ra-2J. BinderA. HeilingerR. StammlerA. Merkel    
 
RODERICH von STINTZING
(1825-1883)
Macht und Recht

"Recht ist, was der Richter für Recht erkennt, und treffend nennt daher unsere Sprache das richterliche Urteil eine Erkenntnis."

"Das Verständnis des Corpus juris setzt ein gewisses Maß gelehrter Bildung voraus. Die Eigentümlichkeit desselben, daß es eine nur äußerlich gegliederte, innerlich durchaus nicht systematisch geordnete Masse darstellt; daß es im Altertum entstanden, also aus diesem zu deuten, und dennoch in der Gegenwart zu gelten bestimmt ist, deren Lebensverhältnisse von jenem wesentlich abweichen - sie stellt seiner Anwendung Schwierigkeiten in den Weg, welche nur wissenschaftliche Arbeit überwinden kann."

"Mag sich unser Rechtsgefühl empören, wenn wir den Schwachen durch die Gewalt des Stärkeren unterdrückt sehen, mag es sich dagegen sträuben, daß im öffentlichen Leben ein anderer Grundsatz gelten soll: unentwegt geht durch die Geschichte aber das Gesetz, daß wo ein Staat gegen den anderen sein ganzes Dasein im blutigen Kampf eingesetzt hat, dem Sieger als Preis die Bestimmung der Zukunft gebührt. Die Macht des Siegers ist es, welche das Recht schafft und bestimmt."

"Sittlich gut ist schon ansich der Wille, welcher darauf zielt, den leeren Raum auszufüllen, den ein Zusammenbruch des bisherigen Rechtszustandes hervorgebracht hat; die Macht ist dazu berufen. Und wenn ich früher einmal von dem Zauber sprach, den sie auf das Gemüt ausübt, hier, in seiner beruhigenden Kraft, sehen wir ihn wirksam; hier aber offenbart sich auch sein sittlicher Grund, der in einem tiefen Bedürfnis nach Ordnung liegt. Denn nur wo Macht ist, ist Ordnung; wer diese will, muß Befehl und Gehorsam wollen."

Eine beglückende Pflicht ist es, welche mich heute beruft zu Ihnen zu reden, um Zeugnis zugeben von der Festesfreude, mit der wir, voll innigen Danks und herzlicher Wünsche, den Tag begrüßen, an dem unseres gelieten Kaisers Majestät das 80. Jahr seines gesegneten und ruhmreichen Lebens beginnt. Ein freudiger Ton der Verehrung, des Danks und der Liebe geht heute durch das deutsche Land, weihevoll klingt hinein die Erinnerung an die verklärte königliche Mutter, deren Gedächtnis wir jüngst festlich erneuerten. Das Bild der hochseligen Königen LUISE, voll unbeschreiblicher Anmut, Reinheit und Hoheit, lebt fort in der Seele des preußischen und deutschen Volkes, als ein unvergänglicher Schatz, trostreich ermutigend in Not und Gefahr, im Glück veredelnd und Tage der Freude, wie den heutigen, mit mildem Licht verklärend. Ihr danken wir es heute, daß Sie den erhabenen Sohn uns gab, den Gott würdigte Deutschlands Kaiserkrone zu erneuern. Als Ihren Segen empfinden wir es, daß in unserem Kaiser die Hoheit der Gesinnung Eins ist mit der Hoheit seiner weltgeschichtlichen Stellung; daß sich in Ihm die erhabene Weisheit des Herrschers mit edelster Mannestugend zu fürstlicher Größe verbindet. Was einst in den Tagen schwerster Trübsal die königliche Mutter für Ihr Volk im Gebet erflehte und als hohe Aufgabe in das jugendliche Herz der Söhne senkte, ist herrlicher und über alles Hoffen erfüllt. Und höher schlägt heute das Herz des deutschen Volkes im Anschauen der Macht, deren Glanz seinen Kaiser umgibt. Deutschland empfindet sie als ein lang ersehntes, ihm erworbenes, schwer errungenes Gut. Aber weit über des Reiches Grenzen hinaus sendet sie ihre Strahlen, und fesselt, sei es in freundlicher Gesinnung, sei es in Neid oder grundloser Furcht, den Blick der fremden Nationen.

So darf ich es dann wohl ein des Tages würdiges Thema nennen, wenn ich von der  Macht  zu Ihnen will.

Wunderbar ist der Zauber, den die Macht, wo sie erscheint, auf das menschliche Gemüt ausübt, weit hinausgehend über das Gebiet, in welchem sie sich unmittelbar betätigt. Er ist es, der uns zu bedeutenden Menschen geheimnisvoll hinzieht, selbst wenn ihr Wirken uns nicht unmittelbar berührt. Den großen geschichtlichen Persönlichkeiten ebnet er die Bahnen, und legt in die gewonnenen Siege den Keim zu neuen Erfolgen. Worte der Macht sind es, mit denen wir das Gute und Schöne preisen; und ist es nicht derselbe Zauber, der uns im Anblick gewaltiger Naturerscheinungen fesselt?

Allein gerade hier mischt sich in das freudige Staunen störend ein fremdes Gefühl, wenn sie den uns gewohnten Erfahrungskreis überschreiten. Die Vorstellung des Regellosen drängt sich uns auf, und selbst da, wo wir uns vor Gefahr sicher wissen, beschleicht uns ein Grauen, weil wir die Kraft entfesselt sehen oder zu sehen glauben.

Denn tief in unserer Seele liegt das Bedürfnis, liegt die Forderung, daß eine Ordnung, ein Gesetz besteht, dem sich jede Kraft fügt. In diesem Verlangen unserer sittlichen Natur wurzelt der Gottesglaube mit seinen letzten psychologischen Gründen, und wohl mögen wir dieses in unser Herz gesenktes Bedürfnis eine Offenbarung seines Daseins nennen. Auch möchte ich es nicht bloß den Wissenstrieb heißen, der uns den Erscheinungen gegenüber drängt nach ihren Gründen zu forschen. Ein tieferes Bedürfnis unseres sittlichen Wesens will sich Ruhe schaffen, indem es die Gesetze erfrägt und erlauscht, nach denen sich die Kräfte bewegen. Denn im Widerspruch mit ihm steht die Kraft, welche von der Ordnung gelöst ist.

Und wie der in ihm liegende Ordnungstrieb den Menschen nach den Gesetzen  fragen  lehrt auf den Gebieten, die seinem Willen entrückt sind, so läßt er ihn auf denen, die durch seinen Willen bestimmt werden, die Ordnung  schaffen.  In seiner Richtung auf das menschliche Gemeinleben erscheint es als Rechtstrieb und Rechtsgefühl: denn das Recht ist nichts anderes als die Orndung, welche jenes zwingend beherrscht. Daß ein Recht da ist, daß die menschlichen Handlungen sich ihm fügen, ist die niemals schweigende Forderung unserer sittlichen Natur. Und wie der Anblick regellos waltender Kräfte uns Grauen erregt, so entsetzt uns schon der Gedanke, daß "Macht vor Recht geht", sei es, daß dieser Satz ausgesprochen wird als traurige Erfahrung der Geschichte und des Einzellebens, sei es gar, daß er hingestellt wird als Maxime des Handelns.

So würden wir dann zu dem Schluß gelangen, daß nur  die  Macht vor unserem sittlichen Urteil bestehen kann, die sich dem Gesetz fügt; daß unser Rechtsgefühl nur da Befriedigung findet, wo es das Gesetz als Herrn, die Macht als Dienerin erkennt.

Und dochist wohl die Frage erlaubt, ob denn mit diesen Sätzen das Verhältnis der Macht zum Recht erschöpfend bestimmt ist?

Gestatten Sie mir diese Frage eingehender zu erörtern und zwar so, daß ich zunächst bei der Beobachtung tatsächlicher Erscheinungen verweile, dann eine Lösung der Probleme versuche, ohne den Anspruch, die letzte, erschöpfende Antwort gefunden zu haben.

Gehen wir aus vom Einzelnen und seinen Beziehungen zu den äußeren Gütern, so tritt uns als ein elementares Phänomen der Besitz entgegen. Mit Zuversicht pflegt das Rechtsgefühl den Ausspruch zu tun, daß die Gewalt, mit der ich mich einer Sache bemächtige, mir keine Befugnis geben kann. Und doch urteilen die römischen Juristen ganz anders, indem sie sagen: "Jeder Besitzer hat deswegen, weil er besitzt, mehr Recht als derjenige, welcher nicht besitzt." Unter Besitz aber verstehen sie mit uns heutigen Juristen nichts anderes, als die mit Absicht ausgeübte tatsächliche Herrschaft über eine Sache. Und diese Herrschaft wird, ohne nach ihrem Rechtsgrund zu fragen, vom Gericht geschützt. Die Macht also gibt Recht: es ist das Recht des Besitzes, dessen Anerkennung keine höher entwickelte Rechtsordnung entbehren kann, und wäre es auch nur aus dem einfach praktischen Grund, daß wir unseres Eigentumsrechts nicht froh werden könnten, wenn wir gegen den frivolen Störenfried erst dann Schutz fänden, nachdem wir ihm den Beweis unserer Berechtigung geführt hätten.

