ra-3cr-2von MohlF. BorkenauMHTh. VeblenH. Dietzel    
 
MAX HORKHEIMER
Egoismus und Freiheitsbewegung
[Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters]
[2/2]
I. Der Egoismus in der Ideologie
II. Zur Geschichte des bürgerlichen Charakters
III. Der Egoismus in der Wirklichkeit

"Die große geistige Leistung der Reformatoren liegt in der Durchbildung der Idee, daß das Heil der Menschen nicht von den sakramentalen Veranstaltungen einer Priesterkaste, sondern vom seelischen Verhalten der einzelnen abhängt; dieser Gedanke ist bei  Calvin noch durch die Lehre von der Gnadenwahl verstärkt, nach der sich die ewige Bestimmung eines jeden völlig den Praktiken der Kirche entzieht."

"Robespierre  unterzieht die materialistische Philosophie einer Kritik, weil sie den Egoismus in ein System gebracht hat, die menschliche Gesellschaft als einen Kampf von List und Heimtücke betrachtet, den Erfolg als das Ergebnis eines Krieges zwischen Gerechten und Ungerechten, die Ehrlichkeit als eine Angelegenheit des Geschmacks und der Bequemlichkeit, die Welt als das Erbteil geschickter Halunken."

"Die bürgerliche Gesellschaft beruth nicht auf einer bewußten Zusammenarbeit für das Dasein und Glück ihrer Mitglieder. Ihr Lebensgesetz ist ein anderes. Jeder meint, für sich selbst zu arbeiten und muß auf seine Erhaltung bedacht sein. Es gibt keinen Plan, der festlegt, wie das allgemeine Bedürfnis befriedigt werden soll."

"Schon aus diesem Tatbestand, daß der Mensch in der grundlegenden wirtschaftlichen Sphäre sich selbst als isoliertes Subjekt von Interessen erfährt und nur durch Kauf und Verkauf mit anderen in Verbindung tritt, ergibt sich die Fremdheit als anthropologische Kategorie."


I. Zur Geschichte des bürgerlichen Charakters
[Fortsetzung]

So verschieden die soziale Stellung LUTHERs und CALVINs entsprechend den Umständen in Deutschland und Genf auch gewesen ist, so gegensätzlich beide Reformatoren aufgrund ihrer Herkunft und ihres Bildungsganges geartet sein mochten: kraft ihrer Funktion als Massenführer der bürgerlichen Ära weist ihr Verhalten, ja ihr Charakter erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erscheinen
    "als die begünstigten Gruppen der sozialen Entwicklung das bürgerliche Patriziat und das territoriale Fürstentum, die aristokratischen Schichten, die neuen partikularen Obrigkeiten der Stadt und des Landes; gedrückt sind die Untertanen, die Massen, das städtische Proletariat, die Bauern, und mit ihnen der mit dem bäuerlichen Schicksal verknüpfte, in seinen Gesinnungen wie in seiner Stellung zum neu entwickelten Hochadel der Fürsten demokratisch charakterisierte kleine Adel des Landes." (81)
In Deutschland waren die besitzenden Bürgerkreise, von welchen die Entwicklung zu jener Zeit getragen war, in ihrer ganzen Politik auf die territorialen Fürsten angewiesen. Daß LUTHER sich diesen völlig unterwarf, folgt aus dem Charakter seiner ganzen Wirksamkeit. Er selbst,
    "mit welchem Recht er sich auch einen Bauernsohn nannte, ist doch zugleich ein Kind städtischer, bergmännischer Herkunft und städtischer, bettelmönchischer Erziehung ... gewiß hat er den Ackerbau einen göttlichen Beruf genannt und als die einzige Nahrung bezeichnet, die stracks vom Himmel herabkommt:  die lieben Patriarchen haben sie auch gehabt.  Aber trotzdem hat er die furchtbaren Schriften gegen die Bauern geschrieben und die Erhebung des Adels mißbilligt. Gewiß hat er aus seiner Abneigung gegen die unsittlichen Seiten des patrizischen Handelsbetriebes alles andere als einen Hehl gemacht und sich bis zu einem gewissen Grad für das kanonische Zinsverbot erwärmt: aber das hat ihn nicht gehindert, das Werben des Kapitals als Handelskapital verständnisvoll zu billigen; nur dem Gedanken eines reinen Personalkredits war er unzugänglich. Und gewiß hat er die Fürsten Mordbuben und Henkersknechte Gottes genannt"; aber aus seiner gesamten Lage heraus mußte er dazu gelangen, "der Obrigkeit eine höhere Stellung anzuweisen, als sie bisher jemals in der christlichen Welt besessen hatte." (82)
Ursprünglich treten bei den Volksführern die Unterschiede zwischen den Zielen der Allgemeinheit und der wohlhabenden Gruppen zurück. Erst im Fortgang der Bewegung stellen sich für die niederen Schichten die Schattenseiten heraus, und es beginnt die Spannung zwischen ihnen und dem Führer. Das gilt für CALVIN bei seiner zweiten Herrschaft in Genf wie für die großen Politiker der französischen Revolution. ENGELS hat diesen Umstand in seiner Abhandlung über den deutschen Bauernkrieg klar herausgestellt:
    "Luther  hat in den Jahren 1517 bis 1525 ganz dieselben Wandlungen durchgemacht, die die modernen deutschen Konstitutionellen von 1846 bis 1849 durchmachten und die jede bürgerliche Partei durchmacht, welche, einen Moment an die Spitze der Bewegung gestellt, in dieser Bewegung selbst von der hinter ihr stehenden plebeijischen oder proletarischen Partei überflügelt wird. Als LUTHER 1517 zuerst gegen die Dogmen und die Verfassung der katholischen Kirche auftrat, hatte seine Opposition durchaus noch keinen bestimmten Charakter. Ohne über die Forderungen der früheren bürgerlichen Ketzerei hinauszugehen, schloß sie keine einzige weitergehende Richtung aus und konnte es nicht. Im ersten Moment mußten alle oppositionellen Elemente vereinigt, mußte die entschiedenste revolutionäre Energie angewandt, mußte die Gesamtmasse der bisherigen Ketzerei gegenüber der katholischen Rechtgläubigkeit vertreten werden. ... Aber dieser erste revolutionäre Feuereifer dauerte nicht lange. ... Die Parteien sonderten sich und fanden ihre Repräsentanten.  Luther  mußte zwischen ihnen wählen. ... Er ließ die populären Elemente der Bewegung fallen und schloß sich der bürgerlichen, adligen und fürstlichen Suite an." (83)
Es gibt kaum einen hervorragenden Volksführer des Bürgertums, in dessen moralischem und religiösem Pathos sich die Nuancen der ihm jeweils verbündeten Interessen so genau ausdrücken wie in LUTHERs großartiger Sprache. Wenn das Evangelium und die realen bürgerlichen Interessen miteinander in Konflikt geraten, kann es für LUTHER keinen Zweifel geben, welche Stellung er dem Evangelium auf Erden einräumt. Es
    "ist in der Welt Not ein strenges, hartes, weltliches Regiment, das die Bösen zwingt und dringt, nicht zu nehmen noch zu rauben und wiederzugeben, was sie borgen, ob's gleich ein Christ nicht soll wiederfordern noch hoffen; auf daß die Welt nicht wüste wird, Friede untergeht und der Leute Handel und Gemeinschaft gar nicht zunichte wird, welches alles geschehen würde, wo man die Welt nach dem Evangelio regieren und die Bösen nicht mit Gesetzen und Gewalt treiben und zwingen sollte, zu tun und zu leiden, was recht ist. Darum muß man Straßen rein halten, Friede in den Städten schaffen und Recht in Landen handhaben und das Schwert frisch und getrost hauen lassen auf die Übertreter, wie  Paulus  in seinem Brief an die Römer 13,4 lehrt ... Es darf niemand gedenken, daß die Welt ohne Blut regiert werde, es soll und muß das weltliche Schwert rot und blutrünstig sein ..." (84)
Wie sehr er gegen die aufständischen Bauern wütet und sich wünscht, daß man sie "steche, schlage, würge", (85) wie sehr er Barmherzigkeit gegen sie als Versündigung brandmarkt und nur einen Rat weiß: "mit der Faust muß man solchen Mäulern antworten, daß der Schweiß aus der Nase ausgeht", wie sehr er auch nach dem Henker ruft (86), so ist er doch aufrichtig besorgt, daß man unter diesen Bauern, die im übrigen unterschiedslos niedergemacht werden sollen und müssen, "wohl etliche gefunden, die ungern mitgezogen sind, sonderlich, was was wohlhabende Leute gewesen sind." Diesen gegenüber
    "muß die Billigkeit ... das Recht meistern ... Denn es galt der Aufruhr den Reichen ebensowohl wie den Oberherrn, und der Billigkeit nach zu vermuten ist, daß keinem Reichen der Aufruhr sei lieb gewesen." (87)
Und wenn LUTHER auch um der mit ihm verbündeten Teile des Adels willen diesen zuweilen sogar gegen die Klagen der von ihm beraubten Kaufleute in Schutz nimmt (88), so findet er doch eindeutige Töne gegen jene Adligen, die bei diesem "Stechen und Würgen" gegen die Bauern wohl gar aus eigennützigen Motiven die mitgeführten Reichen nicht schonen wollen. Da heißt es mit recht kräftigen Worten gegen die "Edelleute":
    "... es ist der Dreck auch vom Adel und mag sich wohl rühmen, er komme aus des Adeligen Leib, ob er wohl stinkt und nichts nütze ist. Also mögen diese auch wohl vom Adel sein. Wir Deutschen sind Deutsche und bleiben Deutsche, das ist, Säue und unvernünftige Bestien." (89)
LUTHERs Verhältnis zu den Parteien seiner Zeit tritt klar genug hervor.

Wenn CALVIN auch im republikanischen Genf den König von Frankreich den Beschützer der verhaßten katholischen Kirche, an die Rächer erinnert,
    "welche durch Gottes rechtmäßigen Beruf dazu bestimmt wurden, große Taten zu tun und die Waffen gegen Könige zu erheben" (90),
so sollen wir doch nicht glauben, daß diese Rache uns als Privatleuten aufgetragen ist: "uns ward nichts befohlen, als gehorchen und leiden." (91) Volksvertretungen dagegen, d. h. die Repräsentanten der höheren und wohlhabenden Schichten sind unter Umständen durchaus befugt, "die Willkür der Könige einzuschränken wie bei den Römern die Volkstribunen oder in unseren Königreichen die Stände." (92)

Eine aristokratische und oligarchische Regierungsform hat er für die Beste gehalten; er wird wie LUTHER nicht müde einzuschärfen, daß "die bürgerliche Obrigkeit vor Gott nicht bloß ihren rechtmäßigen, sondern überaus heiligen Beruf, dem im ganzen Leben der Sterblichen die höchste Ehre gebührt", erfülle (93).

Seine Liebe zu vornehmen und vermögenden Familien ist bekannt.
    "Anfeindungen und scharfen Tadel von Seiten seiner Feinde hat er deshalb schon früh erfahren müssen; man warf ihm Schmeichelei gegen die Reichen und noch Schlimmeres vor. Allein solche Angriffe machen wenig Eindruck auf ihn und waren am wenigsten geeignet, ihn in seinen Grundsätzen zu erschüttern. Und in des Meisters Fußstapfen sind seine Freunde, Schüler und Gehilfen getreten." (94)
Die oligarchische Verfassung Berns, das im Übrigen zu Genf in einem recht schwankenden Verhältnis stand, hat er gutgeheißen wie SAVONAROLA diejenige von Venedig, wobei er, ähnlich wie dieser, den klerikalen, das heißt seinen und seiner Freunde Einfluß unter Wahrung der aristokratischen Formen zum herrschenden zu machen strebte. Alle diese Führer trachten nach einer Verankerung ihrer Clique im staatlichen und gesellschaftlichen Leben möglichst für alle Ewigkeit.

Die große geistige Leistung der Reformatoren liegt in der Durchbildung der Idee, daß das Heil der Menschen nicht von den sakramentalen Veranstaltungen einer Priesterkaste, sondern vom seelischen Verhalten der einzelnen abhängt; dieser Gedanke ist bei CALVIN noch durch die Lehre von der Gnadenwahl verstärkt, nach der sich die ewige Bestimmung eines jeden völlig den Praktiken der Kirche entzieht. Die Reformatoren haben so dem Individuum in der Ideologie die Selbständigkeit gegeben, zu welcher es durch die Umgestaltung der Wirklichkeit berufen war, eine freilich abstrakte und weitgehend vermeintliche Selbständigkeit, die wie in der Praxis durch die von den Menschen zwar besorgte, aber unbeherrschte Wirtschaft, so in der Theorie durch die Gnadenakte eines von den Menschen entworfenen und doch als autonom betrachteten undurchschaubaren Gottes beschnitten ist. Der von den Reformatoren angebahnte kulturelle Fortschritt der Massen war unmittelbar an ene viel aktivere Bearbeitung der Individuen geknüpft, als sie bei alten Klerus gang und gäbe war. Das Bürgertum hatte seine Mitglieder angesichts der neuen wirtschaftlichen Aufgaben zu einem ganz anderen Grad von Selbstdisziplin, Verantwortlichkeit, Arbeitseifer zu erziehen als in den alten Zeiten einer relativ undynamischen, in festen Regeln ablaufenden Ökonomie. Gewiß verkörperten seine hervorragenden Repräsentanten wie der alte JAKOB FUGGER die moderne Einstellung zum Leben auch ohne Reformation. "Es habe eine viel andere Gestalt", erwiderte er einem Freund, der ihm anriet, sich zur Ruhe zu setzen, "er wolle gewinnen, solange er könne." (95) Die charakterologischen Vorbedingungen dieser von der neuen Wirtschaft geforderten, der Tätigkeit und nicht ihrem Inhalt verhafteten Gesinnung mußten allgemein und kontinuierlich in die einander folgenden Generationen der verschiedenen Schichten des Bürgertums und mit entsprechenden Nuance auch in die beherrschten Klassen hineingetragen werden. Es bedurfte daher nicht bloß einzelner Reformatoren, diese waren bereits die ersten Vertreter ener neuen Bürokratie.

