderen Klassen zur Herrschaft gelangt, Gedanken, welche in Rußland in einer ganz eigenartigen geschichtlichen Situation entstanden waren. Die frühere deutsche Politik hatte nicht nur die Hand dazu geboten, die bolschewistischen Führer nach Rußland gelangen zu lassen, si hat in einer verhängnisvollen Verblendung über die Leistungsfähigkeit der Machtpolitik und ihrer militärischen Machtmittel durch den Frieden von Brest-Litowsk deren Position im eigenen Land untergraben und sie dadurch zur äußersten Anwendung ihrer Machtmittel nach innen gedrängt. In einem räumlich wie zeitlich zusammengedrängten Ablauf scheint jetzt Deutschland demselben Entwicklungsgesetz zu unterliegen, das Rußlands Schicksal zu trübe gestaltet. Letzten Endes aber hängt das alles innerlich zusammen: der russische Bolschewismus, mißbraucht von Deutschland als Mittel, um Rußland auseinanderzureißen und getreten zugleich von demselben Machtsystem, das seinem innersten Wesen nach Ideen für eitel Tand ansah, für Phrasengebilde, gut genug, um diplomatische Schachzüge damit zu decken - des droht nun der jungen deutschen Revolution, nicht in bloß mechanischer Übertragung, sondern tiefstinnerlich begründet darin, daß bis auf eine geringfügige kleine Gruppe  alle  politischen Schichten das System geist- und hemmungsloser Machtpolitik nicht allein ertragen, sondern zuzeiten sogar positiv gefördert hatten.

So bleibt uns heute nur zu hoffen, daß endlich doch die aufbauende Idee einer neuen Zeit sich auch in der Masse die Kräfte sammeln und formen wird. Den Weg, der dahin führt und besonders den, der davon  ab führt, hat vor Jahren einmal kein anderer als TROTZKI - (in seinem Buch "Rußland in der Revolution", 1905, Seite 228f) in unübertrefflicher Klarheit erfaßt:
    "Die revolutionäre Wirkung des politischen Massenstreiks besteht darin, daß sie über den Kopf des Kapitals hinweg die staatliche Gewalt desorganisiert ... Die Klasse, die auf dem Weg der einmaligen Arbeitseinstellung den Produktionsapparat und zugleich den zentralisierten Staatsapparat lahmlegt, indem sie die einzelnen Teile des Landes voneinander isoliert und eine Unsicherheit erzeugt, muß selbst genügend organisiert sein, wenn sie nicht als erstes Opfer der von ihr geschaffenen Anarchie fallen will. In je höherem Maß der Streik die bestehende Staatsorganisation paralysiert, in umso höherem Maß muß die Organisation des Streiks selbst die Ausübung der Staatsfunktionen auf sich nehmen ... Indem der Streik das Getriebe des absolutistischen Staatsmechanismus lähmt, trägt er seine eigene demokratische Ordnung in das Leben der arbeitenden Bevölkerung der Städte ..."
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So schwierig es auch sein mag, die von drängenden und einander scheinbar richtungslos überstürzenden Tatsachen erfüllte Gegenwart auf ihr typologisches Prinzip hin zu deuten, und so gewaltsam vielleicht auch diese Vereinfachung auf das Prinzipielle anmutet: ich möchte dennoch meinen, daß der tatsächliche Ablauf das in den folgenden Ausführungen theoretisch gefaßte Bewegungsgesetz eines revolutionären Prozesses aufweist.

In Rußland, wo die eine entscheidende Gewähr, das Vorhandensein einer breiten revolutionären Intellektuellenschicht gegeben war, hatte sich auch in überraschend erfolgreichem Siegeslauf eine großzügige Neuordnung angebahnt. Da jedoch erstens die straffe Organisiertheit noch fehlte, ferner die geschichtlich-akzidentielle Verstrickung in einen unheilvollen Krieg (der eben nur bei Gefahr eines neuen Krieges mit den ehemaligen Verbündeten abzuwenden war) alle gesellschaftlichen Kräfte rettungslos verwirrte und wild gegeneinander trieb, so fiel die einigende Idee einer chaotischen Wirrnis anheim. Wer wollte sich wundern, daß in jener Lage: auf der einen Seite alle nationalpatriotischen Elemente, stets zur Gegenrevolution bereit und stets auf die Hilfe der anderen Mächtegruppe hoffend - und diese herbeirufend -, auf der anderen Seite der siegreiche Gegner trotz angeblichen Friedensschlusses seine Machtsphäre immer weiter über den lebendigen Volks- und Wirtschaftskörper spannend -, daß in einer solchen Lage ihre Urheber sich schließlich in ein blutiges System von Terror und Gegenterror verloren. Nur ein unbegrenztes Vertrauen zu den immer noch nicht verschütteten Kraftquellen dieses großen und - in jedem Sinne -  weiten  Landes kann die Hoffnung bewahren, daß es aus der furchtbaren Dynamik dieses Schicksals zu der ihm ursprünglich voranleuchtenden Idee und zu deren verlassenen Logik zurückfinden wird.

In Deutschland setzt die Revolution auf breitester organisatorischer Basis ein, so daß man manchenorts das Bild einer gleichsam auf ausgefahrenen Geleisen abrollenden Bewegung empfangen konnte, die ihre revolutionären Organe einrichtet, wie man Büros eines neuen Verwaltungskörpers einzurichten pflegt. Hingegen fehlt hier der Rückhalt an die breite kulturproduktive Schicht sozialistisch gesinnter und wirkender Intellektueller, an die sich die zu Führern aufsteigenden Träger der Bewegung anzuschließen hätten. Daher die so viel beklagte Verflachung und der Zug zu einem ideenlosen Opportunismus, die Abstoßung der wahrhaft revolutionären Elemente in ruhigen Zeiten; aus ebendemselben Grund aber in der Sturmzeit der Revolution das rasche Aufkommen etxtrem gerichteter Gruppen - mit ihrer gleichsam abstrakten, revolutionären Energie in einem traditionell gewordenen Mißtrauen gegen das kaum erst aufgerichtete Gerüst einer revolutionären Organisation anrennend. Und deshlab schließlich die große Schicksalsfrage, wie die von Rußland her drohende Gefahr der Anarchie, die uns schon jetzt, zwei Wochen nach der ersten Erhebung umlauert, zu bannen ist?



Was ist das Problem der Revolution? Die Überwindung einer höchst paradoxen Lage: die Revolution ist erst möglich, wenn die Gewalt der herrschenden Mächte zwar noch über einen vollständigen und ausreichenden Machtapparat verfügt, aber wenn diese Gewalt - eben weil sie nur mehr bloße Gewalt ist - innerlich nicht mehr anerkannt wird, wenn sie lediglich als gegebener Apparat weiterwirkt. Sie ist also nur möglich, wenn die Gewalt bereits ganz seelenlos geworden ist, wenn ihr keine lebendigen Kräfte mehr aus der Gesellschaft zuströmen. Und die Revolution fordert, daß eine  Idee  als die entscheidende neue Grundlage von der Gesellschaft ergriffen wird und in persönlichen Kräften Substanz gewinnt. Allerdings, auch diese Personen können die Idee, welche in ihnen lebt, nicht anders realisieren als durch Mittel der Gewalt. Täten sie dies nicht, so müßte der herrschende Machtapparat (und in diesem Fall herrscht tatsächlich nur mehr ein Apparat) schon durch seinen bloßen Umfang mechanisch weiter existieren, so wenig er auch mehr Achtung einflößen mag. Revolution ist also nur möglich (und in diesem Fall durchaus noch nicht immer gegeben), wenn sich eine Idee ihrer erlösenden Kraft bewußt wird, wenn sie menschliche Kräfte hinzureißen vermag, so daß selbst Mittel der Gewalt zu ihrer Realisierung in Anwendung gebracht werden. Und die so ausbrechende Bewegung ist nur dann eine Revolution, wenn sie nicht in der Gewaltanwendung stecken bleibt oder in dieser endet, wenn sie imstande ist, nach ihrer Idee die Gesellschaft zu formen. Immer ist in der Geschichte die Spannung zwischen der Idee und ihrer Realisierung durch einen Machtapparat gegeben, - in der Revolution erreicht diese Spannung ihren Höhepunkt, weil sich die reinste Idee letztlich auf bloße Gewaltanwendung verwiesen sieht (dies auch die innere Schwierigkeit des Terrorismus als revolutionärer Methode). Darum ist jede Revolution eine gefährliche Krise für das Leben der Idee in der Geschichte - in ihr muß sich entscheiden, ob durch Gewalt ein neuer Weltenplan realisiert werden kann, ob die Gewalt ein taugliches Mittel ist für die Verwirklichung der sozialen Idee - was letztlich gleichbedeutend ist mit der Frage: ob überhaupt ein geistiger Gehalt der sozialen Entwicklung innewohnt.