Allerdings muß der Besitzer weichen und die Sache herausgeben, wenn ihm nachgewiesen wird, daß er sich ihrer ohne Recht bemächtigt hat. Was aber, wenn die Sache niemandem gehört? Dem Jagdberechtigten gehört das Wild nicht, das in seinem Revier lagert und baut. Wenn er es in Ausübung seines Jagdrechts über die Grenze jagt, so muß er geschehen lassen, daß sein Nachbar es vor seinen Augen erlegt und als gute Beute davon trägt. Der Besitz, die Macht, gibt hier ein unanfechtbares Recht. Und dieser Rechtserwerb durch Bemächtigung ist offenbar der älteste von allem, hergeleitet aus der Bestimmung der Dinge, dem Bedürnis der Menschen zu dienen. Allein aus dieser Bestimmung folgt doch zunächst nur, daß es der Ordnung der Natur entspricht, wenn der Mensch sich die Gegenstände zu seinem Dienst unterwirft. Das Juristische aber ist das Zweite, daß jeder andere meine Macht, die ich willkürlich geschaffen habe, gelten lassen muß und durch sie von seiner Befugnis zur Aneignung ausgeschlossen ist.

Ohne Zweifel muß ich die Sache herausgeben, wenn sie einem anderen gehört und das Gericht wird mich dazu zwingen. Allein, gesetzt es kommt jahrelang nicht zum Streit. Unangefochten besitze, bewohne und bebaue ich das Grundstück, das ich in gutem Glauben erworben habe - und nach langer Zeit tritt ein anderer auf mit dem Beweis, daß er und nicht derjenige, von welchem ich es durch Kauf oder Erbgang übernommen habe, der Eigentümer gewesen ist. Unrechtmäßig war also mein Besitz von Anfang an: und dennoch brauche ich nicht zu weichen, denn aus dem Besitz in gutem Glauben ist durch seine unangefochtene Dauer  Eigentum  geworden, meine Macht hat sich in Recht verwandelt, sie hat ein Recht  erzeugt. 

In all diesen Fällen geht die Eigenmacht dem Recht nicht nur voraus, gibt nicht nur einen Vorzug, sondern ist geradezu der Grund des Rechts. Aber freilich wird man sagen, dies alles geschieht doch nach den Regeln des Rechts, nach dem Gesetz. Allerdings handelt es sich hier nur um Befugnisse des Einzelnen, um das, was wir das Recht im subjektiven Sinne nennen. Allein die Wahrnehmung, daß das Gesetz sich der Bedeutung der Macht so wenig verschließt, daß es sogar diese zur Befugnis werden läßt, weist sie uns nicht auf einen tieferen Zug hin, der durch das ganze Rechtsleben der bürgerlichen Gesellschaft hindurch geht?

Suchen wir ihm auch im Werden des Rechts im objektiven Sinne, des Gesetzes, nachzuspüren.

Da scheint es nun, daß wir von vornherein der Macht jede Bedeutung für die Entstehung des Rechts absprechen müssen, wenn wir den tiefsinnigen Lehren der historischen Schule folgen. Denn nach ihr ist es der still schaffende Geist des Volkes, welcher naturwüchsing das Recht erzeugt. Es liegt im Volk ein Trieb zur Bildung seines Rechts, der ähnlich waltet, wie der Trieb zur Produktion der Kunst und Sprache. Mit einer Summe spontan erzeugter Rechtssätze tritt jedes Volk in die Geschichte ein, ein Schatz, eine Mitgabe für sein Kulturleben, deren Ursprung sich der Beobachtung ebenso entzieht, wie die ersten Anfänge der Sprache und der Kunstfertigkeit. Harmonisch mit der Entwicklung des gesamten Kulturlebens sehen wir dann auch das Recht sich umgestalten, sich reicher entfalten: denn auf allen Gebieten waltet die eine zeugende, treibende, gestaltende Kraft der Volksseele.

Das Wahre und Bleibende an dieser Lehre ist, daß sie uns das Recht als ein organisches Glied des Volkslebens, seine Geschichte als einen Zweig der Kulturgeschichte begreifen läßt, und damit seinen Stoff über die zufälligen und willkürlichen Erscheinungen hinaushebt.

Geht nun aber die Bildung des Rechts wirklich in so friedlicher Weise vonstatten, wie man nach der gegebenen Schilderung glauben möchte? Gilt nicht auch auf diesem Gebiet, daß dem Werdenden stets das Seiende hindernd oder gar feindlich entgegensteht, daß alles was wird, seinen Platz erkämpfen muß gegen das was war und ist?

Und dann noch eins. Wenn auch das geschichtliche Werden des Rechts der Entwicklung von Kunst und Sprache zu vergleichen ist, so bleibt dabei doch ein Moment unerklärt, welches das Recht von allen übrigen Kulturelementen wesentlich unterscheidet: es ist dies, daß das Recht den Einzelnen in seinen gesamten Lebensverhältnissen ohne Wahl  zwingend  umgibt, daß es ihn beherrscht. Rechtsansichten, Meinungen, Überzeugungen von dem was zu geschehen hat und zweckmäßig oder notwendig ist für das Nebeneinandersein der Menschen, mögen wohl auf so unscheinbar friedliche Weise instinktiv aus dem Volksgeist in den verschiedenen Lebenskreisen erwachsen wie der Philosoph sie denkend konstruiert: damit sie aber zum wirklich geltenden Recht werden, müssen sie die Kraft erlangen den Einzelnen zu zwingen. Ein Satz, der nicht gegen den Willen der Widerstrebenden in der Wirklichkeit durchgeführt werden kann, mag gut und wahr sein: ein Rechtssatz ist er nicht. So finden wir also für den Begriff des Rechts als notwendiges Element die zwingende Kraft; wir fordern, daß die Macht sich mit ihm verbindet, dann erst können wir vom Dasein eines geltenden Rechtssatzes reden.

Die Macht ist demnach ein Element des Rechts. Wodurch aber gewinnt ein Satz diese zwingende Gewalt, die ihn zum Rechtssatz erhebt?

Leicht ist die Antwort gegeben in unseren heutigen Staatsverhältnissen. Wir sagen: einfach dadurch, daß die Norm als Gesetz publiziert wird. Denn der Akt der Verkündung hat nicht bloß die Bedeutung, welche zunächst im Wort liegt, die allgemeine Kenntnis des Satzes herbeizuführen, welche ja oft schon vorher durch unsere Zeitungen genügend vermittelt ist; sondern seine wesentliche Bedeutung ist die Erklärung, daß der Staat seinen starken Arm zur Durchführung leihen will und wird. In der Publikation wird die Vermählung der Norm mit der Macht vollzogen.

Nun wissen wir aber alle, daß es ein Recht gibt, welches ohne als Gesetz verkündet zu sein, dennoch gehandhabt wird. Wir nennen es das ungeschriebene oder Gewohnheitsrecht, das, wenn es auch heutigen Tags neben unserer gewaltig arbeitenden Gesetzgebung nur ein bescheidenes Dasein fristet, zu anderen Zeiten den Rechtszustand ganz wesentlich bestimmte. Und auf solchen Zeiten ruht mit Vorliebe der Blick der historischen Schule: denn im Gewohnheitsrecht offenbart sich ihr unverhüllt die unmittelbare Rechtsproduktion des Volks. Es besteht aus Sätzen, die in der Überzeugung des Volkes leben und ohne vom Staat gesetzt zu sein, geübt werden.

Hier scheint nun das Moment der Macht ganz zu fehlen: freiwillig, ohne Befehl und Zwang wird die ungeschriebene Norm befolgt.

Vollzieht sich aber die Bildung und Handhabung wirklich in so friedfertiger, spontaner und harmonischer Weise?