Wir stoßen hier auf einen anderen gemeinsamen Zug dieser historischen Vorgänge. Sie betreffen nicht wie soziale Revolutionen den wirtschaftlichen Unterbau unmittelbar, sondern treiben darauf hin, die Stellung des Bürgertums, die es sich in der Wirtschaft bereits erobert hat, durch zeitgemäße Veränderungen in der militärischen, politischen, juristischen, religiösen und künstlerischen Sphäre auszugestalten und weiter zu fördern. Die erbittertsten Kämpfe werden darum ausgefochten, den Funktionärkörper in diesen Sphären zu erneuern, eine alte Bürokraten- und Intellektuellenschicht, eine frühere "Elite" durch eine den neuen Aufgaben besser entsprechende zu ersetzen und geeignetere Institutionen zu schaffen. Während die gewinnbringende ökonomische Tätigkeit, die Anhäufung der Vermögen von den bürgerlichen Wirtschaftssubjekten vor und nach der Erhebung schon selbst geleistet wird und nur der Befreiung von entgegenstehenden Ordnungen des alten Regimes bedarf, soll der kulturelle Überbau eine Reorganisation erfahren. Man braucht hier neue Kräfte, die den qualitativ anderen Anforderungen gewachsen sind. Mit der durch Konzentration und Zentralisation der Kapitalien herbeigeführten Verfestigung einer kleinen Schicht von Monopolisten bestimmt sich die kulturelle Tätigkeit immer ausschließlicher als Beherrschung der Massen. Obgleich die Kultur sich ebenso auch an die Herrschenden wendet und von ihnen besonders hoch gehalten wird, pflegen sie doch zuweilen ein gutes Gefühl dafür zu besitzen, daß sie in ihrer eigenen Ordnung vornehmlich zu den großen künstlerischen und philosophischen Produktionen seiner eigenen Geschichte - zum Idealtyp des modernen Bürgers eine tiefe Verachtung und Gleichgültigkeit gegen den Geist, die sich freilich mehr in seinen Handlungen als in seinen Ansichten, mehr in seinen Instinkten als in seinem Bewußtsein durchsetzen, in welchem die umgekehrte Rangordnung zu herrschen pflegt. Aus der Religion, den idealen Werten, der Aufoperung für die Nation macht er die höchsten Güter der Menschheit, betet den Erfolg auch bei Größen der Kunst und Wissenschaft an, ohne inhaltliche Beziehung zu ihrem Tun, und bleibt bei seinem Wesen nach Atheist aus intellektueller Bedürfnislosigkeit, Vulgärmaterialist, unfähig zu jedem wirklichen Genuß. - Indem PARETO den Unterschied zwischen den ausschlaggebenden wirtschaftlichen Gruppen und ihren kulturellen Funktionären vermengt und sekundäre Scheidungen wie die zwischen politischen und nichtpolitischen Funktionären an seine Stelle rückt, (96) hat er seinen ohnehin unhistorisch gefaßten Begriff der Elite und Elitenkämpfe, durch den sonst jene kulturellen Geschäftsträger des Bürgertums ihre Händel recht brauchbar bezeichnet wäre, für das Verständnis des ganzen Zeitalters verdorben.

Während es selbst in eine zunehmende Stumpfheit gegenüber geistiger Existenz gerät, bedarf das Bürgertum in seiner gesellschaftlichen Lage jedoch fortwährend kultureller Rührigkeit, sowohl angesichts der klerikalen und feudalen Reaktion, als um das gesamte Volk in seine Ordnung einzugliedern. Der mächtige Ruf nach innerer Erneuerung, in welchen zu bestimmten Zeiten die materiellen Forderungen der Massen umgewandelt werden, läßt sich daher regelmäßig in den Tatbestand des Kampfes zwischen der alten und einer oder mehreren konkurrierenden Bürokratien und Intellektuellengruppen übersetzen, die jene abzulösen streben. Bei der Förderung der Reformation durch Fürsten und Bürgertum sprach neben der zeitgemäßen Besorgung der kulturellen Angelegenheit die Erkenntnis mit, daß die protestantische Kirchenorganisation nicht bloß den Abfluß des Geldes nach Rom verhindern, sondern den Betrieb auch sparsamer gestalten wird. Die Gefahr der Armutspropaganda ketzerischer Prediger hatte der katholische Klerus schon früh erkannt, und ihr erster großer Verkündiger, ARNOLD von BRESCIA, der Vorläufer COLAs und der Reformatoren, war bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts ein Opfer der Verständigung von Papst und Kaiser geworden. Da die Wirksamkeit der neuen zuverlässigen und sparsamen Bürokratien in einem ungleich höheren Grad als in den feudalen Ordnungen von den "Persönlichkeiten" abhängt, so sehen wir in solchen Zeiten des Übergangs Führer und Führercliquen, die in der Zukunft herrschen wollen, nicht nur die alten Mächte, sondern auch sich gegenseitig und untereinander erbittert bekämpfen. Unter der sich entwickelnden Herrschaft des Leistungsprinzips, das auch für die höchsten Angestellten und Funktionäre gilt, streben sie danach, sich und ihre Prinzipien mit allen Mitteln zu bewähren.

Den Außenstehenden müssen diese Streitigkeiten, persönlichen Feindschaften, diese entfesselten Leidenschaften der Herrsch- und Rachsucht abstoßen, welche die Führerschichten des Bürgertums in der Renaissance, der Reformation, der französischen Revolution und den späteren bürgerlichen Erhebungen kennzeichnen. GIORDANO BRUNO hat wohl das Gefühl eines großen Teils der Gebildeten des 16. Jahrhunderts gegenüber der Reformation formuliert. Man möge einmal nachsehen, so schreibt er (97),
    "was das für eine elende Art von Frieden und Eintracht ist, welche diese Reformatoren dem armen Volk verkündigen, die allem Anschein nach auf nichts anderes ausgehen und um nichts mehr eifern, als daß alle Welt sich ihrer muckerhaften und eingebildeten Dummheit anschließen und mit ihrem boshaft verkommenen Gewissen sich einverstanden erklären soll, indessen sie selber auch nicht irgendeinem Gesetz, in irgendeinem Punkt der Gerechtigkeit, in irgendeinem Lehrsatz einig sind, und überall in der übrigen Welt und in allen früheren Jahrhunderten sich noch keine solche Uneinigkeit und Zwistigkeit gezeigt hat, wie bei ihnen; findet sich doch unter 1000 dieser Pedanten kaum einer, der sich nicht schon seinen eigenen Katechismus ausgedacht hätte und, wenn er ihn noch nicht veröffentlicht hat, doch Lust hätte, ihn zu veröffentlichen, keiner, der es über sich vermöchte, irgendeine andere Einrichtung zu billigen als seine eigene, keiner, der bei allen anderen etwas anderes finden könnte, als was er meint verdammen, verwerfen, bezweifeln dürfen. Ja, ein großer Teil von ihnen ist sogar uneins mit sich selber, indem sie heute streichen und widerrufen, was sie gestern geschrieben und behauptet haben. Er möge zusehen, was für Folgen ihre Lehren haben, was für eine praktische Lebensführung sie hinsichtlich der Werke der Gerechtigkeit und des Mitleids, der Erhaltung und Mehrung des gemeinen Nutzens bewirkt, ob unter ihrer Lehre und Leitung Universitäten, Tempel, Krankenhäuser, Schulen und Kunstakademien gegründet oder ob solche auch nur da, wo sie sich eingenistet haben, von ihnen in dem Zustand, in welchem sie auf sie gekommen sind, erhalten, und nicht vielmehr durch ihre Nachlässigkeit in Verderb oder Verfall geraten sind."
Der Widerwille des italienischen Philosophen gegen das Regiment der Reformation versteht sich allein schon aus dem Zug der Geistfeindschaft, den sie mit vielen bürgerlichen Erhebungen gemeinsam hat. Wenn auch der Katholizismus stets einen Unterschied zwischen der Vernunft vor und nach dem Sündenfall gemacht und im Nominalismus, der ohnehin schon bürgerliche Züge aufweist, ihr Ansehen noch weiter gemindert hat, so bildet diese in der Lehre seiner größten Philosophen doch den Stolz des Menschen. CALVIN dagegen schärft ein, es sei "all unser Bemühen, unsere Einsicht und unser Verstand so verkehrt, daß wir vor Gott nichts Rechtes denken oder sinnen können." Der heilige Geist weiß, daß alle Gedanken der Weisen eitel sind, und verkündet deutlich, daß alles Dichten des Menschenherzens nur böse ist." (98) Im Gegensatz zu THOMAS und seinen Nachfolgern steht für CALVIN
    "als unzweifelhafte Wahrheit fest, was durch keine Künste erschüttert werden kann: Der Verstand des Menschen ist so vollständig der Gerechtigkeit Gottes entfremdet, daß alles, was er sinnt und denkt, unfromm, verdreht, häßlich, unrein und sündhaft ist; das Herz ist so tief in das Sündengift versenkt, daß von ihm nur ein verderbter Hauch ausgehen kann." (99)
LUTHER kennt in unflätigen Beschimpfungen der Vernunft kein Maß. Die Lehre, die er durch göttliche Gnade empfangen hat, so erklärt er, müsse in einem entschlossenen Kampf gegen "des Teufels Braut, die Vernunft, die schöne Metze" bewahrt werden, "denn es ist die höchste Hure, die der Teufel hat". LUTHER ahnt den tiefen Zusammenhang zwischen Genuß und Geist und verfolgt beide mit dem gleichen Haß: "- was ich von der Brunst, so eine grobe Sünde ist, rede, solches ist auch von der Vernunft zu verstehen, denn dieselbe schändet und beleidigt Gott in geistlichen Gaben, hat auch viel greulicher Hurenübel, denn eine Hure." (100) Wenn die Reformatoren auch persönlich in bestimmten Grenzen Kunst und Wissenschaft geschätzt haben, so sind diese doch infolge des Kampfes gegen die Bilderverehrung und gegen die Rechtfertigung durch die Werke in den vom Protestantismus beeinflußten Gebieten stark behindert worden. Zuvörderst galt die Feindschaft allem, was in der Kunst dem mit der Verinnerlichung zusammenhängenden Sittlichkeitsbegriff zuwiderlief, jedem erotischen Anklang, ja dem Luxus überhaupt.

Wer die Schilderungen jener erhebungsvollen Perioden liest, findet immer wieder bei der religiösen und nationalen Begeisterung die Welle von Bürgertugend und Sittsamkeit erwähnt, die, freilich durch die Obrigkeit getrieben, das Volk erfaßt. "Eine strenge Polizei bestrafte Ehebrecher und Spieler", schreibt GREGOROVIUS über das Rom des Volkstribunen. Unter SAVONAROLA war ein ganzes Spitzelsystem organisiert, um Unsittlichkeiten aller Art unmöglich zu machen. Bekannt ist die Verbrennung der "Eitelkeiten". Unter seinem und seiner Schüler Einfluß wurden die mit einer solchen Erweckung von Volksmassen unverträglichen Puderdosen, Schminken und sonstigen Schönheitsmittel verbrannt, auch SCHACH und andere Spiele, ferner Harfen, Schalmeien usw. Auf einem großen Scheiterhaufen vor der Signorie fanden auch unliebsame Bücher ihren Platz:
    "Die Werke  Bocaccios  und  Petrarcas,  der * Morgante  und andere Schlachtenbücher, sowie Zauber- und sonstige abergläubische Schriften; schließlich unschamhafte Figuren und Gemälde, die Bilder schöner Florentinerinnen von der Hand der ausgezeichnetsten Maler und Bildhauer und kostbare ausländische Tücher mit Darstellungen der unzüchtigsten Art." (101)
Eine geistfeindliche Tendenz macht sich eben in all diesen Volkserhebungen geltend. Sie hängt tief damit zusammen, daß die Massen zu einer selbständigen, auf Befriedigung ihrer eigenen Interessen abzielenden Politik noch nicht fähig sind und ihre Wünsche auf dem Umweg über fetischisierte Personen und Ideen verinnerlichen müssen. MAX WEBER hat den rationalistischen Zug des bürgerlichen Geistes hervorgehoben, der irrationalistische ist von Anfang an mit seiner Geschichte nicht weniger verknüpft.

