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FRIEDRICH NIETZSCHE
Zur Genealogie der Moral
[2/2]

"Die  Wohlgeborenen fühlten  sich eben als die  Glücklichen; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu konstruieren, unter Umständen einzureden,  einzulügen (wie es alle Menschen des Ressentiments zu tun pflegen); und ebenfalls wußten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich  notwendig aktive Menschen, vom Glück das Handeln nicht abzutrennen, - das Tätigsein wird bei ihnen mit Notwendigkeit ins Glück hineingerechnet. - Alles sehr im Gegensatz zum  Glück auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narkose, Betäubung, Ruhe, Frieden,  Sabbat, Gemütsausspannung, Gliederstrecken, kurz  passivisch auftritt."

"Wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als  Tun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das  Blitz heißt, so trennt die Volksmoral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es  freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein  Sein hinter dem Tun, Wirken, Werden;  der Täter  ist zum Tun bloß hinzugedichtet - das Tun ist alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als dessen Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn die sagen  die Kraft bewegt, die Kraft verursacht und dergleichen, - unsere ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die  Subjekte nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, desgleichen das kantische  Ding ansich)." 


Erste Abhandlung:
"Gut und Böse", "Gut und Schlecht."

1. - Diese englischen Psychologen, denen man bisher auch die einzigen Versuche zu danken hat, es zu einer Entstehungsgeschichte der Moral zu bringen, - sie geben uns mit sich selbst kein kleines Rätsel auf; sie haben sogar, daß ich es gestehe, eben damit, als leibhaftige Rätsel, etwas Wesentliches vor ihren Büchern voraus - sie selbst sind interessant!  Diese englischen Psychologen - was wollen sie eigentlich? Man findet sie, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, immer am gleichen Werk, nämlich die  partie honteuse [ein Teil, der einem Ganzen zur Schande gereicht - wp] unserer inneren Welt in den Vordergrund zu drängen und gerade dort das eigentlich Wirksame, Leitende, für die Entwicklung Entscheidende zu suchen, wo der intellektuelle Stolz des Menschen es am letzten zu finden  wünschte (zum Beispiel in der  vis inertiae [Kraft der Trägheit - wp] der Gewohnheit und zufälligen Ideen-Verhäkelungen und -Mechanik oder in irgendeinem etwas Rein-Passivem, Automatischem, Reflexmäßigem, Molekularem und Gründlich-Stupidem) - was treibt diese Psychologen eigentlich immer gerade in  diese  Richtung? Ist es ein heimlicher hämischer gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständlicher Instinkt der Verkleinerung des Menschen? Oder etwa ein pessimistischer Argwohn, das Mißtrauen von enttäuschten, verdüsterten, giftig und grün gewordenen Idealisten? Oder eine kleine unterirdische Feindschaft und Rancune gegen das Christentum (und PLATO), die vielleicht nicht einmal über die Schwelle des Bewußtseins gelangt ist? Oder gar ein lüsterner Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft-Paradoxen, am Fragwürdigen und Unsinnigen des Daseins? Oder endlich - von allem etwas, ein wenig Gemeinheit, ein wenig Verdüsterung, ein wenig Antichristlichkeit, ein wenig Kitzel und Bedürfnis nach Pfeffer? ... Aber man sagt mir, daß es einfach alte kalte langweilige Frösche sind, die am Menschen herum, in den Menschen hinein kriechen und hüpfen, wie als ob sie da so recht in ihrem Element wären, nämlich in einem  Sumpf.  Ich höre das mit Widerstand, mehr noch, ich glaube nicht daran; und wenn man wünschen darf, wo man nicht wissen kann, so wünsche ich von Herzen, daß es umgekehrt mit ihnen stehen möge, - daß diese Forscher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, großmütige und stolze Tiere sind, welche ihr Herz wir ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und sich dazu erzogen haben, der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern,  jeder  Wahrheit, sogar der schlichten, herben, häßlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischen Wahrheit ... Denn es gibt solche Wahrheiten. -

2. Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten mögen! Aber gewiß ist leider, daß ihnen der  historische Geist  selber abgeht, daß sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst im Stich gelassen worden sind! Sie denken allesamt, wie es nun einmal alter Philosophen-Brauch ist,  wesentlich  unhistorisch: daran ist kein Zweifel. Die Stümperei ihrer Moral-Genealogie kommt gleich am Anfang zutage, da, wo es sich darum handelt, die Herkunft des Begriffs und Urteils "gut" zu ermitteln. "Man hat ursprünglich - so dekretieren sie - unegoistische Handlungen von Seiten derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie  nützlich  waren; später hat man diesen Ursprung des Lobes  vergessen  und die unegoistischen Handlungen einfacht, weil sie  gewohnheitsmäßig  immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden, - wie als ob sie ansich etwas Gutes wären." Man sieht sofort: diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie [Fehlfunktion - wp], - wir haben "die Nützlichkeit", "das Vergessen", "die Gewohnheit" und am Schluß "den Irrtum", alles als Unterlage einer Wertschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz  soll  gedemütigt, diese Wertschätzung entwertet werden: ist das erreicht? ... Nun liegt für mich erstens auf der Hand, daß von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsherd des Begriffs "gut" an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird: das Urteil "gut" rührt  nicht  von denen her, welche "Güte" erwiesen wird! Vielmehr sind es "die Guten" selber gewesen, das heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Tun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem  Pathos der Distanz  heraus haben sie sich das Recht, Werte zu schaffen, Namen der Werte auszuprägen, erst genommen: was ging sie die Nützlichkeit an! Der Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist gerade in Bezug auf ein solches heißes Herausquellen oberster rang-ordnender, rang-abhebender Werturteile so fremd und unangemessen wie möglich: hier ist eben das Gefühl bei einem Gegensatz jenes niedrigen Wärmegrades angelangt, den jede berechnende Klugheit, jeder Nützlichkeits-Kalkul voraussetzt, - und nicht für einmal, nicht für eine Stunde der Ausnahme, sondern für die Dauer. Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominierende Gesamt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem "Unten" -  das  ist der Ursprung des Gegensatzes "gut" und "schlecht". (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden zu fassen: sie sagen "das  ist  das und das", sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laut ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.) Es liegt an diesem Ursprung, daß das Wort "gut" sich von vornherein durchaus  nicht  notwendig an "unegoistische" Handlungen anknüpft: wie es der Aberglaube jener Moralgenealogen ist. Vielmehr geschieht es erst bei einem  Niedergang  aristokratischer Werturteile, daß sich dieser ganze Gegensatz "egostisch" "unegoistisch" dem menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt, - es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen,  der  Herdeninstinkt, der mit ihm schließlich zu Worte (auch zu  Worten)  kommt. Und auch dann dauert es noch lange, bis dieser Instinkt in dem Maße Herr wird, daß die moralische Wertschätzung bei jenem Gegensatz geradezu hängen und stecken bleibt (wie dies zum Beispiel im gegenwärtigen Europa der Fall ist: heute herrscht das Vorurteil, welches "moralisch", "unegoistisch",  "désintéressé"  als gleichwertige Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer "fixen Idee" und Kopfkrankheit).

3. Zweitens aber: ganz abgesehen von der historischen Unhaltbarkeit jener Hypothese über die Herkunft des Werturteils "gut", krankt sie an einem psychologischen Widersinn in sich selbst. Die Nützlichkeit der unegoistischen Handlung soll der Ursprung ihres Lobes sein, und dieser Ursprung soll  vergessen  worden sein: - wie ist dieses Vergessen auch nur  möglich?  Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Handlungen irgendwann einmal aufgehört? Das Gegenteil ist der Fall: diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas also, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde; folglich, statt aus dem Bewußtsein zu verschwinden, statt vergeßbar zu werden, sich dem Bewußtsein mit immer größerer Deutlichkeit eindrücken mußte. Um wieviel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie ist deshalb nicht wahrer -), welche zum Beispiel von HERBERT SPENCER vertreten wird: der den Begriff "gut" als wesensgleich mit dem Begriff "nützlich", "zweckmäßig" ansetzt, so daß in den Urteilen "gut" und "schlecht" die Menschheit gerade ihre  unvergessenen  und  unvergeßbaren  Erfahrungen über nützlich-zweckmäßig, über schädlich-unzweckmäßig aufsummiert und sanktioniert hat. Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat: damit darf es als "wertvoll im höchsten Grade", als "wertvoll ansich" Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklärung ist, wie gesagt, falsch, aber wenigstens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und psychologisch haltbar. -

4. - Den Fingerzeig zum  rechten  Weg gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgeprägten Bezeichnungen des "Guten" in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich, daß sie allesamt auf die  gleiche Begriffs-Verwandlung  zurückleiten, - daß überall "vornehm", "edel" im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich "gut" im Sinne von "seelisch-vornehm", "edel" von "seelisch-hochgeartet", "seelisch-privilegiert" mit Notwendigkeit heraus entwickelt: eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche "gemein", "pöbelhaft", "niedrig" schließlich in den Begriff "schlecht" übergehen macht. Das beredteste Beispiel für das Letzere ist das deutsche Wort "schlecht" selber: als welches mit "schlicht" identisch ist - vergleiche "schlechtweg", "schlechterdings" - und ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann, noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des dreißigjährigen Krieges ungefähr, also spät genug, verschiebt sich dieser Sinn in den jetzt gebräuchlichen. - Dies scheint mir in Betreff der Moral-Genealogie eine  wesentliche  Einsicht; daß sie so spät erst gefunden wird, liegt an dem hemmenden Einfluß, den das demokratische Vorurteil innerhalb der modernen Welt in Hinischt auf alle Fragen der Herkunft ausübt. Und dies bis in das anscheinend objektivste Gebiet der Naturwissenschaft und Physiologie hinein, wie hier nur angedeutet werden soll. Welchen Unfug aber dieses Vorurteil, einmal bis zum Haß entzügelt, in Sonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigste Fall BUCKLEs; der  Plebejismus  des modernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten überlauten gemeinen Beredtsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben. -

