ra-2ra-2A. LiebertF. C. DahlmannL. HartmannE. Lederervon Wiese    
 
LUDO MORITZ HARTMANN
Zur Soziologie der Revolution

"Revolution ist eine Massenbewegung, durch die mit Gewaltanwendung die Rechtskontinuität unterbrochen und ein neues Recht durch Anpassung an die historische Entwicklung und ihre Tendenzen geschaffen wird."

"Insbesondere die in neuerer Zeit zu einer solchen Beliebtheit gelangte Auffassung der Soziologie als Beziehungslehre löst das soziale Geschehen in Beziehungen auf. Aber der Marxismus z. B. geht darum doch nicht in reiner Beziehungslehre auf, weil damit über den statischen Charakter des sozialen Lebens, also über eine bloße Beschreibung, nicht hinauszukommen ist. Das eigentliche Problem der Soziologie liegt nicht in der Darstellung der Beziehungen des sozialen Lebens, sondern in der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit seiner Veränderungen. Nicht die Statik, sondern die Dynamik enthält das eigentliche Problem der Soziologie."

Das Thema "Soziologie der Revolution" ist so groß, daß es nicht möglich ist, es erschöpfend zu behandeln. Umfaßt es doch eigentlich die ganze Weltgeschichte. Gerade deshalb ist es aber vielleicht möglich, einige neue Gesichtspunkte dem ersten Referat hinzuzufügen, ohne sich in Wiederholungen zu ergehen, obwohl eine förmliche Arbeitsteilung zwischen dem Herrn Hauptreferenten und mir kaum in den allgemeinsten Umrissen besprochen worden ist. Ich will mich in den folgenden Darlegungen auf einige mir wichtig erscheinende Gesichtspunkte beschränken und, indem ich von den historischen Erfahrungen ausgehe, versuchen, eine Art Gerippe herauszupräparieren, welches die konkreten Erscheinungen trägt. Dazu ist es aber notwendig, festzustellen, welche gesellschaftlichen Vorgänge uns als "Revolution" erscheinen, sie von allen übrigen abzugrenzen, kurz: sie zu definieren. Eine solche Definition kann niemals den Anspruch auf absolute Richtigkeit, sondern nur den auf Brauchbarkeit stellen. Denn in der Realität stehen die komplizierten gesellschaftlichen Erscheinungen keineswegs unvermittelt nebeneinander, sondern wir sind es, die zur Vereinfachung der Untersuchung, aus denkökonomischen Gründen, eine Reihe von Phänomenen herausgreifen und zusammenfassen. Aufgrund der einmal gewonnenen Definition ist es unsere Aufgabe - und zugleich eine Probe auf ihre Brauchbarkeit - das Gleichmäßige im historischen Verlauf der Komplexe von Ereignissen, die wir als Revolution bezeichnen, herauszunehmen und zu trachten, ein Bild von ihrem typischen Verlauf zu gewinnen. Schließlich soll mehr beispielsweise auf verschiede gesellschaftliche Konstellationen verwiesen werden, welche geeignet waren oder sind, den typischen Ablauf, sei es fördernd, sei es hemmend, zu beeinflussen.

Unter den Massenbewegungen, welche erfahrungsgemäß Träger und Teile der Menschheitsgeschichte sind, pflegt der Sprachgebrauch zwei Gruppen zu unterscheiden und einander gegenüberzustellen, die Evolution und die Revolution. Jene bewegt sich auf dem Weg des Rechts, diese auf dem Weg der Gewalt - wobei nicht zu vergessen ist, daß die Grenzen dessen, was man Gewaltanwendung nennt, fließende sind. Im Verlauf der menschlichen Entwicklung wirken jene und diese aufeinander ein; so ist z. B. kein Zweifel, daß, solange retardierende [verzögernde - wp] Momente bestehen, die Entwicklung ohne Revolution erstarren würde.

Aber nicht jede gewaltsame innere Bewegung ist Revolution; wir stellen ihr z. B. den "Putsch" gegenüber (für den keineswegs nur das Mißlingen charakteristisch ist). Auch ist es unpraktisch und führt zu einer schwankenden Terminologie, wenn man (wie z. B. GUSTAV LANDAUER) ganze große Geschichtsperioden, wie die ganze sogenannte "Neuzeit" als  eine  Revolution zusammenfaßt.

Wesentlich für die Revolution ist, daß die Rechtskontinuität mit der Vergangenheit für ein gewisses Gebiet unterbrochen (1) und daß für eine gewisse Dauer neues Recht geschaffen wird. Der Faktor, der das neue Recht setzt, ist natürlich vom Standpunkt des gewaltsam beseitigten früheren Gesetzgebers ein Usurpator, da er sich nicht auf ein positives Recht berufen kann, durch das er eingesetzt worden ist. Eine "legitime" Revolution wäre eine  contradictio in adjecto - ebenso wie die Rechtskontinuität im Staat, historisch betrachtet, eine Fiktion ist.

Allerdings aber fehlt es nie an Versuchen, die Umwälzung nachträglich, durch eine höhere Macht zu legitimieren. Die Form, in der dieser neue, auf sich selbst gestellte oberste Gesetzgeber auftritt, der sich selbst ein Recht gibt, ist in der Neuzeit in der Regel die "Constituante". Sie geht zurück auf die naturrechtlichen Auffassungen des 17. und 18. Jahrhunderts und auf die Lehre von der Volkssouveränität. Doch konnte die Absicht, eine rechtliche Begründung der Revolutionen zu schaffen, niemals erreicht werden, weil ja die Volkssouveränität in Wirklichkeit nirgends vorhanden, sondern im Gegenteil erst das anzustrebende Ziel war und eben deshalb den Revolutionen ihre historische, nicht aber juristische Berechtigung geben konnte.

Ihre entwicklungsgeschichtliche Berechtigung aber gewinnt die Revolution eben durch den Rechtswechsel, den sie vollzieht; denn das neue Recht, das sie aus sich selbst heraus schafft, bedeutet nichts anderes, als die Anpassung an neu entstandene Machtverhältnisse zwischen den Klassen im Staat. Daraus ergibt sich eine weitere Differenzierung der Revolution von Putschen oder gewaltsamen Bewegungen, die nicht neues Recht schaffen, sondern Anarchie, und so bedeutet eine Revolution im historisch-soziologischen Sinn eine Anpassung an die Tendenzen der historischen Entwicklung; sie geht mit der Geschichte (nicht, wie die Reaktion, die Gegenrevolution, gegen die Geschichte).

Man könnte vielleicht als praktische Definition - auf mehr als dies kann keine Definition Anspruch erheben - die folgende vorschlagen: Revolution ist eine Massenbewegung, durch die mit Gewaltanwendung die Rechtskontinuität unterbrochen und ein neues Recht durch Anpassung an die historische Entwicklung und ihre Tendenzen geschaffen wird.

Für die Politik, d. h. für die Kunst, gesellschaftliche Tendenzen in rechtliche Formen umzusetzen (2), ist Revolution und Evolution nur Mittel, Revolution nur Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln. Ihr Erfolg aber hängt ab von der Wahl der zur gegebenen Zeit bei gegebenen Machtverhältnissen richtigen Mittel, die zum erstrebten Ziel führen können. Eine im eigentlichen Sinne "reaktionäre" Revolution kann aber aus diesem Grund auf die Dauer nicht erfolgreich sein, weil die Entwicklungstendenzen der Geschichte nicht durch einen Gewaltakt beseitigt werden können (3). Damit ist aber nicht gesagt, daß solche Versuche nicht gemacht werden, da jede Partei ihr Parteiziel - mag es in Wirklichkeit utopisch sein oder nicht - als erreichbar und als natürliches Resultat der historischen Entwicklung ansieht. Sie richtet ihre Taktik danach ein, wie es nach ihrer Ansicht jeweils - zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise - am besten zu erreichen ist. So ist die Taktik in jeder Partei je nach der Abschätzung der Machtverhältnisse schwankend, abwechselnd evolutionistisch (reformistisch) oder revolutionär. Deshalb kann man nicht prinzipiell zwischen reformistischen und revolutionären Parteien unterscheiden.-

Die Revolution ist zunächst ein gesellschaftlicher Vorgang; aber er spielt sich in der Regel innerhalb des Staates ab, um diessen Umgestaltung und Herrschaft der Kampf geführt wird. Es stehen in jedem Fall verschiedene gesellschaftliche Größen gegenüber, die durch verschiedene nach der sozialen Arbeitsteilung aufgebaute Abhängigkeitsverhältnisse, die durch den Staat und sein Recht sanktioniert sind, differenziert sind; da diese Gruppen in verschiedenen Zeitaltern und Ländern je nach der Höhe und Art der sozialen Entwicklung verschieden abgegrenzt sind, ändert sich der  Inhalt  der Revolutionen nach diesen Umständen. Die Gegensätze können z. B. besonders scharf werden, wenn die Abhängigen zugleich Unterworfene sind, einer anderen Nation angehören, früher Mitglieder eines anderen Staates waren. Der Inhalt ist ein anderer in natural-wirtschaftlichen und in geldwirtschaftlichen Zeiten, ein anderer, wenn die Grundherren oder wenn die Kapitalisten den herrschenden Stand bilden, gegen den sich die Revolution richtet. Man stelle z. B. die modernen Revolutionen denen der primitiven Stadtstaaten des klassischen Altertums gegenüber, in denen sich der Übergang zur Demokratie im antiken Sinn vollzog. Hier kämpfte der Nährstand mit dem Wehrstand um seine Emanzipation, die unbewaffneten landlosen Hörigen (Plebejer) mit den freien grundbesitzenden Heermannen (Patrizier) um die Bodenbefreiung, unterstützt durch das Bedürfnis des Staates nach Soldaten. Die Revolutionen endeten in den einzelnen Staaten mit dem Sieg der Revolutionäre und mit einer Verschiebung der sozialen Arbeitsteilung, da die bisherigen Hörigen in den Wehrstand vorrückten und in die landwirtschaftliche Arbeit immer mehr die Sklaven einrückten. Die gleiche soziale Struktur hat hier den verschiedenen lokalen Revolutionen den gleichen Inhalt gegeben. Dieser Inhalt ist aber ein wesentlich anderer als der der städtischen Revolutionen des Mittelalters oder etwa der bürgerlichen und der proletarischen der Neuzeit und der neuesten Zeit.