Nur kurz sei auf eine weitere Erscheinung hingewiesen, die zu diesem Irrationalismus gehört. Die Jugend, ja die Kinder, spielen in diesen Bewegungen eine eigentümliche Rolle. Wenn jedesmal in Zeiten einer die Entwicklung fesselnden Herrschaft vor allem einzelne junge Menschen sich mit den Unterdrückten solidarisieren und ihr Leben im Kampf gegen die herrschenden Mächte einsetzen, so lassen in jenen bürgerlichen Erhebungen Rudel von Jungen und Mädchen sich andererseits leicht dazu gebrauchen, bei Gewaltakten und Angebereien voranzugehen. Die sogenannte Reinheit und Erleuchtung der Jugend kommt dann, ein weiteres magisches Element, den Zielen des Führers und der Macht seiner Persönlichkeit zugute. FAREL, der Vorgänger und Freund CALVINs, war anläßlich eines Kirchensturms vom Genfer Rat in lauer Form zurechtgewiesen worden. "Allein Gott", sagt der evangelische Berichterstatter, "verachtete die Ratschläge der Weisen und erweckte gegen den Verstand der Großen die unerwachsene Jugend. Noch am Nachmittag desselben Tages fiel ein lärmender Haufen von  kleinen Kindern  in die Domkirche ein und erfüllte,  ohne daß jemand daran dachte,  die Kirche mit wildem Geschrei. Die  Erweckung der Kinder  war das Signal für die Erwachsenen ... Es folgten Szenen des rohesten Vandalismus, Auftritte, wie sie selbst im Reformationszeitalter nicht häufig vorgekommen sind." (102)

SAVONAROLA hat eine regelrechte "Kinderpolizei" gehabt. Sie half ihm bei der Ausübung der Sittenzucht und trug die Konflikte in die einzelnen Familien hinein. (103) Die proletarischen Kinder hielten sich freilich von diesen moralischen Funktionen fern.
    "Die Kinder der untersten Volksschichten gehörten den Scharen  Savonarolas  nicht nur nicht an, sondern bezeigten ihnen im Gegenteil offene Feindseligkeit und versäumten keine Gelegenheit, ihnen einen boshaften Streich zu spielen. Auch am Frater kühlten sie ihr Mütchen, wo sie nur konnten." (104)
Die sentimentale Verhimmelung des Kindes als eines Symbols der Reinheit gehört zu jenen Äußerungen bürgerlichen Geistes, die zugleich Mittel und Ausdruck der erzwungenen Verinnerlichung von Triebregungen sind. Man dichtet dem Kind eine Freiheit von Begierden an, in der die schwere Entsagung, die man selbst zu leisten hat, mühelos verwirklicht ist. (105) Nicht etwa als Träger theoretischer und praktischer Kraft, als Garantie der unendlichen Möglichkeiten des Menschen, sondern als Symbol der "Reinheit", "Unschuld", "Kindlichkeit" bildet die Jugend im bürgerlichen Zeitalter ein Ideal. Die ideologische Beziehung, welche diese Gesellschaft zur Natur überhaupt, nicht bloß zum Kind, gewonnen hat, die Idealisierung der Primitivität, der "unverdorbenen" Natur, der Scholle und des Bauern hängen mit den angedeuteten Mechanismen eng zusammen.

Die französische Revolution scheint sich auf den ersten Blick der hier umrissenen Strukturähnlichkeit bürgerlicher Erhebungen zu entziehen. Bourgeosie und besitzlose Massen hatten ein gemeinsames Interesse, das Ancien Régime zu beseitigen. Wiederholte Massenaufstände gehen voraus, und die durch die Revolution herbeigeführten Zustände haben tatsächlich, bei allen Rückschlägen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Verbesserung der allgemeinen Lage in Stadt und Land geführt. Insbesondere ist die "Demokratisierung des Grund und Bodens" durch eine Veräußerung der nationalisierten Güter in einem gewissen Umfang erreicht worden. (106) Trotz der relativen Interessengemeinschaft des wohlhabenden Bürgertums und der Massen haben sich jedoch die Gegensätze im gesamten Lauf der Revolution geltend gemacht. Charakter und Handlungsweise der großen Führer entsprachen von Anfang an keineswegs einem zu jener Zeit unrealisierbaren homogenen Interesse der Allgemeinheit, sondern dem freilich fortschrittlichen, aber großen Teilen der Bevölkerung gegenüber zur Ausbeutung und Unterdrückung führenden Interesse des Bürgertums. MATHIEZ, der in seinen ausgezeichneten Werken über die französische Revolution ROBESPIERREs Politik bis in die Einzelheiten hinein begründet und verteidigt, läßt diesen Gegensatz deutlich genug hervortreten. Er führt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten während der Revolutionszeit wesentlich auf die Assignatenwirtschaft zurück. Alle sozialen Schichten, welche die sinkende Kaufkraft der Assignaten nicht durch eine Erhöhung von Verkaufspreisen für eigene Waren wettmachen konnten, wurden zu Opfern der Inflation. Sie nahmen den Kampf "gegen die Grausamkeit des  laisser faire [machen lassen - wp] und des  laisser passer [laufen lassen - wp]" auf. Sie setzten dem Recht des Eigentums das Recht zu leben entgegen. Wenn diese städtischen und ländlichen Massen selbst auch keine bedeutenden Führer fanden, erzwangen sie im Verlauf der Revolution schließlich doch eine allgemeine Zwangsbewirtschaftung, vor allem die Festsetzung von Höchstpreisen für Getreide und andere notwendige Konsumgüter. Aber diese Reglementierung, die der Regierung nur unter stärkstem Druck der Massen abgerungen wurde, schloß auch Höchstlöhne mit ein. Wenn das verzweifelte Bemühen der bürgerlichen Kreise gescheitert war, den für die Armen unmöglichen Zustand des freien Marktes während der Inflation, oder ddoch bloß eine teilweise Bewirtschaftung, aufrechtzuerhalten, so geriet die Regierung nunmehr zu den proletarischen Schichten in einen neuen Gegensatz, als sie zugleich mit den Höchstpreisen Maximallöhne festsetzen mußte. Bei der gegebenen Struktur der Gesellschaft und der herrschenden Produktionsweise reichte ohnehin selbst der Terror nicht aus, alle Umgehungen des Gesetzes über die Lebensmittel zu vereiteln. Wenn z. B. in Paris zur Zeit, als die Hebertisten die revolutionären Sektionkomitees beherrschten, die Höchstlöhne weniger rigors eingehalten wurden als die Gesetze über Lebensmittelpreise, so konnte in den Städten des Nordens davon nicht die Rede sein.
    "Man würde sich schwer täuschen", schreibt  Mathiez (107), "wenn man sich einbildete, daß die Revolutionsämter überall mehr Eifer aufwandten, um die Höchstpreise der Lebensmittel zur Anwendung zu bringen. Selbst mitten in der Zeit des Terrors waren die scheinbar am meisten jakobinischen Stadtverwaltungen in den Händen der Besitzenden."
Aber ganz abgesehen von diesen Ungleichmäßigkeiten mußte sich die Regierung durch die ihr von den Verhältnissen aufgezwungene Lohnpolitik die Massen entfremden.

Zu spät entdeckte ROBESPIERRE, daß er ohne große Zugeständnisse an die unteren Schichten seiner revolutionäre Politik nicht zu Ende führen konnte.
    "Am Vorabend seines Sturzes hatte er, von seinen Freunden  Saint-Just  und  Couthon  unterstützt, den Wohlfahrts- und den Sicherheitsausschuß in ihren Sitzungen vom 4. und 5. Thermidor dahin gebracht, daß man endlich die Ventôse (Februar/März)-Verordnungen, die bis dahin nur auf dem Papier geblieben waren, zur Anwendung bringen sollte, Verordnungen, durch welche  Saint-Just  es hatte erreichen wollen, daß man die Verdächtigen (die inneren Feinde) enteignet und ihren Besitz unter die armen Sansculotten verteilt. Dadurch sollte eine völlig neue Klasse geschaffen werden, die alles der Revolution verdankt, weil sie ihr das Eigentum verdankt, und welche die Revolution verteidigen sollte.  Robespierre  hatte die demokratische Politik überschritten. Er war auf dem Weg einer sozialen Revolution, und das war einer der Gründe seines Sturzes." (108)
Diese Gesetze, von denen die bürgerliche Ordnung übrigens nicht angegriffen worden wäre, haben niemals Anwendung gefunden. ROBESPIERREs Unruhe, die ihn dazu antrieb, sie in Erinnerung zu bringen, war jedoch berechtigt. Gegen die Reichen, welche durch die erzwungenen Höchstpreise verärgert waren, hatte er nicht mehr die Unterstützung der Arbeiter. Man hatte teilweise dazu übergehen müssen, ihnen den Wechsel der Werkstätten zu verbieten; auf dem Land mußten Leute zur Erntearbeit kommandiert werden, Koalitionsverbote wurden erlassen. (109)
    "Am 9. Thermidor blieben die Pariser Arbeiter, unzufrieden mit den neuen von der Stadtbehörde an den vorhergehenden Tagen verkündeten Tarifen, gleichgültig gegenüber dem politischen Kampf, der sich vor ihren Augen abspielte. Gerade am 9. Thermidor manifestierten sie gegen die Höchstlöhne ... als  Robespierre  und seine Freunde zur Hinrichtung geführt wurden, riefen die Arbeiter ihnen beim Vorüberfahren zu: hol der Teufel das Maximum!" (110)
ROBESPIERRE ist ein bürgerlicher Führer. Seine Politik hat objektiv einen fortschrittlichen Inhalt; das Prinzip der Gesellschaft, das er vertritt, enthält jedoch den Widerspruch zu seiner Idee einer allgemeinen Gerechtigkeit. Die Blindheit gegen diesen Widerspruch drückt er seinem Charakter trotz aller leidenschaftlichen Vernünftigkeit den Stempel der Phantastik auf. Bereits sein Lehrer ROUSSEAU war in den gleichen Jllusionen befangen. Im zweiten Buch des  Emile (111) erklärt er, die erste Idee, die man dem Kind geben muß, sei "weniger die der Freiheit als die des Eigentums". Das Lob des Eigentums wird an vielen Stelle wiederholt. "Es ist gewiß", heißt es im Artikel über die politische Ökonomie, (112) "daß das Eigentumsrecht das heiligste aller Rechte der Bürger ist und in mancher Beziehung noch wichtiger als die Freiheit selbst." Und er wiegt sich in der Hoffnung, daß eine Regierung ohne Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln "die übergroßer Ungleichheit der Vermögen" verhindern (113), der Armut vorbeugen oder sie zumindest erträglich machen könnte. Ganz ebenso denkt ROBESPIERRE. Es war zu seiner Zeit unmöglich, die immanenten Gesetze der bürgerlichen Wirtschaft, die in der Revolution politisch festgelegt wurde, zu erkennen. Innerhalb des von ROBESPIERRE vertretenen Systems vermochte keine Regierung gegen die anonymen ökonomischen Gewalten die Zuspitzung der sozialen Gegensätze unwirksam zu machen. ROUSSEAUs und ROBESPIERREs persönliche Ideenwelt entsprach unmittelbar der Lage des Kleinbürgertums. Gegen die großen Vermögen hegten sie ein starkes Ressentiment. Das Prinzip des Eigentums zeigte ihnen seine Schattenseiten. Bei ROUSSEAU beginnt mit ihm sogar das ganze Unglück der Menschheit. Trotzdem erklärt er es für heilig.
    "Man brauchte keine Revolution", sagte  Robespierre  in der Nationalversammlung gegenüber sozialistischen Tendenzen (114), "um alle Welt darüber zu belehren, daß die übergroße Ungleichheit der Vermögen die Quelle sehr vieler Übel und Verbrechen ist, aber wir sind, nichtsdestoweniger, überzeugt, daß die Gütergleichheit eine Chimäre ist."
Der Ausruf: "la propriété; que ce mot n'alarme personne" [Eigentum! Diese Wort alarmiert niemanden. - wp] steht am Anfang der gleichen Rede. Wenn jedoch das Eigentum für die französische Revolution ein Menschenrecht ist, so gehört es zu ROBESPIERREs Führerpraxis, seine eigene Genügsamkeit und Armut ins rechte Licht zu rücken. Mit der Gloriole der Armut und der Tugendhaftigkeit überhaupt hat er seine Persönlichkeit ebenso sorgfältig ausgestattet wie COLA und SAVONAROLA die ihrigen mit der göttlichen Gnade. Wenn er versichert, lieber der Sohn des ARISTIDES sein zu wollen, der auf Kosten Athens im Prytaneum erzogen wurde, als der Thronerbe des XERXES (115), so ist das gar nicht so unvernünftig. Versicherungen jedoch wie die, daß er den Überfluß nicht nur als den Preis des Verbrechens, sondern auch als dessen Bestrafung ansehe und arm sein wolle, um nicht unglücklich zu sein (116), gehören bloß zur notwendigen Selbstverherrlichung des bürgerlichen Führers. Ein solches bewußtes Herausstellen der eigenen asketischen Tugenden durch Wort und Lebenswandel bildet eines der wichtigsten irrationalen Mittel zur Steigerung der Persönlichkeit ROBESPIERREs gegenüber seiner Gefolgschaft. Die meisten Geschichtsschreiber haben dieses Verhalten als eine rein psychologische Tatsache dargestellt, ohne sie freilich als eine der Praktiken zu begreifen, welche in der gesellschaftlichen Funktion dieser Politiker begründet sind.
    "Worin liegt das Geheimnis seiner Macht?", fragt  Michelet (117), "in der Meinung, die er allen von seiner unbestechlichen Ehrsamkeit und seiner Unwandelbarkeit hatte beibringen können ... Mit einer bewundernswerten Konsequenz, einer erstaunlichen Taktik, brachte er es fertig, den Ruf dieser Unwandelbarkeit aufrechtzuerhalten. Zum Schluß hielt er ihn durch seine bloße Versicherung aufrecht. Und sein Wort hatte ein solches Gewicht, daß man schließlich die augenscheinlichen Tatsachen leugnete, um als höchste Autorität, entgegen der Wirklichkeit, die Versicherung  Robespierres  anzuerkennen ... Der Glaube an den Priester kehrte wieder, unmittelbar nach  Voltaire.  Dieser Priester leugnete die Natur und machte selbst ene aus seinem Wort. Und diese war hart gegen die andere."
In der Tat besitzt die asketische Haltung ROBESPIERREs magischen Charakter. Er bedient sich ihrer als einer höheren Legitimation.