Erinnern wir uns zunächst daran, daß die Meinungen im Volk über das was notwendig ist und daher Recht sein soll, schwerlich mehr übereinstimmen werden, als über andere Fragen, sobald dieselben aus dem Gebiet der höchsten Prinzipien heraustreten und in konkreter, praktischer Gestalt die Kollision der Interessen, wie der Stimmungen provozieren. Was wir die öffentliche Meinung nennen, das ist doch höchstens die Meinung der Mehrzahl, ja oft nicht einmal das, sondern die Meinung derjenigen, welche es vermögen sich lauter als andere öffentlich vernehmen zu lassen. So ist es auch mit den Rechtsüberzeugungen, die wir doch nur in  dem  Sinne  herrschende  nennen können, daß die Mehrzahl sie teilt,, oder auch nur die Klasse derjenigen, welchen der überwiegende Einfluß zur Seite steht. Und wenn es nun nicht alle sind, die einer Ansicht beipflichten, wodurch wird dann ihr Inhalt, die Norm, zum Recht anders als dadurch, daß der mächtige Teil den machtlosen überwindet? Mit Vorliebe betrachtet man das Mittelalter als die goldene Zeit des Gewohnheitsrechts, der unmittelbaren Rechtsproduktion. Glaubt man aber, daß die Rechtsungleichheit, welche die gesamten sozialen Zustände durchdrang, daß Herrenrecht und Hörigkeit durch die Überzeugung der großen Masse, die wir Volk nennen, in friedlicher Harmonie damals zum Recht geworden ist? Ehrlich genug klingt aus jener Zeit das Wort des Sachsenspiegels (3, 42, 6) herüber:
    "Na rechter warheit so hevet egenscap begin von gedvange unde von vengnisse unde von unrechter walt, die man von aldere in unrechte wonheit getogen hevet, unde nu vor recht hebben wel."
Auch mit dem ungeschriebenen Recht ist es alos nicht anders, als daß die Frage, obe eine Rechtsansicht wirkliches Recht ist, sich dadurch entscheidet, daß ihr die zwingende Kraft zur Seite tritt. Im Hintergrund steht daher auch hier die Frage der Macht: und von den widerstreitenden Meinungen wird derjenige zum ungeschriebenen Recht werden, der die Genossenschaft oder das Gericht, von ihr erfüllt, seine Hilfe verheißt und gewährt.

Wir kommen demnach auf den Satz zurück, daß die Macht ein Element des Rechts ist: und wenn wir auch nicht bestreiten, daß das Recht als Idee wohl ohne jenes mehr exoterische Element gedacht werden kann, so verwirklicht sich dieselbe doch nur in der Gestalt konkret zwingender Sätze. Immerhin aber ist der ihr entsprungene Rechtsgedanke das  Prius,  die zwingende Kraft das  Posterius,  und dieses Verhältnis der Folge scheint sich auch in der Wirklichkeit sichtbar wiederholen zu müssen. Die Gesetzgebung beschließt eine Norm und gibt ihr dann durch Publikation die zwingende Kraft; der Staat läßt seinen Schutz durch die Gerichte nur zur Durchführung der vorher von ihm anerkannten bindenden Normen eintreten.

Dies scheint uns das normale, ja notwendige Verhältnis zu sein. Und dennoch zeigt uns die Geschichte in mannigfaltigen Erscheinungen den umgekehrten Gang in der Genesis des Rechts. Wir beobachten, daß Sätze, die bisher nicht Recht waren, zum Recht werden, nicht nur ohne vorher vom Staat gesetzt, sondern auch ohne vorher vom Volk geübt, ja nur ausgedacht zu sein, nur durch die Macht, die ihre Geltung erzwingt.

So geschah es in der ergiebigsten Periode der Entwicklung des römischen Rechts, welche durch das prätorische Edikt getragen wurde. Nicht kommt dem Prätor [hoher Beamter - wp] gesetzgebende Gewalt zu; sie ruht in der Hand des  populus romanus.  Nur die Leitung des gerichtlichen Verfahrens ist ihm anvertraut. Allein er übt seine Funktionen mit einer uns befremdenden Selbständigkeit; verantwortlich zwar, aber in einem solchen Grad unabhängig, daß er nach seinem Ermessen einen gerichtlichen Schutz gewähren und verweigern kann. Es liegt in seiner Macht den Richter bindend zu instruieren und so Ansprüchen, die das Gesetz nicht gelten läßt, Schutz zu gewähren, und ihn zu versagen, obgleich das Gesetz den Anspruch zugesteht. Ein Anspruch aber, für den ich des Schutzes im Gericht sicher bin, was ist er anderes als ein Recht? - und umgekehrt: ein mir vom Gesetz zugestandener Anspruch, für den ich im Gericht keinen Schutz zu erwarten habe, ist er wohl mehr, als der Schatten eines Rechts? Wenn der Prätor dem nach altem Gesetz erbberechtigten Agnaten das Vermögen des Erblassers verweigert, um dem Sohn, der sein gesetzliches Erbrecht durch die Entlassung aus der väterlichen Gewalt verloren hat, das Erbgut zuzuweisen, und dem Richter bindend befiehlt, diesen in allen Stücken wie einen Erben zu behandeln - wer steht dann in Wirklichkeit als der Berechtigte da? Zwar kann der Prätor nicht das Gesetz aufheben, nicht erklären, daß der emanzipierte Sohn gesetzlicher Erbe ist, noch ihn dazu machen: aber er kann ihn schützen und schützt ihn in der Tat so, als wenn er Erbe wäre. Und wie in diesem Beispiel, so treten sich in anderen wichtigen Lebensverhältnissen gegenüber Befugnisse, welche nach dem Gesetz,  ipso jure  [kraft Gesetzes - wp], und solche welche durch die Macht des Prätors,  tuitione praetoris,  bestehen.

Zwar ist dieses Verfahren des Prätors nicht als ein durch Laune bestimmtes, regelloses zu denken: und doch ist es nur er selbst, welcher sich die Regel gibt in seinem Edikt, das er bei Beginn seines Amtsjahrs publiziet. Hierin den bewährten Grundsätzen seiner Vorgänger sich anschließend, aber auch, in engster Fühlung mit den wechselnden Bedürfnissen und Anschauungen des Lebens, ändernd und ergänzend, überliefert ein Prätor dem andern von Jahr zu Jahr die lebendige Praxis: und durch die Tradition der Jahrhunderte bildet sich in stetiger Entwicklung ein System prätorischer Regeln, das an innerer Fülle und geschichtlicher Bedeutung die gesetzlichen Normen weit überragt. Daß diese Regeln, obgleich sie der Form nach nur den Schutz durch die Jurisdiktion des Prätors verheißen, der Sache nach Rechte gewähren und Rechtssätze sind, konnte am wenigsten dem praktischen Sinn der Römer unbewußt bleiben: sie stellen daher das prätorische Recht,  jus honorarium,  als ebenbürtige Masse neben das gesetzliche,  jus civile. 

Das Befremdende aber an dieser Entwicklung ist für uns dies: daß wir die Macht des Prätors in einen Gegensatz treten sehen zum Gesetz und daß wir die Genesis eines Rechts beobachten, die mit dem gerichtlichen Schutz beginnt, also von der Macht ihren Anfang nimmt, und von dieser dann ins Leben eingeführt wird.

Ist nun aber diese Erscheinung wirklich eine solche, für die unser deutsches Rechtsleben gar keine Analogie darbietet - oder gehört sie zu denen, welche einen allgemeingültigen Gedanken nur in einer fremdartigen Form offenbaren?

Zu allen Zeiten besteht ein Unterschied zwischen dem Recht, wie es im Gesetz geschrieben ist, und wie es in der gerichtlichen Praxis geübt wird. Noch niemals ist es einer Gesetzgebung gelungen, diesen Unterschied auszutilgen oder zu verhüten, weil er in der Natur der Dinge liegt. Denn da es die Aufgabe des Richters ist, das Gesetz, um es zu begreifen, auszulegen, so tritt mit Notwendigkeit die Individualität des Richters in die Mitte zwischen das Gesetz und den konkreten Rechtsfall. Recht ist, was der Richter für Recht erkennt, und treffend nennt daher unsere Sprache das richterliche Urteil eine Erkenntnis. Ist nun auch davon auszugehen, daß der Richter das Gesetz richtig versteht, so spielen doch hier nicht nur die Urteils- und Denkfehler, die irrigen Voraussetzungen, dieselbe Rolle, wie auf anderen Gebieten, sondern es steht ja auch der gesamte Richterstand unter dem Einfluß seines Bildungsgangs und der geistigen Potenzen, welche seine Zeit erfüllen; sie sind es, welche, ihm vielleicht unbewußt, sein Urteil formen und oft unbemerkt in das Gesetz einen Sinn hineintragen, an welchen der Urheber vielleicht gar nicht gedacht hat.

Noch stärker aber tritt die Subjektivität des Richters da hervor, wo das geschriebene Gesetz unzweifelhaft Mängel und Lücken zeigt. Er darf dich in einem solchen Fall nicht mit einem  Non liquet!  [Es ist nicht klar. - wp] der Entscheidung entziehen, sondern hat die Aufgabe, den anwendbaren Rechtssatz zu konstruieren aus den Prinzipien, die das geltende Recht durchdringen, nach Analogie zu urteilen.