5. In Hinsicht auf  unser  Problem, das aus guten Gründen ein  stilles  Problem genannt werden kann und sich wählerisch nur an wenige Ohren wendet, ist es von keinem kleinen Interesse, festzustellen, daß vielfach noch in jenen Worten und Wurzeln, die "gut" bezeichnen, die Hauptnuance durchschimmert, auf welche hin die Vornehmen sich eben als Menschen höheren Ranges fühlten. Zwar benennen sie sich vielleicht in den häufigsten Fällen einfach nach ihrer Überlegenheit an Macht (als "die Mächtigen", "die Herren", "die Gebietenden") oder nach dem sichtbarsten Abzeichen dieser Überlegenheit, zum Beispiel als "die Reichen", "die Besitzenden" (das ist der Sinn von  arya;  und entsprechend im Eranischen und Slawischen). Aber auch nach deinem  typischen Charakterzug:  und dies ist der Fall, der uns hier angeht. Sie heißen sich zum Beispiel "die Wahrhaftigen": voran der griechische Adel, dessen Mundstück der Megarische Dichter THEOGNIS ist. Das dafür ausgeprägte Wort  esthlos [gut, tüchtig, edel, brav, tapfer - wp] bedeutet der Wurzel nach Einen, der  ist,  der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser Phase der Begriffsverwandlung wird es zum Schlag- und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn "adelig" über, zur Abgrenzung vom  lügenhaften  gemeinen Mann, so wie THEOGNIS ihn nimmt und schildert, - bis schließlich das Wort, nach dem Niedergang des Adels, zur Bezeichnung der seelischen  noblesse  übrig bleibt und gleichsam reif und süß wird. Im Wort  kakos [schlecht, böse - wp] wie in  deilos [furchtsam, feig - wp] (der Plebejier im Gegensatz zum  agathos [gut - wp]) ist die Feigheit unterstrichen: dies gibt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren  agathos  zu suchen hat. Im lateinischen  malus [schlecht, böse - wp] (dem ich  melas [schwarz - wp] zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige ("hic niger est" [Dieser ist schwarz. - wp]) gekennzeichnet sein, als der vorarische Insasse des italischen Bodens, der sich von der herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Erobererrasse durch die Farbe am deutlichsten abhob; wenigstens bot mir das Gälische den genau entsprechenden Fall, -  fin (zum Beispiel im Namen  Fin-Gal),  das abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle, Reine, ursprünglich der Blondkopf, im Gegensatz zu den dunklen schwarzhaarigen Ureinwohnern. Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse; man tut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnograhischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgendeiner keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch VIRCHOW tut: vielmehr schlägt an dieser Stellen die  vorarische  Bevölkerung Deutschland vor. (Das Gleiche gilt beinahe für ganz Europa: im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schließlich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und sozialen Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur "Commune", zur primitivsten Gesellschaftsform, der allen Sozialisten Europas jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren  Nachschlag  zu bedeuten hat - und daß die Eroberer- und  Herrenrasse,  die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist? ...) Das lateinische  bonus [gut, tüchtig - wp] glaube ich als "den Krieger" auslegen zu dürfen: vorausgesetzt, daß ich mit Recht  bonus  auf ein älteres  duonus  zurückführe (vergleiche  bellum = duellum = duen-lum,  worin mir jenes  duonus  erhalten scheint).  Bonus  somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung  (duo),  als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Mann seine "Güte" ausmachte. Unser deutsches "Gut" selbst: sollte es nicht "den Göttichen", den Mann göttlichen Geschlechts bedeuten? Und mit dem Volks- (ursprünglich Adels-) Namen der Goten identisch sein? Die Gründe zu dieser Vermutung gehören nicht hierher. -

6. Von dieser Regel, daß der politische Vorrangsbegriff sich immer in einen seelischen Vorrangsbegriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (obgleich es Anlaß zu Ausnahmen gibt), wenn die höchste Kaste zugleich die  priesterliche  Kaste ist und folglich zu ihrer Gesamtbezeichnung ein Prädikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert. Da tritt zum Beispiel "rein" und "unrein" sich zum ersten Mal als Ständeabzeichen gegenüber; und auch hier kommt später ein "gut" und ein "schlecht" in einem nicht mehr ständischen Sinn zur Entwicklung. Im Übrigen sei man davor gewarnt, diese Begriffe "rein" und "unrein" nicht von vornherein zu schwer, zu weit oder gar symbolisch zu nehmen: alle Begriffe der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maß grob, plump, äußerlich, eng, geradezu und insbesondere  unsymbolisch  verstanden worden. Der "Reine" ist von Anfang an bloß ein Mensch, der sich wäscht, der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheit nach sich ziehen, der nicht mit den schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat, - nicht mehr, nicht viel mehr! Andererseits erhellt es sich freilich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie, warum hier gerade frühzeitig sich die Wertungsgegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen konnten; und in der Tat sind durch sie schließlich Klüfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen worden, über die selbst ACHILL der Freigeisterei nicht ohne Schauder hinwegsetzen wird. Es ist von Anfang an etwas  Ungesundes  in solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, teils brütenden, teils gefühlsexplosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale [darmhafte - wp] Krankhaftigkeit und Neurasthenie [Nervenschwäche - wp] erscheint; was aber von ihnen selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist, - muß man nicht sagen, daß es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundert Mals gefährlicher erwiesen hat als die Krankheit, von der es erlösen sollte? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kurnaivitäten! Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht "in die Wüste" (WEIR-MITSCHELLsche Isolierung, freilich ohne die darauf folgende Mastkur und Überernährung, in der das wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des asketischen Ideals besteht): hinzugerechnet die ganze sinnenfeindliche, faul- und raffiniertmachende Metaphysik der Priester, ihre Selbsthypnotisierung nach Art des Fakirs und Brahmanen - Brahman als gläserner Knopf und fixe Idee benutzt - und das schließliche, nur zu begreifliche, allgemeine Satthaben mit seiner Radikalkur, dem  Nichts (oder Gott: - das Verlangen nach einer  unio mystica  mit Gott ist das Verlangen des Buddhisten ins Nichts, Nirvâna - und nicht mehr!) Bei den Priestern wird eben  Alles  gefährlicher, nicht nur Kurmittel und Heilkünste, sondern auch Hochmut, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht, Tugend, Krankheit; - mit einiger Billigkeit ließe sich allerdings auch hinzufügen, daß erst auf dem Boden dieser  wesentlich gefährlichen  Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt  ein interessantes Tier  geworden ist, daß erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne  Tiefe  bekommen hat und  böse  geworden ist - und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Getier! ...