Trotz dieser grundlegenden Verschiedenheiten im Inhalt läßt sich doch wohl ein typischer Verlauf der Revolutionen aus den historischen Erfahrungstatsachen abstrahieren. Die Grundtatsache, von der man ausgehen muß, ist die, daß große Massen von kleinen Gruppen beherrscht oder unterdrückt werden. Dieser Ursache gegenüber ist, was noch als Erklärung für den Ausbruch von Revolutionen geführt wird, nur akzidentiell [beiläufig - wp], so z. B. äußere Niederlagen, Zerrüttung der Finanzen, aber auch jene "Mißstände", die niemals fehlen (4). Aber auch die Zahl ansich ist für die Macht nicht ausschlaggebend. Die Massen sind ursprünglich unorganisiert, die Herrschenden dagegen zumindest eben im Staat organisiert, d. h. zu gemeinsamem oder parallelem Handeln vereinigt, so daß für sie der ganze Staat Machtmittel ist. Die Entwicklung hängt dann (von der Spannung der Gegensätze und vor allem) von der Organisationsmöglichkeit und Organisation der künftigen Träger der Revolution ab. Zur Entwicklung der Organisation gehört als Vorstadium - zumindest seitdem durch Verkehr, Buchdruck usw. einerseits, andererseits durch eine größere Bildung und Aufnahmefähigkeit der Bevölkerung die Vorbedingungen geschaffen sind - die theoretische Erfassung der mehr oder weniger unklar empfundenen Gegensätze, wie sie z. B. für die französische Revolution durch die Staatstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts geleistet worden ist. Das ist die Rolle der Intellektuellen. Ihr Werk ist notwendig rationalistisch und geht von Postulaten aus, nach denen sich die Zukunft gestalten  soll;  im allgemeinen berücksichtigt es nicht die Machtverhältnisse und hat daher einen stark utopistischen Einschlag; es ist zielweisen, aber ohne praktischen Weg. "Es ist immer", sagt KROPOTKIN (5), "eine Messerspitze Ideal nötig, damit die großen Umwälzungen gelingen". Die so vorbereitete öffentliche Meinung schafft die notwendige Plattform für das Zusammenwirken teilweise ganz verschiedenartiger Bevölkerungsgruppen.

Aber die Organisation im materiellen Sinne ist häufig viel weiter fortgeschritten. Im Altertum allerdings brachten es die Verhältnisse mit sic, daß die große Masse der rechtlosen Bevölkerung, die Sklaven, unorganisierbar waren - und daß daher eine eigentliche Sklavenrevolution niemals zustande gekommen ist - abgesehen von einzelnen Ansätzen, wenn z. B. die Sklaven in ihrer großen Masse in einer Gegend der gleichen fremden Nationalität angehörten und sich der gleichen fremden Sprache bedienten; oder wenn durch die Gladiatorenschulen ein solcher Kern gegeben war (SPARTAKUS). Das gleiche gilt später von den Kolonien. Andererseits wissen wir, daß die autonome Organisation der Plebejer nebst den von ihr usurpierten, eigentlich staatlichen Rechten vom römischen Staat förmlich anerkannt worden ist - ebenso wie in italienischen Städterepubliken die Organisation bestimmter Parteien (vgl. PARTE GUELFA [Welfen - wp] und ihren Kapitän; auch den  Capitano del popolo).  Es fragt sich, ob sich im modernen Staat eine ähnliche Verstaatlichung der Partei vollzieht. Die intensivste Form der nicht oder noch nicht verstaatlichten Organisation ist, wie mit Recht von EMIL LEDERER (6) ausgeführt worden ist, die Klassenpartei. Jedenfalls ist für Beginn und Verlauf und Wirkung der Revolution die Organisation der revolutionären Masse auf der einen, die des Staates der herrschenden Klasse auf der anderen Seite entscheidend.

Der Kampf gegen den bestehenden Staat bleibt aber naturgemäß nicht auf die organisierte Gruppe beschränkt; es schließt sich an, was mit dem Staat überhaupt unzufrieden ist, auch wenn die zurückgebliebenen Volksschichten meist nur negative Ziele kennen, so verstärken sie doch zunächst die Revolutionsarmee. Das klassische Beispiel ist der  tiers état  [Dritte Stand - wp] in der Französischen Revolution; er war in Wirklichkeit nur ein Teil der benachteiligten Klassen; nichtsdestoweniger ist er "tout" [alle - wp] im politischen Sinn; denn es schloß sich unter seiner Führung die große Masse der Bevölkerung, soweit sie aktionsfähig war, der Bewegung an.

Diese die Revolution unterstützenden Massen sind zunächst unentbehrlich, um den Widerstand des alten Staates zu brechen; aber sie haben, eben weil sie wirtschaftlich, sozial, organisatorisch im alten Staat hinter der führenden organisatorischen Gruppe (in der Französischen Revolution: der Bourgeoisie) weit zurückgeblieben sind, Forderungen, die sich mit denen der führenden Gruppe nicht decken, sondern über diese hinausgehen, deren Erfüllung also eine noch weitergehenden Umgestaltung des alten Staates bedingen würde. Zum Beispiel begnügte sich die Bourgeoisie mit einem Zensuswahlrecht, während die nachdrängenden Massen das allgemeine Wahlrecht verlangten. Nach dem gemeinsamen Kampf folgt naturgemäß die Auseinandersetzung zwischen den Verbündeten, wenn die Anhänger des alten Regimes durch den gemeinsamen Ansturm zersprengt sind und der ganze Staat geschwächt ist, seine neue Gestalt und das neue Recht erst geschaffen werden muß (7). Die neuen Massen finden in der Regel Unterstützung bei rationalistischen Intellektuellen, die nicht von den Erwägungen praktischer Interessen und gegenwärtiger wirtschaftlicher Machtverhältnisse, sondern von der Vernunft ausgehen. Bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppen gewinnen in diesem Stadium - in einer Revolution, die sich voll ausleben kann - die Vorwärtsdrängenden das Übergewicht gegen die neue "Ordnungspartei", die im wesentlichen aus den alten Revolutionären besteht, (in der Französischen Revolution: die Brissotisten) und setzen sich zeitweise in den Besitz des Staates. Gerade weil aber diese neuen Machthaber organisatorisch und der Zahl nach die Schwächeren sind, führt das Streben, bei der Macht zu bleiben, in diesem neuen Stadium häufig vorübergehend zu einer Diktatur der Minderheit, zu einem Regime des Terrors. Die weitere Entwicklung führt zu einer vollständigen Umstellung der Parteien. Die im ersten Abschnitt der Revolution führende Gruppe setzt sich in einen Gegensatz zum neuen, zum Teil von ihr selbst herbeigeführten Zustand, weil die Befreiung oder Herrschaft der nachdrängenden Gruppen sie in ihren eigenen materiellen und Herrschaftsinteressen bedroht, und sucht und findet Anlehnung bei den Elementen des  Ancien Régime,  welche sich wieder zusammengefunden und zum Teil ihre Positionen im Staat noch gar nicht effektiv verloren haben (vgl. z. B. die Bürokratie). Andere Gruppen wieder, wie die Bauern in der Französischen Revolution, als die Feudallasten nach dem Sturz der Girondisten wirklich abgebaut wurden, oder, besonders deutlich, die Bauern in Österreich nach der Abschaffung der Robotpflicht [Arbeitspflicht der Leibeigenen - wp] (1848), sind gesättigt, werden passiv und ziehen sich von der revolutionären Bewegung zurück. Man kann von einer "Erschöpfung des revolutionären Geistes" sprechen (8). Die Folge ist Reaktion, mitunter "weißer Terror" und die Rückkehr zu einem früheren, weniger fortgeschrittenen Zustand, da jetzt wieder das Übergewicht der Organisation der alten Gruppen, unterstützt durch die materiellen Machtverhältnisse (Kapital, Heer) hervortreten kann. Die Kurve der Revolution endet in einer Gegenrevolution, die wieder in die regelmäßige evolutionäre Bewegung hinüberleitet. Doch kann die Revolution nicht mehr ganz aus der Welt geschafft werden; sondern die Pendelbewegung findet da ihren Gleichgewichtspunkt, wo der staatliche Zustand den tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen wieder angepaßt ist. Im allgemeinen werden sich also folgende Phasen der Revolution in ihrem typischen Ablauf beobachten lassen:
    1. Vorbereitung durch die Träger der Ideale, die Intellektuellen, bei Schwäche des Staates,

    2. Sturz des  Ancien Régime  unter Führung der organischen Träger der Revolution,

    3. Zwist dieser mit den nachdrängenden Radikalen,

    4. Diktatur der Minderheit,

    5. Abfall der Gesättigten und der reaktionären Reserve-Armee, sowie eine Koalition mit den Anhängern des  Ancien Régime, 

    6. Konterrevolution
Im einzelnen ist natürlich jede Revolution abhängig von der Sonderart der Gruppen und ihrer wirtschaftlich-sozialen Funktionen, die in Erscheinung treten, und insbsondere von ihrer Organisation. Es ist klar, daß der Rückschlag, die Konterrevolution, umso weniger wirksam ist, je intensiver die Organisation der revolutionären Masse ist und je weniger Gruppen außerhalb der Organisation stehen, je mehr auch diejenigen Massen, welche die unterste Schicht der Gesellschaft bilden, von ihr erfaßt sind und je geringer infolgedessen andererseits die reaktionäre Reserve-Armee ist. Wenn die revolutionäre organisierte Masse wirklich "tout" ist, ist der Rückschlag, die Reaktion, ausgeschlossen.

EMIL LEDERER (9) hat sehr richtig auf die Folgen hingewiesen, welche sich aus der "Durchorganisiertheit" der Gesellschaft für die modernen Revolutionen ergeben, insbesondere darauf, daß heute über die Parteien hinweg, als festere, den ganzen Menschen ergreifende Organisationen, die Klassenorganisationen, entstanden sind, welche notwendig zu Trägern der Bewegung werden und darüber hinaus den Staat übernehmen müssen. Im Ganzen der Entwicklung gesehen, handelt es sich dabei weniger um eine qualitative, als um eine quantitative Verschiebung innerhalb des revolutionären Prozesses. Heute allerdings ist es entsprechend den wirtschaftlichen Verhältnissen noch überall das an Zahl sehr erhebliche Bauerntum, das die Kader der reaktionären Reserve-Armee reichlich füllt. Man kann sich aber eine Entwicklung vorstellen, die dahin geht, daß sich die Kurve der Ergänzungen asymptotisch der Null nähert.

Aus dem typischen Verlauf der Revolutionen ergibt sich noch folgende Schlußbemerkung: Jede Revolution kann angesehen werden als verkürztes Schema der Entwicklung der folgenden Generationen. Die einzelnen Phasen der Revolution wiederholen sich in ausgedehnteren Zeitabschnitten. Man vergleiche z. B. für die Zeit nach der großen französischen Revolution die Abfolge: Scheinkonstitutionalismus - Bürgerkönigtum - allgemeines Stimmrecht - bürgerliche radikale Republik - soziale Kämpfe (10). MUCKLE (11) drückt dies so aus: "die große Umwälzung des 18. Jahrhunderts verhält sich zur Folgezeit, wie der Mikrokosmos zum Makrokosmos." Die Revolution greift eben voraus, überholt die durch die Machtverhältnisse gegebenen Möglichkeiten, die sich erst nach ihrem Sturz evolutionistisch weiterentwickeln und dann im Verlauf der aufsteigenden Klassenbewegung, der Entwicklung und Organisation der einzelnen Gruppen die schon einmal hervorgetretenen, aber damals zurückgedrängten Forderungen wieder auf die Tagesordnung stellen.