Was ist Revolution in diesem Sinn? Sie ist der Durchbruch einer Idee zur Wirklichkeit. So hat die Idee des freien Bürgers 1789 das feudale Frankreich zerbrochen, hat die ganze historische Hierarchie, den feingegliederten Stufenbau des Adels, sowohl seine ökonmische Grundlage wie seine soziale Position, zertrümmert. Zwar nicht für immer und nicht ganz. Aber das Wiedererwachen während der Restaurationszeit stand doch unter dem Schatten des neuen Geistes, und der soziale Raum für die "Gesellschaft" alten Stils war zumindest viel enger geworden. Die russische Revolution hinwieder scheint den Begriff der Arbeit und den sozialen Typus des Arbeiters zur Idee erheben zu wollen. Der Arbeiter, der immer Duldende und Leidende, der ebenso Hilfreiche wie Hilfsbedürftige, der Arbeiter, welcher mit seiner Hände Werk die Welt fügt, von dem alle leben und der für alle lebt, ist die Idee dieser Revolution; sind alle Menschen Arbeiter, so ist niemand mehr Knecht. Diese soziale Idee, welche den Gedanken der Gleichheit in der wirtschaftlichen Sphäre verankert, hat viele Wurzeln. Aber wie jeder Gedanke seine Struktur verändert, wenn er in die Wirklichkeit tritt, so auch dieser. MARX und BAKUNIN, ENGELS und KROPOTKIN, die Systeme gesetzter Ordnung und Autonomie, nur sich selbst gehörender Freiheit - sie alle sind lebendig geworden im rasenden Strom der Entwickelung, sie sind alle da und doch alle anders, weil es Menschen sind, in welchen sie sich realisieren, und weil diese Menschen sozialen Schichten gehören, eine historische Vergangenheit mit sich schleppen, und weil alle diese Ideen; von welchen sie getragen werden, nicht isoliert in den Köpfen leben: so ist die Natur dieses dunklen, geheimnisvollen, in allen Konsequenzen unabsehbaren Prozesses, welchen man Revolution nennt, immer etwas Einzigartiges, ein historisches Phänomen, mit keinem anderen vergleichbar. Und nur die vorsichtigste Betrachtung vermag diesen scheinbar ganz emotionalen leidenschaftlichen Temperamentausbruch ganzer Völker, diese Wendepunkte in den Ideen und in der tatsächlichen Daseinsgestaltung einem Begreifen näherzubringen.

Zweierlei ist jeder echten Revolution wesentlich: daß sie  Idee  ist und daß sie eine  soziale Kraft  mobilisieren kann. Als Idee muß sie umfassend sein, sie muß eine wahrhaft universale Idee sein, um jene allgemeine Ergriffenheit zu erregen, welche der psychische Nährboden für die revolutionäre Bewegung ist. Und sie muß eine soziale Kraft mobilisieren, stark genug, um den herrschenden Apparat niederzuwerfen; demnach mit dem Schwerpunkt in einer großen sozialen Schickt, aber doch nicht ganz auf diese beschränkt, wie ja jede große und weithin wirkende Revolution auch Angehörige der herrschenden Kreise für sich zu gewinnen weiß.

- Vielfach wird der ideelle Gehalt der Revolutionen von Historikern für gering erachtet. Sie verweisen auf die in der Revolution meist gegebenen Gewaltakte (als ob etwa vorkommende Plünderungen oder Überschreitungen des Kriegsrechts den Sinn eines Krieges zu ändern vermöchten); für ihre Anschauung ist es eine Anomalie, daß die  innere  Abwicklung innerhalb der Staaten plötzlich die Führung an sich reißt in Abhängigkeit von den Machtverhältnissen im Inneren gerät. Die Historiker scheuen die Sprunghaftigkeit, welche für den Betrachter der äußeren Vorgänge manchmal gegeben sein mag; denn Menschen, welche auf dem Schauplatz der Geschichte durchaus als Fremdlinge, ja Eindringlinge, gelten müssen, machen sich in den Revolutionen breit, der enge Kreis "berufener Machtfaktoren" wird gesprengt, die Logik der Entwicklung macht Sprünge, das Paradoxe siegt. - Darum ist es erklärlich, daß Revolutionen gewöhnlich von den "Mißständen" abgeleitet werden, daß man sie als "vermeidbar" betrachtet; aber nie kann man aus "Mißständen" und "Fehlern" eine Revolution erklären. Eine Regierung mag noch so gerecht und exakt sein, sie kann doch über die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Machtposition nicht hinauswachsen, sie  muß  sich unter Umständen zu neuen in der Entwicklung auftauchenden Prinzipien feindlich verhalten. Auch sind es nicht diese "Mißstände", um deren Abschaffung eigentlich gerungen wird: verschwinden sie doch häufig keineswegs mit der Revolution. Und letztlich: welches Regime ist ohne "Mißstände", ohne Korruption, ohne Bevorzugung der herrschenden Schichten (welche ja durchaus im Rahmen des Gesetze erfolgen und schon gegeben sein kann, wenn eben den Angehörigen bestimmter Schichten wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten und Machtpositionen gesichert sind) - und wie selten sind doch Revolutionen! Denn zur Revolution gehört mehr als moralische Erbitterung und Empörung, wenngleich diese einen der stärksten Motoren bilden mögen. Aber trotz alledem ist sie immer eine Überraschung, ist sie immer das Durchbrechen einer Kontinuität, ist sie das überwältigende Einströmen einer neuen Idee. Ja man kann sogar den Satz wagen: Wenn Geschichte uns überhaupt nur interessant ist als Auswirkung von Ideen, als Realisierung von Prinzipien, so ist Wachstum und Zerfall der Staaten nur dann bedeutsam, wenn dadurch das "geistige Gesicht" der Welt eine Veränderung erfährt. Je deutlicher alle Staaten die Züge des modernen, abstrakten Machtstaates zeigen, umso mehr verliert für das "geistige Gesicht" der Welt Sieg oder Niederlage eines der streitenden Teile an Bedeutung. Denn die Imperialismen sind einander allerwärts gleich. Der Schwerpunkt des Ideellen, "des Wesentlichen" in der Geschichte verschiebt sich in das Innere der Staaten. Da ringen noch Prinzipien miteinander. Wie immer man zur Revolution und in einer Revolution stehen mag: es ist unmöglich, zu bezweifeln, daß der Kampf um Ideen geht, während alle die Kriegsideologien allmählich zerflattern und als Objekte des Ringens sich immer deutlicher Machtpositionen enthüllen.

Dieser Kampf um Ideen aber realisiert sich in der sozialen Sphäre. Man kann zwar auch "die Revolution in der Philosophie machen", sie beschränkt sich dann aber freilich auf eine beschauliche Betrachtung. Denn die Revolution ist ohne Vollziehung im Sozialen nicht möglich. Da wird die Struktur der Gesellschaft in Frage gestellt, eine neue Form gesucht, da wird die Macht zwischen den Klassen anders verteilt; von dieser Realisierung einer Idee in der sozialen Sphäre gehen dann die größten Umwälzungen in allen Wertungen aus, hier zeigt sich dann die soziologische Bedingtheit aller Ideensysteme, aller menschlichen Einrichtungen, aller Denkinhalte und Denkformen. So furchtbar und unabsehbar, so ungeistig häufig in seiner Erscheinungsform auch dieser Umwälzungs- und Umformungsprozeß ist - letztlich ist er doch nur möglich, wenn die leitende Idee, das neue gesellschaftliche Prinzip, in der sozialen Realität zum Durchbruch kommt.

Eine Soziologie der Revolutionen, zu welcher hier nur einige Bemerkungen gemacht werden können, muß sich daher zwei Probleme stellen: Welches ist die soziologische Bedingtheit der  revolutionären Idee?  Und wovon hängt es ab, daß sich diese revolutionäre Idee in einer  sozialen Bewegung größten Stils  zu realisieren vermag? Die beiden Fragen hängen eng miteinander zusammen und können daher auch im folgenden nicht durchaus voneinander getrennt beantwortet werden.

Zunächst ist die revolutionäre Idee  wie jede andere  soziologisch bedingt; aber nicht darum handelt es sich hier. Sondern um die Bedingungen, unter denen eine Idee revolutionär werden kann. Denn keine Idee ist  ansich  durch ihren Gehalt als reine Idee revolutionär. Wenn z. B. die französische Revolution auf ihrem Höhepunkt sich als die letzte Konsequenz aus den Forderungen der menschlichen Vernunft ansah, so hat doch wohl niemand jemals gemeint, das Prinzip der Vernunft im Sinne des 18. Jahrhunderts bedeutet schon Revolution. Denn immer ist von der theoretischen Einsicht bis zur Aktion ein Sprung, etwas Überraschendes, etwas aufregend Plötzliches; und immer ist auch zwischen der Idee und ihrer Realisierung eine Spannung. Auch ist die Idee - z. B. die des freien Staatsbürgers, die Idee der Gleichheit - auf verschiedenen Wegen realisierbar. Und welcher Weg eingeschlagen wird, wird von den sozialen Bedingungen abhängen, also davon, welche Temperamente sich in einem gegebenen historischen Zeitraum auswirken können, welche Situation überwunden, welche neu geschaffen werden muß, wie die Machtverhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt des Umsturzes und welche Möglichkeiten gegeben sind, um die nach sozialer Macht ringenden Kräfte zur Herrschaft zu bringen. Von all diesen Umständen wird es abhängen, ob sich z. B. der Gedanke des freien Staatsbürgers in "friedlicher Entwicklung" durchsetzt, oder mit gewaltsamen Konvulsionen, ober er auf die politische Sphäre beschränkt bleibt, oder auf die ökonomische übergreift und die gesellschaftlichen Klassen zertrümmert. Denn wenn die Idee als Seele der Revolution betrachtet werden kann, so ist die Revolution nicht schon mit der Idee gegeben. Wenn das Idealbild eines gesellschaftlichen Zustandes die Köpfe erfüllt und den Menschen ein Ziel vorzaubert, das sie mit der ganzen Glut ihrer Seele anstreben, so ist schon dieses Bild in seiner ganzen Komposition abhängig von der Struktur der Umwelt. Es ist zwar eine neue Gestaltung, aber doch ebensosehr zugleich eine  Umgestaltung  des Bestehenden - und vollends die Mittel zu seiner Realisierung, die Wege zur Erreichung des Ziels müssen durch die Gegenwart hindurchführen, müssen mit ihren Mitteln zurückgelegt werden.