7. - Man wird bereits erraten haben, wie leicht sich die priesterliche Wertungsweise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegensatz fortentwickeln kann; wozu es in Sonderheit jedesmal einen Anstoß gibt, wenn die Priesterkaste und die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegengetreten und über den Preis miteinander nicht einig werden wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werturteile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, samt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und alles überhaupt, was starkes freies frohgemutes Handeln in sich schließt. Die priesterlich-vornehme Wertungsweise hat - wir sahen es - andere Voraussetzungen: schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt! Die Priester sind, wie bekannt, die  bösesten  Feinde - weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Haß ins Ungeheure und Unheimliche, ins Geistigste und Giftigste. Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser: - gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist: - nehmen wir sofort das größte Beispiel. Alles, was auf Erden gegen "die Vornehmen", "die Gewaltigen", "die Herren", "die Machthaber" getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was  die Juden  gegen sie getan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der  geistigsten Rache  Genugtuung zu schaffen wußte. So allein war es eben einem priesterlichen Volk gemäß, dem Volk der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich "die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit, - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr weret auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!" ... Man weiß,  wer  die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat ... Ich erinnere in Betreff der ungeheuren und über alle Maßen verhängnisvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz, auf den ich bei einer anderen Gelegenheit gekommen bin ("Jenseits von Gut und Böse", Seite 126f) - daß nämlich mit den Juden der  Sklavenaufstand in der Moral  beginnt: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er - siegreich gewesen ist ...

8. - Aber ihr versteht das nicht? Ihr habt keine Augen für etwas, das zwei Jahrtausende gebraucht hat, um zum Sieg zu kommen? ... Daran ist Nichts zum Verwundern: alle  langen  Dinge sind schwer zu sehen, zu übersehen.  Das  aber ist das Ereignis: aus dem Stamm jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses - des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werte umschaffenden Hasses, dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist - wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine  neue Liebe,  die tiefste und sublimste aller Arten Liebe: - und aus welchem anderen Stamm hätte sie auch wachsen können? ... Daß man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit! Diese Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als die triumphierende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drang gleichsam im Reich des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in alles, was Tiefe hatte und böse war, hinunter senkten. Dieser JESUS von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende "Erlöser" - war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen  jüdischen  Werten und Neuerungen des Ideals? Hat Israel nicht gerade auf dem Umweg dieses "Erlösers", dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israels, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft  großen  Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsam greifenden und vorausrechenenden Rache, daß Israel selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und ans Kreuz schlagen mußte, damit "alle Welt", nämlich alle Gegner Israels unbedenklich gerade an diesen Köder anbeißen konnten? Und wüßte man sich andererseits, aus allem Raffinement des Geistes heraus, überhaupt noch einen  gefährlicheren  Köder auszudenken? Etwas, das an verlockender berauschender betäubender verderbender Kraft jenem Symbol des "heiligen Kreuzes" gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines "Gottes am Kreuze", jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes  zum Heile des Menschen? ... Gewiß ist wenigstens, daß  sub hoc signo [unter diesem Zeichen - wp] Israel mit seiner Rache und Umwertung aller Werte bisher über alle anderen Ideale, über alle  vornehmeren  Ideale immer wieder triumphiert hat. - -

9. - "Aber was reden Sie noch von  vornehmere  Idealen! Fügen wir uns in die Tatsachen: das Volk hat gesiegt - oder "die Sklaven", oder "der Pöbel", oder "die Herde", oder wie Sie es zu nennen belieben - wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan! so hatte nie ein Volk eine welthistorische Mission. "Die Herren" sind abgetan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durcheinander gemengt) - ich widerspreche nicht; unzweifelhaft ist aber diese Intoxikation  gelungen.  Die "Erlösung" des Menschengeschlechts (nämlich von "den Herren") ist auf dem besten Weg; alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an Worten!). Der Gang dieser Vergiftung, durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltsam, ihr  tempo  und Schritt darf sogar von nun an immer langsamer, feiner, unhörbarer, besonnener sein - man hat ja Zeit ... Kommt der Kirche in dieser Absicht heut noch eine  notwendige  Aufgabe, überhaupt noch ein Recht auf Dasein zu? oder könnte man ihrer entraten?  Quaeritur [Die Frage ist aufgeworfen. - wp]. Es scheint, daß sie jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu beschleunigen? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit sein ... Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröbliches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz, einem eigentlich modernen Geschmack widersteht. Sollte sie sich zumindest nicht etwas raffinieren? ... Sie entfremdet heute mehr, als daß sie verführte ... Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns,  nicht  ihr Gift ... Von der Kirche abgesehen lieben auch wir das Gift ..." - Dies der Epilog eines "Freigeistes" zu meiner Rede, eines ehrlichen Tiers, wie er reichlich verraten hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich gibt es an dieser Stelle viel zu schweigen. -

10. - Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das  Ressentiment  selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklavenmoral von vornherein Nein zu einem "Außerhalb", zu einem "Anders", zu einem "Nicht-selbst": und  dieses  Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des wertesetzenden Blicks - diese  notwendige  Richtung nach Außen statt zurück auf sich selber - gehört eben zum Ressentiment: Die Sklavenmoral bedarf, um zu entstehen, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren, - ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, - ihr negativer Begriff "niedrig" "gemein" "schlecht" ist nur ein nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff "wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!" Wenn die vornehmen Wertungsweise sich vergreift und an der Realität versündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre, welche ihr  nicht  genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehr setzt: sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niederen Volkes; andererseits erwäge man, daß jedenfalls der Affeckt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens, gesetzt, daß er das Bild des Verachteten  fälscht,  bei weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene Haß, die Rache des Ohnmächtigen, sich an seinem Gegner -  in effigie [bildlich gesprochen - wp] natürlich - vergreifen wird. In der Tat ist in der Verachtung zuviel Nachlässigkeit, zuviel Leichtnehmen, zuviel Wegblicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zuviel eigenes Frohgefühl, als daß sie imstande wäre, ihr Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden  nuances  nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, daß fast alle Worte, die dem gemeinen Mann zukommen, schließlich als Ausdrücke für "unglücklich" "bedauernswürdig" übrig geblieben sind (vergleiche  deilos [feig, wertlos, von niederer Herkuft, elend - wp], deilaios [elend, traurig, armselig - wp], poneros [elend, von Mühen gedrückt, feige - wp] ,  mochteros [elend, unter Härte leidend, wertlos - wp], letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lasttier kennzeichnend) - und wie andererseits "schlecht" "niedrig" "unglücklich" nie wieder aufgehört haben, für das griechische Ohr ein  einen  Ton auszuklingen, mit einer Klangfarbe, in der "unglücklich" überwiegt: dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Wertungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (- Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinn  oizyros [traurig, bemitleidenswert, armselig - wp],  anolbos [verhängnisvoll, glücklos, elend, arm - wp],  tlemon [leidend, düster - wp],  dystychein [unglücklich, vom Pech verfolgt - wp],  xymphora [Mißgeschick, Unglück - wp] gebraucht werden). Die "Wohlgeborenen"  fühlten  sich eben als die "Glücklichen"; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu konstruieren, unter Umständen einzureden,  einzulügen (wie es alle Menschen des Ressentiments zu tun pflegen); und ebenfalls wußten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich  notwendig  aktive Menschen, vom Glück das Handeln nicht abzutrennen, - das Tätigsein wird bei ihnen mit Notwendigkeit ins Glück hineingerechnet (woher eu pattein [gut gehen - wp] seine Herkunft nimmt) - Alles sehr im Gegensatz zum "Glück" auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narkose, Betäubung, Ruhe, Frieden, "Sabbat", Gemütsausspannung, Gliederstrecken, kurz  passivisch  auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt  (gennaios  "edelbürtig" unterstreicht die  nuance  "aufrichtig" und auch wohl "naiv", so ist der Mensch des Ressentiment [heimlicher Groll - wp] weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele  schielt;  sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als  seine  Welt,  seine  Sicherheit,  sein  Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nichtvergessen, das Warten, das vorläufige Sichverkleinern, Sichdemütigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird notwendig endlich  klüger  sein als irgendeine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz anderem Maße ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat: - sie ist eben hier lange nicht so wesentlich, als die vollkommene Funktionssicherheit der regulierenden  unbewußten  Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfere Drauflosgehn, sie es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seele wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es  vergiftet  darum nicht: andererseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine  Untaten  selbst nicht lange ernst nehmen können - das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuß plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der modernen Welt ist MIRABEAU, welcher kein Gedächtnis für Insulte [Beleidigungen - wp] und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er - vergaß). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit  einem  Ruck von sich, das sich bei Anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich, gesetzt, daß es überhaupt auf Erden möglich ist - die eigentliche  "Liebe  zu seinen Feinden". Wieviel Ehrfurcht vor seinem Feind hat schon ein vornehmer Mensch! - und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe ... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen anderen Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu verachten und  sehr viel  zu ehren ist! Dagegen stelle man sich "den Feind" vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert - und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat "den bösen Feind" konzipiert,  "den Bösen",  und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen "Guten" ausdenkt - sich selbst! ...