Auch die Symbole hat er nicht entbehren können. Sie gehören zu seiner Politik und seinem Charakter. Die Kokarden und Fahnen spielen eine große Rolle in der Revolution. Wenn berichtet wird, daß MARAT am Abend der Erhebung vom 10. August 1792 mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf durch die Straßen von Paris zog (118), so war dies gewiß nicht nach ROBESPIERREs Geschmack. Er wandte sich gegen alles exaltierte Wesen, und die vornehmlich von den Hebertisten veranstalteten Feste der Vernunft, die schroff der positiven Religion zuwiderliefen, erweckten seinen Abscheu (119). Zum Fest des höchsten Wesens im Juni 1794, dem er präsidierte und dessen Plan er zusammen mit dem Maler DAVID entworfen, zumindest gebilligt hat, trieb ihn jedoch seine Rolle als bürgerlicher Führer, die zu Massendarbietungen zwingt. Als er das Volk im Tuileriengarten sah, hat er begeistert ausgerufen: "Hier ist die ganze Welt versammelt!" (120) Im Verlauf der Zeremonie steckte er die zu diesem Zweck errichtete Figur des Atheismus mit einer Fackel in Brand. Inmitten der Flamme zeigte sich darauf das Standbild der Weisheit. Für die Veranstalter und ihre Zuschauer war die symbolische Bedeutung damit bestimmt. In Wahrheit zeigt der Kampf des Bürgertums gegen den Atheismus weniger die Weisheit überhaupt, als die Weisheit der Regierung an. Diese Gesellschaft bedarf der Religion als Herrschaftsmittel, weil das allgemeine Interesse sie nicht zusammenhält. Der Weg zum Marsfeld, wo der Nationalkonvent, von einem dazu errichteten Berg aus, Hymnen (121) und nationale Gesänge anhören sollte, wurde in einer feierlichen Prozession zurückgelegt.
    "Die gesetzgebende Versammlung folgte auf eine Gruppe von Greisen, Familienmüttern, Kindern und Jungfrauen.  Robespierre  schritt, in seiner Eigenschaft als Präsident, voran. Er trug eine Nankinghose, einen kornblumenblauen Rock, einen Gürtel mit den Nationalfarben, auf dem Haupt einen Hut, der mit dem Trikoloren-Federbusch geschmückt war, und in der Hand, wie alle seine Amtskollegen, einen Strauß von Ähren, Blumen und Früchten." (122)
Nicht die in den revolutionsfeindlichen Darstellungen gewöhnlich zu unrecht hervorgehobene Seltsamkeit des Aufzugs, sondern der Zwang zu solchen eindrucksvollen und symbolhaften Kundgebungen, denen sich selbst ROBESPIERRE nicht entziehen konnte, ist kennzeichnend für Volksführer. Aus der Höhe seiner revolutionären Kraftentfaltung erinnert das Bürgertum an seine frühesten Erhebungen.
    "Die Verbrüderungsfeste der französischen Revolution in Paris erscheinen in Wahrheit wie eine Nachahmung des Augustusfestes des Volkstribuns von Rom." (123)
Infolge der höchst verschiedenen historischen Situation, in der sich ihre Klasse befand, unterscheiden sich RIENZO und ROBESPIERRE durch eine Welt, - und doch ist etwas in ihrem Wesen identisch, weil die Form der Gesellschaft, der ihre Wirksamkeit im letzten Grund galt, dieselbe ist.

Auch die Diskussion der Historiker, die sich an ihren Namen knüpfen, weisen zuweilen eine merkwürdige Übereinstimmung auf. So bezichtigt COLAs moderner Biograph die Darstellung GREGOROVIUS' der "Irrwege" und einer "polternden Kritik", weil dieser von krankhafter Überreizung, von einem klassischen Karnevalspiel, von einem "wahnsinnigen, mit Blumen bekränzten Plebejer" usw. spricht (124). Wie oft haben ähnliche Äußerungen über ROBESPIERRE die Kritik von Historikern hervorgerufen. MICHELET redet von der "krankhaften Einbildungskraft" des Unbestechlichen (125) und ist nicht sanfter zurechtgewiesen worden als GREGOROVIUS, mit dem er an Kraft der Darstellung, an "theatralischer Pose", wie BURDACH über GREGOROVIUS sich ausdrückt (126), wohl zu vergleichen ist. MICHELET und GREGOROVIUS haben recht und unrecht: bürgerlichen Führern haftet leicht ein Zug der Phantastik an; aber dieser ist nicht allein in ihrer Psychologie, sondern in den Verhältnissen begründet. Mit ihrer Phantastik sind sie so realitätsgerecht, wie es in dieser widerspruchsvollen Gesellschaft möglich ist, die Phantastik ist eine Erscheinungsform ihres Berufs; es gibt kaum einen unter ihnen, der nicht vor oder nach der Erfüllung seiner geschichtlichen Mission zumindest für exaltiert gehalten worden wäre. Die Eigenschaften, die ihn für seine Rolle geeignet machen, das Schwanken zwischen Liebe zum Volk, Strenge und Schrecklichkeit, die Vereinigung der Sanftmut des Kindes mit der Wut des blutigen Rächers, der Trotz des Freiheitshelden und die Ergebung in den Willen höherer Mächte, das Durcheinander von persönlicher Einfachheit, bombastischen Begriffen, Glanz und Sittenstrenge - all dies kann er nur zum Teil bewußt bei der je passenden Gelegenheit zur Schau tragen, er muß diese widerspruchsvolle Anlage schon mitbringen, sein Charakter ist für seine Leistung präformiert. Alle diese Widersprüche sind auch in der durchschnittlichen bürgerlichen Existenz enthalten. Der vorsichtige, besonders "rechnerische" Geschäftsmann, im Kleinsten ein Muster von Wirklichkeitssinn, Genauigkeit und Sparsamkeit, neigt, zumindest insgeheim, zu unwahrscheinlichen, romantischen Unternehmungen, tritt zuweilen mit den abenteuerlichsten Vorstellungen hervor. Der Führer ist nur der potenzierte Typus. Seine charakterologische Struktur entspricht der Gefolgschaft. Die Massenschundliteratur des Zeitalters enthält dasselbe unvermittelte Durcheinander von Blutrausch und Tugend, Großsprecherei und Bescheidenheit, das auch im Führer angebetet wird. In seiner Person ist diese Mischung "naturgewachsen". Es wird erzählt, wie der Fürst JOHANN COLONNA sich zuweilen damit vergnügte, den Notar RIENZO zur Tafel zu laden und Reden halten zu lassen.
    "Die vornehmen Herren brachen in Gelächter aus, als er einst sagte: Wenn ich Herrscher oder Kaiser geworden bin, so will ich diesen Baron hängen und jenen köpfen lassen, und er wies mit Fingern auf die Gäste. Er ging in Rom einher als ein Narr ... Niemand ahnte, daß dieser Narr sehr bald die furchtbare Macht besitzen sollte, die Köpfe der römischen Großen von ihren Schultern springen zu machen." (127)
Mit den Reformatoren teilt ROBESPIERRE die Feindschaft gegen die erotische Kultur. Das fortwährende Dringen auf Reinheit der Sitten und die damit verbundene Sucht, überall Schmutz aufzudecken, ist von seiner Politik nicht abzulösen. Sie sehen überall Unrat, physischen und moralischen. Müßiggang, Menschen mit lockeren Sitten, eine Haltung, die sich zu Genuß und Glück bekennt, sind ihnen verhaßt. Wenn der Genfer ROUSSEAU in seinem Brief an d'ALEMBERT gegen das Theater eifert und erklärt, daß es ein "amusement" sei, und müsse der Mensch schon "amusements" haben, so solle man wenigstens nur dulden, soweit sie unbedingt notwendig sind, - "jedes unnötige amusement sei ein Übel für ein Wesen, dessen Leben so kurz und dessen Zeit so wertvoll ist", (128) - wenn ROBESPIERREs Meister diesen Haß gegen die Lust propagiert, so kann er sich auf illustre Genfer Vorgänger berufen. Wenn auch CALVIN im Gegensatz zu einigen seiner radikaleren Unterführer der Meinung war, "man dürfe dem Volk nicht alle Ergötzlichkeiten vorenthalten," (129) so wurden doch unter seiner Herrschaft Tanz, Spiel, öffentliche und private Freudenfeste entweder vollständig untersagt oder an Bedingungen geknüpft, die einem Verbot fast gleichkamen. (130) Auch Theateraufführungen mit "einer guten Tendenz" (131) wurden zwar nicht auf seine Initiative, aber durch die von ihm geleitete Kongregation aus prinzipiellen Bedenken bekämpft.
    "Wie es erwartet werden konnte", heißt es in einer modernen Studie über  Robespierre  (132), "benutzte er seine Macht auch dazu, allgemeine Moralität zu erzwingen.  Maximilien  und  Couthon,  die oft miteinander zu Mittag aßen, stellten ein stark puritanisches Element im Ausschuß dar. Im Oktober ermutigten sie die  Commune  in ihrem Bestreben, die Welle von Unsittlichkeit, die Paris überschwemmt hatte, zu brechen. Sie erwirkten mittels Verordnung des Ausschusses die Inhaftierung des Schriftstellers und des Eigentümers eines Theaters, wo man ein unanständiges Stück spielte."
Gewiß verhält sich ROBESPIERRE nicht bloß infolge des allgemeinen historischen Fortschritts, der inzwischen stattgefunden hat, sondern auch durch seine exponierte Politik auf dem linken Flügel des Bürgertums, unendlich viel positiver zu Theorie und Vernunft als LUTHER und die Seinen. Doch gilt ebenfalls für ihn die Regel, daß die bürgerlichen Volksführer hinter die Erkenntnis der Schriftsteller zurückfallen, die ihnen den Weg bereiten. Er war sehr kritisch gegen die Aufklärung.
    "Tugend und Begabung sind beides notwendige Eigenschaften, aber Tugend ist die notwendigste. Tugend ohne Talente kann immer noch nützlich sein. Talente ohne Tugend sind nur ein Unglück." (133)
In der oben zitierten Rede vom 18. Floréal 1794 eiferte er gegen den Materialismus des Altertums und der Neuzeit, vor allem gegen die Epikuräer und Enzyklopädisten. Nach einem höchst gewagten Ausflug in die Geschichte der Philosophie macht er es den letzteren zum Vorwurf, daß sie gegen den Despotismus schrieben und sich von ihm pensionieren ließen, Bücher gegen den Hof verfaßten und sie den Königen widmeten. ROBESPIERRE unterzieht die materialistische Philosophie einer Kritik, weil sie
    "den Egoismus in ein System gebracht hat, die menschliche Gesellschaft als einen Kampf von List und Heimtücke betrachtet, den Erfolg als das Ergebnis eines Krieges zwischen Gerechten und Ungerechten, die Ehrlichkeit als eine Angelegenheit des Geschmacks und der Bequemlichkeit, die Welt als das Erbteil geschickter Halunken." (134)
Er spielt ROUSSEAU gegen den Kreis VOLTAIREs aus, bei dem der Genfer Moralist freilich recht verhaßt gewesen ist. Aber die von ROBESPIERRE verworfene harte Schilderung der Welt entsprach der Wirklichkeit genauer als sein eigener Glaube, demzufolge nach einer Befestigung der bürgerlichen Ordnung die Gerechtigkeit von der Umkehr zur Tugend abhängt, ein Idealismus, der von ROBESPIERRE historischer Aufgabe allerdings nicht zu trennen ist. Bei seinem Sturz hat diese Ansicht gegenüber dem verschmähten Geist des Materialismus ihren Mangel gezeigt.


III. Der Egoismus in der Wirklichkeit

Um die geschichtlichen Bedingungen des rücksichtslosen Egoismus hervortreten zu lassen, der im Gegensatz zur offiziellen Moral der neueren Zeit einen Wesenszug des alltäglichen Lebens bildet, wurde im Obigen auf einige nicht alltägliche Vorgänge hingewiesen. Von den ausgezeichneten Stellen seiner Entfaltung, den Revolutionen, verbreitet sich über den bürgerlichen Geist im Ganzen ein Licht, das auch der Analyse des normalen Zustandes zugute kommt. Es erhebt sich die Frage, warum es überhaupt dieser historischen Betrachtung bedurfte. Die Ableitung der seelischen und intellektuellen Beschränktheit des vorherrschenden Charakters erscheint als einfach genug. Die bürgerliche Gesellschaft beruth nicht auf einer bewußten Zusammenarbeit für das Dasein und Glück ihrer Mitglieder. Ihr Lebensgesetz ist ein anderes. Jeder meint, für sich selbst zu arbeiten und muß auf seine Erhaltung bedacht sein. Es gibt keinen Plan, der festlegt, wie das allgemeine Bedürfnis befriedigt werden soll. Indem jeder versucht, solche Dinge bereitzustellen, gegen die er sich andere, die er braucht, beschaffen kann, wird die Produktion gerade noch so reguliert, daß sich die Gesellschaft in der gegebenen Form entwickeln kann. Je mehr im Verlauf der Jahrhunderte eine bessere, rationalere Regelung technisch in den Bereich der Möglichkeit rückt, desto größber und umständlicher erweist sich dieses "feine" Instrument, der Markt, der nur unter einem ungeheuren Verlust an Menschenleben und Gütern die Reproduktion der Gesellschaft vermittelt und mit der Fortentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft die Menschheit trotz ihres wachsenden Reichtums nicht vor dem Rückfall in die Barbarei bewahren kann. Schon aus diesem Tatbestand, daß während der Epoche, die das Individuum emanzipiert, der Mensch in der grundlegenden wirtschaftlichen Sphäre sich selbst als isoliertes Subjekt von Interessen erfährt und nur durch Kauf und Verkauf mit anderen in Verbindung tritt, ergibt sich die Fremdheit als anthropologische Kategorie. Wenn die kennzeichnende Philosophie des Zeitalters den Menschen als in sich abgeschlossene Monade in transzendentaler Einsamkeit begreift, die mit jeder anderen Monade nur durch komplizierte, ihrem Willen entzogene Mechanismen in Verbindung steht, so erscheint hier die Existenzform des bürgerlichen Menschen in den Begriffen der Metaphysik. Jeder bildet selbst den Mittelpunkt der Welt, und jeder andere ist "draußen". Jede Kommunikation ist ein Handel, eine Transaktion zwischen solipsistisch konstruierten Bereichen. Das bewußte Sein dieser Menschen läßt sich auf eine kleine Anzahl von Relationen zwischen festen Größen reduzieren. Die Sprache der Logistik ist sein angemessener Ausdruck. Aus dieser Grundstruktur der Epoche leiten sich ohne weiteres Kälte und Fremdheit her: der Unterdrückung und Vernichtung des Mitmenschen steht im Wesen des bürgerlichen Individuums nichts entgegen. Der Umstand vielmehr, daß in dieser Welt jeder dem anderen zum Konkurrenten wird und selbst bei steigendem gesellschaftlichen Reichtum es der Menschen in steigendem Maß zuviele gibt, verleiht dem typischen Individuum der Epoche jener Charakter der Kälte und Gleichgültigkeit, der sich angesichts der ungeheuerlichsten Taten, wenn sie nur seinem Interesse entsprechen, mit der erbärmlichsten Rationalisierung zufrieden gibt.