So wirken sich auch auf der breiteren Basis der Evolution analog zum revolutionären Verlauf einerseits die Hemmungen, die retardierenden Momente der Entwicklung aus der andererseits die fördernden, welche Waffen und Mittel der Revolution sind, nicht zu vergessen der konservativen Mächte, also derjenigen Klassen, für die, weil ihre Ziele vorläufig erreicht sind, ein Gegensatz zwischen Gesellschaft und Staat nicht mehr zu bestehen scheint, oder die nicht organisiert und daher nicht aktionsfähig sind. Im Verlauf der Zeit verändert sich die Stellung der einzelnen Klassen zum Staat und zur Gesamtentwicklung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist es vor allem die Bourgeoisie, die aus einer treibenden zur konservativen Kraft wird, gegen die sich dann die modernen Revolutionen richten; denn im Gegensatz zu ihr wird der Kampf des industriellen Proletariats gegen den Kapitalismus ausgetragen. Dieser Kampf umfaßt aber nur die wirtschaftlich fortgeschrittensten Teile der Gesellschaft; er wird umso umfassender, je mehr die industriellen Klassen in der Gesellschaft und im Staat wirtschaftlich und sozial die ausschlaggebenden sind. Das Kleinbürgertum, in der französischen Revolution und in den folgenden Dezennien radikal, gerät durch die wirtschaftlichen Umwälzungen in einem Gegensatz zur fortschreitenden Entwicklung und tritt in den meisten Staaten im Gegensatz zum Proletariat zu den konservativen oder reaktionären Elementen über. - In einem gewissen Sinn abseits steht die Landwirtschaft, die in den modernen europäischen Staaten je nach der Art und dem Grad ihrer wirtschaftlichen Entwicklung noch zwischen 30 und 90% der Bevölkerung umfaßt. Während die revolutionäre Klasse  kat exochen  [schlechthin - wp], das Proletariat, im Kampf gegen die heutige Form des Eigentums steht, beruth heute die Existenz der Agrarier gerade auf der Institution des Privateigentums, die den Bauern erst durch die Revolutionen, welche den Feudalismus stürzten, erobert worden ist. So war eben, solange die Befreiung von den Fesseln aus naturalwirtschaftlichen Zeiten noch zu erobern war, der Bauernstand progressiv und gegebenenfalls revolutionär, verwandelte sich aber dann in ein konservatives, als Hemmung der aus der Entwicklung des Kapitalismus entspringenden revolutionären Bewegungen wirkendes Element. Im modernsten Stadium der Entwicklung ist geradezu die entscheidende Frage, wie stark die agrarische Hemmung ist, d. h. wie in den verschiedenen Ländern die Verteilung und Bedeutung des Grundbesitzes, wie weit seine kapitalistische Durchdringung fortgeschritten ist, wie die Zahl und Organisation derjenigen agrarischen Schichten ist, deren Klassenlage in der Landwirtschaft der des industriellen Proletariats entspricht. Die Differenzierung und Organisation des agrarischen Elements drückt schon heute vielfach dem Verhalten der einzelnen Staaten den Stempel auf. Man vergleiche die Rolle, die der Bauernstand in Rußland in den Revolutionen gespielt hat und die Entwicklung, die ihm noch bevorsteht; die Haltung der Klasse der Kleingrundbesitzer in Frankreich, der Großgrundbesitzer in England in früheren Tagen und heute, der Latifundienbesitzer im Süden und der Kleinpächter im Norden Italiens, der freien Bauern in der Schweiz. Sie alle sind von maßgebendem, zum Teil geradezu ausschlaggebendem Einfluß auf die innere und äußere Politik ihres Landes.

Damit hängen nun auch die internationalen Hemmungen der evolutionären Entwicklung und namentlich der Revolution zusammen. Denn der historische Entwicklungsprozeß des einzelnen Staates und seine Politik ist nicht autark und der typische Verlauf der Revolution kann durchkreuzt werden durch Vorgänge, die von außen einwirken und die ausnahmslos exakte Auswirkung der Tendenzen innerhalb des einzelnen gesellschaftlichen Systems verhindern. Infolge der verschiedenen Siedlung und Struktur, der verschieden hohen Entwicklungsstufe usw. unterscheiden sich die verschiedenen Staaten in ihrer Wirtschaft voneinander; andererseits wird der wirtschaftliche Zusammenhang gerade durch die fortschreitende Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft umso enger, daß ein Staat notwendig auf den anderen zurückwirkt, durch Umwälzungen in anderen in der eigenen Wirtschaft gestört wird. So müssen die retardierenden Elemente in einem Staat zugleich als Hemmungen in den anderen wirken. Neben der nationalen Reserve-Armee der Reaktion wirkt die internationale ein. Die aus dem Geist des Merkantilismus geborenen Imperialismen, die einander in ihrer Tendenz zur Autarkei eigentlich ausschließen, vereinigen sich zu Koalitionen gegen die Bewegungsstaaten und revolutionäre Strömungen. (Vgl. die Koalitionskriege - die Heilige Allianz - das Dreikaiserbündnis - die "Alliierten und assoziierten Mächte") Ebenso können aber international entgegengesetzte Wirkungen von einem gesellschaftlichen System in das andere eindringen, indem sie die revolutionäre Macht verstärken. Man spricht wohl von geistiger Ansteckung, insbesondere bei der Vorbereitung der Revolution (vgl. die Freimaurerei; die Giovane Europa usw.), aber auch von gewaltsamer Verbreitung (vgl. Propagandakriege der Revolution; Sowjetpolitik). In diesem Sinne gibt es auch eine internationale revolutionäre Reserve-Armee. -

Eine andere Frage ist, welche Waffen die Revolution gegen die Widerstände und Hemmungen anwendet, mit welchen ihr ursprünglich fremden oder aus ihr selbst herauswachsenden Machtmitteln ausgerüstet sie zum Ziel gelangen will. Zunächst geht das Bestreben der Revolutionäre dahin, sich der staatlichen Machtmittel zu bemächtigen, in erster Linie der bewaffnete Macht; dann der Verwaltung und insbesondere der für die Gesellschaft jeweils lebenswichtigen Verwaltungszweige. Die Aufgabe ist hierbei eine doppelte, eine persönliche und eine sachliche; einerseits die Durchdringung der Verwaltung mit Personen, die durch Interesse und Gesinnung mit der Revolution dauernd verbunden sind - und andererseits die Regulierung der Funktionen selbst im Sinne der Revolution. Die Schwierigkeiten bei der Beschaffung der geeigneten Personen sind schon aus technischen Gründen bei einer Staatsumwälzung sehr bedeutend, da jede herrschden Klasse ihre Bürokratie möglichst so eingerichtet hat, daß die Technik der Verwaltung ihren Klassengenossen durch die Art der vorgeschriebenen Vorbildung und durch die in ein System gebrachte Protektion allein zugänglich war, so im Heer, in der Diplomatie, im Gerichts- und eigentlichen Verwaltungswesen ("Amtspatronage"; man vgl. im alten Deutschland die Funktionen der Korps an den Universitäten und des Einjährig-Freiwilligenrechts; die Stellung der Junker usw.). Die Schwierigkeiten für die neuen Männer werden einigermaßen gemildert durch die Nötigung eines jeden modernen Staates, seinen Mitgliedern eine allgemeine Bildung zu vermitteln, d. h. sie geistig anpassungsfähig zu machen - ferner durch die Schulung in den freien Organisationen - durch die Existenz einer Schicht von Intellektuellen, die mit dem alten Staat nur in einer lockeren Interessengemeinschaft stehen - schließlich in gewissen Zweigen der Verwaltung durch die große Menge von Angestellten, deren Stellung eine andere ist, als die der eigentlichen Bürokratie und sich mehr dem Arbeitsverhältnis nähert. Dazu kommt die schon im alten Staat notwendig gewordene Heranziehung des Laien-, d. h. Nichtjuristen-Elements in verschiedenen Formen zur Beratung, aber auch zur Leitung: das, was LLOYD GEORGE als Dilettanten-, im Gegensatz zum Fachmännerregiment bezeichnet hat. In wirklichen Demokratien mit Selbstverwaltung ist die Gewöhnung zur Betätigung am öffentlichen Leben selbst eine praktische Schulung, die durch die Betriebsräte und ähnliche Institutionen noch mehr intensiviert wird. Ob genügend geeignete Personen zur Verfügung stehen, um mit ihnen die Bürokratie zu durchsetzen, ist für den Verlauf und das Gelingen einer Revolution mit von entscheidender Wichtigkeit. Auch von diesem Gesichtspunkt aus ist also einerseits das Problem der allgemeinen Bildung, der Schulreform und der richtigen Auslese durch die Schule und andererseits die Selbstverwaltung des 4. Standes in seinen eigenen Organisationen, Gewerkschaften usw. ins Auge zu fassen.

Den revolutionären Gruppen wachsen aber auch neue Waffen zu, die ein Ergebnis der Organisation der Klassen und nicht der obrigkeitsstaatlichen Sphäre, sondern der gesellschaftlichen entnommen sind. Sie werden von den Organisationen geschmiedet, sind wirtschaftlicher Natur und wirken infolge der engen wirtschaftlichen Verflechtung innerhalb der Gesellschaft. So ist es schon vorgekommen, daß die Bauernschaft die von ihr produzierten Lebensmittel den Stadtbewohnern vorenthalten hat, um durch diesen wirtschaftlichen Boykott politische Ziele, etwa die Kapitulation der Revolution zu erreichen. Die Arbeiter ihrerseits kämpfen durch Streiks in lebenswichtigen Betrieben oder durch den Generalstreik. Diese Kampfmittel unterscheiden sich dadurch von den früher angeführten, daß sie unmittelbar dem Arsenal der revolutionären Klasse entnommen sind, und bei ihrer Anwendung nicht gleichsam eine Anleihe beim alten Staatswesen gemacht werden muß; sie bergen nicht die Gefahr in sich, welche bei einer Anwendung der Machtmittel des alten Staates (Heer, Bürokratie) immer besteht, wenn sie auch von der Revolution zeitweise gewonnen sind; es ist die Gefahr, daß die Träger dieser staatlichen Machtmittel kraft ihres Ursprungs und der ihnen eigenen Tendenz sich zu einer Gruppe im Staat verselbständigen, die ihre eigenen Interessen vertritt, und daß sie dann mit den revolutionären Klassen in einen Gegensatz geraten oder geradezu in das konterrevolutionäre Lager zurückkehren. -

Es ergibt sich aus diesen Betrachtungen, daß innerhalb des einheitlichen Begriffs der  Revolution  Platz ist für sehr verschiedene Erscheinungsformen, die man nach hiren hervortretenden Merkmalen und von verschiedenen Standpunkten aus gruppieren kann, sei es nach Klassen, welche als hauptsächliche Träger der Bewegung erscheinen (z. B. bürgerliche - proletarisch - militärische Revolutionen), sei es nach ihren sozialen oder politischen Zielen, obwohl soziale und politische Revolutionen nicht scharf voneinander differenziert werden können, da eine soziale Umwälzung ohne eine politische ebensowenig denkbar ist wie umgekehrt eine politische ohne eine soziale - nur daß äußerlich bald das eine, bald das andere Moment stärker hervortreten kann.