So bilden sich dann Normen in der Rechsprechung und durch sie; wir nennen sie das Recht der Praxis: und wenn sie auch mit theoretisch konstruierten Sätzen darin verwandt sind, daß beide durch die wissenschaftliche Operation gefunden werden, so unterscheiden sie sich von jenen doch gerade dadurch, daß sie eben geltendes Recht sind, weil die Macht des Richters mit ihnen verbunden ist, von der sie ihren Ursprung nehmen.

Übertragen wir nun die Aufgabe der Rechtsprechung auf eine Zeit, in welcher die Lücken und Mängel der Gesetzgebung nicht, wie wir es annahmen, die Ausnahme bilden, sondern typisch sind, auf eine Zeit dürftigster Gesetzgebung: so steigert sich vor unserem Blick die richterliche Tätigkeit zur ausgiebigsten Rechtsproduktion.

Nur in einem langen Leben pflegt bei einem Volk der Reichtum der Erfahrung und die Kraft der juristischen Abstraktion zu reifen, welche es zugleich drängen und befähigen zu dem Versuch, seine Lebensverhältnisse in umfassender Weise durch geschriebene Gesetze zu normieren. Die Zeit der Jugend ist auch für die Völker die Periode der Ungebundenheit, in der sich as Leben nicht nach voraus erwogenen Grundsätzen, sondern nach dem Trieb des Augenblicks bestimmt. Ihr entspricht es, daß bei unseren Voreltern die zum Gericht versammelten Volksgenossen, daß später die Schöffen das Recht finden in dem Augenblick, wo es gilt Frieden zu schaffen und einen Streit zu schlichten. Der Schöffe des Mittelalters spricht das Urteil aus, welches er in seiner, durch geschriebenes Gesetz nicht gebundenen Überzeugung findet; sei es, daß er diese aus den Anschauungen, Gewohnheiten und Bedürfnissen des ihn umgebenden Lebens schöpft, sei es, daß er sie durch die Lehre erfahrener Männer gewinnt, die sie ihm in der Gegenwart erteilen oder in ehrwürdigen Rechtsaufzeichnungen überliefert haben. Die Norm, welche durch das Schöffenurteil zur Geltung kommt, ist, wenn auch ihre Quelle nur subjektives Meinen sein sollte, eben deswegen weil sie zur zwingenden Geltung gelangt, positives Recht für den einzelnen Fall. Ob sie es auch in anderen Fällen sein wird, das hängt von der Gleichheit der Überzeugung der anderen Schöffen ab. Allein, soweit unter den Volks- und Standesgenossen ein gleichartiger Rechtstrieb waltete, mußte sich in dieser Rechtspflege eine gewisse Kontinuität und Übereinstimmung der Rechtsbildung herausstellen, ähnlich wie es in staatsrechtlich geordneter Form durch das prätorische Edikt geschah.

Die Vergleichung des deutschen Schöffenrechts mit dem römischen  jus honorarium  führt uns jedoch sofort auf einen Umstand, welcher jenes zu seinem Nachteil wesentlich von diesem unterscheidet.

Die rechtsbildende Tätigkeit der Prätur ist nicht nur eine staatsrechtlich geordnete und stetige, sondern zugleich eine einheitlich-zentralisierte. Die judizielle Zentralmacht des Reiches ist es, von welcher hier die Rechtsbildung ausgeht; diese schreitet darum in Rom einheitlich fort, während sie sich in Deutschland, gleich den judiziellen Gewalten, in die bunteste Mannigfaltigkeit zersplittert; und zwar in einem solchen Maß, daß wir am Ausgang des Mittelalters von einem deutschen Recht nur als einer buntscheckigen Masse, die nur gewisse durchgehende allgemeine Züge der inneren Verwandtschaft zeigt, reden können. Es fehlte im deutschen Reich die Macht, weclhe die Rechtsbildung zusammenfassen konnte, sei es, daß einer solchen Zentralisation der deutsche Genius widerstrebte, sei es, daß nur dem Kaisertum der Wille oder die Kraft fehlte.

Und doch ist das Kaisertum in Deutschland mächtig genug gewesen, um der bedeutsamsten Umgestaltung des Rechtszustandes zur Grundlage zu dienen; freilich mehr durch seine ideale, als durch seine reale Betätigung. Das Recht, welches sich seit dem 15. Jahrhundert mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit im deutschen Reich über die bunten Partikularitäten unter dem Namen des gemeinen Rechts lagert, gründet diesen Anspruch darauf, daß es kaiserliches Recht ist. Denn sein wichtigster Bestandteil, das  Corpus juris civilis,  ist ein vom Kaiser JUSTINIAN publiziertes Gesetzbuch, welches wegen der angenommenen Kontinuität des römischen Kaisertums auch im römischen Reich deutscher Nation Gültigkeit haben muß.

Allein diese Vorstellung bestand seit Jahrhunderten; wie kam es denn, daß erst seit dem 15. Jahrhundert JUSTINIANs Gesetzbuch gemeines Recht bei uns wurde? Keine der beiden Formen, in denen nach den herkömmlichen Regeln unserer allgemeinen Rechtstheorie ein positives Recht entsteht, Gesetz und Gewohnheit, finden sich hier. Denn niemals ist das  Corpus juris  als deutsches Reichsgesetz publiziert worden. Und wenn wir unter dem Gewohnheitsrecht eine unmittelbar geübte Volksüberzeugung verstehen, so ist wohl nichts gewisser, als daß die im  Corpus juris  enthaltenen Satzungen nicht im deutschen Volk lebten, daß es dieselben nicht einmal kannte und wo sie ihm bekannt wurden, sich nicht selten im Gegensatz fühlte.

Nur das läßt sich sagen, daß die Vorstellung von der Autorität des römischen Rechts seit Jahrhunderten verbreitet war, aber freilich ohne daß der Schöffe sich dadurch in seinem Urteil irgendwie gefunden fühlte.

Ich will nicht die tiefer liegenden, so oft erörterten, geschichtlichen Gründe und Ursachen der Rezeption des römischen Rechts aufs Neue besprechen. Sie alle aber konstituieren die eine entscheidende Tatsache, daß sich seit dem 15. Jahrhundert die  Macht  bildete, welche die  in thesi  längst verehrte Rechtsweisheit der Römer zu einem geltenden gemeinen Recht erhob. Es ist der gelehrte Juristenstand, dem, unterstützt von der sich stärkenden Fürstenmacht, die richterliche Gewalt zufiel. Weil und soweit dieser das römische Recht im Gericht durchsetzte, deswegen und soweit wurde es geltendes Recht; und somit wiederholt sich hier die Erscheinung, daß die Genesis einer Rechtsbildung von der Macht ihren Ausgang nimmt.

Ich will nicht untersuchen, wie es denn kam, daß der Juristenstand zu diesem Einfluß gelangte. Tief in unserer sozialen und politischen Entwicklung begründete Ursachen sind es, die sich hier wechselseitig bedingend, zusammenwirkten. Aber ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf hinlenken, wie die hier behauptete Genesis des gemeinen Rechts auf seine Gestalt und seine ferneren Schicksale bestimmend eingewirkt hat.

Der Vorgang, um den es sich hier handelt, unterscheidet sich von den vorhin betrachteten dadurch, daß in der Entwicklung des  jus honorarium  und des Schöffenrechts neue Rechtssätze erzeugt wurden, hier dagegen ein seinem Inhalt nach fertiges, vollendetes, vor Jahrhunderten abgeschlossenes fremdes Recht aufgenommen wurde; das Neue lag nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Geltung für Deutschland. Wenn bisher der Schöffe  das  für Recht erklärt hatte, was er in seiner Überzeugung fand, so war nun der gelehrte Richter an das geschriebene Wort gebunden, dem er seine Überzeugung unterzuordnen hatte. Und in der Tat diente dem gemeinen Recht zur Empfehlung, daß man durch seine Geltung von einem  jus incertum  [unsicheres Recht - wp], dem ungewissen schwankenden Meinen der Schöffen, zu einem  jus certum , festem Recht, zu gelangen hoffte.

Allein so schlagend der Gegensatz scheint, er zerrinnt uns fast unter den Händen, wenn wir der Sache näher treten.

Erinnern wir uns daran, daß das römische Recht nicht in einer beglaubigten Urkunde, sondern in einer großen Zahl ungleicher Handschriften nach Deutschland kam und auf dieser schwankenden Grundlage durch den Druck verbreitet wurde. An diesem Text durfte und mußte die wissenschaftliche Kritik ihre Arbeit üben und sie hat es mit so ausgiebigem Erfolg getan, daß der Quellenkanon am Schluß des 16. Jahrhunderts eine wesentlich andere Gestalt zeigte, als im Anfang desselben. Wenn aber der Wortlaut eines Gesetzes durch die Wissenschaft erst festgestellt werden muß, so folgt, daß von ihrem Urteil abhängt, was Rechtens ist.