11. Gerade umgekehrt also wie beim Vornehmen, der den Grundbegriff "gut" voraus und spontan, nämlich von sich aus konzipiert und von da aus erst eine Vorstellung von "schlecht" sich schafft! Dieses "schlecht" vornehmen Ursprungs und jenes "böse" aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses - das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Komplementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche  Tat  in der Konzeption einer Sklavenmoral -, wie verschieden stehen die beiden scheinbar demselben Begriff "gut" entgegengestellten Worte "schlecht" und "böse" da! Aber es ist  nicht  derselbe Begriff "gut": vielmehr frage man sich doch,  wer  eigentlich "böse" ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet:  eben  der "Gute" der anderen Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehen durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir Eins am wenigsten leugnen: wer jene "Guten" nur als Feinde kennenlernte, lernte auch nichts als  böse Feinde  kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht  inter pares  [unter Gleichen - wp] in Schranken gehalten sind, die andererseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, - sie sind nach Außen hin, dort wor das Fremde,  die  Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtiergewissens  zurück,  als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermut und seelischen Gleichgewicht davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grund aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende  blonde Bestie  nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück: - römischer, arabischer, germanischer, japanischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger - in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff "Barbar" auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Kultur heraus verrät sich ein Bewußtsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn PERIKLES seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, "zu allem Land und Meer hat unsere Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten  und Schlimmen  aufrichtend"). Diese "Kühnheit" vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen - PERIKLES hebt die  rhatymia [Leichtigkeit des Gemüts - wp] der Athener mit Auszeichnung hervor -, ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Sieges und der Grausamkeit - Alles faßte sich für Die, welche daran litten, in das Bild des "Barbaren", des "bösen Feindes", etwa des "Gothen", des "Vandalen" zusammen. Das tiefe, eisige Mißtrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder, - ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehen hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaume eine Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht). Ich habe einmal auf die Verlegenheit HESIODs aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Kulturzeitalter aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte: er wußte mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewalttätige Welt HOMERs bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus  einem  Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hintereinander stellte - einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtnis der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eigenen Ahnherrn hatten; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Mißhandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien: als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt, daß es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als "Wahrheit" geglaubt wird, daß es eben der  Sinn aller Kultur  sei, aus dem Raubtier "Mensch" ein zahmes und zivilisiertes Tier, ein  Haustier  herauszuzüchten, so müßte man unzweifelhaft all jene Reaktions- und Ressentiments-Instinkte, mit deren Hilfe die vornehmen Geschlechter samt ihren Idealen schließlich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen  Werkzeug der Kultur  betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, daß deren  Träger  zugleich auch selbst die Kultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich - nein! es ist heute  augenscheinlich!  Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventums, aller vorarischen Bevölkerung in Sondernheit - sie stellen den  Rückgang  der Menschheit dar! Diese "Werkzeuge der Kultur" sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen "Kultur" überhaupt! Man mag im besten Recht sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grund aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist: aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich  nicht  fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können? Und ist das nicht  unser  Verhängnis? Was macht heute  unseren  Widerwillen gegen "den Menschen"? - denn wir  leiden  am Menschen, es ist kein Zweifel. - Nicht  die Furcht; eher, daß wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; daß das Gewürm "Mensch" im Vordergrund ist und wimmelt; daß der "zahme Mensch", der Heillos-Mittelmäßige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als "höheren Menschen" zu fühlen gelernt hat; - ja daß er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstand von der Überfülle des Mißratenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Geratenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes ...

12. - Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht? Schlechte Luft! Schlechte Luft!

Mißratenes in meine Nähe kommt; daß ich die Eingeweide einer mißratenen Seele riechen muß! ... Was hält man sonst nicht aus an Not, Entbehrung, bösem Wetter, Siechtum, Mühsal, Vereinsamung? Im Grunde wird mant mit allem Übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein; man kommt immer wieder einmal ans Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Sieges, - und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwerem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Not immer nur noch straffer anzieht. - Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir - gesetzt daß es himmlische Gönnerinnen gibt, jenseits von Gut und Böse - einen Blick, gönnt mir  einen  Blick nur auf etwas Vollkommenes, zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten gibt! Auf einen Menschen, der  den  Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um deswillen man  den Glauben an den Menschen  festhalten darf! ... Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt  unsere  größte Gefahr, denn dieser Anblick macht müde ... Wir sehen heute Nichts, das größer werden will, wir ahnen, daß es immer noch abwärts, abwärts geht, ins Dünnere, Gutmütigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere - der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer "besser" ... Hier eben liegt das Verhängnis Europas - mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde - was ist heute Nihilismus, wenn er nicht  das  ist? ... Wir sind  des Menschen  müde ...

13. - Doch kommen wir zurück: das Problem vom  anderen  Ursprung des "Guten", vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluß. - Daß die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen "diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, - sollte der nicht gut sein?" so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, daß die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und sich vielleicht sagen:  "wir  sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm." - Von der Stärke verlangen, daß sie sich  nicht  als Stärke äußert, daß sie  nicht  ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig wie von der Schwäche verlangen, daß sie sich als Stärke äußert. Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken - vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrtümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein "Subjekt" versteht und mißversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als  Tun,  als Wirkung eines Subjekts nimmt, das  Blitz  heißt, so trennt die Volksmoral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es  freistünde,  Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein "Sein" hinter dem Tun, Wirken, Werden; "der Täter" ist zum Tun bloß hinzugedichtet - das Tun ist alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als dessen Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn die sagen "die Kraft bewegt, die Kraft verursacht" und dergleichen, - unsere ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die "Subjekte" nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, desgleichen das kantische "Ding ansich"): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Haß diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrechterhalten als den,  es stehe dem Starken frei,  schwach und dem Raubvogel, Lamm zu sein: - damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es  zuzurechnen Raubvogel zu sein ... Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: "laßt uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist jeder, der nicht vergewaltigt, der die Rache Gott übergibt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Weg geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen, Demütigen, Gerechten", - so heißt das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als: "wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts tun,  wozu wir nicht stark genug sind";  aber dieser herbe Tatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl tot stellen, um nicht "zuviel" zu tun, bei großer Gefahr), hat sich Dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst - das heißt doch sein  Wesen sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit - eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine  Tat ein  Verdienst  ist. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie "Subjekt"  nötig  aus einem Instinkt der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, daß wir populärer reden, die  Seele ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als  Verdienst  auszulegen.

14. - Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab und hinunter sehen, wie man auf Erden  Ideale fabriziert?  Wer hat den Mut dazu? ... Wohlan! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und Wagehals: Ihr Auge muß sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen ... So! Genug! Reden Sie jetzt! Was geht da unten vor? Sprechen Sie aus, was Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde - jetzt bin ich der, welcher zuhört. -

- "Ich sehe Nichts, ich höre umso mehr. Es ist ein vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln. Es scheint mir, daß man lügt; eine zuckrige Milde klebt an jedem Klang. Die Schwäche soll zum  Verdienst  umgelogen werden, es ist kein Zweifel - es steht damit so, wie Sie es sagten." -

- Weiter!