Eine besondere Stellung nimmt aber die nationale Revolution ein. Wenn auch mit dem nationalen Ziel regelmäßig auch soziale und politische Ziele verbunden sind, so ist doch charakteristisch, daß das Hauptziel, Einheit und Freiheit der Nation, nicht erreicht werden kann, ohne daß die Grenzen des Staates verschoben werden, ohne daß sich die Revolution also auf mindestens zwei Staaten erstreckt. Auch hier aber wird die Neukonstituierung eines Staates und zwar innerhalb neuer Grenzen, der nationalen, die FICHTE die "natürlichen" nennt, erstrebt, auf Grundlage eines Naturrechts, das der Souveränität und dem Selbstbestimmungsrecht der Nation entspricht. Auch hier kämpft eine (nationale) Gruppe um ihr Recht am (neuen) Staat, also um mehr Demokratie. Dieser Kampf und der um die Einigung der Nation sind zur zwei Seiten ein und desselben Prozesses. Dessen Träger ist auch hier eine Klasse, in verschiedenen Zeiten jeweils eine andere. Erst nach Überwindung des Feudalstaates und dem Durchbruch der Verkehrswirtschaft kann sich im Merkantilstaat und im Gegensatz zu ihm, nachdem die Bourgeosie sich auf der Grundlage des Gedankens der Volkssouveränität politisiert hat, das Streben dieser Klasse nach dem nationalen Ziel hin entwickeln. Die Revolution richtet sich dann nicht nur gegen die nationale Zersplitterung, sondern auch gegen deren Träger, die Machthaber in den einzelnen Teilstaaten, die am Merkantilstaat, an dem sie interessiert sind, festhalten und zugleich Hemmungen der Demokratie sind. Der größere Teil des 19. Jahrhunderts ist - in verschiedenen Abwandlungen, die von der Höhe der Kulturstufe der einzelnen Staaten abhängig sind - von solchen Revolutionen erfüllt. (zum Beispiel Nordamerika, Südamerika, Balkanvölker, Polen, Italien, Deutschland usw.) Wenn die Bourgeoisie dann selbst zur Herrschaft gelangt, und sich der merkantilistische Staat der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts aufbaut, wird zwar das nationale Selbstbestimmungsrecht für den eigenen Staat in Anspruch genommen, dagegen den anderen Staaten gegenüber nach merkantilistischen Grundsätzen vorgegangen. Die Bourgeoisie wird "nationalistisch" oder "imperialistisch" (nicht "national"). Andererseits mußte das Proletariat als revolutionäre Klasse für das Selbstbestimmungsrecht eintreten und zugleich den Imperialismus bekämpfen. Deshalb mußte es international werden und trachtete immer wieder, sich auch international zu organisieren, trotz der Hemmungen, welche diesem Bestreben aus der Verschiedenheit der Entwicklung in den verschiedenen Staaten erwuchsen. Nicht im Widerspruch damit steht die nationale Tendenz, welche das Proletariat von der Bourgeoisie übernommen hat, da erst durch die nationale Zusammenfassung und Begrenzung die Imperialismen und Reibungen zwischen den Staaten ausgeschaltet werden können, welche die kulturelle Internationale bilden.

Aus der immer mehr zunehmenden wirtschaftlichen und politischen internationalen Verkettung ergibt sich auch, daß die Hemmungen wie die Förderungen von außen immer stärker auf den Verlauf jeder Revolution einwirken müssen und daß der Typus der Revolution sich in der Richtung "Weltrevolution" verändern kann. - Aus allen diesen Betrachtungen ergibt sich, daß die Revolution soziologisch ein Phänomen ist, wie jedes andere historische Phänomen auch. Einen Wertmaßstab anzulegen, wäre ganz verkehrt. Sie entwickelt sich aus gewissen Voraussetzungen automatisch, nicht, wie die konservative Legende immer wieder behauptet, als das Werk gewissenloser Hetzer und Agitatoren. Ihr Verlauf ist bedingt durch gewisse Hemmungen und Förderungen. Die abergläubische Angst vor ihr ist ebenso töricht, wie eine Beschwörung gegen die Geschichte, und den selbst Handelnden muß nicht ein Vorteil leiten, sondern die gewissenhafte Prüfung, in welcher Richtung sich die Entwicklung der Menschheit bewegt, ob nun im einzelnen auf evolutionärem oder revolutionärem Weg.



Nach Schluß der Referate wurde die Besprechung eröffnet durch den Vorsitzenden TÖNNIES, der zunächst hervorhob, es sei durch die Referate bewiesen worden, daß man ein Thema dieser Art, so sehr auch die Leidenschaft der Parteien darüber streiten mag, in wissenschaftlichen Formen und mit wissenschaftlichem Sinn behandeln kann. Weil dies den Referenten gelungen ist, so werde freilich die Debatte Mühe haben, sich auf gleicher Höhe der Objektivität zu behaupten; auch sei nicht zu erwarten, daß einer der Redner den Gegenstand ebenso gründlich durchdacht hat wie die Referenten. Dies gilt bei solchen Erörterungen immer. Er selber wolle zur Kritik nur bemerken, daß er erste Referent seiner eigenen Bestimmung, nach der auch Gegenrevolutionen und Staatsstreiche unter Revolutionen miteinzubegreifen sind, im Verlauf nicht treu bleibt. Auch sei es wohl nicht für typisch zu halten, daß Kämpfe der Unterdrückten gegen Unterdrücker den politischen Revolutionen zugrunde liegen; in der antiken Welt habe es sich zumeist um anders geartete Kämpfe gehandelt. Die Revolutionen der letzten Jahrhunderte aber seien als Phasen eines großen Gesamtprozesses seit der Kirchenspaltung zu verstehen; auch der fürstliche Absolutismus habe einen revolutionären Charakter gehabt und die englischen Revolutionen, wie auch einige andere, seien in ihren Motiven konservative Gegenbewegungen gegen den Absolutismus. Das Entscheidende sei, daß in und mit den Revolutionen die Bildung der modernen Gesellschaft und des modernen Staates sich durchsetzt; beide auch heute noch unvollendet. Die moderne Gesellschaft sei die bürgerliche Gesellschaft, der moderne Staat der bürgerliche Staat. Beide haben sich in England aristokratisch und ohne wesentliche Mitwirkung der Monarchie entwickelt, die durch beide Revolutionen gelähmt wurde; in Frankreich zunächst mit der Monarchie und durch sie, dann gegen sie in den Revolutionen - Revolutionen mit ganz verschiedenen Ausgangspunkte nähern sich also wieder in ihren Wirkungen.

Die weitere Diskussion fand am folgenden Tag, den 25. September 1922, statt.

Sie wurde begonnen durch

Professor Dr. MAX ADLER (Wien): Die Ausführungen des Herrn Hauptreferenten haben uns eine Fülle anregender Gedanken geboten, welche das Thema der Revolution von den verschiedensten Seiten her beleuchtet haben, geschichtlich und psychologisch, metaphysisch und ethisch, nur nicht von der einzigen Seite her, die uns hier beschäftigen soll und der Gegenstand der diesjährigen Tagung ist, von der soziologischen. Ich muß sagen, wenn das, was Herr Professor von WIESE hier ausgeführt hat, wirklich als zur Problematik einer Soziologie der Revolution gehörig betrachtet werden soll, dann offenbart sich darin zwar nicht die soziologische Problematik der Revolution, wohl aber die Problematik der Soziologie selbst. Ich habe in den ganzen Ausführungen des Hauptreferats, das sich in drei Abteilungen gliedert, in welchen es über Ursache, Verlauf und Wirkung der Revolution handelt, nichts anderes finden können als ein allerdings kunstvoll hergestelltes Gespinst von psychologischen Anschauungen und ethischen Wertungen, die Ursache, Verlauf und Wirkung der Revolution begleiten, ohne uns dabei in das soziologische Wesen dieses Phänomens irgendwie Einblick zu verschaffen. Zwar hat der Herr Hauptreferent ausdrücklich erklärt, es handle sich in seiner Auffassung "keineswegs bloß um eine sozialpsychologische oder gar bloß individualpsychologische Betrachtungsweise". Aber wir müssen uns auch hier wie sonst nicht an die Worte, sondern an die Taten, nicht an das Programm, sondern an die Ausführung desselben halten. Und da sehen wir - ich kann ja wegen der Begrenztheit meiner Redezeit nur mit einer Art Schlaglichter meinen Gegenstand beleuchten - daß in der ersten Abteilung des Referats, betreffend die Verursachung der Revolution, diese zum Teil in etwas Unbekanntem, Irrationalem erblickt wird, womit die Soziologie der Revolution in die Metaphysik eintaucht, hauptsächlich aber im Widerstreit der Ideologie und der Wirklichkeit, in dem was von WIESE mit GUSTAV LANDAUER den Gegensatz der Utopie zur Topie nennt. Die Topie veraltet und wird seelisch hinfällig, die Utopie erstarkt aus einem bloßen Traum zum kraftvollen Reformwillen - aber  wie  das allges geschieht, was die soziologischen Ursachen für die Bildung und Macht der Topie sowohl für ihr Altern und ihre Kraftlosigkeit ist, wie auch  woher  die Utopie aus einem Traumwesen zur politischen Realität aufwächst, das alles ist nicht einmal angedeutet; ja die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die wirklich soziologische Seite all dieser Vorgänge, wonach sie auf Wandlungen im Klassenaufbau der Gesellschaft beruhen und aus den Änderungen der wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen hervorgehen, ist sogar jäh abgeschnitten durch die sonderbare Anfangsbemerkung des Referates, daß "die Hineinbeziehung von Ideen des Klassengegensatzes, also die Vorstellung, daß eine Revolution eine gewaltsame Empörung der Unterklasse gegen die Oberklasse ist, leicht irreführt". Kein Wunder, daß dann, da es sich in diese wirklich soziologische Sphäre nicht "verirren" will, das Referat in der psychologischen Sphäre verbleiben muß, wofür außer der steten Berufung auf den ganz novellistischen TAINE auch ein sprechendes Beispiel die Würdigung der drei "Schreckensmänner" MARAT, DANTON und ROBESPIERRE ist, die durchaus in der individualpsychologischen Betrachtung verweilt. Diese muß aber hier ganz fruchtlos bleiben, während erst die Verbindung jedes dieser Männer mit der besonderen Interessengruppe innerhalb der französischen Revolution, MARAT als Wortführer der Besitzlosen, DANTON als Vertreter der Intellektuellen, ROBESPIERRE als Vorkämpfer des Kleinbürgertums sowohl ihr Wirken als insbesondere ihr Gegenwirken aus gesellschaftlichen Kräften verständlich werden läßt. Sicherlich ist der Widerspruch der Topie mit der Utopie eine Kausalform der Revolution, aber vorerst noch ganz und gar ideologisch aufgefaßt und verlangt ihre soziologische Auflösung, die freilich zu geben unmöglich ist, wenn man die Soziologie als bloße formale Beziehungslehre auffaßt. Doch darüber zum Schluß.