Und weiter. Das Verständnis des  Corpus juris  setzt ein gewisses Maß gelehrter Bildung voraus. Die Eigentümlichkeit desselben, daß es eine nur äußerlich gegliederte, innerlich durchaus nicht systematisch geordnete Masse darstellt; daß es im Altertum entstanden, also aus diesem zu deuten, und dennoch in der Gegenwart zu gelten bestimmt ist, deren Lebensverhältnisse von jenem wesentlich abweichen - sie stellt seiner Anwendung Schwierigkeiten in den Weg, welche nur wissenschaftliche Arbeit überwinden kann. Die Philologie, die Altertumskunde ist uns Gehilfin und Lehrerin, um seinen Gehalt historisch zu erfassen. Allein sie bildet keinen Juristen. Hinzukommen muß die juristische Analyse der einzelnen Sätze nach ihren faktischen Voraussetzungen und rechtlichen Dispositionen; die logische Synthese, die Abstraktion der Prinzipien, die Konstruktion der Begriffe, die Deduktion der Konsequenzen, die Verbindung der Einzelheiten zu einem systematischen Ganzen. Dann erst ist das juristische Verständnis, dann erst die Herrschaft über den Stoff gewonnen, welche zur Anwendung befähigt. Und zu all dem tritt schließlich die Frage, was den von all den im  Corpus juris  enthaltenen Bestimmungen in Deutschland wirklich zur Anwendung kommen kann? Denn selbst der leidenschaftliche Verehrer des römischen Rechts, selbst der eifrigste Vertreter des Satzes, daß es als Ganzes, wie man sagt: "in complexu", rezipiert sei, hat sich nie der Täuschung hingeben können, daß es ohne weiteres in all seinen Einzelheiten die Lebensverhältnisse Deutschlands beherrschen darf oder zu beherrschen vermag. Wo aber ist die Grenze seiner Anwendbarkeit zu finden, welche niemals durch einen gesetzlichen Ausspruch gezogen wurde?

Wenn nun die Wissenschaft es ist, welche den Wortlaut des Gesetzes feststellt, aus verworrenen Einzelheiten ein systematisches Ganzes konstruiert und dieses als den Inhalt des Gesetzes zur Darstellung bringt, schließlich die Grenzen seiner Anwendbarkeit bestimmt - so macht sie sich in der Tat zur Herrin des Rechtszustandes. Und man darf es geradezu aussprchen: gemeines Recht in Deutschland ist drei Jahrhunderte lang dasjenige gewesen, was die Jurisprudenz als solches lehrte.

Die Wissenschaft befindet sich jedoch in später Bewegung; erneuerte, fortschreitende Prüfung ist ihr Leben; ihr Stoff, ihre Resultate sind in einem ewigen Fluß und schwankend im Streit der Meinungen - und so auch das Recht, welches sie lehrt. Es fehlt an einem äußeren Kriterium der Gewißheit und daher kann dann dieses gemeine Recht ebenfalls ein  jus incertum  gescholten werden.

Allein ist denn das, was die Wissenschaft konstruiert und lehrt, wirklich schon geltendes Recht? So wenig sie sich durch äußere Autorität beherrschen läßt, ebensowenig kommt ihren Ergebnissen äußerlich eine zwingende Kraft zu; und nur soweit wird sie die Lebensverhältnisse beherrschen, als sie die Überzeugung zu bestimmen vermag. Nur dadurch gewinnen ihre Resultate die Bedeutung von Rechtssätzen, daß sie den Richter lehrt und überzeugt, und er ihren Sätzen seine Macht leiht. Recht ist hier, was der gelehrte Richter, aus dem Schatz der Wissenschaft schöpfend, als seine Überzeugung bindend ausspricht. Und somit fungiert er im Grunde nicht anders als der Schöffe, nur daß dieser seine Überzeugung mehr instinktiv, jener sie durch wissenschaftliche Reflexion gewinnt. Allein auch der Schöffe ließ die Rechtsaufzeichnungen nicht unbeachtet: aus Rechtsbüchern, Weistümern [historische Rechtsquellen - wp], Urteilsbüchern schöpfte er Belehrung, um sich ein Urteil zu bilden. Man war es in Deutschland gewohnt, durch ein zwingendes Gesetz in der Rechtsprechung nicht gebunden zu sein, sondern sich das geschriebene Wort nur zur Lehre und zum Motiv der Entscheidung dienen zu lassen. Und eben weil der gelehrte Richter in ganz ähnlicher Weise fungierte, konnte sich die Einbürgerung des römischen Rechts ohne Dazwischenkunft der gesetzgebenden Gewalt vollziehen, deren Ausspruch unentbehrlich gewesen wäre, wenn es sich um die Abschaffung und Einführung bindender Gesetze gehandelt hätte. Wie die Dinge lagen geschah zunächst nichts anderes, als daß das Motiv der Entscheidung ein anderes wurde, daß sich die gelehrte Überzeugung an die Stelle der populären einschob. Und selbst zwischen diesen beiden Extremen fand eine wirksame Vermittlung dadurch statt, daß sich seit dem 15. Jahrhundert eine Literatur verbreitete, welche den Bestand der gelehrten Jurisprudenz in populärer und freilich auch entstellter Gestalt zugänglich machte.

Aber auch die freie Subjektivität des Schöffentums, in dessen Stelle er langsam und schrittweise einrückte, hat der gelehrte Richterstand auf dem schwankenden Boden des gemeinen Rechts sich in hohem Grad vorbehalten können und müssen. Denn unabhängig steht er gegenüber der Theorie, die den Stoff des gemeinen Recht bewahrt, wenn es ihm auch bequem und angemessen erscheinen mag, der  communis doctorum opinio  [herrschende Lehre - wp] zu folgen, soweit eine solche zu erkennen ist; oder sein Wissen aus einem angesehenen Kompendium zu schöpfen, wie es der Schöffe aus dem Sachsenspiegel tat. Unabhängiger noch ist er in der Bestimmung der Anwendungsgrenzen für das römische Recht. Denn niemals hat die Theorie es vermocht die verschlungene Linie genau zu bezeichnen, welche sich zwischen den Geltungsgebieten des einheimischen und des fremden Rechts hindurchzieht. Wenn sie das Dogma aufstellt, daß letzteres  in complexu  rezipiert wird, so geschieht es doch nur mit dem Vorbehalt der  utilitas der Brauchbarkeit, und dem derogierenden [außer Kraft setzen - wp] Vermögen deutscher Gewohnheit. Brauchbarkeit aber und Gewohnheit sind nur aus dem wirklichen Leben zu erkennen, mit welchem der Richter in unmittelbarer Berührung steht. Seine Aufgabe ist es daher die Sichtung und Grenzscheidung zu vollziehen: und in seiner Hand liegt es durch die Ablehnung römischer Prinzipien, sowie durch die Umdeutung einzelner Bestimmungen den ihm aus dem Leben entgegentretenden Anschauungen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Nur durch diese vermittelnde Tätigkeit ist die Einbürgerung des  Corpus juris  möglich und erträglich geworden. Aber es hat sich auch auf diesem Weg durch die Macht des Richteramtes das geltende Recht im Laufe der Zeit zu einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit entwickelt. Und wie sich die Geschichte der Rezeption des römischen Rechts bei genauerem Eingehen in bunte Spezialgeschichten der einzelnen Gerichtssprengel auflöst, so ist es den Vertretern der Wissenschaft, je mehr sie im Laufe der Zeit von der Teilnahme an der Rechtspflege und unmittelbarer Einwirkung auf diese ausgeschlossen sind, desto mehr eine fast unlösbaer Aufgabe geworden, das gemeine Recht in der praktisch gültigen Gestalt zu lehren und darzustellen. -

Wir haben eine Reihe von Erscheinungen an uns vorübergehen lassen, in denen das Werden des Rechts seinen Ausgang nimmt oder getragen wird von der Macht. Von ihnen allen aber läßt sich sagen, daß die hier tätige Gewalt eine solche ist, welche selbst wieder auf einer rechtlichen Grundlage ruht. Die Autorität und Gewalt des Prätors, des Richters, der Gesetzgebung - sie alle sind gegeben durch den bestehenden Staat.

Aber das Problem ist damit nicht gelöst, sondern nur um einen Schritt weiter hinausgeschoben: denn es stellt sich die Frage, woher nun der Staat selber sein Recht herleitet, wie die höchste Ordnung die wir Staat nennen, zum Recht wird?