Wenn wir die Ideen, welche zu einer revolutionären Ausprägung gediehen sind, betrachten, so können wir sehen, daß sie stets eine  Vor formung des kommenden Zustandes darstellen. Ohne eine solche Vorformung, welche eben die Idee der Revolution darstellt, ist sie gar nicht denkbar, würde eine noch so große gesellschaftliche Katastrophe eben in der Katastrophe steckenbleiben, würde ein Zusammenbruch, aber kein neuer Aufbau möglich sein. Sind also die revolutionären Ideen einerseits ein Sprengstoff, der unter gewissen Bedingungen das Bestehende zertrümmern kann, so sind sie doch zugleich der Bauplan der Zukunft und ermöglichen den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Die Sicherheit des Aufbaus, das Tempo des Prozesses hängt in vielem davon ab, wie diese Vorformung erfolgt ist; sie konnte gesetzt sein bloß als adäquate Idee, welche sich entfaltet hat, welche sich ausgebaut hat im geistigen Prozeß des Denkens. Wir haben dann nur einen Parallelismus zwischen Idee und Wirklichkeit, nicht eine direkte Bezogenheit, oft nur eine Art  Vorahnung  des Kommenden (wie in den Ideen der französischen Enzyklopädisten), aber immerhin einen Zusammenhang, welchen die materialistische Geschichtsauffassung dann so deuten würde, daß wir uns nur in Problemen bewegen können, welche die Zeit stellt, daß aber umgekehrt die "Probleme der Zeit" von den Denkenden auch  gedacht werden müssen.  Diese Vorformung kann aber zuweilen auch als  Erkenntnis der Lage,  als deutliche Vorstellung einer zukünftigen sozialen Form in die Geschichte treten. Das größte Beispiel hierfür ist MARX. Und so löst sich die Schwierigkeit, welche für das Denken darin liegt, daß Idee und Wirklichkeit so glatt zusammengehen können, daß revolutionäres Feuer und Brotinteresse dasselbe Ziel haben. BAKUNIN hat es einmal für den Sozialismus so ausgedrückt: der Arbeiter muß "von selbst" alle politischen, sozialistischen und philosophischen Prinzipien der Internationale erkennen, weil diese nur die genaue Umschreibung seines (des proletarischen) Ausgangspunkte und Zieles sind.

Die Ideen können in diesen beiden Formen zu revolutionären werden;  ob  sie es werden, hängt von sozialen Bedingungen ab; mehr noch hängt es schließlich von sozialen Bedingungen ab, ob die revolutionäre Idee realisiert wird. So vollzieht sich die Entwicklung in drei Stufen: das Auftauchen der Idee; ihre Wandlung zur  revolutionären  Idee; ihr Durchbruch zur Wirklichkeit in der Revolution.

Wovon hängt es nun ab, daß eine Idee revolutionär werden kann, und daß sie den Weg zur Realität findet? In erster Linie sind wichtig die Art und Natur der  Intellektuellenschichten  eines Landes. Denn in diesen muß die Idee erstmals Wurzel fassen, hier muß sie sich mit dem geistigen und seelischen Leben der Zeit verschmelzen und dieses umbilden. Nur wenn die revolutionäre Idee als eine  revolutionäre,  mit aller Glut der Leidenschaft durchgefühlte  Forderung  die Menschen packt, so daß sie die ganze Welt und ihre Gestaltung nur unter diesem Aspekt sehen und nur unter ihm sehen  können,  dann ist überhaupt eine Weiterwirkung, ein Lebendig werden der Idee möglich. Aber nur wenn diese Intellektuellenschichten einen Instinkt haben für das sozial Mögliche, wenn sie ein geschärftes Ohr und Auge haben für die Strömungen der Zeit und die Keime des Werdens, welche in ihr liegen, wenn sie gleichsam feinere Ohren haben für das, was geschehen  kann,  und infolgedessen auch wird: dann sind sie imstande, diese revolutionäre Idee zu erfassen, zu verarbeiten, weiterzubilden, das Allgemeinbewußtsein mit ihr zu durchdringen, so daß sich niemand mehr entziehen kann. Die Thesen des Marxismus z. B. haben in Rußland, ob bewußt oder unbewußt, ob in Vertretung oder Abwehr, das Thema des sozialen Kampfes der letzten Jahrzehnte gebildet. Vom marxistischen System aus wurden alle Gegenwartsfragen erörtert, in allen Einzelheiten prinzipiell Stellung zu nehmen gesucht. Nicht um bloße intellektualistische Seiltänzerei hat es sich hierbei gehandelt - wie wohl vielfach Außendstehende meinten -, im Gegenteil: kaum ist je eine gelehrte Erkenntnis so unmittelbar Glaubensinhalt geworden, selten hat sich ein wissenschaftliches System in so vielfältigem Leben verkörpert.

Da es nun für die Ausgestaltung und die praktische Wirkung einer revolutionären Idee in erster Linie auf die Eigenart der Intellektuellenschichten ankommt, so werden sehr viele Umstände bedeutsam, welche sonst für den sozialen Prozeß nicht von dieser Erheblichkeit sind: es spielt die nationale Eigenart beispielsweise eine außerordentlich große Rolle. Auch wenn man der Meinung ist, daß z. B. für den Proletarier die Klassenlage entscheidet - daß sein ganzes Lebensschicksal, seine Lebensinhalte und ihre Färbung bestimmt werden durch die Klassenlage, gegenüber welcher die Zugehörigkeit zur Nation, zum Staat, zurückstehen, selbst wenn man dieser schwerlich haltbaren Meinung ist, so wird man doch zugeben, daß für die Art der Mentalität, das intellektuelle Temperament, für die Art zu sehen, weiter für die Art, Ideen aufzunehmen, zu verarbeiten und den Erfahrungsstoff mit ihnen zu durchdringen, also letztlich für die Beeinflussung der Wirklichkeit aus diesen Ideen heraus die  national Eigenart  eine große Rolle spielt. Der Krieg hat gezeigt, daß diese nationalen Eigentümlichkeiten außerordentlich tief verwurzelt sind, und daß sie dem Volk ein ganz deutliches, unverkennbares Gepräge geben. (Diese Verschiedenheit der Volksindividualitäten erklärt nun keineswegs den Krieg, doch bietet sie allerdings vorhandenen Machttendenzen die Möglichkeit, sich ihrer zu bedienen und aufgrund dieser Verschiedenheiten leicht verfangende Kriegsideologien zu propagieren.) Diese nationale Eigenart drückt sich bei den einzelnen Klassen auf verschiedenen Lebensgebieten aus: Der Arbeiter verrät durch seine Art zu leben und zu wohnen, durch seine Leidenschaften und Bedürfnisse, durch die Art, wie er Frau und Kinder in sein Leben einbezieht, durch seine Arbeit und seine Methoden des sozialen Kampfes, welcher Nation er angehört. Es sind die allgemeinen Lebenstatsachen, in denen sich seine Nationalität ausprägt. Bedeutend weniger trifft das für den Mittelstand zu, der rein sozial betrachtet die international homogenste Schicht darstellt; wobei es hier, wohlverstanden, auf eine ihr etwa eigentümliche Fülle an reich nuancierten  Individualitäten  gar nicht ankommt. Auch auf den Höhen des bürgerlichen Lebens, in den Kreisen der  haute Finance  und der großen Industrie, weiter beim Hochadel und den souveränen Familien hat bereits eine weitgehende internationale Durchdringung die meisten nationalen Besonderheiten abgeschliffen. Hingegen ist der Intellektuelle nicht nur für die politisch-nationalen Strömungen außerordentlich leicht empfänglich, sondern er ist in seinen Auffassungen, in der Art, sie zu vertreten, schließlich auch in der Art des Handelns außerordentlich abhängig von der Zugehörigkeit zu Nation und Staat. Die in einem Volk durch Jahrhunderte, ja Jahrtausende entwickelten Denkinhalte und -gewöhnungen bestimmen ihn, seine enge Verbindung mit oder Abhängigkeit von den herrschenden Schichten beeinflussen ihn. Welcher Unterschied ist derart zwischen dem deutschen und dem russischen oder französischen Intellektuellen! Von welcher Bedeutung ist hier die deutsche Philosophie (z. B. HEGEL), welche ja durchaus nicht in jedem Kopf als System einen lebendigen Inhalt des Bewußtseins zu bilden braucht, aber durch unzählige Zwischenglieder, mit vielen Verzerrungen und Verdünnungen wirkt.