Ganz konsequent entsprechend dieser wesentlich sozial- und individualpsychologischen Grundauffassung betrachtet der zweite Teil des Referats den Verlauf der Revolution nicht etwa in der Analyse der in ihr sich äußernden gesellschaftlichen Kräfte, die auf ihre Machtquellen und notwendigen Zielsetzungen hin erforscht werden, sondern in seiner "Tragik". Zwar erhalten wir die tröstliche Versicherung, daß es "durchaus falsch sei, sich den Beginn einer Revolution lediglich als Entfesselung der Bestie im Menschen vorzustellen". Aber der Fortgang der Revolution sei doch charakterisiert durch wachsende Gewalt und Tyrannei gegen alles Widerstrebend, wobei alsbald die Lenkung der Ereignisse aus dem Einfluß der Masse ganz und gar auf den der Führer übergeht. In diesem Zusammenhang verwandelt sich die Problematik einer Soziologie der Revolution fast restlos in die zur Genüge bekannte sozialpsychologische Erörterung des Verhältnisses von Masse und Führer, die nirgends über die bekannten Feststellungen von Le BON hinausführt und auch nicht hinausführen kann, solange man in Masse und Führer letzte Tatbestände sieht nicht vielmehr der Ansicht ist, daß hier erst das soziologische Problem beginnt. Was macht eine Vielheit von Menschen  soziologisch  zur Masse, d. h. nicht, welche besonderen geistigen Phänomene treten in ihr auf, sondern wieso wird sie Kraftzentrum für gesellschaftliche Wirkungen? Gibt es für diese ein Gesetz ihrer Veränderungen und in welchen Bestimmungsmomenten der "Masse" ist es zu suchen? So gefragt, verschwindet der soziologisch unbrauchbare Begriff der Masse überhaupt sofort aus der Soziologie, und es ergibt sich der neue Begriff einer Interessengemeinschaft, der in reiner Eigenart dann näher zu bestimmen ist und für die Revolutionsgeschichte als  Klasse  gefunden wird. Und ebenso verwandelt sich das Führerproblem aus dem psychologischen Aspekt der Führerqualitäten und der Diskussion über Recht und Mißbrauch der Führerstellung in die Erkenntnis der gesellschaftlichen Möglichkeit, Begrenztheit und gleichzeitigen Notwendigkeit der Führung und ihrer Übersteigerung in gewissen geschichtlichen Situationen. Wie in diesem Prozeß das "Chaos der Revolution" Ursprüngliches aus dem Menschen herausbringt, "Niedriges, aber auch vorher und nachher unbekanntes Großes", das ist menschlich packen und psychologisch vielleicht auch Inhalt der soziologischen Problematik, nicht aber zu seiner Erklärung.

Schließlich verwandelt sich in letzter Reihe bei von WIESE, wieder ganz konsequent von einem durchaus psychologisch und subjektiv wertenden Standpunkt des Referats aus, die Frage nach der Wirkung der Revolution in die, ob die Revolution ihre Opfer wert ist. Das ist eine Frage, die nicht einmal eine geschichtswissenschaftliche, geschweige denn eine soziologische ist. Es ist eine Frage reiner Wertung, von der übrigens der Herr Referent selbst zugibt, daß sie in die Ethik und sogar Metaphysik hineinführt. So zeigt diese freilich eine ganz skizzenhafte Würdigung des Hauptreferats - aber das Eingehen auf das einzelne würde dieses Urteil nur noch verstärken - daß dasselb sowohl bezüglich der Verwertung, wie bezüglich des Verlaufs, wie bezüglich der Wirkungen einer Revolution nirgends die eigentlich soziologische Problematik ersichtlich gemacht hat, ja nicht einmal im Sinne seiner eigenen Auffassung der Soziologie als Beziehungslehre, sondern in der psychologischen, ethischen und philosophischen Diskussion des Themas verfangen geblieben ist.

Und dies ist auch nicht anders möglich bei einer Behandlung dieses Themas, die zwar ausführlich TAINE und TOCQUEVILLE, Le BON und GUSTAV LANDAUER als Gewährsmänner zitiert, dagegen auch nicht die Spur eines Einflusses jenes Denkers zeigt, ohne den heute nun einmal von Soziologie gar nicht gesprochen werden kann, von KARL MARX. Ich bin mir bewußt, daß, indem ich dies sage, ein großer Teil der hier Versammelten der Meinung ist, nun spreche die Parteileidenschaft und nicht mehr die Wissenschaft. Ich kann niemanden hindern, so zu denken; ich kann demgegenüber nur darauf hinweisen, daß diese bis zu einer unwissenschaftlichen Krankheit gesteigerte Denkweise so vieler Gelehrter eben den betrübenden Stand der Soziologie verschuldet hat, in welcher zwar jeden Augenblick ein neues System erscheint, zugleich aber alles steril geblieben ist, weil kaum einer der Systembildner sich die Mühe macht, von der Arbeit des Marxismus auf sozilogischem Gebiet Notiz zu nehmen und in der bequemen Supposition darauf losarbeitet, daß der Marxismus "theoretisch schon längst widerlegt" und im übrigen bloß eine politische Parteidoktrin ist. So ist es gekommen, daß von der Tatsache, daß im Marxismus eine wesentlich soziologische Grundeinstellung vorliegt, heute in der wissenschaftlichen Arbeit, etwa MAX WEBER und ERNST TROELTSCH ausgenommen, kaum ein Bewußtsein vorliegt, und daß es möglich ist, weitläufig soziologische Theorien zu entwickeln, ohne auch nur die Nötigung zu verspüren, sich allererst den Weg zu solchen Unternehmen durch eine Würdigung und Widerlegung der marxistischen Soziologie freizumachen. Insbesondere die in neuerer Zeit zu einer solchen Beliebtheit gelangte Auffassung der Soziologie als Beziehungslehre müßte dieses Bedürfnis besonders in der von Professor von WIESE vorgetragenen Weise haben. Denn auch der Marxismus löst das soziale Geschehen in Beziehungen auf. Aber er geht darum doch nicht in reiner Beziehungslehre auf, weil damit über den statischen Charakter des sozialen Lebens, also über eine bloße Beschreibung, wie sie ja auch das Hauptreferat hier geboten hat, nicht hinauszukommen ist. Das eigentliche Problem der Soziologie liegt nicht in der Darstellung der Beziehungen des sozialen Lebens, sondern in der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit seiner Veränderungen. Nicht die Statik, sondern die Dynamik enthält das eigentliche Problem der Soziologie. Es ist nicht befremdlich, daß, weil diese Dynamik über die Formen der bürgerlichen Gesellschaft hinausführt, die marxistische Soziologie, welche diese Dynamik zu ihrem Hauptproblem gemacht hat, so unbeliebt, und die reine Beziehungslehre, die sich in die Statik des sozialen Lebens verrennt, so beliebt geworden ist. Natürlich betrachtet auch die Beziehungslehre die Veränderungen des sozialen Lebens, und sie kommt dabei sogar zu ganz richtigen Einsichten, wie z. B. daß "der Gesamtprozeß der Beziehungshandlungen die zunehmende Gesellung auf der einen, zunehmende Vereinzelung auf der anderen Seite bewirkt." Aber wieso dies geschieht und wieso überhaupt die Beziehungen eine verbindende, lösende und teils verbindende, teils lösende Kraft haben, das bleibt als eine letzte, ganz rein angenommene, Tätsächlichkeit stehen, die nur mehr eine Beschreibung und Systematisierung erlaubt. Dabei sei nur angemerkt, daß z. B. die Beziehungen erster Ordnung, nämlich solche zwischen Einzelmenschen, vom Standpunkt des Marxismus überhaupt gar nicht denkbar sind, weil ein Einzelmensch, der nicht bereits Glied irgendeines sozialen Gebildes ist, in die vorsoziologische Denkweise der Robinsonaden des 18. Jahrhunderts gehört. Der Marxismus kennt von Anfang an nur den vergesellschafteten Menschen, so daß alle Beziehungen zwischen Einzelmenschen schon in einem sie irgendwie verbindenden Milieu vor sich gehen und eine Beziehung eines Einzelmenschen zu einem außer ihm bestehenden sozialen Gebilde ganz unmöglich ist.

Aus all dem ergibt sich, daß ich die Problematik einer Soziologie der Revolution dort, wo der Referent sie gesucht hat, gar nicht sehe. Dagegen erblicke ich in dem Versuch, wier er hier vorliegt, eine Soziologie ohne MARX, d. h. ohne die von diesem aufgedeckte ökonomische Grundlegung des sozialen Lebens aufbauen zu wollen und insbesondere ein Soziologie der Revolution ohne die Kategorien des Klassengegensatzes und Klassenkampfs als ihre Fundamentalbegriffe zu konstruieren, einen sehr schätzbaren Beitrag zwar nicht zur Soziologie der Revolution selbst, wohl aber zur Soziologie der Erkenntnis von der Revolution.

Der Redner möchte nun eine kurze Darstellung des Begriffs der Revolution im Sinne des Marxismus geben, wird aber vom Vorsitzenden aufmerksam gemacht, daß seine Redezeit abgelaufen ist. Trotzdem ein großer Teil der Versammlung für die Verlängerung der Redezeit spricht, erklärt der Vorsitzende, daß dies statutenmäßig unmöglich ist.

Danach nahm Professor GRÜNBERG (Wien) das Wort, der gleichfalls die marxistische Auffassung der Soziologie der Revolution zur Geltung brachte.

Professor WALTER, Göttingen: Beide Referate betonten, das eine vorwiegend vom psychologischen, das andere vorwiegend vom historischen Gesichtspunkt aus, die grenzenlose Vielgestaltigkeit der Erscheinung Revolution. Wenn ich mich frage, ob eine übersehbar Begrenzung des Stoffes unter einem spezifisch soziologischen Gesichtspunkt möglich sei, so komme ich zunächst auf eine genaurer Fixierung des Begriffs  Revolution.  Zwar sind Begriffe nur Einfangnetze für die Wirklichkeit und legen sich oft genug als Schleier vor die Wirklichkeit, aber in den Begriffen hat der menschliche Geist sein gewachsen-unbewußtes, recht eigentlich "natürliches" Ordnungssystem niedergelegt; und selten bleibt man bei einer Befragung der Begriffe ohne Belehrung darüber, was das Wesen eines Dings ist und was es nur akzidentiell mit sich führt. Vieles, was die Revolution mit sich zu führen pflegt, ist nicht ihr allein eigentümlich, sondern gehört zu jeder Lockerung eines Gefüges, jeder Energieumschichtung, jeder Neuanpassung, jeder Übergangszeit.

Sucht man sich das immer noch wenig disziplinierte Heer der soziologischen Begriffe zu ordnen, so zeigt sich der Begriff "Revolution" als einer der eindeutigsten unter vielen vieldeutigen. Er gehört weder zu der großen Gruppe der psychologischen Begriffe, worüber gleich noch ein Wort gesagt wird; er bezeichnet weder ein konkretes funktionales System, sei es eine konkrete Gruppe von Menschen oder eine konkrete Institution, noch ein abstraktes funktionales System, weder eine Beziehung zwischen Einzelindividuen, noch eine Beziehungsstruktur, ein Beziehungsgewebe, sondern er bezeichnet eine Geschehensweise; und zwar einen historischen Akt, der sich in eine Reihe von Sonderakten zerlegt; vom Bestehen einer alten gesellschaftlichen Grundstruktur über eine beschleunigte und intensive Umwälzung dieser Struktur bis zum Eingeschwungensein in ein neues Gleichgewicht. So zerfällt die Theorie der Revolution in eine Theorie von drei verschiedenen Akten: eine Theorie der Störung eines alten Gleichgewichts bis zum entladungsreifen Spannungszustand, eine Theorie der Entladung selbst, und eine Theorie des Einschwankens in ein neues Gleichgewicht. Für die Revolution spezifisch ist nur der mittlere Akt, die Entladung und Umwälzung selbst, während der erste und dritte zum größeren TEil auch anderen, allgemeineren Geschehensweisen des Übergangs, der Reform, der Neuanpassung zugehören können.