Die obigen Darlegungen betrafen bloß einige Momente der historischen Verwirklichung des bürgerlichen Prinzips. Sie versuchten, die Lehre vom bürgerlichen Menschen, die sich aus der rein theoretischen Ableitung ergibt, im Hinblick auf den Zug der Grausamkeit konkreter zu gestalten, als es bei rein logischer Ableitung möglich ist. Wenn von Grausamkeit anläßlich jener Erhebungen nicht im Besonderen die Rede war, so ist doch nichts an ihnen bekannter als dies. Gewiß sind die gegenrevolutionären Rückschläge in der Regel unendlich viel blutiger gewesen, als selbst die rasch verschwindende Hoffnung auf eine durchgreifende Veränderung, die in den bürgerlichen Revolutionen dem Ressentiment entgegenwirkt, fällt hier ganz weg, die fortschrittlichen Elemente sind entmachtet, sie bilden das Hauptziel des Terrors. Aus einem besonderen Faktor, der, wenn auch noch nicht zum völligen Selbstbewußtsein erwacht, doch die Entwicklung vorwärtszutreiben strebt und daher eine eigene Rolle spielt, sinkt die Masse weitgehend zum bloßen Werkzeug der Rache an den avanciertesten Gruppen herab. In der bürgerlichen Revolution wird die Masse, wenn auch in wechselnder Stärke und stets schwankend, von ihrem bewußteren Flügel her bestimmt, sie ist differenziert und wachsam. Sie muß ständig beobachtet, überredet, ernst genommen werden. Sie ist nicht im gleichen Sinn Masse wie in der Gegenrevolution. Hier pflegt der "Mob" aufzutreten, der bis in die psychische Struktur seiner Einheiten hinein von der Masse in den Revolutionen verschieden ist. Die Frage, ob die Erhebungen, die sich in der jüngsten Vergangenheit in einigen europäischen Staaten vollzogen haben, mehr der einen oder anderen Art von historischen Vorgängen zuzurechnen sind, die ohnehin zuweilen einen ähnlichen Charakter haben und schließlich alle Phasen eines einzigen Prozesses, einer in sich zusammenhängenden Totalität bilden, läßt sich nicht so leicht beantworten, wie es einer liberalistischen Betrachtungsart wohl schein mag. Es handelt sich jedenfalls nicht um absolutistische oder klerikale Rückschläge, sondern um die Inszenierung einer bürgerlichen Pseudorevolution mit radikalen völkischen Allüren, entgegen einer möglichen Neuordnung der Gesellschaft überhaupt. Ihre Formen wirken wie ein schlechter Abklatsch der Bewegungen, von denen die Rede war.

Die Rolle des bürgerlichen Führers als Funktionär besitzender Schichten, die Ausstattung seiner Persönlichkeit mit magischen Qualitäten gegenüber den Massen, sein "Charisma", die Wichtigkeit von Symbolen und Festen, das Übergewicht der Rede über das Tun, der Ruf zu innerer Erneuerung, die Ablösung der alten Bürokratie, die persönlichen Kämpfe zwischen Aspiranten auf Eliteposten, das weitgehend psychisch bestimmte Verhältnis von Führern, Unterführern und Gefolgschaft, die religiöse und nationale Ergriffenheit, die Verankerung des Unterschieds von reich und arm im ewigen Wesen der Welt - all dies sind Äußerungen derselben Dynamik: Massen, die unter den Losungen der Freiheit und Gerechtigkeit und mit einem ungeheuren dumpfen oder hellen Drang nach Besserung ihrer Lage, nach einem sinnvollen Dasein, Frieden und Glück in Bewegung geraten sind, werden in eine neue Phase der Klassengesellschaft eingegliedert. Gewiß ist dies nur eine Seite des Gesamtvorgangs. Die andere ist der sich gerade in jenen Revolutionen sprunghaft vollziehende Fortschritt eben dieser Gesellschaft, in der so und nicht anders die Voraussetzungen einer höheren sozialen Ordnung entwickelt werden. Aber jenes negative Moment hat solange die Epoche andauert, seine eigenen anthropologischen Konsequenzen. Indem der Egoismus der vom bürgerlichen Führer geleiteten Massen sich nicht befriedigen darf, indem ihre Forderungen zurückgedrängt werden auf innere Läuterung, Gehorsam, Ergebung, Opferbereitschaft, indem Liebe und Anerkennung vom Individuum weg zu dem zu einem Popanz aufgebauschten Führer, zu erhabenen Symbolen, großen Begriffen gerichtet und das eigenes Sein mit seinem Anspruch vernichtigt wird - dahin tendiert die idealistische Moral -, wird auch das fremde Individuum als ein Nichts erfahren und das Individuum überhaupt, sein Genuß und Glück, verachtet und verneint.

Das Gefühl der eigenen absoluten Nichtigkeit, das die Mitglieder der Masse beherrscht, entspricht exakt der puritanischen Ansicht,
    "daß praktischer Erfolg zugleich das Zeichen und den Lohn der ethischen Überlegenheit bedeutet ... Die Lehre, Elend sei ein Beweis von Schuld, obgleich sie ein seltsames Licht auf das Leben der christlichen Heiligen und den Weisen wirft, ist stets bei den Reichen beliebt gewesen." (135)
Daß der Arme in Wirklichkeit nichts wert ist, wird ihm jeden Tag aufs Neue demonstriert; im Grunde weiß er es von Anfang an. Die herrschende Ideologie enthält zwar meist das Gegenteil, aber die tieferen seelischen Schichten der Menschen werden nicht von ihr allein, sondern ebensosehr von der stetigen Erfahrung der widersprechenden Wirklichkeit bestimmt. Die manifeste Ideologie ist nur ein Moment beim Zustandekommen der für die Gesellschaft typischen Charaktere. Der Humanismus, der die Geschichte des neueren Geistes durchzieht, zeigt ein doppeltes Gesicht. Er bedeutet unmittelbar die Verherrlichung des Menschen als des Schöpfers seines eigenen Schicksals. Die Würde des Menschen liegt in seiner Kraft, unabhängig von den Mächten der blinden Natur in und außerhalb von ihm, sich selbst zu bestimmen, sie liegt in seiner Macht zu handeln. In der Gesellschaft, in der dieser Humanismus Ausbreitung fand, ist jedoch die Macht der Selbstbestimmung ungleich verteilt, denn die inneren Energien hängen jedenfalls nicht weniger vom äußeren Schicksal ab als dieses von den Energien. Je weiter der vom Humanismus verklärte abstrakte Begriff des Menschen von ihrer wirklichen Lage entfernt war, desto erbärmlicher mußten die Individuen der Masse sich selbst erscheinen, desto mehr bedingte die idealistische Vergottung des Menschen, die in den Begriffen der Größe, des Genies, der begnadeten Persönlichkeit, des Führers usw. sich bekundet, die Selbsterniedrigung, Selbstverachtung des konkreten Einzelnen. Im Einzelnen spiegelt sich dabei die Realität nur wider. Wenn selbst der Glücklichste im nächsten Augenblick nicht durch die blinden Mächte der Natur, sondern aus Ursachen innerhalb der menschlichen Gesellschaft ohne ersichtliche Schuld dem Elendesten und Ärmsten gleich werden kann und das Unglück der einzig normale nicht ungewisse Zustand ist, so kann es mit dem konkreten Individuum nicht sehr weit her sein. Stündlich bestätigt die Gesellschaft aufs Neue, daß nur die Umstände, nicht die Personen tatsächliche Respekt verdienen. Die Reformation mit ihrem die Menschen moralisch zermalmenden Pathos, ihrem Haß gegen die Eitelkeit des Erdenwurms, ihrer finsteren Lehre von der Gnadenwahl ist nicht so sehr die Gegnerin des bürgerlichen Humanismus als seine andere, seine menschenfeindliche Seite. Sie ist der Humanismus für die Massen, er selbst die Reformation für die oberen Tausend.

Die Notwendigkeit, den größten Teil der Gesellschaft durch geistige Praktiken zu einem Verzicht zu bewegen, der nicht unmittelbar durch die äußere Natur, sondern durch die klassenmäßige Organisation der Gesellschaft bedingt ist, gibt den gesamten kulturellen Vorstellungen des Zeitalters einen ideologischen Charakter, der in einem Mißverhältnis zu der aufgrund der technischen Entwicklung möglichen Erkenntnis steht. Auch bei einer Organisation, in der einzig die noch nicht beherrschte äußere Natur und nicht soziale Verhältnisse die menschliche Freiheit beschränken, zwängen die naturbedingten Grenzen dazu, einen Teil der äußeren Wünsche und Bedürfnisse zu verinnerlichen, und trieben zur Transformation der Energien. Soweit dann andere Triebziele, andere Befriedigungen und Freuden sich entwickeln, werden diese völlig den Charakter des Höheren, Edleren, Erhabenen entbehren, der heute alle spirituellen, alle sogenannten kulturellen Strebungen gegenüber den materialistischen, nicht verinnerlichten Triebregungen bekleidet. Die medizinmännische Gewichtigkeit, die infolge der antagonistischen Verfassung der Gesellschaft dem gesamten Leben in allen nicht wirtschaftlichen Sphären anhängt, verschwindet mit den Fetischen, mittels deren die Massen bei der Stange gehalten werden und um deren Begründung, Kultivierung, Propagierung dieses Leben zentriert ist. Die Rettung ästhetischer, literarischer, philosophischer Elemente der vergangenen Epoche bedeutet nicht die Konservierung des ideologischen Zusammenhangs, in dem sie standen. Der affirmative Charakter der Kultur, gemäß welchem über der wirklichen Welt das Sein einer ewig besseren behauptet wurde, dieser falsche Idealismus fällt ganz weg, aber der Materialismus, der übrigbleibt, ist nicht der bürgerliche der Gleichgültigkeit und Konkurrenz; die Voraussetzungen dieses groben atomistischen Materialismus, welcher unter der Herrschaft jenes Idealismus die eigentliche Religion der Praxis war und ist, werden dann dahingefallen sein. Mit dem Wort vom Reich der Freiheit ist nicht gemeint, daß dieses Treiben, zu dem sich die Kultur nun ausgewachsen hat, in einem "geläuterten" Zustand sich ausbreiten und, wie man zu sagen pflegt, dem "ganzen Volk" zugute kommen soll. Diese undialektische Ansicht, die den Kulturbegriff des Bürgertums, die asketische Rangordnung, seinen Begriff von Sittlichkeit naiv herübernimmt und seine größten artistischen Leistungen verkennt, hat die Reformbestrebungen auch fortschrittlicher Parteien des 19. Jahrhunderts bis heute beherrscht, das Denken verflacht und schließlich mit zur Niederlage beigetragen. Mit zunehmender Auswegslosigkeit der Lage der Massen bleibt dem Individuum schließlich die Wahl zwischen zwei Verhaltensweisen: der bewußte Kampf gegen die Zustände der Wirklichkeit, - in ihm ist das positive Element der bürgerlichen Moral, die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit unmittelbar enthalten, aber seine ideologische Hypostasierung [einer Idee wird gegenständliche Realität zugeschrieben - wp] aufgehoben. Oder das ungebrochene Bekenntnis zu dieser Moral und der ihr entsprechenden Rangordnung, - dies führt zur geheimen Verachtung der eigenen konkreten Existenz und zum Haß gegen das Glück der anderen, zu einem Nihilismus (136), der sich in der Geschichte der neueren Zeit als die praktische Vernichtung all dessen, was froh und glücklich ist, als Barbarei und Zerstörung immer wieder geäußert hat.