Diese Unterschiede der nationalen Mentalität wirken nicht so sehr auf die  Inhalte  der Politik, als auf die Art,  wie  die einzelnen Gedanken erfaßt werden. Die Idee der Gleichheit, soziologisch bedingt vom und ermöglicht im kapitalistischen Wirtschaftssystem, z. B. ist geeignet, revolutionär zu wirken, aber nur, wenn in ihr die Gleichheit der  Rechte  betont wird; hingegen wird ihre Auffassung als Gleichheit der  Pflichten  eher zur Stützung der eben herrschenden Kräfte dienen. Dies ist die deutsche, jenes die französische und englische Auffassung der Gleichheitsidee. Auch die Idee der Freiheit, welche auf das politische Gebiet bezogen, ja eigentlich gar nicht zweifelhaft sein sollte, ist gerade während des Krieges vielfach interpretiert und umgebogen worden (1), und wer könnte bezweifeln, daß in der "deutschen" Idee der Freiheit die jahrhundertelange Geschichte der deutschen Intellektualität sich deutlich widerspiegelt, jener Prozeß, innerhalb welches sich zwar die Kirche von Rom emanzipierte, aber sich dann umso intensiver dem Staat zuordnete. Auch das Verhalten der Intellektuellenschichten verschiedener Nationalitäten zum Sozialismus ist außerordentlich interessant: die begeisterte Hingabe der russischen Intellektuellen, die Indifferenz der Engländer und Amerikaner, die deutliche Ablehung der Deutschen. Das kann nicht ausschließlich auf die Klassenzugehörigkeit der Intellektuellenschichten zurückgeführt werden; hier wird die ganze Eigenart der Denkinhalte, ja der Kulturinhalte, welche national ebenso durchaus verschieden ist, maßgebend. Man wird einräumen können, daß der Kapitalismus mit der Ausbreitung seiner sozialen Struktur alle modernen Staaten einander nähert, und auch für die Angleichung der Intellektuellenschichten bedeutsam wird - aber das ist zum Teil erst von der Zukunft zu erwarten. Wenn ein Land politisch dumpfe Intellektuellenschichten hat, so können sehr hohe Spannungszustände "ertragen" werden, die sich zwar in gelegentlichen eruptiven Äußerungen Luft machen, aber nicht zu jener einheitlichen, großen Massenbewegung zusammenfließen, welche zur Revolution wird, weil ihr eine Idee der staatlichen Formung voranleuchtet und sie führt, weil sie ein Ziel vor Augen hat, das gewiß nicht von jedem in der Masse klar gesehen, das aber von allen empfunden wird, alle Kräfte beflügelt und der Bewegung eine Richtung gibt. Daß die soziale Struktur allein nicht entscheidet, das zeigt besser als jedes andere Beispiel Rußland. Die Eigenart seiner Intellektuellenschichten, ihre Intensität, ihre Geistigkeit, ihr Temperament haben die Entwicklung beflügelt und beschleunigt. Die Probleme, die Konfliktmöglichkeiten sind auch in anderen Ländern gegeben, aber sie werden noch ertragen, an sie knüpft sich bisher nicht ein alles bewegende und umwälzende Erschütterung. Denn in der Revolution "stürzt" nicht ein System, sondern es wird gewaltsam umgestoßen, und letztlich sind es nicht objektive Tatsachen, welche revoltieren, sondern es ist der Geist, getragen von den Intellektuellenschichten, welche die Parole geben, sich in den Strom der gesellschaftlichen Bewegungen stürzen, und durch die hinreißende Macht des Beispiels die Bewegung der Massen beschleunigen, verstärken und auf ein Ziel hin orientieren. Und wenn auch diese Intellektuellenschichten durch ihre soziale Zugehörigkeit beeinflußt werden, wenn also auch ihre Stellungnahme und ihre Ideologien an die Produktionsbedingungen geknüpft sind, so ist das doch nur eine Komponente; ebenso wichtig und entscheidend ist ihre geistige Eigenart, die von der Geschichte und dem ganzen Kulturzusammenhang, in welchem sie stehen, geprägt wird. Das sind sozial nicht mehr auflösbare Elemente, mit welchen wir als  Gegebenheiten  rechnen müssen.

Die hier erörterten Erscheinungen sind noch zu wenig erforscht, als daß man sagen könnte, ob diese sozial nicht mehr auflösbaren Elemente absolut wesentlich und entscheidend sind. Sie sind es sicherlich  nicht  im positiven Sinn: keine Intellektuellenschicht ist allein aus ihrer Mentalität heraus revolutionär, noch weniger kann sie, wenn die anderen Vorbedingungen nicht gegeben sind, eine Revolution "machen". Hingegen ist heute noch nicht zu entscheiden, ob sich nicht eine Eigenart der Intellektuellenschichten denken läßt, welche eine Revolution absolut ausschließt, so daß diese bloß in Revolten, in einer gewaltsamen Entladung von Spannungen verläuft. Das wahrscheinlichste ist, daß das Tempo der Entwicklung in diesem Fall verlangsamt wird, bis sich der soziale Gestaltungsprozeß in einem allmählichen Aufbau revolutionäre Ideen und revolutionäre Führerschichten schafft, welche bei anderen Völkern schon vorhanden sein mögen, bevor noch die Situation für ihre Auswirkung gegeben war.

Für die  revolutionäre  Idee ist es nun bedeutsam, daß sie sich nicht anders als in einer für jede Idee wesensfremden Art realisieren kann: nämlich durch Gewalt. Denn das Eigenartige der revolutionären Idee besteht ja darin, daß sie irgendeinen Kompromiß mit der Gegenwart ausschließt, daß sie an den Widerständen, welche die Realität bietet, nur umso heftiger entbrennt. Aber auch keine Konzession der herrschenden Kräfte lähmt ihre Energie, im Gegenteil: auch dann steigert sie sich, weil jede Konzession die Standfestigkeit des Gegebenen erhöht und darum den revolutionären Geist nur noch stärker aufpeitscht. Diese fortwährende Steigerung der Energie, welche sowohl aus den Teilerfolgen, wie aus den Mißerfolgen neue Kräfte schöpft, können wir bei allen wahrhaft revolutionären Temperamenten beobachten, aber diese spiegeln nur wider, was in der Logik einer wahrhaft revolutionären Idee liegt, welche ebenso verletzt wird, wenn sie teilweise, wie wenn sie gar nicht realisiert wird. Welcher andere Weg bleibt dann, als derjenige der Gewalt? Denn die Idee übersteigert auch kleine Spannungen zu "unerträglichen" (bzw. durch die Idee werden auch kleine Spannungen unerträglich - denn jede Spannung ist als psychische Tatsache lediglich abhängig davon, wie sie  empfunden  wird; "Mißstände" lassen sich nicht objektiv, sondern immer nur durch das Verhalten der Betroffenen zu ihnen feststellen), sie schafft die opferwillige Bereitschaft in den Menschen, alles zu tragen, um den gegenwärtigen Zustand umzustürzen.

Damit gelangt die revolutionäre Idee zu einem Wendepunkt, an welchem sie aufhört, bloße Idee zu sein, und in die Realität als  Handlung  von Menschen eingeht. Da keine Handlung eine restlose und adäquate Verkörperung von Ideenmäßigem sein kann - insbesonder wenn es Massenhandlungen sind -, so ist auch dieses Umschlagen der revolutionären Idee in die Wirklichkeit ein kritischer Moment. Er ist umso kritischer, als in ihm vielfach Intellektuellenschichten Träger der Handlung werden, welche bis dahin als "Doktrinäre" fernab jeder Aktion lebten; oder es treten Persönlichkeiten als Führer an die Spitze, welche bisher in einem vergleichsweise harmlosen politischen System wirkten. Alle diese Intellektuellen geraten dann in einen tollen Wirbel der Ereignisse, in welchem sie nur zu bald die Distanz zwischen Idee und Wirklichkeit fühlen müssen.

Denn die Träger der Revolution sind notwendigerweise die breiten Massen der Bevölkerung, welche zwar mit den Intellektuellenschichten und deren Ideen durch Instinkt, Temperament und eine Gruppe von Zwischenführern zusammenhängen, aber im übrigen doch ihren Tagesinteressen nachstreben. Für diese breiten Massen ist die leitende Idee der Revolution nicht unwesentlich: sie wird ihnen eine Ideologie, welche psychischen Hemmungen beseitigt, ihre oft bloß egoistischen Handlungen mit dem Glorienschein einer höheren Gerechtigkeit umstrahlt. Aber die Idee ist doch nicht in  dem  Sinn in den Massen lebendig, daß sie hauptsächlich um ihrer willen den Kampf wagen. Immer sind es konkrete Frage, sei es der Ernährung oder des politischen Einflusses oder der Abstellung irgendwelcher "Mißbräuche", welche die Masse bewegen. Aber auch konkrete Forderungen können ja eine prinzipielle Bedeutung haben und können in ihrer Realisierung weit über sich hinausführen. Die revolutionäre Einführung des Achtstundentages z. B.  wäre  der Sieg eines Prinzips, wäre die Ausschaltung des Unternehmers bei der Feststellung der Arbeitsbedingungen, wäre die Überordnung der Arbeiterinteressen über die der Unternehmer, und würde letztlich auch die Forderung in sich schließen, daß industrielle Betriebe der Arbeiter wegen auch ohne Profit weiterbetrieben werden müssen - würde also eine prinzipiell andere Ordnung der Produktion anbahnen, nicht bloß eine Änderung der Arbeitsbedingunen bedeuten. Es hängt die Parole der Masse oft nur stimmungsmäßig, oft aber auch tief innerlich mit der revolutionären Idee einer Zeit zusammen, und damit sich schon gesagt, daß die gewaltsame revolutionäre Entwicklung das Prinzip, von welchem sie beseelt wird, unter Umständen realisieren kann, aber daß sie doch auch weit davon abführen  kann.  Denn, die "Wege der Ideen" sind im Voraus nicht zu bestimmen.

Die Revolution ist also die Realisierung der revolutionären Ideen in einer  Massenbewegung.  Dies ist wesentlich. Die  Größe  dieser Masse freilich ist unwesentlich. Es sind auch Revolutionen von kleinen Gruppen - z. B. Adelsgruppen - ausgegangen. Aber immer werden die revoltierenden Gruppen eine  Masse  darstellen müssen gegenüber der herrschenden organisierten Gewalt. Die revolutionäre Bedeutung relativ  kleiner  Schichten beruth dann auf der Apathie der Bevölkerung, welche als gleichsam unbeteiligter Zuschauer verfolgt, wie eine herrschende Schicht vernichtet und ausgerottet und ersetzt wird durch eine andere. Mit der Demokratisierung der Völker, mit ihrem politischen Erwachen ergibt sich dann von selbst, daß Revolutionen nur mehr als Massenbewegungen größten Stils möglich sind.

Schon die Tatsache, daß Revolutionen in immer höheren Grad große und größte Massen erfordern, beweist, daß sich ihr Typus mit den soziologischen Umständen ändert. Eine Bauernrevolution hat ein anderes Gesicht als eine städtische - für diese wiederum ist wesentlich, ob sie von den Arbeitermassen oder bürgerlichen Schichten getragen wird.