- "und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur "Güte", die ängstliche Niedrigkeit zur "Demut"; die Unterwerfung vor Denen, die man haßt, zum "Gehorsam" (nämlich gegen Einen, von dem sie sagen, er befehle diese Unterwerfung, - sie heißen ihn Gott). Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Tür-stehn, sein unvermeidliches Warten-müssen kommt hier zu einem guten Namen, als "Geduld", es heißt auch wohl  die  Tugend; das Sich-nicht-rächen-Können heißt Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung ("denn  sie  wissen nicht, was sie tun - wir allein wissen es, was  sie  tun!" Auch redet man von der "Liebe zu seinen Feinden" - und schwitzt dabei."

- Weiter!

- "Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm beieinander hocken - aber sie sagen mir, ihr Elend sei eine Auswahl und Auszeichnung Gottes, man prügelt die Hunde, die man am liebsten hat; vielleicht sei dieses Elend auch eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schulung, vielleich sie es noch mehr - Etwas, das einst ausgeglichen und mit ungeheuren Zinsen in Gold, nein! in Glück ausgezahlt werde. Das heißen sie "die Seligkeit."

- Weiter!

- "Jetzt geben sie mir zu verstehen, daß sie nicht nur besser seien als die Mächtigen, die Herrn der Erde, deren Speichel sie lecken müssen  (nicht  aus Furcht, ganz und gar nicht aus Furcht! sondern weil es Gott gebietet, alle Obrigkeit zu ehren) - daß sie nicht nur besser seien, sondern es auch "besser hätten", jedenfalls einmal besser haben würden. Aber genug! genug! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft! Schlechte Luft! Diese Werkstätte, wo man  Ideale fabriziert - mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen."

- Nein! Noch einen Augenblick! Sie sagten noch nichts vom Meisterstück dieser Schwarzkünstler, welche Weiß, Milch und Unschuld aus jedem Schwarz herstellen: - habe Sie nicht bemerkt, was ihre Vollendung im Raffinement ist, ihr kühnster, feinster, geistreichster, lügenreichster Artistengriff? Geben Sie Acht! Diese Kellertiere voll Rache und Haß - was machen sie doch gerade aus Rache und Haß? Hörten Sie je diese Worte?`Würden Sie nicht ahnen wenn Sie nur ihren Worten trauten, daß Sie unter lauter Menschen des Ressentiment sind? ...

- "Ich verstehe, ich mache nochmals die Ohren auf (ach! ach! und die Nase zu). Jetzt höre ich erst, was sie so oft schon sagten: "Wir Guten - wir sind die Gerechten" - was sie verlangen, das heißen sie nicht Vergeltung, sondern "den Triumph der  Gerechtigkeit";  was sie hassen, das ist nicht ihr Feind, nein! sie hassen das  "Unrecht",  die "Gottlosigkeit"; was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoffnung auf Rache, die Trunkenheit der süßen Rache (- "süßer als Honig" nannte sie schon HOMER), sondern "der Sieg Gottes, des  gerechten  Gottes über die Gottlosen"; was ihnen zu lieben auf Erden übrig bleibt, sind nicht ihre Brüder im Haß, sondern ihre "Brüder in der Liebe", wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde."

- Und wie nennen sie das, was ihnen als Trost wider alle Leiden des Lebens dient - ihre Phantasmagorie [Trugbild, Gaukelei - wp] der vorweggenommenen zukünftigen Seligkeit?

- "Wie? Höre ich recht? Sie heißen das "das jüngste Gericht", das Kommen  ihres  Reichs, des "Reichs Gottes" - einstweilen  aber leben sie "im Glauben", "in der Liebe", "in der Hoffnung."

- Genug! Genug!

15. Im Glauben woran? In der Liebe wozu? In der Hoffnung worauf? - Diese Schwachen - irgendwann einmal nämlich wollen auch  sie  die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch  ihr  "Reich" kommen - "das Reich Gottes" heißt es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt: man ist ja in Allem so demütig! Schom um  das  zu erleben, hat man nötig, lange zu leben, über den Tod hinaus, - ja man hat das  ewige  Leben nötig, damit man sich auch ewig im "Reich Gottes" schadlos halten kann für jenes Erdenleben "im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung". Schadlos wofür? Schadlos wodurch? ... DANTE hat sich, wie mir dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflößenden Ingenuität [Neuheit - wp], jene Inschrift über das Tor seiner Hölle setzte "auch mich schuf die ewige Liebe": - über dem Tor des christlichen Paradieses und seiner "ewigen Seligkeit" würde jedenfalls mit besserem Recht die Inschrift stehen dürfen "auch mich schuf der ewige  Hass" - gesetzt, daß eine Wahrheit über dem Tor zu einer Lüge stehen dürfte! Denn  was  ist die Seligkeit jenes Paradieses? ... Wir würden es vielleicht schon erraten; aber besser ist es, daß es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, THOMAS von AQUIN, der große Lehrer und Heilige. "Beati in regno coelesti", sagt er sanft wie ein Lamm, "videbunt poenas damnatorum,  ut beatitudo illis magis complaceat." [Die Seligen im himmlischen Reich werden die Strafen der Verdammten sehen, damit die Seligkeit ihnen mehr gefällt. - wp] Oder will man es in einer stärkeren Tonart hören, etwa aus dem Mund eines triumphierenden Kirchenvaters, der seinen Christen die grausamen Wollüste der öffentlichen Schauspiele widerriet - warum doch? "Der Glaube bietet uns ja viel mehr - sagt er,  de spectac. c. 29 ss. -,  viel Stärkeres;  Dank der Erlösung stehen uns ja ganz andere Freuden zu Gebote; anstelle der Athleten haben wir unsere Märtyrer; wollen wir Blut, nun, so haben wir das Blut  Christi ... Aber was erwartet uns erst am Tag seiner Wiederkunft, seines Triumphes!" [...]