In ausgezeichneten historischen Augenblicken kommt dieser bürgerliche Nihilismus in der spezifischen Form des Terrors zum Ausdruck. In der bisherigen Geschichte hat der Terror zu bestimmten Perioden ein Mittel der Regierung gebildet. Allein, es sind verschiedene Elemente dabei zu unterscheiden. Sein rationales Ziel besteht darin, den Gegner einzuschüchtern. Die grauenvolle Akte gelten dem Feind, sind Schutzmaßnahmen nach außen und innen. Der Terror verfolgt jedoch auch eine andere Absicht, die seinen Urhebern nicht immer ins Bewußtsein kommt, seltener von ihnen zugestanden wird: die Befriedigung der eigenen Gefolgschaft. Soweit selbst in so fortschrittlichen Bewegungen wie der französischen Revolution dieses zweite Element eine Rolle spielt, entspricht es jener tiefen Verachtung, jenem Haß gegen das Glück überhaupt, das mit dem moralisch vermittelten Zwang zur Askese verbunden ist. Die Predigt von der ehrenvollen Armut, die den Alltag dieses Zeitalters begleitet, das doch den Reichtum zu seinem Gott gemacht hat, eine Predigt, die sich im Verlauf der Erhebung schließlich verstärkt und den Grundton noch der freiheitlichsten bürgerlichen Führerrede bildet, heißt für den tiefsten Instinkt der Zuhörer, daß nach der Wiederkehr der Ordnung nicht ein neues sinnvolles, freudiges Dasein beginnt und das Elend wirklich ein Ende hat - dann bedürfte es keines Terrors zu ihrer Befriedigung -, sondern die Rückkehr zu einer schweren Arbeit, zu einem schlechten Lohn und die tatsächliche Unterordnung und Ohnmacht gegenüber jenen, die keine Opfer bringen müssen, um ehrlich zu sein. Die Gleichheit, welche die Individuen der Masse als gerecht empfinden und fordern, ist dann die allgemeine Erniedrigung zu einem kargen Leben, das man ihnen so emphatisch anpreist. Wenn der Genuß oder vielmehr schon die Genußfähigkeit, die sie seit ihrer Jugend in sich bekämpfen mußten, so verderblich sind, dann sollen auch die, welche dieses Laster verkörpern und in ihrem ganzen Wesen, in Aussehen, Kleidung und Haltung an es erinnern, ausgelöscht werden, damit das Ärgernis verschwindet und der eigene Verzicht bestätigt wird. Es müßte ja das ganze Leben jedes dieser Individuen der Masse ihm selbst als verfehlt erscheinen, wenn sich herausstellte, daß der Genuß wirklich etwas wert ist und die Aureole [Heiligenschein - wp] der Entsagung bloß in der Einbildung besteht. Durch die ungeschickten und Gehetzten Versuche noch mitzunehmen, was möglich ist, durch die Nachahmung von Orgien, wie er sie sich vorstellt, dokumentiert der eines Tages zur Macht gekommene kleine Mann dieselbe innerliche Angst wie der eigensinnig tugendhafte Parvenu [Emporkömmling - wp] , sein Leben zu verfehlen. Es geht eben immer um die Seele. Getrieben von heimlicher Neugierde und einem unauslöschlichen Haß, suchen die Menschen das Verbotene hinter dem, was ihnen fremd ist, hinter jeder Tür, in die sie nicht hineinspazieren können, in harmlosen Vereinen und Sekten, Klostermauern und Palästen. Der Begriff des Fremden wird dem des Verbotenen, Gefährlichen, Verworfenen synonym, und die Feindschaft ist umso tödlicher, als ihre Träger fühlen, daß dieses Verbotene kraft ihres eigenen erstarrten Charakters für sie selbst unwiederbringlich verloren ist. Kleinbürgerliches Ressentiment gegen den Adel und Judenhaß haben ähnliche seelische Funktionen. Hinter dem Haß gegen die Kurtisane, der Verachtung gegen die aristokratische Existenz, der Wut über jüdische Unmoral, über Epikuräismus und Materialismus, steckt ein tiefes erotisches Ressentiment, das den Tod ihrer Repräsentanten verlangt. Sie sind, möglichst unter Qualen, auszulöschen, denn der Sinn der eigenen Existenz wird jeden Augenblick durch die ihrige in Frage gestellt. In den Orgien der Aristokratie, der Weibergemeinschaft in aufständischen Städten, dem Blutrausch der Anhänger einer bekämpften Religion - in solchen ihren Opfern angedichteten Taten - verrät jene Tugen ihren eigenen Traum. Es ist nicht so sehr die Seltenheit des Luxus, welche die ideologisch beherrschte Masse in Bewegung setzt, wie die Möglichkeit des Luxus überhaupt. Dieser wird nicht darum wesentlich für dreist gehalten, weil es Armut gibt, sondern weil die Armut besser ist er dieser. Daß alle gleichermaßen nichts sind und darauf reduziert werden, sobald sie meinen, mehr zu sein -, diese Brutalität gegenüber dem persönlichen Schicksal, die in der bürgerlichen Welt für die meisten das Gesetz ist, stellt die Guillotine jedermann vor Augen und gibt der Masse dazu noch das selige Gefühl der Allgewalt, indem ihr eigenes Prinzip zur Macht gelangt. Die Guillotine symbolisiert die negative Gleichheit, diese schlechteste Demokratie, die mit ihrem eigenen Gegensatz, der völligen Mißachtung der Person identisch ist. Entsprechend tritt in den Gefängnissen und Tribunalen der bürgerlichen Freiheitsbewegungen und Gegenrevolutionen zur Grausamkeit noch die moralische Erniedrigung, Beschimpfung und Beleidigung der Verdächtigen als kennzeichnende Behandlungsart. Zwei Bedeutung habt "Gleichmachen": das, was unten ist, heraufbringen, den höchsten Anspruch auf Glück bewußt als Maßstab der Gesellschaft setzen, oder aber herabziehen, das Glück durchstreichen, alles auf das gegenwärtige Elend der Masse herunterbringen. Auch den befreienden und für die Menschheit entscheidenden Erhebungen dieses Zeitalters haftet noch etwas von dieser zweiten Bedeutung an. In den Massen [broch] wirken beide Tendenzen, und oft genug liegen sie im Streit. Wenn in den Gegenrevolutionen ausschließlich die negative zur Wirksamkeit gelangte, so hat freilich auch die positive, über die Struktur der Epoche hinausweisende bereits den Charakter einiger historischer Erscheinungen überwiegend bestimmt.

Trotzdem braucht man nicht die von wilder Gegnerschaft eingegebenen Schilderungen TAINEs zu lesen (137), um auch im Terror der französischen Revolution die Äußerungen jenes Nihilismus zu erkennen. Klarer als die Zusammenstellung furchtbarer Ereignisse spricht der "philosophische Polizeimann  Dutard",  den MATHIEZ zitiert, die Bedeutung des Terrors für die Massen aus. In seinem Bericht über die Hinrichtung von zwölf Verurteilten führt er aus:
    "Ich muß Ihnen sagen, daß diese Hinrichtungen in der Politik die größten Wirkungen hervorrufen, aber die wichtigsten bestehen darin, das Ressentiment des Volkes wegen der von ihm ertragenen Übel zu beruhigen. Es übt dadurch seine Rache aus. Die Frau, die ihren Gatten verloren hat, der Vater, der seinen Sohn verloren hat, der Kaufmann, der kein Geschäft mehr hat, der Arbeiter, der alles so teuer bezahlt, daß sein Lohn sich beinahe auf nichts reduziert, lassen sich nur herbei, sich mit den Übeln, die sie bedrücken, zu versöhnen, wenn sie Menschen sehen, die noch unglücklicher sind als sie und in denen sie glauben, ihre Feinde zu erblicken." (138)
MARX und ENGELS haben die verächtliche Seite des Terrors der französischen Revolution nicht übersehen. "Der ganze französische Terrorismus", heißt es in der  Neuen Rheinischen Zeitung (139), "war nichts als eine plebejische Manier, mit den Feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum fertig zu werden." Und im Jahre 1870 schreibt ENGELS:
    "La terreur, das sind großenteils nutzlose Grausamkeiten, begangen von Leuten, die selbst Angst haben, zu ihrer Selbstberuhigung. Ich bin überzeugt, daß die Schuld der Schreckensherrschaft von 1793 fast ausschließlich auf den überängsteten, sich als Patrioten gebärenden Bourgeois, auf den kleinen Spießbürger und auf den bei der  terreur  sein Geschäft machenden Lumpenmob fällt." (140)
Wenn ENGELS den Terror hier vor allem als eine lächerliche Übertreibung des rationalen Zwecks versteht, so liegt in seinem Abscheu vor dem Kleinbürger und Lumpenmob auch der Hinweis auf die gesellschaftlich bedingte sadomasochistische Verfassung dieser Schichten, die nicht weniger am französischen Terror schuld war als die Aktivität der Gegner.

Angesichts des unabsehbaren Aufschubs einer wirklich durchgreifenden und dauernden Verbesserung für die Armen und der Gewißheit, daß die reale Ungleichheit trotz der Phrase der Gleichheit weiterdauern wird, haben die Führer das Richtige getroffen und der Masse anstatt des Glücks des Allgemeinen das Unglück des Besonderen geboten. Die schöne CLAIRE LACOMBE spielte seit dem Aufstand vom 10. August, bei dem sie sich ausgezeichnet hatte, eine gewisse Rolle in der Revolution. Diese Schauspielerin stand der radikalen Linken nahe und besaß entscheidenden Einfluß bei den revolutionären Frauen. Als sie mit ROBESPIERRE und den Seinen in Konflikt geriet, kündigte man schon vor ihrer endgültigen Festnahme den Vollzug mit folgen Worten an:
    "Die Frau oder das Mädchen  Lacombe  ist endlich im Gefängnis und außerstande gesetzt zu schaden; diese bacchantische Konterrevolutionärin trinkt jetzt nichts mehr als Wasser; man weiß, daß sie sehr den Wein liebte, daß sie nicht weniger das gute Essen und die Männer liebte; Beweis: die intime Freundschaft, die zwischen ihr,  Jacques Roux, Leclerc  und Genossen herrschte." (141)
ROBESPIERRE hat diesen kleinbürgerlichen Geist in seiner Politik weitgehend repräsentiert. Persönlich war er durch seine asketische Struktur dazu disponiert, doch auch die große fortschrittliche Bedeutung der Revolution drückt sich in seinem Charakter aus.
    "Das Volk", heißt es in seinen Aufzeichnungen (142), "welches Hindernis steht seiner Belehrung entgegen? Das Elend. Wann wird das Volk denn aufgeklärt sein? - Wenn es Brot haben wird und die Reichen sowie die Regierung aufhören, niederträchtige Federn und Zungen zu kaufen, um es zu täuschen. Wenn ihr Interesse mit dem des Volkes verschmolzen ist. Wann wird ihr Interesse mit dem des Volkes verschmolzen sein? - Niemals."
Aber diese Sätze reichten tatsächlich über die von ihm geleitete Bewegung hinaus. In seinem Manuskript hat er sie durchgestrichen. - Ebenso war SAINT-JUST zu einer großen Einsicht gelangt: "Das Glück ist in Europa eine neue Idee." (143) Er äußerte sie im Zusammenhang mit jenen Gesetzen, die den Sturz seiner Regierung bedingten. Nach dem Thermidor wurde nicht das Glück, sondern der gesetzlose, unbeschränkte Terror auf die Tagesordnung gesetzt.

Die Analyse der psychischen Mechanismen, durch die Haß und Grausamkeit erzeugt werden, ist in der modernen Psychologie hauptsächlich von FREUD angebahnt worden. Der Begriffsapparat, den er in seinen ersten Arbeitsperioden geschaffen hat, vermag wichtige Dienste beim Verständnis dieser Prozesse zu leisten. Aus seiner ursprünglichen Lehre leuchtet ein, daß die gesellschaftlichen Verbote unter den gegebenen Familiären und allgemeinen sozialen Bedingungen dazu geeignet sind, den Menschen auf einer sadistischen Triebstufe festzuhalten oder ihn dahin zurückzuwerfen. Seine Lehre von den Partialtrieben, von der Verdrängung, der von BLEULER übernommene Begriff der Ambivalenz usw. bilden die Voraussetzung für ein psychologisches Verständnis des in Rede stehenden Vorgangs, wenn FREUD selbst auch diese Anwendung im einzelnen nicht vorgenommen hat. (144) Ohne die psychoanalytische Betrachtungsweise läßt sich die Transformation der psychischen Energien bei der Verinnerlichung heute nicht begreifen. Während jedoch die FREUDschen Kategorien ursprünglich einen dialektischen Charakter zeigten, indem sie auf die Konstruktion des Einzelschicksals in der Gesellschaft bezogen blieben und die Wechselwirkung zwischen äußeren und inneren Faktoren spiegelten, ist in den späteren Jahren das historische Moment in seiner Begriffsbildung zugunsten des rein biologischen mehr und mehr zurückgetreten. Heute scheint es, als ob jener dialektische Charakter der Theorie auch in den früheren Arbeiten sich unabhängig vom Willen des positivistisch orientierten Autors eingeschlichen hätte. Je mehr er sich umfassenderen soziologischen, geschichtlichen oder philosophischen Problemen nähert, desto deutlicher tritt der liberalistische und weltanschauliche Zug seines Denkens hervor. Aus seiner Lehre vom Narzißmus folgt bereits, daß die Liebe erklärungsbedürftiger ist als der Haß. Dieser
    "ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehung der reizspendenden Außenwelt von Seiten des narzisstischen Ichs." (145)
Späterhin ist der Trieb zur Zerstörung, "die angeborene Neigung des Menschen zum  Bösen,  zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit" (146) als eine unmittelbar biologisch bestimmte Grundtatsache des Seelenlebens gesetzt worden. FREUD nimmt an,
    "es müsse außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen anderen, ihm gegensätzlichen, geben, der diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen strebe. Also außer dem Eros einen Todestrieb." (147)
Der "Sinn der Kulturentwicklung" sei der "Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb ..., wie er sich an der Menschenart vollzieht." (148)