Die soziale Qualität der revolutionierten Massen hat sowohl Bedeutung für die Forderungen, welche erhoben werden, wie auch für das Vorgehen bei denselben. Allerdings: eines ist allen Revolutionen gemeinsam: ganz ohne Gewaltanwendung ist eine Revolution noch nie verlaufen. Denn es ist ja wesentlich für die Revolution, daß sie einen größeren oder geringeren Widerstand der herrschenden Kräfte überwinden muß, um zu ihren Zielen zu gelangen.

Gewaltanwendung widerspricht nun allemal der  Idee.  Diese wirkt durch  ihre  Mittel; so wie die revolutionäre Idee durch die Denkenergie hervorgebracht wird (wenngleich sie soziologisch  möglich  sein muß; das mindert aber nicht den Anteil des Denkprozesses), wie sie sich in den Köpfen der Intellektuellenschichten zu einer Vision gestaltet, da ist sie kategorial so entfernt von der Gewalt wie jede Gestaltung der Phantasie. Aber sie kann nur dadurch  mehr  werden, als eine Gestaltung der Phantasie, daß sie sich in die Realität umsetzt. Eine Zeitlang ist das möglich auf dem Weg, den jede Idee geht: daß sie den Geist gefangennimmt, daß sie durch logische Argumentation den Geist zur Annahme ihrer Konsequenzen zwingt - oder, daß sie allgemein im Bewußtsein vorhandene Ideale zu einem sozialen Zukunftsbild gestaltet, das angenommen werden  muß,  sofern nicht die allgemein anerkannten ethischen und politischen Grundsätze preisgegeben werden sollen. Aber diese Mittel verfangen doch nur dort, wo es sich um einen Kampf des Geistes allein handelt. Im täglichen Leben der Gesellschaft und des Staates sind die Interessenverflechtungen und die Machtkomplexe zu fest verwurzelt, um durch Argumente erschüttert werden zu können. In einem Staatswesen vollends, das eine Organisation aller Gewalt in der Gesellschaft darstellt, in welchem eine davon unabhängige Gewalt überhaupt nicht vorkommt, Machtmittelanwendung für andere als vom Staat gebilligte Zwecke verpönt ist - da hat die Idee keinen Angriffspunkt zur Realisierung, wenn sie mit noch starken Interesen- und Machtkomplexen in Widerspruch steht. Da hat sie nur Aussicht auf Realisierung, wenn sie  revolutionär  wird, und revolutionär werden heißt: sich auf den Boden der Gewalt begeben. -

Darum wird aber eine Revolution doch nie bloß ein Kampf von Gewalten sein, der Gewalt, welche eine Klasse entfalten kann, mit der Gewalt, welche ihr der Staat gegenüberstellt; sie bleibt insofern immer ein geistiger Prozeß, als niemals für sie: Macht gleichbedeutend dem Recht ist. Vielmehr ist Macht oder Gewalt in diesem Fall nur ein Mittel: die Idee, das Recht, durchzusetzen. Also: nicht aus der Macht leitet die Revolution ihr Recht her, sondern aus der Idee nimmt sie das Recht, Macht zu gebrauchen. Das unterscheidet z. B. die Revolution von jeder Änderung des gesellschaftlichen Systems auf dem "demokratischen" Weg: Hier wird systematisch Macht erworben, auch ohne eine Hochspannung der Idee, und das letzte Argument ist die Masse der Anhänger, nicht die Energie des Willens und der Überzeugung.

Freilich: in einem Gebrauch der Macht, welcher aus der revolutionären Situation in unserem Sinn hervorwächst, liegt die Möglichkeit der Peripetie [plötzlicher Umschlag - wp]. Zwar wird die Gewalt nur angerufen, wenn die Idee den Höhepunkt ihrer Gestaltung erreicht hat und wenn sie die Köpfe und Geister - zumal der führenden - erfüllt. Aber einmal angerufen, hat die Gewaltanwendung ihre eigenes Gesetz, und in ihr schlummern dunkle, unberechenbare Möglichkeiten. Denn Gewaltanwendung weckt Gegenwirkungen und kann zu Taten nötigen und zu Forderungen führen, welche mit der ursprünglichen Idee nichts mehr gemein haben. So in der französischen Revolution nach dem Manifest des Herzogs von Braunschweig; da kannte die Entfaltung der Gewalt keine Grenzen mehr, da stellt sich die revolutionäre Gewalt auf den Boden, auf welchem sonst der legitime Staat steht und verwendete zu seiner Erhaltung alle Mittel, die sich ihm darboten. Die zur Eroberung der Freiheit ausgebrochene Revolution kann so in einer Diktatur enden. Auch diese Diktatur kann noch - bei aller Rüchsichtslosigkeit und Unbedenklichkeit im Gebrauch ihrer Machtmittel - das Prinzip verkörpern, um dessentwillen die Revolution begonnen wurde; selbst in diese Gewaltherrschaft kann noch vieles von der alten Idee eingehen, so daß trotz dieser sonderbaren Abirrung die ganze Denk- und Vorstellungswelt des Menschen umgewältzt wird - daß zwar nicht die Idee in ihrer Reinheit realisiert, aber doch das Alte zerstört und eine neue Welt gebaut wird, die immerhin viel von der revolutionären Idee in sich realisiert. So fühlte NAPOLEON sich stets als Vollstrecker der revolutionären Ideen und wenngleich wir darin das Schulbeispiel einer Ideologie erblicken, so ist doch eben diese Ideologie nicht unwesentlich und hat viel zum zeitweisen Erfolg der napoleonischen Pläne beigetragen. -

DIe Anwendung der Gewalt ist es also, welche Idee und Masse zusammenführt. Nur die Verknüpfung mit der Idee macht die Gewalt zu einem revolutionären Akt (sonst bleibt sie in der Revolte stecken oder läuft in Anarchie aus); und nur durch die Gewalt kann die Idee wahrhaft revolutionär werden. Aber diese Verbindung ist etwas in sich Widerspruchsvolles, es kann nur unter besonderen Bedingungen und in gesteigerten Momenten des politischen Lebens die restlose Verbindung von Gewalt und Idee stattfinden. Immer ist im Verlauf der stürmischen Ereignisse die Möglichkeit des Auseinanderklaffens gegeben - und so birgt jede Revolution ganz dunkle, schreckhafte Möglichkeiten in sich.

Wie die Revolution nun tatsächlich verläuft, ob die Verbindung der Idee mit der Masse durch die ganze Dauer der Revolution überhaupt möglich ist, hängt von der Struktur der Massen ab. Diese haben ihr eigenes Leben. In der Gegenwart sind es die gesellschaftlichen Klassen, welche als Träger der Revolution und als Träger der Gegenrevolution allein in Frage kommen. Freilich wird bei jeder Revolution als großer Volksbewegung auch der ganze Demos mit auf den Plan treten. Die moderne wirtschaftliche Entwicklung aber hat (dies zum Unterschied gegenüber dem sozialen Zustand bei Beginn etwa der französischen Revolution) die Gesellschaft in streng voneinander geschiedene Klassen gruppiert, welche allein als Träger der sozialen Bewegung in Betracht kommen. Diese Klassen haben durch die gleichen ökonomischen Interessen, durch ihre ständig tätigen Organe, durch den inneren sozialen Zusammenhang, durch die Zusammenfassung bei der Ausübung ihres Berufs allmählich eine solche Festigkeit angenommen, daß sie ganz fraglos zu den entscheidensten sozialen Faktoren geworden sind. Wenngleich sie nun in erster Linie Organe zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen ausgebildet haben, so ist es doch ganz ausgeschlossen, daß in einer Revolution, welche infolge der Klassengruppierung heute  nur  eine soziale und ökonomische zugleich (nicht eine bloß politische) sein  kann,  nicht die Klassen und ihre Organisationen Träger der Entwicklung werden, auch wenn der Anlaß oder die tragende Idee der Revolution zunächst nicht eine ökonomische sein sollte. Im Verlauf muß sie es unweigerlich werden, wie auch das russische Beispiel zeigt, wovon noch weiter unten die Rede sein wird. Eine Idee kann heute ohne Bezug auf das soziale und ökonomische Element überhaupt nicht revolutionär werden, das "liegt nicht bloß in der Luft", sondern ist in der Struktur der Gesellschaft begründet.