Vor allem hat der Begriff  Revolution  zunächst mit nichts Psychologischem zu tun. Wie fruchtbar und unentbehrlich bei der Behandlung aller menschlichen Dinge der psychologische Aspekt ist, braucht nicht erst betont zu werden. Aber der psychologische Aspekt bietet nur eine Seite der Sache, und das Thema "Revolution" meint primär die andere: eine objektive Strukturverschiebung. Das ist auch gemeint, wenn wir von kosmischen oder biologischen Revolutionen sprechen. Und das Thema unserer Besprechungen hat diese Seite noch betont, indem es Revolution umschreibt mit "Staatsumwälzung". Auch der Begriff  Staat  ist ein Strukturbegriff, mit Zuspitzung auf das Institutionelle, und unterscheidet sich hauptsächlich dadurch vom Begriff  Nation,  in dem das Psychologische in den Vordergrund gerückt ist.

Darum scheint mir eine soziologische Theorie der Revolution ausgehen zu sollen von dem strukturellen Aspekt der Gesellschaft, der diese anschaut als ein funktionales System, wie die Naturwissenschaften handeln von materiellen Systemen, physikalisch-chemischen Systemen, lebendigen Systemen. So angeschaut ist die Gesellschaft ein sich bewegendes Gleichgewicht, erfüllt von vielfältig gegeneinander gebundenen und zeitweilig freiwerdenden Energien, stabil oder labil je nach Festgelegtsein oder Lösung ihres Potentiellen und Latenten. Gerät das latent Gebundene in Bewegung, wird durch eine Schwächung oder Stärkung mitwirkender Energien das Gleichgewicht entscheidend gestört, die Spannung überlastet, so kann es zu einer Mutation kommen, dem scheinbaren Ursprung der Entwicklung, den wir  Revolution  nennen.

Suchen wir nun eine systematische Theorie einer solchen Umwälzung, so scheint mir das angemessene Ordnungsprinzip in einem System der möglichen Typen gesellschaftlicher Gestalten gegeben zu sein. Aus den typischen Merkmalen der gesellschaftlichen Systeme sind die Möglichkeiten ihrer revolutionären Wandlung ableitbar.

Den Gan einer solchen Darstellung kann ich nur andeuten. Man wird einleitungsweise unterscheiden zwischen in sich abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen Systemen. Ein System kann durch Eingriffe von außen her umgewältz werden. Ob man das noch  Revolution  nennen will, ist Sache der Vereinbarung. Man wird es in dem Maße tun, wie der Eingriff nicht nur durch brutale Gewalt lediglich von außen her wirkt, sondern für schon vorhandene innere Energiespannungen nur den auslösenden Faktor hinzubringt. In einem gesellschaftlichen System, das unter starken äußeren Wirkungen steht, wie es bei der neuesten deutschen oder den neueren orientalischen Revolutionen der Fall war, ist der typische Verlauf der Revolution stets gebrochen, und das Einschwenken in das neue Gleichgewicht bedeutungsvoll erschwert. Die reineren Fälle, die dem Soziologen das naturwissenschaftliche Experiment ersetzen müssen, sind von vornherei nur in den revolutionären Bewegungen abgeschlossener gesellschaftlicher Systeme zu suchen.

Zunächst wird man nach den formalen Merkmalen der Systeme klassifizieren. In einem System mit starker Homogenität der Teile, in dem also elementare Energiedifferenzen fehlen, wie es etwa bisher noch für Amerika zutrifft, ist eine Revolution unmöglich. Dasselbe gilt für eine bestimmte Art der Heterogenität, nämlich die verkapselte, wie sie bis vor kurzem Indien zeigte. Wie aus Homogenität und Heterogenität, so sind aus den typischen Arten der Differenzierung, der Verteilung der Aktionszentren, der Dichte, der Kommunikation die typischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten und typischen Abläufe der Revolution ableitbar.

Einen Übergang von den formalen zu den materialen Charakteren gesellschaftlicher Systeme haben wir insbesondere in der Klassenschichtung. Jeder typischen Art von Klassenschichtung sind typische Tendenzen der Entstehung und des Ablaufs von Revolutionen zugeordnet. Ein wichtiges Beispiel ist das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer revolutionierbaren Masse. Wo die revolutionierbare Masse fehlt, gibt es auch Staatsumwälzungen. Der Sprachgebrauch nennt sie etwa Palastrevolutionen. Der Soziologe wird sie nicht in den Mittelpunkt stellen, aber den Erkenntniswert extremer Sonderfälle auch hier schätzen und sich durch sie tiefere Einblicke darin geben lassen, wiewiel vom Typus  Palastrevolution  auch etwa in der französischen oder der neuesten deutschen Revolution mitspielte.

Zu den materialen Bestimmtheiten gesellschaftlicher Systeme gehört vor allem das Psychologische, dessen Uferlosigkeiten durch eine vorherige Behandlung des Strukturellen sachgemäß eingedämmt werden. Hier ist das wichtigste Kapitel die Frage der Ideologie. Ist die Ideologie die treibende Kraft der Revolutionen oder etwa ein ohnmächtiger Überbau, der in aufgerührten Zeiten vorausschäumt, aber nach der Beruhigung wieder zurückebben muß? Solche Fragen sind generell nicht zu beantworten. Es gibt Revolutionen, in denen die Ideologie in der Tat die treibende Kraft war und die ganze Dynamik charakteristisch bestimmte, und es gibt andere, wie die neueste deutsche, bei deren Entstehung die Ideologie nur schwächlich und mehr negativ mitspielte und die darum notwendigerweise von sehr anderer Dynamik war. Einer so anderen, daß wir zögern, jenem Geschehen den anspruchsvollen Namen der "Revolution" zuzubilligen; es sei denn, daß diejenige Ideologie, wie sie durch bewegte Zeiten ausgelöst wird, sich noch dazu erklärt und sammelt, Beweger zu werden.

Professor GRUHLE, Heidelberg: Ich bitte, hier als einer der wenigen Fachpsychologen dieses Kreises einige methodologische Bemerkungen machen zu dürfen.

Wenn für ein soziales Phänomen eine "Ursache" gesucht wird, dann lassen sich in der Tat in manchen Fällen wirkliche  Ursachen  finden, so z. B. die Erschöpfung eines Bodenschatzes, eine Klimaänderung oder dgl. Ferner zeigen sich auslösende oder konstellierende Faktoren, die in einem weiteren Sinn noch zum Moment der Ursache hinzugehören. Sobald aber die Betrachtung eines sozialen Zusammenhangs auf den Menschen oder eine Gruppe von Menschen stößt, dann geht es nicht mehr an, von Ursachen zu sprechen, sondern von  Motiven,  Beweggründen. Dann betritt der Soziologe den Boden der Psychologie. Nicht als ob es im Bereich der Psychologie keine Ursachen gäbe; aber sie interessieren hier nicht. Hier handelt es sich um das "Auseinanderhervorgehen", welches spezifisch seelischer Art ist, und also um Gründe und Folgen, freilich nicht logischer, sondern psychologischer Natur. Hier steht nun der Soziologe meist auf einem Boden, über dessen Wesen er sich nicht klar wird. Die Psychologie, die er treibt, ist meist eine recht dürftige Vulgärpsychologie.

Auf den heutigen Fall angewendet: bei der Frage der Entstehung der Revolution tritt das Interesse für "Ursachen" recht zurück; die  Motive  wollen gefunden werden. Davon war aber leider in den Referaten dieser Tagung wenig die Rede. Wenn HARTMANN von typischen Revolutionen spricht und von irgendeinem Einzelphänomen behauptet, es "gehöre zur Revolution eigentlich nicht dazu": was meint er damit? Auf welcher Auffassung erwuchs dieser sein "Typus der Revolution"? Offenbar hat er sich in eine bestimmte Ereignisreihe der Revolution so eingefühlt, daß ihm ein bestimmter regelmäßiger Ablauf vor Augen schwebt. Aber wie ist der Glaube an eine solche Regelmäßigkeit begründet? Handelt es sich um einen Idealtypus einer Revolution im Sinne einer ethischen oder sonstigen Forderung: von einer wahren Revolution muß man verlangen, daß sie usw.? - Oder birgt HARTMANNs Konstruktion einen Idealtypus im Sinne der verstehenden Psychologie: Aus diesen Motiven einer Masse können nur diese, nicht aber jene Verhaltensweise hervorgehen und insofern "paßt" das eine Phänomen nicht zum anderen dazu.? - HARTMANN hat nicht gesagt, was er eigentlich für einen Typus von Revolution vor sich sieht, - wie er dazu kam. Er erzählte vielerlei Interessantes, aber er war in seiner Grundeinstellung nicht scharf diszipliniert.

Meine Worte, deren Zusammenhang mit MAX WEBERschen Gedankengängen niemandem verborgen geblieben sein dürfte, wollten nicht in die  Sache  hineinleuchten. Sie wollten nur die soziologischen Forscher darauf aufmerksam machen, daß sie in demjenigen Teil ihrer Forschung, in dem sie psychologisch orientiert sein  müssen, - überall dort nämlich, wo es sich um die Beweggründe von Menschen und Menschengruppen handelt - eine bessere Psychologie auf methodisch klarerer Basis treiben sollten. Sie sollten Anschluß suchen an die Fachpsychologie, an die moderne Psychologie in allen ihren Zweigen und Spielarten.

LUDO HARTMANN, der genötigt ist, Jena vor Schluß der Diskussion zu verlassen, beschränkt sich auf einige kurze Bemerkungen. Die Einwendungen von TÖNNIES gegen seine Auffassung der altgriechischen Revolutionen als Bauernbefreiungen scheinen ihm nach dem Stand der neueren Forschung nicht berechtigt. - Gewiß bleibt es ferner unbenommen, den ganzen historischen Prozeß vom 16. bis zum 19. Jahrhundert in Westeuropa als eine höhere Einheit aufzufassen; ihn als  eine Revolution  zu bezeichnen ist zweifellos vom denkökonomischen Standpunkt falsch und müßte den Begriff der Revolution verwässern. Gleiches mit Ungleichem verbinden und jede Definition aushöhlen und unbrauchbar machen. - Wenn einer der Vorredner den Vorwurf erhoben hat, daß der Redner, der von MARX ausgegangen ist, MARX nicht oder nicht genügend zitiert hat, so müsse er bemerken, daß er es nicht für nötig erachtet hat, dieser Versammlung KARL MARX erst ausdrücklich vorzustellen.