Schwer möchte es sein, mit kurzen Worten eine Antwort zu geben und ich will es nicht unternehmen, hier eine der verschiedenen Theorien über die Entstehung des Staates zu vertreten. In der Tat fällt die Frage mit der anderen, nach der ersten Entstehung allen Rechts, zusammen - und Beides entzieht sich unserer geschichtlichen Beobachtung.

Einen völlig staat- und rechtlosen Zustand kennen wir nicht; mit den ersten Grundlagen und Anfängen des Rechts tritt, wie ich schon sagte, jedes Volk in die Geschichte ein; beobachten können wir nur die Umgestaltung und Fortentwicklung.

Es wiederholen sich nun aber im Völkerleben Perioden, die der ursprünglichen Rechtlosigkeit verglichen werden können; Momente, in denen eine überlieferter Rechtszustand und seine Grundlage, der Staat, jäh zusammenbricht; Zustände, in denen nur die elementaren Kräfte, wie das stürmende Meer, vom Gesetz entbunden zu walten scheinen. Wird jener vorgeschichtliche Urzustand der Rechtlosigkeit als "bellum omnium contra omnes" [Krieg aller gegen alle - wp] gedacht, so zeigen uns Staatsumwälzungen und Krieg dieses Bild in der Wirklichkeit. Denn nichts anders sind ja diese Zustände, als die Aufhebung, die Negation des Rechts unter oder in den Staaten.

Allein auf den Trümmern des zusammengestürzten Rechts baut sich ein neues auf. Und die Macht ist es, die es gestaltet. Nicht bloß auf dem Weg einer mehr oder weniger erzwungenen Vereinbarung, durch einen Friedensschluß, wird es begründet; sondern je nach den Erfolgen des Siegers kann und darf er es willkürlich setzen. Mag unser Rechtsgefühl sich empören, wenn wir den Schwachen durch die Gewalt des Stärkeren unterdrückt sehen, mag es sich dagegen sträuben daß im öffentlichen Leben ein anderer Grundsatz gelten soll: unentwegt geht durch die Geschichte das Gesetz, daß wo ein Staat gegen den anderen sein ganzes Dasein im blutigen Kampf eingesetzt hat, dem Sieger als Preis die Bestimmung der Zukunft gebührt. - Fragen wir nach dem Ursprung der uns umgebenden Verhältnisse, welche wir als staats- und völkerrechtlich wohlbegründete anerkennen, so sagt uns schon das eigene Erlebnis, daß sie zum guten Teil auf nichts anderes, als auf die Macht des Siegers zurückzuführen sind, wenn auch die Verhandlung, Kongreß und Friedensschluß sich mildernd dazwischen geschoben haben. Die Macht des Siegers ist es, welche das Recht schafft und bestimmt: und nur in der Anerkennung dieses Grundsatzes findet der Krieg sein Ende und führt zum Frieden zurück. In dieser Betrachtung aber liegt auch die Versöhnung unseres Rechtsgefühls mit dem harten Gesetz der Geschichte.

Im Wesentlichen nicht anders müssen wir urteilen, wenn wir tiefgehende Krisen im Staatsleben, Umwälzungen und Erschütterungen des öffentlichen Rechtszustandes, durch Gewalttat mächtiger Persönlichkeit geschlossen sehen. Rechtlos ist die Tat, wie die Gewalt, mit der sie vollführt wird. Aber wo sind denn diejenigen, welche nach bisherigem Recht befugt und berufen waren Macht auszuüben? Zusammengebrochen, verschwunden mit dem Rechtszustand selbst, haben sie ein Vakuum zurückgelassen, einen Zustand der Auflösung und Rechtlosigkeit, der das Volksleben in seinem Kern bedroht. Wo kein Recht mehr gilt, da ist die Macht berufen, ein neues zu setzen, gleich wie die Tat des Zugriffs das Recht des Eigentums schafft, wo bisher keines bestand.

Denn der Ordnungstrieb in der menschlichen Natur erträgt keinen Zustand, in welchem die Grundpfeiler der Gesellschaft wanken. Er heißt die Macht willkommen, der es gelingt sie wieder aufzurichten; in der durch sie geschaffenen Ordnung empfängt er seine Befriedigung und indem die Gesellschaft sich ihr fügt, erkennt sie dieselbe an, als das geltende Recht. Denn höher als das Verlangen und die Überzeugung, daß das Recht einen bestimmten Inhalt haben muß, daß dieses oder jenes Rechtens sei, steht das Verlangen und die Überzeugung, daß überhaupt  ein  Recht sein und herrschen muß: und das Vakuum kann allein die mächtige Tat ausfüllen. -

Muß ich nach diesen Erörterungen nicht erwarten, ein blinder Verehrer des Erfolgs zu heißen, ein Anhänger der Lehre, daß Macht vor Recht geht?

Vielleicht gelingt die Verständigung, wenn wir, die beliebten Schlagwörter beiseite legend, uns das Wesen der Macht genauer betrachten.

Man ist nur zu geneigt und hat sich daran gewöhnt, die Macht mit der blinden Kraft und rohen Gewalt zu verwechseln, und sie den sittlichen Begriffen fremd, ja feindlich gegenüberzustellen. Allein nicht der muskelstarke Arm, nicht der treibende Dampf ist mächtig, sondern der Wille, dem sie gehorchen. Macht ist die Herrschaft des Willens über die Kraft; sie konstituiert sich vor allem aus der Vereinigung verschiedener Kräfte unter einen Willen. Indem wir aber den Willen in ihrem Begriff aufnehmen, gewinnen wir das Moment, durch welches sie der sittlichen Welt angehört. Wir können von guten und bösen Mächten reden, je nachdem der Wille, der die Kräfte beherrscht, von dem einen oder von einem anderen Prinzip bestimmt wird. - Und nicht weniger ist die Macht in das Gebiet der ethischen Welt gesetzt durch die Elemente, aus denen sie sich zusammenfügt. Denn geistige Medien sind es, welche die Kräfte dem Willen dienstbar machen, sie ihm zusammenfassend unterwerfen, um sie auf ein bestimmtes Ziel hin wirken zu lassen. Wie in einem Zweck, so findet sich auch in der Begründung der Macht der Gegensatz von Gut und Böse seinen Raum.

Wenn wir die Macht in diesem Licht betrachten, so werden wir begreifen, daß sie ihrem Wesen nach mit dem Recht verwandt ist. Denn auch das Recht ist Willensherrschaft, aus dem Willen hervorgegangen und ihn zu beherrschen bestimmt. Das heilsame Verhältnis zwischen beiden ist das Bündnis, geschaffen dadurch, daß die Macht die Rechtsnorm als Bestimmungsgrund ihres Willens aufnimmt: die Macht wird eine rechtmäßige, das Recht ein mächtiges, geltendes.

Aber durch das Rechtmäßige allein wird der Inhalt der Idee des Guten nicht erschöpft, und so kann dann auch die Macht, um gut zu sein, durch andere Momente bestimmt werden. Auf das Gute gerichtet vermag der in ihr waltende Wille auch das Recht hervorzubringen und unser sittliches Urteil wird nicht widersprechen, wo wir dieser Erscheinung begegnen.

Die Eigenmacht über die Sachen, aus welcher, wie wir sahen, das Eigentumsrecht erwachsen kann und erwächst, ist nur die Verwirklichung des Aneignungswillens, der seine sittliche Rechtfertigung in der Bestimmung der materiellen Güter für die Zwecke der Menschen findet. Diesen ansich sittlichen Willen nimmt der Staat als Recht des Besitzes in seinen Schutz, bis nachgewiesen ist, daß in ihm die Verletzung eines besseren Rechts liegt. Zum Recht selbst aber wird er definitiv als Eigentum dann, wenn kein anderes Recht auf die Sache besteht, sei es, daß ein solches niemals vorhanden war, sei es, daß dasselbe im Lauf der Zeit abgestorben und erloschen ist.

Dieselbe Erscheinung, daß die Macht die  Lücke ausfüllt,  welche das Recht läßt, wiederholt sich bei der Bildung des Rechts im objektiven Sinn.

Unser sittliches Gefühl widerstrebt nicht, wenn wir die Rechtsnormen ihren Ausgang nehmen sehen von der Macht der richterlichen Behörden, obgleich ihr Beruf nicht darin besteht, neues Recht zu setzen, sondern das geltende zu handhaben. Wo aber dieses Lücken zeigt, da erscheint die Schaffung neuen Rechts sittlich gerechtfertigt durch die höhere Auffassung vom Beruf der Obrigkeit, daß sie bestimmt ist den Streit zu schlichten und den Frieden zu wahren. Um dieser höheren Güter willen darf und soll sie, hilfreich das Recht ergänzend, die formalen Schranken ihres Mandats überschreiten.