Die Gruppierung der Gesellschaft in Klassen hat für die hier erörterten sozialen Prozesse zunächst zwei wichtige Konsequenzen: erstens ist eine Revolution dadurch von vornherein in ihrem Verlauf leichter zu übersehen als ehedem. Noch in der französischen Revolution ist der Held der Bewegung die namen- und formlose Masse, welche überall handelt, wo gehandelt werden muß, welche sich um die Führer schart, welche durch ihren Beifall die Träger der Bewegung stützt und anfeuert. Erst später hat sich etwas wie eine Organisation der Masse in den Klubs gebildet. Gegenwärtig sind Organisationen der gesellschaftlichen Gruppen schon vorhanden und darum von vornherein die sozialen Armeen schon gebildet, von welchen der Kampf geführt wird. Auch sind die Ziele bereits in ruhigen Zeiten gesteckt und die Ideologien ausgebildet. Wenn dann diese auf Gegenwartsziele gerichtete Organisation zu einer revolutionären Massenbewegung umschlägt, ist in dieser schon die Richtung der Bewegung gegegeben, es sind Führer vorhanden, welche an die Spitze gestellt werden, und es ist ein Apparat vorhanden, welche die gesellschaftliche Gewalt an sich reißen kann. Auch wo das nicht der Fall sein sollte, wie z. B. zum Teil in Rußland, dessen Gewerkschaften ja unter dem früheren Regime unterdrückt wurden, ist doch infolge der Struktur der modernen Wirtschaft die Organisierbarkeit der Klassen außerordentlich groß. Hier bilden die Arbeiter einer Fabrik, die Bauern eines Dorfes in ihrer Genossenschaft bereits eine fertige Organisation, eine Organisation, welche bedeutend aktionsfähiger ist als eine politische Partei. Denn die politische Partei vereinigt ihre Wähler nur gelegentlich zu großen Aktionen, zu Wahlen, im übrigen aber bilden die ihr angehörenden Massen keine in sich zusammenhängende Gruppe. Die Partei hat nichts Organisches, sie hat keine konkrete, sondern nur eine ideelle Basis. Mag sie auch noch so sehr Interessen bestimmter Schichten vertreten, sie wird nicht darauf verzichten können, auf die Allgemeinheit zu wirken, und das bedeutet schon die Vertretung von Ideen, bedeutet, daß sie Allgemeininteressen in ihren Argumentationen Rechnung tragen muß. Eine Partei ist daher immer eine amorphe Masse, sie hat zwar eine dauernd leitende Gruppe, aber gemeinhin fluktuierende Massen. Sie organisiert sich für die Höhepunkte des politischen Lebens, für die Wahlen, um am Tag nach der Wahl in Atome auseinanderzufallen. Die wirklichen politischen Organisationen sind die Massen, welche sich um die Presse scharen, aber welches kann die Festigkeit einer Organisation sein, deren Mitglieder sich lediglich durch das Zahlen des Abonnementsbetrages und die Lektüre eines Leitartikels als Mitwirkende betätigen? Hingegen ist die Verknüpfung der Klassengenossen mit der Klasse eine weitaus intensivere, und besonders intensiv dort, wo sich ihre Organisation an die wirtschaftlichen Einheiten, die industriellen und kommerziellen Betriebe, die Büros, die Absatzvereinigungen usw., anschließt. Da ist sofort die Organisation mit den entscheidenden Lebenstatsachen verknüpft, sie begegnet alltäglich jedem einzelnen, sie wirkt von früh bis spät auf ihn ein, er kann sich ihr nicht entziehen. Zum ersten Mal hat die russische Revolution 1905, in weitaus verstärktem Maß die von 1917, solche Klassenorganisationen als Träger der Bewegung gezeigt, und da ist sofort die Bewegung von den Gewerkschaften auf die industriellen Betriebe übergegangen. Es würde zu weit gehen, um auszuführen, wie sich auch die moderne Klassenorganisation sogar von dem alten Gedanken des Berufs allmählich loslöst und auf dem der wirtschaftlichen Einheit, des Betriebs, aufbaut. In einer revolutionären Bewegung, welche die Menschen nicht bloß wie eine Partei als zahlende Mitglieder, sondern als handelnde umfaßt, nimmt die Klassenorganisation sofort von selbst diese Form an. Denn die Revolution kann schlechterdings, wenn sie von den breiten Massen der Gegenwart getragen wird, nur als Streik in Erscheinung treten, und in diesem kann natürlich, sobald der Streik prinzipiell wird, nicht die Grenze des Berufs maßgebend sein, da treten die Betriebe als handelnde Kräfte auf und die wirtschaftlich führenden Industrien sind es, deren Arbeiter zu Trägern der Bewegung werden müssen. (Vgl. hierüber jetzt auch TROTZKIs Broschüre: "Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag, Bern 1918)

Die moderne wirtschaftliche Entwicklung hat aber nicht nur die Konsequenz, daß die Massenaktion planmäßiger, geordneter, mit einer gewissen Exaktheit und Pünktlichkeit erfolgt. Dadurch können die ersten kritischen Momente der Revolution leichter überwunden werden. Jede Revolution bringt zunächst durch den Sturz der Regierungsgewalt die Möglichkeit der Anarchie. Wird aber die Revolution getragen von einer sozial-homogenen Klasse, so  kann  diese Gefahr der Anarchie überwunden werden. Andererseits bedeutet dieses Durchgreifen der Organisation, daß kaum erhebliche Grppen der Bevölkerung indifferent bleiben können. Es war die Eigentümlichkeit früherer Zeiten, daß nur dünne Schichten gleichsam die Exponenten, die Organe des gesellschaftlichen Lebens waren. Die großen Massen verharrten in einer dumpfen Unbewußtheit ihres sozialen Seins. Das gilt nicht nur von den ökonomischen letzten Schichten; auch das Bauerntum und größtenteils auch das Bürgertum waren durch ganze Epochen hindurch unaktiv. So konnten in revolutionären Zeiten kleine Minoritäten - weil sie die einzigen waren, welche auf den Plan traten - in sich das Volk repräsentieren, und es ist charakteristisch für die Revolutionen der Vergangenheit, daß sie zumindest in ihren Anfängen als demokratische Massenbewegungen - jenseits der sozialen Gruppierung - erscheinen, die "allgemeine Vernunft" realisieren wollen und daß erst in ihrem späteren Verlauf eine Differenzierung eintritt. Allmählich kommen die sozialen Klassen zum Bewußtsein ihrer selbst, sie erkennen, daß sie durch die Gemeinsamkeit des Gegners über ihre Interessengegensätze hinweggetäuscht wurden, und es beginnt die so enttäuschende und langwierige Auseinandersetzung zwischen den revolutionären Schichten, in der so häufig das ursprüngliche Prinzip vergessen wird und die Revolution in einen sozialen Machtkampf ausläuft. Gegenwärtig aber ist diese Gruppierung von vornherein gegeben. Da ist die Revolution von Anfang an bereits ein sozialer Kampf, weil die ganze Gesellschaft sich bewußt nach diesen Gesichtspunkten gruppiert hat. (Das wird gegenwärtig nur durch den Krieg verhüllt, wird aber sofort evident, wenn man sich den Krieg als beendet vorstellt. Denn die Beendigung des Krieges würde die in manchen Ländern vorhandene revolutionäre Lage wenig ändern, hingegen sofort ihren sozialen Charakter zweifelsfrei hervortreten lassen.)

Diese Durchorganisiertheit der Gesellschaft hat die Folge, daß die Massen in den revolutionären Prozeß geordnet und mit bestimmten Losungen eintreten. Das sollte, könnte man meinen, den Kampf nicht nur organisieren, sondern auch abkürzen, weil nach der Eroberung der zentralen Staatsapparate (Nachrichten-, Verkehrsdient und Armee) durch eine revolutionäre Gewalt gesichert erscheint. Das ist auch in einem gewissen Sinn richtig, und es zeigt z. B. der - allerdings nicht durchwegs typische - Verlauf der russischen Revolutioin von 1917, wie rasch und fraglos ein riesenhaftes Staatsgebilde von der Revolution erfaßt und erobert werden kann. Aber eben diese Revolutioin zeigt auch, daß infolge der erwähnten Durchorganisiertheit der Gesellschaft der Sieg über den alten Zustand noch nicht den endgültigen Besitz der Macht bedeutet: Ist der gesellschaftliche Status durch den Sturz des alten Regimes gelockert, dann beginnt erst der Kampf der Klassen und selbständigen Klassenteile um die Macht - und eben weil sie organisiert sind, einen inneren Zusammenhalt haben, so kapitulieren sie nicht ohne weiteres vor der gewaltsamen Entscheidung. Wie der moderne Krieg infolge der inneren Demokratisierung aller Völker (da er nur möglich ist mit einer inneren Beteiligung aller, die in den Krieg hineingezogen wurden) viel stärkere Machtmittel produziert wie ehedem, viel hartnäckiger geführt wird, viel schwerer entschieden werden kann, weil kein Volk innerlich die Entscheidung der Gewalt anerkennt - so steht es auch ähnlich in den sozialen Kämpfen, welche von bewußten Klassen geführt werden: sie bilden bewegliche, aber unerschütterliche Fronten, sie ertragen Niederlagen und richten sich danach wieder auf, sie geben den Kampf um die Macht noch nicht verloren, wenn auch augenblicklich ihr Klassengegner fraglos die Macht in der Hand haben sollte. Dieses Ringen als Austrag der sozialen Gegensätze, auf deren Lösung die Revolution hinzielt, geht unbedingt weiter, mag auch der ursprünglich mehr oder weniger gewaltsame Revolutionskampf bereits zum Stillstand gekommen sein. Auch das ist ein soziologisch außerordentlich bedeutsames Moment und erklärt die Schwierigkeit, die lange Dauer und die Ungewißheit des Ausgangs in den modernen Revolutionien. -

Über alles wichtig ist die Sozialisierbarkeit der modernen Massen. Sie sichert der revolutionären Bewegung einen weitaus größeren Radius als in vergangenen Zeiten, sie durchdringt alle Beteiligten mit dem Bewußtsein des Ziels, sie macht aber auch die Kämpfe erbitterter; kann eine erfolgreiche Revolution aus den erwähnten Gründen in ihrem Beginn fast blitzartig verlaufen, weil sie ungeheure Massen, die überdies wohlorganisiert sind, zu mobilisieren vermag und weil sie so die eben eroberte Gewalt auf eine breite gesellschaftliche Basis stützt, so bedeutet die Verwirklichung ihres gesellschaftlichen Plans wiederum wachsende Schwierigkeiten; denn auch die Gegenrevolutioni (unter diesem Sammelbegriffe sind auch alle  nicht  gewaltsamen und auch die auf bloße Hemmung der revolutionären Idee abzielenden gesellschaftlichen Kräfte der "konservativen" Klassen zu verstehen) ist in der modernen Gesellschaft wohlorganisiert, und jede durchgreifende soziale Bewegung wird  automatisch  zu einem Kampf der Klassen untereinander. Darin ist es auch begründet, daß nur solche Ideen in der Gegenwart revolutionäre Bedeutung bekommen können, welche in ihrer Konsequenz zur Auseinandersetzung der Klassen treiben oder den Klassenkampf in sich begreifen, oder so interpretiert werden, daß sie den Klassenkampf in sich aufnehmen können.