Aus diesem allgemeinen Schema FREUDs ergibt sich seine einfache Geschichtsphilosophie. Infolge der "primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander" (149) ist die Kulturgesellschaft ständig vom Zerfall bedroht und eine dauernde Verbesserung der sozialen Zustände unmöglich. Alle Arten von Zwang, die Gesetze, ferner auch Moral und Religion sind Versuche, den Folgen des ewigen Destruktionstriebes zu begegnen. Es wird ständig einer "Elite" bedürfen, um die zerstörungssüchtigen Massen im Zaum zu halten. In der Geschichte empfangen wir den Eindruck,
    "die ideellen Motive hätten den destruktiven Gelüsten nur als Vorwand gedient, andere Male, z. B. bei den Grausamkeit der heiligen Inquisition, meinen wir, die ideellen Motive hätten sich im Bewußtsein vorgedrängt, die destruktiven ihnen eine unbewußte Verstärkung gebracht. Beides ist möglich." (150)
Sicher ist jedenfalls, "daß es keine Aussicht gibt, die aggressiven Neigungen der Menschen abschaffen zu wollen." (151) Wenn nach FREUD das Leben gewisser primitiver Völkerstämme und die Lehre der Bolschewisten solche utopistischen Vorstellungen zu bekräftigen scheinen, so verharrt er doch in seiner Skepsis. "Ich halte das für eine Jllusion." (152) Man soll vor allem nicht meinen, der Krieg sei so bald abzuschaffen. Die "Kultureignung", d. h. "die einem Menschen zukommende Fähigkeit zur Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einfluß der Erotik", (153) besteht aus zwei Anteilen ..., einem angeborenen und einem im Leben erworbenen." (154) Wir sind geneigt, den angeborenen zu überschätzen, und mit dem erworbenen ist es gewöhnlich nicht weit her. Die meisten sind im Hinblick auf ihre Kultuviertheit "Heuchler". FREUD erklärt die im Krieg und nicht nur im Krieg geäußerte Grausamkeit nicht aus einer Transformation von Triebregungen, die auf materielle Ziele gehen, in letzter Linie aus dem Zwang zu geduldig ertragenem Elend. Er neigt dazu, den "Druck der Kultur", soweit er nicht die Sexualität betrifft, als Druck auf den angeborenen Destruktionstrieb anstatt auf die gesamten Bedürfnisse zu verstehen, welche die Massen entgegen den gesellschaftlichen Möglichkeiten verdrängen müssen. Der ewige Destruktionstrieb soll, wie der Teufel im Mittelalter, an allem Bösen schuld sein. Und FREUD hält sich mit dieser Ansicht auch noch für besonders kühn.
    "Wahrscheinlich würde es auf geringen Widerstand stoßen", schreibt er als Erklärung für das lange Zögern der Psychoanalyse, den Todestrieb in die Lehre aufzunehmen (155), "wenn man den Tieren einen Trieb mit einem solchen Ziel zuschreiben wollte. Aber ihn in die menschliche Konstitution aufzunehmen, erscheint frevelhaft; es widerspricht zu vielen religiösen Voraussetzungen und sozialen Konventionen."
Er weiß nicht, wie sehr diese neue Phase seiner Lehre und Bewegung bloß die soziale und religiöse Konvention wiederholt.

Die geschichtlichen Erscheinungen, von denen oben die Rede war, sollten die Ansicht erhärten, daß die Genußfeindschaft, die in der optimistischen und pessimistischen Menschenauffassung der neueren Zeit enthalten ist, aus der gesellschaftlichen Lage des Bürgertums hervorgeht. Das überspannte Musterbild des Menschen, der zugleich sentimentale und harte Begriff der Tugend und Selbsthingabe, der Kultus eines abstrakten Heroismus haben die gleiche Wurzel wie der individualistische Egoismus und Nihilismus, mit dem sie zugleich in Widerspruch und Wechselwirkung stehen. Die Überwindung dieser Moral liegt nicht in der Aufstellung einer besseren, sondern in der Herstellung von Zuständen, unter denen ihr Daseinsgrund wegfällt. Die Verwirklichung der Sittlichkeit, eines menschenwürdigen Zustandes von Gesellschaft und Individuen, ist nicht ein bloß seelisches, sondern ein geschichtliches Problem. Durch diese Einsicht hat HEGEL den Idealismus über seine ursprünglichen Grenzen hinausgeführt. Die Freiheit ist "zunächst nur Begriff, Prinzip des Geistes und Herzens", sie ist jedoch dazu bestimmt, "sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln." (156)
    "Auf die Frage eines Vaters nach der besten Weise, seinen Sohn sittlich zu erziehen, gab ein Pythagoreer (auch anderen wird sie in den Mund gelegt) die Antwort: wenn du ihn zum Bürger eines Staates von guten Gesetzen machst." (157)
Die Aufgabe ist somit nicht nur innerlih. Sie ist in der Gegenwart auch keine Angelegenheit der guten Orientierung und geschickten Auswahl. Ob die künftigen Generationen menschenwürdig leben werden, hängt vom Ausgang einer Periode von Kämpfen ab, deren Bedeutung für seinen eigenen Standpunkt HEGEL noch nicht sehen konnte. Wenn jedoch FREUD spottet, daß nach Ansicht gewisser Leute die Brutalität, Gewalttätigkeit, Grausamkeit des Menschen bloß vorübergehend sind oder durch die Umstände provoziert, ja "vielleicht nur eine Folge der unzweckmäßigen Gesellschaftsordnungen, die er (der Mensch) sich bisher gegeben hat", (158) so referiert er zwar eine dialektische Theorie in allzu flachen Worten, aber selbst in der pragmatischen Übersetzung entspricht diese bekämpfte Ansicht dem gegenwärtigen Zustand besser als die biologistische Metaphysik, zu der sich auch FREUD bekennt. -

In keinem Phänomen kommt das Verhältnis zwischen praktischer Rücksichtslosigkeit und idealistischer Moral prägnanter zum Ausdruck als in dem Nebeneinander zartester Rücksichtnahme, harmloser Gutmütigkeit und zynischer Härte, das nicht bloß dem Individuum, das Macht gewinnt, sondern auch den Ideal- und Phantasiegestalten dieses Zeitalters eigentümlich ist. Die Besitzer der Riesenvermögen und die Politiker, deren Geschäft eine furchtbare Rücksichtslosigkeit bedingt, pflegen zuhause zartfühlende und rührende Kameraden zu sein. Von der Rolle der Kinder war schon die Rede. Das grausigste Tagewerk wird von der Freundschaft und dem Lächeln gegenüber dem Kind umrahmt. Je tiefer die gesellschaftlich Schwachen sich ducken müssen, desto höher steigt das Symbol der natürlich Schwachen, der Kinder und ehrenwerten Greise. In der Blindheit gegen das Dasein der Tiere hat sich in der bisherigen europäischen Gesellschaft die gehemmte Entwicklung der Intelligenz und Instinkte gezeigt. Ihr Los in unserer Zivilisation spiegelt die ganze Kälte und Borniertheit des vorherrschenden menschlichen Typus wider. Wenn jedoch die Individuen bewußt zu besonders blutigen Mitteln greifen, haben sie gewöhnlich ihre Liebe zu den Tieren wenn nicht entdeckt, so wenigstens behauptet. "Sie nennen mich grausam, obgleich ich kein Insekt leiden sehen kann", sagt MARAT, als er die Tötung einer Reihe von politischen Gegnern empfiehlt. (159) Die sentimentale Liebe zu Tieren gehört in dieser Gesellschaft mit zu den ideologischen Veranstaltungen. Es ist keine allgemeine Solidarität, die sich selbstverständlich auch auf diese lebendigen Wesen erstreckt, sondern zumeist ein Alibi gegenüber dem eigenen Narzissmus und dem öffentlichen Bewußtsein, gleichsam ein Test, daß man der idalen Moral entspricht. Das Bekenntnis der Grausamkeit, das Eingeständnis, Freude an der Grausamkeit zu haben, die man begeht, widerspräche völlig der notwendigen Stimmung dieser Zeit. Eine Regierung, zu deren täglich angewandten wichtigsten Mitteln jener Terror im negativen Sinn gehört, die der nihilistischen Verfassung ihrer eigenen Gefolgschaft die furchtbarsten Opfer bringt und gegen ihre spontane Betätigung eine wohlüberlegte Nachsicht zeigt, würde sich selbst aufheben, wollte sie dies wirklich eingestehen. Nicht weist sie weiter von sich als die begeisternde Funktion der Grausamkeit. Ja, es gehört seit langem gewissermaßen zum Handwerk des Terrors, ihn nach außen hin zu bagatellisieren oder ganz zu verleugnen. Schon CALVIN lobt die Milde der Genfer Ratsbehörder, als er seine Gegner durch sie foltern ließ (160), und unterschlägt die Folter in einem für das entrüstete Zürich bestimmten Bericht (161). Es ertönen die Stimmen, daß im terrorisierten Genf eine "unglaubliche Ruhe" und "Eintracht unter allen Guten" (162) herrscht und jene Kundgebungen der Außenwelt hatten "keine weiteren Folgen". (163) - "Der Richter ist ein sublimierter Henker", sagt NIETZSCHE (164). Wenn dies wahr ist, so lockerte sich doch der Tatbestand, wenn ihn der Richter in Wahrheit zu seinem Bewußtsein machte. FREUD sagt mit Recht, daß der Destruktionstrieb aus kulturellen Gründen jeweils einen Vorwand, eine Rationalisierung braucht - die Schlechtigkeit des Gegners, die pädagogische Zweckmäßigkeit, die Verteilung der Ehre, einen Krieg oder sonst eine Volkserhebung. Aber diese Rationalisierung wirkt nicht dem Verfall jeder menschlichen Gemeinschaft überhaupt, sondern bloß dem der gegenwärtigen entgegen. Der für ewig gehaltene Destruktionstrieb wurde bisher aus gesellschaftlichen Verhältnissen stets reproduziert und auch mit Hilfe ideologischer Praktiken im Zaum gehalten. Unter veränderten Umständen können die Wirksamkeit und die Erkenntnis gemeinschaftlicher Interessen die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bestimmen; der "Destruktionstrieb" wird sie nicht mehr stören. In der gegenwärtigen Epoche ist der Egoismus tatsächlich destruktiv geworden, sowohl der gefesselte und abgelenkte Egoismus der Massen, wie das veraltete egoistische Prinzip der Ökonomie, das nur noch seine brutalste Seite zeigt. Indem dieses überwunden wird, vermag jener in einem neuen Sinn produktiv zu werden. Die Schlechtigkeit des Egoismus liegt nicht an ihm selbst, sondern an der geschichtlichen Situation; mit ihrer Veränderung geht sein Begriff in den der vernünftigen Gesellschaft über.

Da sowohl die praktische als auch die theoretische Lösung der anthropologische Frage nur durch den Fortschritt der Gesellschaft selbst zu leisten ist und die wirkliche Beschaffenheit des bürgerlichen Menschen sich erst ganz aufhellt, wenn er sich verwandelt hat, so wird keine Philosophie und keine geschickte Methode der Erziehung dem Problem gerecht. Die den Einblick behindernde idealistische Moral ist nicht etwa zu verwerfen, sondern historisch zu verwirklichen und deshalb heute auch nicht auszuschalten. Die Frage, wie das Schicksal des allgemein verfemten Egoismus, des "Zerstörungs- und Todestriebs" in einer vernünftigeren Wirklichkeit sich gestalten wird, findet keine bestimmte Antwort. Doch gibt es in der neueren Zeit Anzeichen, die in ein und dieselbe Richtung einer Lösung weisen. Einige Denker haben, im Gegensatz zum herrschenden Geist, den Egoismus weder verhüllt noch verkleinert noch angeklagt, sondern sich selbst zu ihm bekannt. Nicht zu jener abstrakten und jämmerlichen Fiktion, in welcher er bei manchen Nationalökonomen und bei JEREMY BENTHAM eine Rolle spielt, sondern zum Genuß, zum Höchstmaß an Glück, in das auch die Befriedigung grausamer Regungen mit eingeschlossen ist. Sie haben keinen der Triebe, die ihnen historisch als ursprünglich gegeben waren, idealisiert, sondern die von der offiziellen Ideologie hervorgerufene Verbiegung der Triebe gebrandmarkt. Diese Denker, seit ARISTIPP und EPIKUR, sind in der neueren Geschichte wesentlich bloß nach ihrem Gegensatz zur herrschenden Moral verstanden worden. Von da her wurden sie verteidigt und verdammt. Aber mit diesen Apologeten [Rechtfertigern - wp] des unbeschränkten Egoismus hat es eine eigene Bewandtnis. Indem sie selbst den verpönten Triebregungen nachspürten und sie ohne Ablehnung und Verkleinlichung ins Bewußtsein hoben, verloren die Mächte ihre dämonische Gewalt.