Nur ein kleiner Schritt ist es, der uns von diesen Gedanken zur sittlichen Rechtfertigung der Gewalttat führt, welche in Zeiten tiefster Erschütterung der öffentlichen Rechtszustände, in Krieg und Staatsumwälzung, eine neue Ordnung begründet. Denn sittlich gut ist schon ansich der Wille, welcher darauf zielt, den leeren Raum auszufüllen, den der, durch menschliche Kraft nicht aufzuhaltende, Zusammenbruch des bisherigen Rechtszustandes hervorgebracht hat; die Macht ist dazu berufen. Und wenn ich früher einmal von dem Zauber sprach, den sie auf das Gemüt ausübt, hier, in seiner beruhigenden Kraft, sehen wir ihn wirksam; hier aber offenbart sich auch sein sittlicher Grund, der in einem tiefen Bedürfnis nach Ordnung liegt. Denn nur wo Macht ist, ist Ordnung; wer diese will, muß Befehl und Gehorsam wollen. Ihren Keim ahnen wir, ihre Verwirklichung erkennen wir in dieser Betätigung der Macht, und im hohen sittlichen Wert dieser Tat liegt das Fesselnde, liegt das Versöhnende.

Aber freilich ist die Voraussetzung der hier gegebenen Rechtfertigung diese, daß in  Wirklichkeit die Lücke besteht,  welche die Macht auszufüllen unternimmt.

Selbst die gesetzgebenden Gewalten des Staates trifft ein schwerer Vorwur, wenn sie zu unreinen Zwecken oder, in doktrinärer Neuerungssucht experimentierend, die Lücke ohne Not erst reißen, um sie dann durch neue Satzungen auszufüllen. Noch weniger würden wir es dem Richter verzeihen, wenn er da, wo das geltende Recht ihm die Entscheidungsnorm an die Hand gibt, eigenmächtig ein anderes an die Stelle setzen wollte. Und doch scheint der deutsche Richterstand dazu gedrängt worden zu sein durch die Unfähigkeit der Gesetzgebung in zwei Jahrhunderten. Eigenmächtig und frei, hat er, unter Führung der Wissenschaft, ein neues Strafrecht geschaffen, sich losgesagt vom Strafsystem der P. G. O. [Peinliche Gerichtsordnung - wp] CARLs V., dessen Grausamkeit und Rohheit noch bis in unser Jahrhundert hinein eine formelle Gültigkeit hatte. Trifft den Richterstand ein Vorwurf, weil er das Verbrennen und Ertränken, das Rädern, Lebendigbegraben und Vierteilen, die Verstümmelungen aller Art nicht mehr von Rechtswegen verfügte, als die milderen Sitten der Zeit bereits gegen die Grausamkeit des Gesetzes in einen unversöhnlichen Widerspruch traten? Nicht bloß durch sittliche Gründe ist ein Verhalten gerechtfertigt, sondern durch die ganze, oben entwickelte Stellung des gemeinrechtlichen Richters, die auf dem Gebiet des Strafrechts in der P. G. O. (Art. 104) ihre Stütze findet. Denn nicht unbedingt bindet sie den Richter an die festgesetzten Strafarten, sondern läßt seinem Ermessen den weitesten Spielraum. Wo jener Konflikt sich offenbarte, da war die durch ihn auszufüllende Lücke gegeben.

In den großen Konflikten des Völkerlebens versagt die richterliche Gewalt und tritt an die politische Macht die Frage heran, ob für sie der Moment gekommen ist, jenen sittlichen Beruf zu üben. Da zeigt nun zunächst das Verhältnis der selbständigen Staaten zueinander, welche sich nicht einer gemeinsamen höheren Autorität unterworfen haben, in gewissem Sinne fortwährend die Lücke des Rechts, welche wir suchen. Denn allen Grundsätzen, nach denen sich ihre Beziehungen regeln, fehlt das für jeden positiven Rechtssatz unentbehrliche Moment, der gegen den Widerstrebenden durch ein anerkanntes Organ vollstreckbaren Erzwingbarkeit. Nur Gründe der allgemeinen Wohlfahrt und der Sittlichkeit stehen den durch Herkommen und Übereinkunft im Verkehr der Staaten untereinander sanktionierten Grundsätzen zur Seite, die wir Völkerrecht nennen. Wenn aber zu diesen auch die unabweisliche Maxime gehört, daß kein Staat durch Vereinbarungen oder Satzungen bis zur Vernichtung seines Daseins oder seiner höchsten Aufgaben gebunden sein kann; und wenn es nur der Staat selber ist, welcher darüber entscheiden kann, ob diese Grenze überschritten ist, so folgt, daß wir uns hier auf einem Gebiet befinden, wo der Begriff des positiven Rechts uns im Stich läßt. Wir stehen hier vor der großen Lücke aller bindenden Rechtssysteme; wir haben uns auf die höchsten Spitzen des irdischen Daseins erhoben und sehen über uns nur den von menschlichen Satzungen nicht erfüllten, leeren Raum. In den Beziehungen der Staaten zueinander kann es daher nur die Macht sein, welche die durch unlösbare Konflikte der höchsten Interessen gestörte Ordnung wieder herstellt, und als Recht erkennen wir an, was sie in Erfüllung dieses ihres sittlichen Berufs verfügt.

Innerhalb des einzelnen Staates bildet die in anerkannter Wirksamkeit bestehende Verfassung die Grundlage des öffentlichen Rechtszustandes und es kann jener Beruf der Macht nur bei den tiefgehenden Krisen zur Frage stehen, in denen die schweren Krankheiten des Staatsorganismus zum Ausbruch kommen. Ob sie so tiefgehend sind, daß der bisherige Rechtszustand in seinen Fundamenten erschüttert ist, das bisher geltende Recht seine bindende Kraft verloren hat, so daß die Lücke vorhanden ist, in welche die Macht ergänzend einzutreten hat: das ist eine Frage, welche in solchen Zeiten das Gewissen des Einzelnen schwer bedrängt, mag er zu denen gehören, die Gehorsam fordern oder zu denen die ihn leisten sollen.

Nicht leichten Herzens wird der Gewissenhafte sich für die Bejahung entscheiden. Am überlieferten Recht festzuhalten ist Treue; für das rechtmäßig Entstandene mutig einzutreten, gebietet die nächste sittliche Pflicht und wir ehren den, der sie mit männlicher Kraft erfüllt, der Gewalt sich entgegenstemmend.

Allein vergessen wir nicht, daß alles geltende Recht ein Kind der Geschichte ist; ewig ist nur der Satz, daß ein Recht sei, wechselnd ist eine Gestalt; und nur die allgemeinsten Zügen der höchsten Rechtsgedanken werden sich darin immer wieder offenbaren. Und wie das Recht, so ist auch jede Macht ein Produkt der Geschichte, durch komplizierte Ursachen im Völkerleben erzeugt. Wie die Rechtsgedanken in der Seele des Volkes keimen und wieder ersterben, die Idee des Rechts ihre wechselnde Gestaltung durch seinen schaffenden Geist empfängt, und einen Zweig am Baum seines geschichtlichen Daseins bildet, an dem die alten Blätter fallen, wenn er neue treibt; so ist auch von der Macht zu sagen, daß sie im geschichtlichen Leben des Volkes hervorwächst und wieder abstirbt. Wo beide auf den verschlungenen Wegen ihrer Entwicklung sich begegnen und verbinden, da entsteht und ist das geltende Recht da; wo sie sich voneinander scheiden, da verliert die Norm ihre zwingende Kraft und hört auf Recht zu sein, wenn sie auch in der Erinnerung noch fortlebt. Und nicht bloß in einem geordneten Gang kann sich die Macht der Norm entziehen, sondern es geschieht auch, daß sich der Rechtsgedanke zugleich mit der Macht, die ihn stützte, überlebt und innerlich morsch vor dem kühnen Stoß haltlos zusammenbricht: das ist der Zustand, in welchem die neu entstehende Macht auch berufen ist sich einem neuen Rechtsgedanken zu vermählen und neues Recht zu setzen.

Mit den Wogen der geschichtlichen Bewegung, welche Recht und Macht emporheben und wieder in die Tiefe versenken, rechten zu wollen, ist kindisch; und nicht jeder darf sich darum für einen CATO halten, weil ihm die siegreiche Sache nicht gefällt. In Ehrfurcht sollen wir uns den in der Geschichte waltenden göttlichen Gesetzen beugen und sie verstehen lernen. Denn sittliche Ordnungen walten selbst über den wildesten Stürmen des Aufruhrs und dies Krieges. Im Sieg treten die Wirkungen unendlich komplizierter sittlicher Ursachen zutage. Ihr Ergebnis ist die Macht, die das Recht der Gegenwart bestimmt.