Die Selbstorganisation der Gesellschaft, ihre Gruppierung nach Klassen hat demnach einander entgegengesetzte Wirkungen: sie bringt die Revolution gewissermaßen in geordnete Bahnen, macht aber gleichzeitig ihren Verlauf durch die automatische Einschaltung des Klassenkampfes langwierig und problematisch. Dazu kommt ein weiteres Moment, als Konsequenz dieser soziologischen Struktur unserer Zeit, welches die Form sozialer Kämpfe so ungewiß macht: die Massen verfügen über Führer, welche durch irgendwelche Qualitäten - durch Rednergabe, oder die Fähigkeit zu organisieren, oder durch die Einwirkung auf ihre Klassengenossen - an die Spitze gestellt wurden. Aber das sind Führer, aus einem friedlichen Milieu heraus gewählt, auf Aufgaben der friedlichen Entwicklung eingestellt, meist nur mit den Problemen ihrer Klassenorganisation vertraut. In den Wirbel einer gewaltsamen sozialen Bewegung hineingestellt, sind sie geneigt, die Maßstäbe ihrer Friedensexistenz anzulegen, sie sind nur schwer großen Ideen zugänglich und werden die Institutionen der Klasse, welche sie mitschaffen halfen, nicht gern aufs Spiel setzen. Wenn man es stark ausdrücken will, so kann man sagen, daß die moderne wirtschaftliche Entwicklung eine soziale Bürokratie zu Führern bestimmt. Diese soziale Bürokratie ist ebenso wie die staatliche außerhalb jeder Fühlung mit den Intellektuellenschichten ihrer Zeit. Diese gelten ihr als "Literaten", welche Phantomen nachjagen. Ist es doch begreiflich, daß Menschen, welche ihr ganzes Leben begrenzten Aufgaben widmen, die Tragweite von Ideen unterschätzen, selbst wenn auch sie nur einer, in Zweckgebilde eingegangenen, Idee vergangener Jahrzehnte das Dasein verdanken. Angesichts der ungeheuren Macht, welche diese Führerschichten besitzen, angesichts der Tatsache, daß sie den Charakter der von ihnen geführten Masse mitbestimmen (so wie sie auch ihrerseits wieder nicht losgelöst sind vom Charakter dieser Masse), ergibt sich die Frage, woher es sich letztlich bestimmt, ob diese Führerschichten, diese sozialen Bürokratien als revolutionäre Elemente angesprochen werden können oder die Fähigkeit haben, in einem stürmischen Entwicklungsgang revolutionär zu werden. Offenkundig entscheidet nicht ausschließlich die Klassenlage, nicht ausschließlich der Höhegrad der Entwicklung. Es ist überflüssig, das mit Beispielen zu belegen. Und so müssen wir - ähnlich wie bei den Intellektuellen - sagen: Hier stehen wir Einflüssen gegenüber, welche nicht mehr aus der soziologischen Sphäre allein stammen; nicht die Klassenlage und der Beruf sind es, welche die innere Haltung, das Temperament und die Fähigkeit zu einem grenzenlosen Enthusiasmus bestimmen. Um die Unterschiede, welche wir in den gleichartigen Klassen der verschiedenen Nationen vorfinden, zu erklären, können wir die ökonomische Lage offensichtlich nicht heranziehen, denn diese ist bei vielen Nationen dieselbe. Wir müssen schon auf die nationalen Charaktere zurückgehen, deren Bedeutung man so lange unterschätzt hat - um gegenwärtig zu beginnen, sie zu überschätzen. Auch vor dieser Übertreibung müssen wir uns hüten: im vorhergehenden wurde gezeigt, wie sehr die soziologische Struktur den ganzen Mechanismus bestimmt, die Bahnen, in welchen sich eine etwa ausbrechende Revolution bewegen muß. Allerdings: ob. wann und mit welcher Intensität sie ausbricht - das sehen wir jetzt umso mehr -, hängt nicht ausschließlich und allein vom Höhegrad der Entwicklung, nicht allein von den objektiven Tatsachen ab, sondern: von der Größe der Spannung, welche aber ein psychologischer, nicht ein objektiv zu fassender Tatbestand ist - und die Frage, wie man dagegen reagiert -, dies hängt ab von den hier analysierten Momenten, u. a. also auch von der Eigenart dieser sozialen Bürokratie. Wie jeder große soziale Tatbestand ist er soziologisch nicht ganz auflösbar. Sowie die geistigen Exponenten, die Intellektuellenschichten, ferner wie die Exponenten der organisierten Masse, die sozialen Bürokratien, in sich das Temperament des Volkes zeigen, dem sie angehören, und wie davon der Zeitpunkt abhängt, die Intensität und der Verlauf der Revolutionen, so zeigen sich all diese Momente auch in den Aktionen der Masse, wenngleich in etwas abgeschwächtem Maß. Und das Zusammenwirken dieser drei sozialen Faktoren erst ergibt die Revolution. Denn die organisierten Gruppen, die Fabrik, das Dorf, kann eine revolutionäre Bewegung zwar ins Rollen bringen, aber nie zum Ziel führen. Bleiben die Intellektuellen und die sozialen Führer abseits stehen,  können  sie abseits stehenbleiben, dann wird die Bewegung in Revolten, oder, wenn die Situation überstürzt ist, in einer sozialen Katastrophe, einem ungeordneten Zusammenbruch enden. Ich wage nicht zu entscheiden, ob dieses Moment, daß auch die Massen deutliche Züge des Volkscharakters zeigen, lediglich eine Verzögerung bzw. Beschleunigung der Revolution bedeutet und ihre Intensität beeinflußt, oder ob dieses Moment überhaupt entscheidet, derart, daß der Eintritt der Revolution, die Möglichkeit einer Revolution unter den erörterten Bedingungen lediglich von der Eigenart des Volkes abhängen würden. Auch dann ist die soziologische Betrachtung nicht zwecklos, weil sie allein die Eigenart des hier gegebenen Zusammenhangs zu analysieren vermag. -

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Revolution und Krieg.  Die Verbindung der Revolution mit dem Krieg ist keine notwendige. Man kann der Meinung sein, daß der Krieg alle gesellschaftlichen Prozesse beschleunigt, und also auch - falls im übrigen die Vorbedingungen dafür vorhanden sind - das Eintreten der Revolution begünstigt. Es wird jedoch erst der Prüfung im einzelnen bedürfen, ob das zutrifft.

1. Im Krieg treten zunächst die Fragen der Kriegführung und Kriegsliquidation, also der Kriegsziele in den Vordergrund. Hingegen ändert sich nur wenig das soziale Bild: denn der moderne Krieg muß in den gegebenen Formen der kapitalistischen Wirtschaft geführt werden. Er reproduziert und produziert also kapitalistische Unternehmungen mit Profit und Kapitalakkumulation; diese Verschärfung der sozialen Gegensätze tritt aber in den Hintergrund in der Stellungnahme zum Krieg. Sie durchkreuzt mitunter die Klassenschichtung. Wir sehen, daß englische Kapitalisten dem pazifistischen Gedanken anhängen, und daß es Arbeiterschichten gibt, welche für positive Kriegsziele im Sinn eines "starken englischen Friedens" eintreten. Immerhin sind im Großen und Ganzen die Arbeiterschichten pazifistischen Gesinnungen näher. Das ergibt sich aus ihren Klasseninteressen, welche in puncto Kriegsziele mit den Interessen der expansiven Kapitalistenschichten kollidieren. Trotzdem es also auch hier möglich wäre, den Klassengesichtspunkt in den Vordergrund zu rücken - und häufig geschieht das in übertreibender und überdies unpolitischer Weise von sozialistischer Seite -, so ist die Situation doch zu eindeutig auf die Fragen des Kriegsendes und der Kriegsziele ausgerichtet, als daß sie nich auch in den öffentlichen Argumentationen an die erste Stelle rücken sollte. Damit ist aber eine Parole gegeben, welche wieder ganz prinzipiell klingt, sich an alle wendet, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Eine große Volksbewegung, welche nicht sofort in einen Klassenkampf umschlägt, ist dadurch prinzipiell  möglich. -