Professor Dr. BRINKMANN, Berlin: Ds WIESEsche Referat war eine klassische Herausarbeitung des rein Formalen und Morphologischen am Verlauf der sogenannten Revolutionen. Aber selbst die bloße Deskription erfordert wohl doch noch mehr: Sieht man den Kampf des Alten und des Neuen lediglich als Wechsel von Degeneration und Regeneration, so verschwindet leicht die eigentümliche Kraft der Selbsterhaltung und Selbsterneuerung, die jedes gesellschaftliche und staatliche System als ein Gewordenes besitzt und die ihm für eine konservative Weltauffassung die eigentümliche Heiligkeit verleiht; auf der anderen Seite aber geschieht auch der besonderen Bedeutung der umwälzenden Kräfte kaum Genüge, wenn man sie nur als ein äußerliches Zusammenwirken der Utopie mit den destruktiven Interessen faßt und nicht auch als positive gesellschaftliche Leistung. An diesem Punkt führt meines Erachtens das HARTMANNsche Referat auf das Entscheidende, wenn es die Revolutionen qualitativ als erfolgreiche Anpassungserscheinungen definiert. Allein auch das ist mit Vorsicht und keinesfalls im positivistischen Sinn einer dogmatischen "Fortschrittslehre" zu verstehen. Die Soziologie der Revolution ist letzten Endes ein Wertproblem, und zwar kann lediglich die zentrale Norm des Rechts als des einzigen begrifflichen Maßstabs gesellschaftlicher Wertungen den bloßen Formalismus überwinden. Die Revolution ist wie der Krieg ein Mittel des Kampfes um Recht, und ihre soziologische Theorie muß die Entwicklung des Rechts im Bewußtsein und in den Institutionen von Staat und Gesellschaft mehr als bisher in den Vordergrund stellen.

Professor A. GÜNTHER, Nürnberg-Erlangen: Gegen die marxistische Begründung der Revolution durch ADLER ist vor allem geltend zu machen, daß ihre sogenannten "Entwicklungsgesetze" nicht nur wertbetont, sondern geradezu Idealisierungen ohne reale Beweiskraft sind; nicht aber auf die willkürliche Annahme einer "Höherentwicklung" oder einer Tendenz zur "Ausgeglichenheit" des sozialen Geschehens, sondern auf eine Feststellung der in ihm vorhandenen "Bewegungstypen" kommt es an; dabei ist gegen HARTMANN zu betonen, daß die Entscheidung über methodologische Fragen (z. B. im Marxismus) schon eine materielle Entscheidung in sich trägt. "Entwicklung" enthält jedenfalls ein, soziologisch zumindest zweifelhaftes, ethisches Postulat, demgegenüber die Ausführungen von WIESEs über Kosten und Opfer zumindest ökonomisch begründbar sind (zumal im Sinn der objektiven Werttheorie, der doch gerade die Marxisten huldigen) - von WIESEs "Beziehungssoziologie" scheint gegenüber allen mehr oder weniger geschichtsphilosophisch-ethischen Methoden einen sehr beträchtlichen Erklärungswert zu besitzen, zumal wenn sie statistisch gestützt wird; indem die Statistik seit alters her mit "Beziehungszahlen" arbeitet, leistet sie auf quantitativem Gebiet, der "sozialen Masse" gegenüber, das, was hinsichtlich der "sozialen Gruppe", qualitativ, von der Soziologie erwartet werden darf. Im Gegensatz zu einem psychologisch orientierten Vorredner ist dabei der statistische Durchschnittstypus auch und gerade als Ergebnis der Ideologie und Abstraktion anzusehen, er ist, wenn auf richtigem Weg gewonnen, durchaus nicht nur empirisch oder gar nur technisch zu begreifen. Schließlich muß der einzigartige Wert (hier objektiv betrachtet) der Persönlichkeit und des Individuellen zumal auch der Revolution gegenüber festgehalten werden; Massenbestimmungen und -bewegungen werden im allgemeinen erst durch führende Persönlichkeiten synthetisch zu relativ-individuellen Ereignissen, wie es Revolutionen sind, zusammengefaßt; das wir an EISNER erläutert, der zeitweilig Arbeiter-  und  Bauernführer war, also durch seine Persönlichkeit die divergierenden Interessen und Stimmungen heterogen zusammengesetzter sozialer Massen in eine - allerdings nur vorübergehende - Übereinstimmung brachte. Insoweit nun Führer einen entscheidenden Einfluß auf revolutionäre Bewegungen gewinnen, ist die Psychologie - aber nun nicht mehr als verschwommene "Massenpsychologie" - zur Klärung berufen; als Psycho-Pathologie dann, wenn es sich (wie so oft) um pathologische Persönlichkeiten handelt. Die führenden Männer mögen vielleicht auch im Zusammenhang mit den "Mutationen" gedacht werden können, deren sich die Biologie mangels einer eindeutigen Erklärbarkeit bestimmter Vorgänge bedient, von denen aber weniger zu erwarten sein wird, als dies seitens des ersten Referenten geschah. Im allgemeinen bleibt es doch bei dem Wort:  natur non facit saltus [Die Natur macht keine Sprünge - wp], woraus dann die tatsächliche Überlegenheit der als "Anpassung" auftretenden sozialen Reform über die Sozialrevolution zu folgern wäre: Überlegenheit - wieder ohne Werturteil - bereits wegen der größeren Wahrscheinlichkeit eines Dauererfolges, der doch in der Absicht jeder, auch der revolutionären, Bewegung liegt; das Wort also rein soziologisch, nicht ethisch verstanden.



Schlußwort von Leopold von Wiese:

In der Entwicklung jeder Wissenschaft gibt es ein meist langwährendes Stadium des Kampfes, in dem sich die um Geltung ringenden Schulen nur gar zu gern vorwerfen, das Vorgehen der anderen Richtung entspreche nicht der gestellten Aufgabe. In der Soziologie ist es ja recht häufig, daß jeder dem anderen entgegenhält, seine Art, die Dinge zu behandeln, sei alles andere als soziologisch. Heute ist mir dieser Vorwurf von den beiden Diskussionsrednern, die vom Standpunkt des strengeren Marxismus aus sprachen, vor allem von MAX ADLER, gemacht worden, der meinen Versuch als allenfalls psychologischen abtun zu können glaubt, ihn keinesfalls aber als soziologischen gelten lassen will. Demgegenüber bin ich mir zumindest dessen bewußt, daß ich bestrebt war, unser Thema im strengsten Sinne soziologisch zu behandeln, aber nicht geschichtsphilosophisch und geschichtlich, nicht rechtswissenschaftlich (weshalb ich auch bei meinem Definitionsversuch der Revolution die Hineinziheung eines Rechtsbegriffs vermieden habe), ferner nicht sozialökonomisch und nicht wertend-philosophisch. Vielleicht hätte die Ausführung dieses Bemühens sogar Herrn ADLER ein wenig überzeugt, wenn ich meine in der Einleitung skizzierte Aufgabenbestimmung hätte erschöpfend geben können, nämlich die wichtigeren modernen Revolutionen streng nach dem mitgeteilten Schema der sozialen Prozesse zu analysieren. Aber, meine Damen und Herren, das hätte auch bei knappster Fassung viele Stunden erfordert und Sie schließlich wohl ermüdet. Soviel glaube ich jedoch mit einiger Deutlichkeit darüber mitgeteilt zu haben, daß sich beim Vergleich dessen, was ich zu geben versucht habe, mit dem, was Herr ADLER darüber in der Diskussion ausgesagt hat, eine gewisse Voreingenommenheit des Herrn Diskussionsredners nicht leugnen läßt. Richtig ist, daß ich nicht die  Gesetzmäßigkeit  der Veränderungen des sozialen Lebens, als die sich die Revolutionen darstellen, gegeben habe, aber auch nicht geben wollte und, worauf es ankommt, geben durfte. Ich stehe - das möchte ich auch Herrn BRINKMANN erwidern - allerdings auf dem Standpunkt, daß  zunächst  die objektiv-empirische  Beschreibung und Analyse  notwendig ist, die  Erklärung  aber erst  danach  erfolgen kann. Die erklärende, sinndeutende Betrachtung kann wissenschaftlich fruchtbringend und einwandfrei erst nach der Deskription und Ordnung der Erscheinungen erfolgen. Jeder verfrühte Versuch beruth notwendigerweise auf Spekulation. Die beziehungswissenschaftliche Behandlung - sie vor allem tut uns im gegenwärtigen Stadium unserer Wissenschaft not - fragt nur nach dem tatsächlichen  Verhalten  der Menschen und der damit zusammenhängenden  Gruppenbildung.  Im vorliegenden Fall erscheinen mir als die Kernfragen:
    1. Gibt es ein spezifisch revolutionäres Verhalten der Menschen, das sich im Unterschied von ihrem sonstigen Verhalten in allen Revolutionen bemerkbar macht? und

    2. gibt es eine bestimmte Art eigentlich revolutionärer Gruppenbildung? auch welchen sozialen Prozessen beruth sie? wie kreuzen sich diese? in welchem Grad heben sie sich etwa gegenseitig auf?
Ich behauptet, daß die die eigentlich beziehungswissenschaftlichen Fragen zu unserem Problem sind, und daß ich auch lediglich zu ihnen, also streng zur Sache, gesprochen habe, ohne sie freilich im entferntesten zu erschöpfen. Mir kam es im zweiten Teil des Vortrags nur auf Einzelausführungen an, die als Beispiele dienen sollten. Nur wenn man das Wort psychologische sehr unbestimmt und dilettantisch verallgemeinert faßt, kann man behaupten, ich hätte nur eine Sozialpsychologie gegeben oder wäre gar ins Metaphysische, das ich als Empiriker grundsätzlich zu vermeiden such, emporgestiegen. Der Gegensatz von Topie und Utopie, der nur  eine  der von mir erwähnten Seiten des Problems ausmachte, ist, zumindest andeutungsweise, wie ich glaube, durchaus soziologisch erklärt worden: aus den sozialen Prozessen der Verknöcherung und Veraltung, der zunehmenden Gleichgültigkeit auf der einen, dem der Neubildung auf der anderen Seite. Wie sich diese sozialen Prozesse wiederum aus Kombinationen von Beziehungshandlungen der Menschen ergeben, gehört in die allgemeine Beziehungslehre und kann unmöglich bei jedem Spezialthema wiederholt werden.

Aber es besteht eben eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit zwischen den orthodoxen Marxisten und uns Beziehungstheoretikern; jene glauben, man müsse soziale Prozesse auf wirtschaftliche Vorgänge und besonders auf den von ihnen für grundlegend gehaltenen Klassenaufbau zurückführen; wir aber sehen die Aufgabe gerade umgekehrt: Organisationsformen der Wirtschaft und die Klassenordnung, die für uns eine Schichtenbildung neben vielen anderen ist, suchen wir gerade erst aus den elementareren sozialen Prozessen herzuleiten. Bei dieser grundlegenden Verschiedenheit, die Aufgaben und Zusammenhänge zu sehen, sind Mißverständnisse unvermeidlich. Der Platz, den die beiden Richtungen dem Begriff und historischen Gebilde Klasse im System der sozialen Erscheinungen anweisen, ist zu verschieden. Eine Revolution aus dem Klassengegensatz erklären zu wollen, kommt mir so vor, als wenn ein Mediziner die Tuberkulose aus den Kavernen, dem zerstörten Gewebe,  erklären  wollte. Für Herrn ADLER ist eine gesellschaftliche Tatsache damit "wirklich soziologisch erklärt", wenn sie vom Klassenaufbau der Gesellschaft abgeleitet ist; für uns aber ist dieser Zusammenhang der Klassen keine  elementare causa.  Die Klassenordnung wird bei der Analyse eines praktischen sozialen Systems als Verursacherin neben anderen Gebilden auftauchen, muß aber dann alsbald wieder ihrerseits analysiert werden. Damit geraten wir keineswegs in die rein psychologische Sphäre. Vielmehr  lösen sich uns viele seelische Gruppenverhältnisse wieder in Kombinationen von sozialen Prozessen auf. 