Immer und überall ist es der mächtige Wille, welcher das Recht setzt, mag der Rechtsgedanke spontan im überlegenen Teil des Volkes, oder mag er durch Reflexion bei denen entstanden sein, in deren Hand sich die gesetzgebende und richterlich Gewalt befindet.

Ob wir dem mächtigen Willen Gehorsam schulden, sein Gebot als Recht anzuerkennen haben, das wird sich zunächst danach entscheiden, ob nach der bestehenden Rechtsordnung jenem Willen die Befugnis gebührt, einen Zwang auszuüben. Es ist also zunächst selbst wieder eine Frage des positiven Rechts. Allein wo dieses uns im Stich läßt, da, wo die grundlegende Ordnung selbst ins Wanken geraten und unhaltbar geworden ist, da tritt das Gewissen an seine Stelle. Jene Frage ist keine juristische mehr, sondern eine ethische und die Entscheidung kann nicht mehr positiven Satzungen, sondern nur den höchsten sittlichen Prinzipien entnommen werden. Hier findet das apostolische Wort seine Anwendung: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit die Gewalt über ihn hat"; und wenn es hinzufügt "denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott", so ist damit nur die geschichtliche Bildung der Macht in das religiöse Bewußtsein erhoben, indem sie als göttliche Fügung angeschaut wird. -

Der mächtige Wille aber fühlt auch in sich  den Beruf und den Trieb  Recht zu setzen.

Daher die merkwürdige Erscheinung, daß sich die großen, epochemachenden Bildungen des Rechts überall im Anschluß an die höchste Machtentwicklung vollzogen haben.

Auf dem Weg zur Weltherrschaft gestaltete die römische Nation das Recht, welches in den Zeiten der höchsten Blüte ihre Macht zu einer solchen Vollendung und Fülle gelangte, daß wir noch heute an seinen, in JUSTINIANs Kompilation gesammelten Resten zehren. In der fränkischen Monarchie sehen wir KARL den Großen auf der Höhe seiner abendländischen Herrschaft mit dem Plan einer umfassenden Kodifikation und Gesetzgebung beschäftigt, die, wenn sie auch nicht zum Abschluß gelangten, doch bleibende Spuren hinterlassen haben. Die Periode der höchsten Macht der Kirche hat in den großen Rechtsbüchern, deren Gesamtheit wir das  Corpus juris canonici  nennen, sich für die Geschichte des Rechts ein großartiges Denkmal gestiftet.

Vergebens forderten im 16. Jahrhundert hervorragende Juristen von Kaiser und Kurfürsten, durch eine umfassende Gesetzgebung dem verworrenen Rechtszustand ein Ende zu machen. Nur auf dem Gebiet des Strafrechts und des Prozesses sind einige Ergebnisse dieses Verlangens zu bemerken. In größerem Umfang war ein Erfolg unmöglich: denn wie sich die staatliche Macht immer mehr vom Zentrum des Reichs ablöste und in den Territorialherren konsolidierte, so folgte auch die Rechtsbildung dieser zentrifugalen Bewegung. Die feste Begründung der Macht des preußischen Staates unter seinem großen König ist zugleich die Epoche, in der sein Landrecht erwuchs. Und Frankreichs mächtigste Periode bezeichnet die große Gesetzgebung, welche sein starker Arm in das unterworfene Deutschland getragen hat.

Die Ohnmacht des deutschen Reichs spiegelt sich in seinem Recht. Das gemeine Recht ist schwankend und nach dem Umfang seiner Gültigkeit undefinierbar, wie die kaiserliche Gewalt, von der es den Anspruch auf bindende Kraft entlehnt. Wenn in unserem Jahrhundert nach der Befreiung vom fremden Joch die Herstellung eines einheitlichen Rechts für Deutschland von warmen Vaterlandsfreunden laut aber vergebens gefordert wurde, so lag der Grund der Erfolglosigkeit nicht so sehr in dem von SAVIGNY damals geltend gemachten Mangel an Beruf zur Gesetzgebung, welcher das Unternehmen gar nicht kommen ließ. Zwei Menschenalter hindurch hat seitdem die Sehnsucht nach Einheit unsere Nation bewegt - und kaum war sie erfüllt und die Macht begründet, als auch sofort die umfassendste Gesetzgebung begann und eine durchgreifende Kodifikation des gesamten Rechts unter die ersten nationalen Ziele des neuen politischen Lebens aufgenommen wurde.

Wie erklären wir uns diese Erscheinungen? Nicht, wie ich glaube, aus einer mit der Machtentwicklung verbundenen Steigerung der Intelligenz oder der sittlichen Potenz des Rechtsgefühls; denn beides ist nicht mit Sicherheit als ein unbedingter Vorzug solcher Perioden zu behaupten. Der Grund liegt vielmehr darin, daß Macht und Recht sich in Wahlverwandtschaft gegenseitig anziehen. Die Macht strebt nicht nur dahin, die Weihe des Rechts zu empfangen, sondern der sittlichen Natur des Willens gemäß dahin, eine feste Ordnung zu schaffen auf dem Gebiet, das sie beherrscht. Und andererseits liegt in den Rechtsgedanken, welche eine Zeit erfüllen, der natürliche Trieb zur Macht, um Geltung zu erlangen. Je näher und sicherer die Aussicht auf eine Befriedigung, desto reicher und stärker drängen sie sich hervor und in der Verschwisterung mit der Macht kann sich der Ordnungstrieb voll genügen.

Von den Gefahren, die in solchen Zeiten liegen, in denen die Attraktionskraft zwischen Macht und Recht fast mit elementarer Gewalt zu wirken scheint und eine Überreizung des Ordnungstriebes, eine Überproduktion der Gesetzgebung zu erzeugen droht, lassen Sie mich schweigen. -

Soll ich schließlich noch aussprechen, daß  das Recht selber Macht ist und Macht gibt?  Wir alle wissen es, daß wir im Kreis unseres Rechts mächtig sind. In unserem Eigentum sind wir Herren, beherrschen wir die Güter dieser Erde. Im Recht des Vertrags beherrschen wir den Willen unseres Schuldners. In den Familienrechten, in den politischen Rechten, überall, wo uns ein Recht zuteil wird, da erfährt unsere Macht einen Zuwachs, der darin seinen Grund hat, daß der Staat durch seinen Schutz unserem rechtmäßigen Willen die Kraft zur Herrschaft verleiht.

Aber die schützende Gewalt des Staates ist es nicht allein, welche das Recht zur Macht erhebt. Denn neben dieser sichtbaren Gewalt steht schirmend die unsichtbare Kraft des  Gewissens geht die heilige Scheu vor Unrecht als Stimme des göttlichen Willens leitend und bändigend durch das menschliche Gemeinleben hindurch. Und wenn ich wiederholt betont habe, daß die äußerlich zwingende Kraft zum Wesen des Rechts gehört, so sollte damit seine Stellung in der sittlichen Weltordnung nicht erschöpfend bezeichnet sein. In dieser steht der Gehorsam gegen das Recht da als sittliche Pflicht, als ein göttliches Gebot und die Macht des Gewissens umgibt es mit einem höheren und heiligeren Schutz, als die Staatsgewalt zu gewähren vermag.

Wohl dem Volk, in dem das Recht durch beides mächtig ist! Das unsrige darf sich stolz der auf dem Grund altpreußischer Überlieferungen erworbenen Staatskraft rühmen. Möge ihm dann auch die Macht des Gewissens unverloren bleiben! Verhehlen wir uns nicht die Gefahr, daß seine Stimme vom Getöse des Kampfs und des rastlosen Strebens nach Gewinn und Erfolg übertönt, daß sein einfältig sicheres Urteil beirrt wird durch verwerfliche Doktrinen, die der Begehrlichkeit schmeicheln oder die Einfalt berücken.

Aber in den Gefahren der Zeit blicken wir mit Zuversicht auf die Weisheit des erhabenen Herrn, zu dessen Feier wir hier versammelt sind. Und wie von Ihm als dem ruhmreichen Begründer deutscher Macht meine Rede ihren Ausgang nahm, so kehrt sie zurück zu  Ihm  als den des deutschen  Gewissens  ehrwürdiges Vorbild. Gott erhalte Ihn uns und lasse Ihn noch lange im Glück und der begeisterten Liebe seines dankbaren Volkes  den  Lohn genießen, nach dem sein edles Herz allein begehrt! Heil unserem Kaiser!
LITERATUR Roderich von Stintzing, Macht und Recht, Rede zur Feier des Geburtstags seiner Majestät des Kaisers und Königs gehalten in der Aula der Universität Bonn, Bonn 1876