2. Solange der Krieg dauert (und nur von dieser Situation ist die Rede), wird stets eine Revolution die Möglichkeit in sich bergen, daß die Landesverteidigung erschwert, ja überhaupt aussichtslos wird. Denn innerhalb der Armee (ohne deren Mithilfe ja ein Umsturz gar nicht möglich ist), bedeutet jede gewaltsame Erschütterung und Auflösung der Befehlsgewalt die Zertrümmerung ihres inneren Zusammenhangs. Es ist mehr als fraglich, ob dann überhaupt eine nur defensive Position noch behauptet werden kann. So zwingt der Krieg, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. 3. zwingt er jede Massenbewegung, Stellung zu nehmen zu den Kriegs- und Friedenszielen, und das erfordert die Verankerung in einem Prinzip, welches in seiner Bedeutung und Tragweite über jedes Klasseninteresse hinausweist. So ist die revolutionäre Idee in Kriegszeiten in einen ganz anderen Mechanismus eingestellt. Da sie im Krieg nicht nur die soziale Struktur, sondern notwendigerweise die außenpolitische Konstellation mit ändert, verliert die soziale Gruppierung an Gewicht, und die geistigen Strömungen müssen zu den letzten Zielen für Staat, Gesellschaft und Volk zurückgreifen. Und sie können doch - da nun einmal die soziale Struktur weiterbesteht - nicht umhin, von dieser auszugehen, woraus sich das Problematische der Situation ergibt, in welcher sich gegenwärtig die revolutionären Parteien befinden. Ebenso sind aber 4. auch die taktischen Fragen geändert: für jede Revolution ist die  Armee  ein Hindernis und eine Aufgabe zugleich. In einem Militärstaat ist eine erfolgreiche Revolution ohne Durchdringung der Armee nicht möglich. Denn es kann naturgemäß die gewaltsame Eroberung der Macht nur eine vorübergehende sein, wenn sich die bisherigen herrschenden Kräfte noch auf die Armee zu stützen vermögen (Rußland 1905). Die "Demoralisierung" der Armee, die Umwandlung von Truppen in revolutionäre Streitkräfte ist daher die entscheidende Frage. Der Krieg, welcher das ganze Land zu einem Heerlager umwandelt, macht diese Aufgabe zunächst anscheinend unlösbar, die revolutionären Massen werden aus ihren sozialen Formen herausgelöst, in den Truppenkörpern stehen die Angehörigen der verschiedensten Klassen nebeneinander, die gemeinsame Aufgabe und die gemeinsame Gefahr drängt die Klasseninteressen und die Gesichtspunkte völlig in den Hintergrund. Das hat OTTO BAUER schon vor dem Krieg in einem Aufsatz im  "Kampf"  dargelegt. Im Moment der Mobilisierung ist die Staatsgewalt auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Aber auch in der Armee setzt bei längerer Kriegsdauer ein sozialer Prozeß ein. Die Kluft zwischen Soldaten und Offizieren vertieft sich, die Verbindung mit dem Hinterland wird immer intensiver, die Erfordernisse der Kriegsführung zwingen allmählich dazu, immer größere Massen von Arbeitern wieder in die Industrie zurückzuführen, und so formieren sich innerhalb und außerhalb der Armee wieder die Klassen. Die entscheidende soziale Tatsache besteht jetzt darin, daß eine Trennung von Volk und Heer weder der Gesinnung noch der Stimmung, noch der Aktion nach auf die Dauer möglich ist. Durch die Ausbreitung des Heeres zum bewaffneten Volk wird gleichsam der  Ort  der höchsten Spannung verschoben. - Und wenn man auch nicht gerade sagen kann, daß in der Armee das geistige Leben der Nation am stärksten pulsiert, so ist sie doch ganz selbstverständlich der entscheidende Faktor, und jede gesellschaftliche Aktion ist nur durch sie hindurch möglich. Dies, soweit die Massen in Betracht kommen. Soweit in einer jeden Revolution eine Vereinigung der Massen mit den  Intellektuellenschichten  stattfinden muß, bedeutet der Krieg gleichfalls eine Änderung der Situation. Denn, 5. - das ist deshalb bedeutsam, weil ja die Intellektuellen als sozial labile, von geistigen Strömungen stark beeinflußte Schicht auch durch den Krieg umgeformt werden können. Es ist letzten Endes in der Eigenart eines Volkes begründet, welche Idee dem Krieg gegenüber, welche Haltung bei den Intellektuellen möglich ist und durchgreift: ob sie etwa von nationalen Zielen aus den Krieg positiv werten (ganz unabhängig davon, wie sie früher sozial organisiert waren); in diesem Fall wird sich alle Energie und aller Elan in militärische Kraft transformieren. Auch das hängt außerordentlich stark vom Volkscharakter ab, so daß dieser während des Krieges an Bedeutung für soziale Bewegungen aller Art wesentlich gewachsen ist. - Alle bisher angeführten Momente wirken meistens dahin, daß der Eintritt einer revolutionären Bewegung durch den Krieg  verzögert  wird. Damit ist allerdings lediglich gesagt, daß trotz der Zuspitzung der Gegensätze, welche der Krieg letzten Endes bringt, die dadurch verursachte Spannung noch immer "ertragen" wird. Dabei ist es möglich und wohl auch immer der Fall, daß erst der Krieg diese Spannung so außerordentlich gesteigert hat. Daraus folgt: daß ohne Eintritt des Krieges die Spannung geringer und darum vielleicht überhaupt kein Anlaß zu revolutionären Strömungen aus den  Tatsachen  heraus gegeben wäre. Das bedeutet dann im wesentlichen: in Friedenszeiten, bei relativ ruhiger Bildung und Umbildung der sozialen Verhältnisse bei einem Hineinwachsen der Gesellschaft in einen neuen Zustand ist revolutionäre Bewegung überwiegend geknüpft an die  Idee.  In Kriegszeiten ist die Entwicklung der Idee in sich widerspruchsvoller, sie begegnet allerlei Hemmungen, aber die Spannungen wachsen und können zu  Massenaktionen ohne ideelle Vorformung  werden. Das erklärt vieles im Verlauf von Revolutionen, worauf nicht näher eingegangen werden kann. Auf einen Gesichtspunkt nur sei noch zum Schluß verwiesen:

Ein lang andauernder Krieg erschöpft sämtliche Produktivkräfte: die Fruchtbarkeit des Bodens, die Brauchbarkeit der industriellen Maschinen, schließlich nimmt die Leistungsfähigkeit des Arbeitsvermögens ab. Wenn mit dem Kapitalismus unstreitig eine Entfaltung der Produktivkräfte, eine immer rationellere Organisation der Gütererzeugung Hand in Hand geht, so vernichtet der Krieg diesen Wachstumsprozeß, er arbeitet fortgesetzt mit Verlust an der ökonomischen Substanz. In einer Welt, in der alles, was an revolutionärer Gesinnung vorhanden ist, auf das praktische Ziel des Sozialismus gerichtet wurde, also auf eine reichlichere zweckmäßigere Güterversorgung, auf eine rationellere Produktion und  damit  auf eine Befreiung der Menschen von den einengenden Schranken der heutigen Ökonomie - bedeutet der Krieg einen ungeheuerlichen Rückschlag und eine enorme Erschwerung der Chance. Wie kann der Kampf gegen die Unternehmer aufgenommen werden, da diese doch durch den Krieg die Verfügung über Umfang und Richtung der Gütererzeugung einbüßen? Wie kann eine Bewegung reichlichste Güterversorgung zum Ziel haben, da Abwehr des Mangels das allein mögliche ist? All die großen Verlockungen, welche hinter der sozialistischen Idee standen, fehlen heute, und sie reduziert sich heute auf ihre Idee: die Selbstbestimmung des Schicksals. Auch dies ist viel, aber es ist doch klar: der Zusammenhang, die Motivationsreihe ist gestört, und auch jede Massenbewegung muß mit der Abnützung der Maschine rechnen, welche der Krieg mit sich brachte. Wenn ich ein Bild gebrauchen darf: Auf einem Luxusdampfer sind die größten Klassenunterschiede gegeben, vom vielfachen Millionär, der zum Vergnügen reist, bis zum Heizer. Man könnte gar verschiedene soziale Ordnungen ausdenken, um diesen Zustand zu ändern. Wenn aber das Schiff an einer öden Insel strandet, und keine Hilfe von außen möglich ist, so wird die Gemeinschaft des Elends bald eine sehr homogene Masse Bedürftiger schaffen, die kein taugliches Objekt für soziale Experimente bietet. Und verwandeln sich nicht die Bevölkerungen der großen europäischen Staaten allmählich in eine solche Gemeinschaft des Elends?

Daß diese Frage überhaupt aufgeworfen werden kann, zeigt die dunkle Ungewißheit unserer Lage. Auch die revolutionären Strömungen stehen heute unter ganz anderen, ihrem immanenten Wesensgehalt vielfach widerstreitenden Bedingungen - denn sowohl die revolutionäre Idee wie die Massenstimmung gehorcht dem Gesetz des Krieges. In diesem wird die Anwendung der Gewalt in einer Welt, welche seit vier Jahren auf Gewalt allein gestellt ist? Wo ist der Raum für eine Idee - sei sie selbst eine revolutionäre? Trotzdem müssen wir sagen: in gar manchen Ländern ist die Lage revolutionär gespannt. Allein, wenn man es recht erwägt, ist es die Spannung, welche revolutionär ist oder wirkt - doch fehlt allerorten die revolutionäre Idee in unserem Sinn: als eine den sozialen Bedingungen angepaßte Vorformung des durch die Revolution anzustrebenden Zustandes. Aber auch hier wird man vielleicht zugeben müssen: die gesellschaftlichen Prozesse folgen nur selten den Überlegungen der Vernunft. So auch jetzt: Wir können nur die Bedingungen analysieren, unter welchen heute eine revolutionäre Bewegung stehen würde, können feststellen, daß sie inneren Widersprüchen unterworfen ist, deren sie vielleicht nicht Herr zu werden vermöchte. Aber was bedeutet das? Auch heute gilt, daß die Revolution als gesellschaftliche Krisenerscheinung, als konvulsivische Erschütterung der gesellschaftlichen Struktur ausbricht - wenn die Spannung zwischen der Wirklichkeit und der Idee, welche in den Menschen lebt, nicht mehr ertragen werden kann. Ein solcher Prozeß ist unter Umständen nicht aufzuhalten. Er vollendet sich mit der Unberechenbarkeit und Gewaltsamkeit eines Bergsturzes. Diesem Phänomen gegenüber kann die soziologische Betrachtung schlechterdings höchstens eine Analyse der Bedingungen und der Eigenart des Prozesses versuchen. Dieser aber ist, um es nochmals zu betonen, auf das engste mit der Entwicklung der Idee verknüpft und mit der Eigenart der Völker, welche den Ideen ihre spezifische Färbung geben. So ist die Revolution - und das ist vielleicht der wesentlichste Unterschied zum Phänomen des Krieges - ein emotional geistiger Prozeß und für jedes Volk ein Wendepunkt auf seinem Weg in der Geschichte.
LITERATUR Emil Lederer, Einige Gedanken zur Soziologie der Revolutionen, Leipzig 1918