Freilich habe ich bei meinem gestrigen Versuch den Motiven der Menschen und damit Bewußtseinsvorgängen einen breiten Raum eingeräumt. Das Urteil über die Berechtigung einer solchen Hervorkehrung der Motive scheint nicht einheitlich zu sein. Wenn ich recht verstanden habe, ist es auch Herrn WALTER, dessen Auffassung  darin  der Stellung des Herrn ADLER ähnlich zu sein scheint, zu stark geschehen, während im Gegensatz zu ihm Herr GRUHLE der Ansicht Ausdruck gegeben hat, von Motiven sei - im Gegensatz zur Behandlung der Ursachen - "in den Referaten wenig die Rede gewesen". Ich würde den Tadel, daß es in meinem Versuch zuviel der Fall gewesen ist, für eher gerechtfertigt halten als die entgegengesetzte Ausstellung. Aber die Hervorkehrung der Motive als Veranlasser revolutionärer Vorgänge scheint mir deshalb naheliegend, weil in der Tat die Eigenart des Verlaufs von Revolutionen wohl noch mehr als durch die Mechanik des objektiven Geschehens durch das seelische Störungsmoment der Irrationalität erklärt werden muß. Gerade die eigentümliche Brechung, die die Linie des objektiven Geschehens in der Seele der an Revolutionen beteiligten Menschen erleidet, ist so wesentlich für die Bestimmung des revolutionären Verhaltens. Doch glaube ich versichern zu können, daß bei einer ausführlicheren Behandlung meines Themas die  objektiven  Zusammenhänge gleichfalls gebührend zur Geltung gekommen wären. Dann wäre wohl auch noch deutlicher geworden, daß sich keinesfalls die Problematik der Soziologie der Revolution fast restlos, wie Herr ADLER mir vorgeworfen hat, in das Verhältnis von Masse und Führer auflöst. Masse und Führer stehen beide doch auch sehr unter der Herrschaft des Gesetzes des Zeitablaufs, wie ich kurz jenen sich immer wieder abspielenden Kreislauf von Topie zu Utopie und wieder von Utopie zu Topie nennen möchte.

Meine Andeutungen gegen Ende des Vortrags über die "Opfer" der Revolution sind, weil zu summarisch, wohl hie und da anders aufgefaßt worden, als sie gemeint waren. Ich wollte gerade darauf hinweisen, daß, wenn man die Frage nach den Wirkungen der Revolution aufwirft, man versuchen muß, die zu vergleichenden Größen, das Positive und das Negative, möglichst wertfrei und wieder rein soziologisch zu fassen, also den Grad der Vereinigung und den Grad der Lösung als Folgen von Revolutionen gegenüberzustellen. Vielleicht hätte ich besser getan, das Wort  Opfer  zu vermeiden. Es war mir nicht wesentlich. Die beiden Schlußsätze schließlich waren als Finale, das doch wohl in einen anderen Zusammenhang hinüberweisen darf, allerdings nicht soziologischer, sondern sozialpolitischer Herkunft. Hält man einen solchen abschließenden Zusatz für unzulässig, so bin ich gern bereit, ihn zu streichen.

Von KARL MARX mag man bei einer geschichtsphilosophischen, vielleicht auch bei einer wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung der Revolution ausgehen; bei einer beziehungswissenschaftlichen Betrachtung, das hoffen ich soeben hinreichend angedeutet zu haben, würde man damit etwa so verfahren, wie ein moderner Chemiker, der seinen Untersuchungen Ergebnisse mittelalterlicher Alchemie zugrunde legte. Die Beziehungen, in die der Marxismus das soziale Geschehen auflöst, sind, wie gesagt, wirtschaftlicher Art, dazu noch von HEGELscher Spekulation über die Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung beeinflußt. Das, was erst dargetan werden soll, wird als bewiesen zugrunde gelegt.

Noch ein kurzes Wort zum Schluß über ADLERs Kritik der Beziehungslehre im allgemeinen: Der Umstand, daß die von mir Beziehungen erster Ordnung genannten Relationen zwischen Einzelmenschen in der Wirklichkeit soziale Gebilde voraussetzen, ist durchaus kein Hinderungsgrund, sie für bestimmte Zwecke der Analyse theoretisch so zu  isolieren,  als ob sie allein beständen, vorausgesetzt, daß die ergänzende Betrachtungsweise vom Gebilde her danach hinzutritt. Wir müssen auch untersuchen dürfen, wie Mensch auf Mensch wirkt, ohne daß dieses Verhalten aus einer bestimmten Beschaffenheit des gesellschaftlichen Milieus abgeleitet wird. Das innerste Wesen der erotischen oder der freundschaftlichen Beziehungen z. B. würde sich sonst nie verdeutlichen lassen. Ich behaupte gegenüber Herrn ADLER, daß ein Einzelmensch sicherlich zu einem außer ihm bestehenden sozialen Gebilde in Beziehung treten kann: wenn beispielsweise ein Reisender eine ihm bis dahin fremde Kultur einer anderen Rasse auf sich wirken läßt. Der Umstand, daß dabei seine Wahrnehmungen und Vorstellungen von der Zugehörigkeit zu seinen eigenen sozialen Kreisen beeinflußt sind, daß er also  teilweise  selbst nur als Exponent sozialer Gebilde figuriert, macht es nicht überflüssig oder gar falsch, die hier auftretenden Kontakte als die eines Einzelmenschen zu einem sozialen Gebilde anzusehen. Wenn Herr ADLER bei der mir grundlegend erscheinenden Zweiteilung der sozialen Beziehungen in solche des Zueinander und Auseinander die Erklärung vermißt, wieso es diese beiden Arten gibt, so verbirgt sich in diesem Tadel ein Anspruch, den die Beziehungslehre in der Tat nicht zu befriedigen  brauchte.  Die beiden elementaren Beziehungen sind für die phänomenologisch gegebene Tatsachen, die aber auch empirisch nachweisbar als überall vorhanden festgestellt werden können. Indessen ist auch die Erklärung durchaus möglich; sie ergibt sich unmittelbar aus der menschlichen Natur, die teilweise zur Verbindung mit Artgenossen drängt, teilweise zur Behauptung der Ichheit nötigt. Nur darf freilich nicht etwa bei dieser für die Soziologie nicht weiter ableitbaren Grundtatsache wieder nach wirtschaftlicher Kausalität gesucht werden.
LITERATUR Ludo Moritz Hartmann, Zur Soziologie der Revolution, Verhandlungen des Dritten Deutschen Soziologientages, Tübingen 1923
    Anmerkungen
    1) LASSALLLE, Über Verfassungswesen (Ausgabe von BERNSTEIN, 1922, I, Seite 491) schreibt: "Wenn in einer Gesellschaft eine siegreiche Revolution eingetreten ist, dauert zwar das Privatrecht fort (?), aber alle Gesetze des öffentlichen Rechts liegen am Boden, oder haben nur provisorische Bedeutung und sind neu zu machen."
    2) Vgl. meinen Aufsatz über das Wesen der Politik in der Festschrift für LUJO BRENTANO (1916), Seite 220.
    3) Vgl. MARX, Revolution und Konterrevolution (1896), Seite 2: "Heutzutage weiß jedermann, daß überall, wo revolutionäre Erschütterungen eintreten, ein gesellschaftliches Bedürfnis dahinger sein muß, dessen Befriedigung durch überlebte Einrichtungen gehindert wird ... jeder Versuch, es gewaltsam zu unterdrücken, muß es mit verstärkter Gewalt wieder hervortreten lassen, bis es seine Fesseln bricht."
    4) Vgl. EMIL LEDERER, Einige Gedanken zur Soziologie der Revolution, Leipzig 1918: "Nie kann man aus Mißständen und Fehlern eine Revolution erklären. Eine Regierung mag noch so gerecht und exakt sein, sie kann doch über die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Machtposition nicht hinauswachsen, sie  muß  sich unter Umständen zu neuen in der Entwicklung auftauchenden Prinzipien feindlich verhalten. Auch sind es nich diese "Mißstände", um deren Abschaffung eigentlich gerungen wird." ... Vgl. im allgemeinen S. HELLMANN, "Die großen europäischen Revolutionen" (1919).
    5) PETER KROPOTKIN, Französische Revolution (deutsche Übersetzung) Seite 9 - Vgl. auch LEDERER, a. a. O., Seite 16: über die Idee als "Vorformung des kommenden Zustandes".
    6) LEDERER, a. a. O., Seite 29
    7) Vgl. MARX, Revolution und Konterrevolution, Seite 41f: "Es ist das Schicksal der Revolutionen, daß jene Vereinigung verschiedener Klassen, die bis zu einem gewissen Grad stets die notwendige Vorbedingung einer Revolution ist, nicht lange dauern kann. Kaum ist der Sieg gegen den gemeinsamen Feind errungen, und schon gehen die Sieger in verschiedene Lager auseinander und richten die Waffen gegeneinander. Es ist diese rasche und leidenschaftliche Entwicklung des Klassengegensatzes, die in alten und komplizierten gesellschaftlichen Organismen eine Revolution zu einer so mächtigen Triebkraft des gesellschaftlichen und politischen Fortschritts macht; es ist dieses stets rasche Anschließen neuer Parteien, die einander in der Macht ablösen, was eine Nation während dieser heftigen Erschütterungen in 5 Jahren weiter bringt, als sie unter gewöhnlichen Umständen in einem Jahrhundert käme." Als Beispiel für das Pendeln einer Klasse zwischen Revolution und Reaktion: das Kleinbürgertum. (ebd. Seite 8)
    8) KROPOTIKIN, a. a. O. II, Seite 179; vgl. ebd. II, Seite 184 das Zitat aus dem Begriff eines Volksbeauftragten: "Überall ist man der Revolution müde." (April 1793)
    9) a. a. O., Seite 27f. - Vgl. auch KAUTSKY, Die proletarische Revolution, 1922, Seite 86, er führt aus, daß hinter dem Proletariat keine Partei mehr auftreten kann, die der Revolution weitere Ziele stecken würde. Folgerungen daraus Seite 96f.
    10) Vgl. auch KROPOTKIN, a. a. O. II, Seite 273 über die französische Revolution und dann allgemein: "Es ist ein Gesetz der Geschichte, daß die Periode von etwa 100-130 Jahren, die zwischen zwei großen Revolutionen verstreicht, ihren Stempel von der Revolution aufgedrückt erhält, mit der diese Periode eingesetzt hat."
    11) FRIEDRICH MUCKLE, Das Kulturproblem der Französischen Revolution II, (1921) Seite 183f. GUSTAV LANDAUER, Seite 81, führt das Wort vom  Mikrokosmos,  angewendt auf die Revolution auf TREITSCHKE (Übersetzer LANGUETs im Vormärz) zurück.