Diese hedonistischen Psychologen wurden in der Regel als die Feinde der Menschheit hingestellt oder von ebendiesen auf den Schild gehoben. Am meisten ist das NIETZSCHE widerfahren. Man hat den Übermenschen, den problematischsten Begriff, mit dem der Psychologe den von ihm beherrschten analytischen Bereich verließt, nach dem Wunschtraum des Spießbürgers gedeutet und NIETZSCHE selbst mit diesem verwechselt. Das Abenteuerliche schien daran so schön. Größe, Blut und Gefahr waren auf Bildern und Denkmälern von jeher beliebt. Aber NIETZSCHE ist das Gegenteil dieses aufgespreizten Kraftgefühls. Sein Irrtum liegt in einem Mangel an historischem Verständnis der Gegenwart, der ihn zu absonderlichen Hypothesen treibt, wo eine klare theoretische Erkenntnis möglich war. Gegenüber der geschichtlichen Dynamik seiner Zeit und damit gegenüber dem Weg zu seinem Ziel ist er blind gewesen; deshalb gerät auch noch seine großartigste Analyse, die Genealogie der Moral und des Christentums, bei aller Feinheit zu grob. Aber dieser Prophet der epikuräischen Götter und des Lustcharakters der Grausamkeit hat sie bei sich selbst vom Zwang zur Rationalisierung befreit. Indem der Wille, leiden zu machen, aufhört, sich "im Namen" Gottes, "im Namen" der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit, der Ehre, der Nation usw. zu betätigen, verliert er, mittels der Erkenntnis seiner Selbst, die furchtbare Gewalt, die er ausübt, solange er sich aufgrund der ideologischen Verleugnung vor seinem eigenen Träger verbirgt. Er wird als das, was er ist, in die Ökonomie der Lebensführung eingestellt und vernünftig beherrschbar. Nicht die Aufhebung der Ideologie und ihrer Basis, das heißt der Übergang zu einer besseren Gesellschaft, sondern die Entfesselung der gegenwärtig aus gesellschaftlichen Gründen reproduzierten und verdrängten Aggression durch die bürgerlichen Autoritäten selbst, zum Beispiel in Krieg und Aufbruch der Nation, macht aus ihre eine kulturvernichtende Gewalt. NIETZSCHE selbst kann man sich nicht als Henker denken wie manchen seiner Jünger. Seine inoffensive Existenz entspringt aus dem tiefsten Wissen um seelische Zusammenhänge, das es vielleicht in der Geschichte gegeben hat. NIETZSCHEs Vorläufer in der Analyse von Egoismus und Grausamkeit, MANDEVILLE, HELVETIUS, des SADE sind wie er selbst von FREUDs herablassender Toleranz gegen den "leider" nun einmal vorhandenen Destruktionstrieb, von seiner resignierenden Skepsis so frei wie vom Ressentiment des lieben ROUSSEAU.

Durch ihr eigenes Dasein scheinen diese Psychologen darauf hinzuweisen, daß die Befreiung von der asketischen Moral mit ihren nihilistischen Konsequenzen eine menschliche Veränderung in umgekehrtem Sinn zu bewirken vermag wie die Verinnerlichung. Dieser sie aufhebende Prozeß wirft den Menschen nicht auf die vorhergehende seelische Stufe zurück, gleichsam als ob jener erste Prozeß nicht geschehen wäre, sondern bringt ihn zu einer höheren Form der Existenz. Sie zur allgemeinen Wirklichkeit zu machen, haben jene Denker wenig beigetragen; dies ist vornehmlich die Aufgabe der historischen Personen, bei denen Theorie und geschichtliche Praxis zur Einheit wurden. Bei ihnen treten die Mechanismen der bürgerlichen Psychologie als bestimmende Mächte ihres Lebens wie als theoretischer Gegenstand hinter ihre welthistorische Mission zurück. Sofern mit ihrer Hilfe die Menschheit in eine höhere Existenzform eintritt, wird sie mit der Veränderung der Wirklichkeit rasch auch die freiere seelische Verfassung gewinnen, wie sie die große Zahl der Kämpfer und Märtyrer für jene allgemeine Umwandlung schon ohne psychologische Vermittlung besitzt, weil das düstere glückverneinende Ethos einer vergehenden Epoche nichts mehr über sie vermag.

Nach der ästhetischen Theorie des ARISTOTELES bewirkt das Ansehen von Leiden in der Tragödie eine Lust. (165) Die Menschen werden reiner, indem sie diesen Trieb, die Freude am Mitleiden, befriedigen. Die Anwendung der Theorie des ARISTOTELES auf die neuere Zeit scheint problematisch zu sein, sie ist, selbst von LESSING, im Sinn einer idealistischen Moral umgedeutet und "versittlicht" worden. Die Katharsis [Reinigung - wp] durch das Schauspiel, durch das Spiel überhaupt, setzt eine veränderte Menschheit voraus.
LITERATUR: Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V, Paris 1936, Heft 2
    Anmerkungen
    81) KARL LAMPRECHT, Deutsche Geschichte, Bd. V, 2. Hälfte, Berlin 1922, Seite 372.
    82) LAMPRECHT, a. a. O., Seite 373f.
    83) FRIEDRICH ENGELS, Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 1908, Seite 47f.
    84) LUTHER, Von Kaufhandlung und Wucher, Ausgewählte Werke, hg. H. H. BORCHERDT, a. a. O., Bd. VI, Seite 123f.
    85) LUTHER, Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern, a. a. O., Bd. IV, Seite 90
    86) LUTHER, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern, a. a. O., Seite 310.
    87) LUTHER, Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können, a. a. O., Bd. VI, Seite 157f.
    88) LUTHER, Von Kaufhandlung und Wucher, a. a. O., Seite 134.
    89) LUTHER, Kriegsleute etc. a. a. O., Seite 158.
    90) CALVIN, Institutio religionis christianae, übertragen von E. F. K. Müller, a. a. O., Seite 596.
    91) CALVIN, a. a. O.
    92) CALVIN, a. a. O.
    93) CALVIN, a. a. O., Seite 587.
    94) KAMPSCHULTE, a. a. O., Bd. I, Seite 421f.
    95) PAUL JOACHIMSEN, Das Zeitalter der Reformation, in: Propyläen-Weltgeschichte, Berlin 1930, Bd. V, Seite 31.
    96) VILFREDO PARETO, Traité des Sociologie générale, Èdition francaise par. P. BOVET, Lausanne-Paris 1919, Bd. II, § 2034, Seite 1298; vgl. Studien über Autorität und Familie, a. a. O., HERBERT MARCUSE, Ideengeschichtlicher Teil, Seite 223f.
    97) GIORDANO BRUNO, Die Vertreibung der triumphierenden Bestie, ins Deutsche übertragen von LUDWIG KUHLENBECK, Gesammelte Werke, Leipzig 1904, Bd. II, Seite 113f.
    98) CALVIN, Institutio, a. a. O., Seite 135.
    99) CALVIN, a. a. O., Seite 161f.
    100) LUTHERs Werke, hg. von BUCHWALD u. a., dritte Folge, Leipzig 1924, Bd. I, Seite 96f.
    101) SCHNITZER, a. a. O., Bd. I, Seite 392.
    102) KAMPSCHULTE, a. a. O., Bd. I, Seite 166.
    103) Vgl. SCHNITZER, a. a. O., Bd. I, Seite 271f
    104) SCHNITZER, a. a. O., Bd. I. Seite 282
    105) Die Fetischisierung des Kindlichen reicht so weit, daß die Form des Diminutivs [Häuschen, Kindchen, Häslein - wp], die Verkindlichung, in der bürgerlichen Mystik zum kennzeichnenden poetischen Ausdrucksmittel wird.
    106) Vgl. MAXIME KOWALEWSKI, Die ökonomische Entwicklung Europas, Berlin 1914, Bd. VII, Seite 386
    107) MATHIEZ, La Vie chére et le Mouvement social sous la Terreur, Paris 1927, Seite 586.
    108) MATHIEZ, La Réaction thermidorienne, Paris 1929, Seite 2. Vgl. die eingehende Erörterung der Vent1osedekrete bei G. LEFEBVRE, Questions agraires au temps de la Terreur, Strasbourg 1932, vor allem Seite 46f.
    109) Vgl. MATHIEZ, La Vie chére, a. a. O., Seite 581f.
    110) MATHIEZ, a. a. O., Seite 605f
    111) ROUSSEAU, Oeuvres complétes, a. a. O., Bd. VI, Seite 98
    112) ROUSSEAU, a. a. O., Bd III, Seite 1831.
    113) ROUSSEAU, a. a. O., Seite 179
    114) BUCHEZ und ROUX, Histoire parlementaire de la Revolution francaise, Paris 1836, Bd. XXVI, Seite 130.
    115) Vgl. die soeben zitierte Rede
    116) Vgl. FRANCOIS ALPHONSE AULARD, La Société des Jacobins, Recuell de Documents, Paris 1895, Bd. V, Seite 179.
    117) JULES MICHELET, Histoire de la Revolution francaise, Paris 1879, Bd. VIII, Seite 268.
    118) Vgl. E. HAMEL, Histoire de Robespierre, Paris, ohne Jahr, Bd. II, Seite 321
    119) Vgl. HAMEL, a. a. O., Bd. III, Seite 160f.
    120) HAMEL, a. a. O., Seite 380
    121) Unter anderem wurde auch die Hymne CHÉNIERs angestimmt: "Gott des Volkes, der Könige, der Städte, der Länder, Luthers, Calvins und der Kinder Israels ..." (Vgl. MATHIEZ, Autour de Robespierre, Paris 1926, Seite 121.
    122) HAMEL, a. a. O., Bd. III, Seite 382
    123) GREGOROVIUS, a. a. O., SEite 332.
    124) BURDACH, a. a. O., Teil 1, Seite 116f.
    125) MICHELET, a. a. O., Seite 271
    126) MICHELET, a. a. O., Seite 271
    127) GREGOROVIUS, a. a. O., Seite 311
    128) ROUSSEAU, Lettre á M. d'Alembert, Oeuvres complétes, a. a. O., Bd. VIII, Seite 232
    129) C. A. CORNELIUS, Historische Arbeiten, Leipzig 1899, Seite 475.
    130) KAMPSCHULTE, a. a. O., Seite 444
    131) KAMPSCHULTE, a. a. O., Seite 445
    132) R. S. WARD, Maximilian Robespierre, London 1934, Seite 229
    133) zitiert nach WARD, a. a. O., Seite 167.
    134) RAPPORT, a. a. O., Seite 28f.
    135) R. H. TAWNEY, Religion and the Rise of Capitalism, London, ohne Jahr, Seite 237.
    136) NIETZSCHEs Kritik des "europäischen Nihilismus" läuft letztenendes auf die Verneinung der kulturellen Entwicklung seit dem Eintritt des Christentum hinaus. Der Nihilismu, von dem im Text gesprochen wird, ist enger umrissen. Er bezeichnet die geheime Selbstverachtung des Individuums aufgrund des Widerspruchs zwischen bürgerlicher Ideologie und Wirklichkeit, eine Selbstverachtung, die gewöhnlich mit dem überspannten Bewußtsein der Freiheit und der eigenen oder fremden Größe verbunden ist. Weil NIETZSCHE den Begriff zu weit und daher unhistorisch faßt, muß er verkennen, daß der Nihilismus entweder von der Gesellschaft überhaupt oder gar nicht überwunden wird. "Das Egoistische ist uns verleidet", klagt er im "Willen zur Macht" (Werke, Leipzig, Bd. XV, Seite 147); das, wozu er absichtlich Mut macht, ist jedoch bloß das abstrakte Selbstbewußtsein antiker Sklavenhalter und unabsichtlich das gute Gewissen moderner Gewaltherren, die den allgemeinen Nihilismus reproduzieren und auch selbst im Herzen tragen.
    137) Vgl. HIPPOLYTE TAINE, Les origines de la France contemporaine, Paris 1881, Bd. III, Seite 234f; Bd. IV, Seite 276f.
    138) MATHIEZ, La Révolution francaise, Paris 1928f, Bd. III, Seite 81
    139) Bilanz der preußischen Revolution. Aus dem literarischen Nachlaß von KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS, hg. von FRANZ MEHRING, Stuttgart 1920, Bd. III, Seite 211.
    140) KARL MARX, FRIEDRICH ENGELS, Briefwechsel, Berlin 1931, Bd. IV, Seite 377.
    141) MATHIEZ, La Vie chére etc., a. a. O., Seite 356.
    142) JEAN JAURÈS, Histoire socialiste de la Révolution francaise, Bd. VIII, Paris 1924, Seite 259.
    143) SAINT-JUST, Oeuvres complétes, Paris 1908, Bd. II, Seite 248.
    144) Eine theoretisch wichtige Fortführung innerhalb der Psychoanalyse stammt von WILHELM REICH. Vgl. vor allem "Massenpsychologie des Faschismus", Kopenhagen 1933. Wir stimmen in vielen Punkten mit seiner psychologischen Deutung einzelner Züge des bürgerlichen Charakters überein. REICH leitete diese allerdings, hierin ein echter Schüler FREUDs, im wesentlichen aus der Sexualunterdrückung ab; der Enthemmung der genitalen Sexualität schreibt er bei der Veränderung der gegenwärtigen Zustände eine fast utopische Bedeutung zu.
    145) FREUD, Metapsychologie, Gesammelte Schriften, Wien 1924, Bd. V, Seite 464.
    146) FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, a. a. O., Bd. XII, Seite 87
    147) FREUD, Unbehagen Seite 85f
    148) FREUD, Unbehagen, Seite 89.
    149) FREUD, Unbehagen, Seite 79.
    150) FREUD, Warum Krieg? a. a. O., Seite 357f.
    151) FREUD, a. a. O., Seite 359.
    152) FREUD, a. a. O.
    153) FREUD, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, a. a. O., Bd. X, Seite 325.
    154) FREUD, a. a. O.
    155) FREUD, Neue Folge der Vorlesungen, a. a. O., Bd. XII, Seite 258.
    156) HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dritte Ausgabe, § 482, zweite Ausgabe § 483.
    157) HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 153.
    158) FREUD, Neue Folge, a. a. O.
    159) zitiert nach HEINRICH CUNOW, Die Parteien der großen französischen Revolution und ihre Presse, Berlin 1912, Seite 334.
    160) Vgl. KAMPSCHULTE, a. a. O., Bd. II, Seite 268
    161) Vgl. KAMPSCHULTE, a. a. O., Seite 270
    162) Vgl. KAMPSCHULTE, a. a. O.
    163) KAMPSCHULTE, a. a. O., Seite 271.
    164) NIETZSCHE, a. a. O., Bd. XII, Seite 89
    165) Vgl. bei ARISTOTELES das 6. Kapitel der Poetik.