16. Kommen wir zum Schluß. Die beiden  entgegengesetzten  Werte "gut und schlecht", "gut und böse" haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekämpft; und so gewiß auch der zweite Wert seit langem im Übergewicht ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst sagen, daß er inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer geistiger geworden ist: so daß es heute vielleicht kein entscheidenderes Abzeichen der  "höheren Natur",  der geistigeren Natur gibt, als zwiespältig in jenem Sinn und wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heißt "Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom": - es gab bisher kein größeres Ereignis als  diesen  Kampf,  diese  Fragestellung,  diesen  todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum; in Rom galt der Jude "des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht  überführt":  mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werte, der römischen Werte anzuknüpfen. Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man errät es aus tausend Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Apokalypse des JOHANNES zu Gemüte zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zu eigen gab -: darin steckt ein Stück Wahrheit, wieviel literarische Falschmünzerei auch zu diesem Zweck nötig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt, daß man errät,  was  da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment  par excellence,  dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen innewohnte: man vergleich nur die verwandt-begabten Völker, etwas die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen  einstweilen  gesiegt hat, Rom oder Judäa? Aber es ist ja gar kein Zweifel: man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werte beugt - und nicht nur in Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will -, vor  drei  Juden, wie man weiß, und  einer Jüdin (vor  Jesus von Nazareth,  dem Fischer  Petrus,  dem Teppichwirker  Paulus  und der Mutter des anfangs genannten  Jesus,  genannt  Maria).  Dies ist sehr merkwürdig: Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renaissance ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des klassischen Ideals, der vornehmen Wertungsweise aller Dinge: Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter Scheintoter unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisierten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und "Kirche" hieß: aber sofort triumphiert wieder Judäa, Dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiment-Bewegung, welche man die Reformation nennt, hinzugerechnet, was aus ihr folgen mußte, die Wiederherstellung der Kirche, - die Wiederherstellung auch der alten Grabesruhe des klassischen Rom. In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinn als damals kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Sieg über das klassische Ideal: die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten  französischen  Jahrhunderts, brach unter den volkstümlichen Ressentiment-Instinkten zusammen, - es wurde niemals auf Erden ein größerer Jubel, eine lärmendere Begeisterung gehört! Zwar geschah mitten darin das Ungeheuerste, das Unerwartetste: das antike Ideals selbst trat  leibhaft  und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit, - und noch einmal, stärker, einfacher, eindringlicher als je zuvor, erscholl, gegenüber der alten Lügenlösung des Ressentiment vom  Vorrecht  der Meisten, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen die furchtbare und entzückende Gegenlosung vom  Vorrecht der Wenigsten Wie ein letzter Fingerzeig zum  anderen  Weg erschien NAPOLEON, jener einzelnse und spätestgeborene Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordene Problem des  vornehmen Ideals ansich - man überlege wohl,  was  es für ein Problem ist: NAPOLEON, diese Synthesis von  Unmensch  und  Übermensch ...

17. - War es damit vorbei? Wurde jener größte aller Ideal-Gegensätze damit für alle Zeiten  ad acta  gelegt? Oder nur vertagt, auf lange vertagt? ... Sollte es nicht irgendwann einmal ein noch viel fruchtbareres, viel länger vorbereitetes Auflodern des alten Brandes geben müssen? Mehr noch: wäre nicht gerade  das  aus allen Kräften zu wünschen? selbst zu wollen? selbst zu fördern? ... Wer an dieser Stelle anfängt, gleich meinen Lesern, nachzudenken, weiter zu denken, der wird schwerlich bald damit zu Ende kommen, - Grund genug für mich, selbst zu Ende zu kommen, vorausgesetzt, daß es längst zur Genüge klar geworden ist, was ich  will,  was ich gerade mit jener gefährlichen Losung will, welche meinem letzten Buch auf den Leib geschrieben ist:  "Jenseits von Gut und Böse" ... Dies heißt zumindest  nicht  "Jenseits von Gut und Schlecht". - -

trenner
    Anmerkung: Ich nehme die Gelegenheit wahr, welche diese Abhandlung mir gibt, um einen Wunsch öffentlich und förmlich auszudrücken, der von mir bisher nur in gelegentlichem Gespräch mit Gelehrten geäußert worden ist: daß nämlich irgendeine philosophische Fakultät sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Förderung  moralhistorischer  Studien verdient machen möge: - vielleicht dient dieses Buch dazu, einen kräftigen Anstoß gerade in solcher Richtung zu geben. In Hinsicht auf eine Möglichkeit dieser Art sei die nachstehende Frage in Vorschlag gebracht: sie verdient ebensosehr die Aufmerksamkeit der Philologen und Historiker als die der eigentlichen Philosophie-Gelehrten von Beruf.
      "Welche Fingerzeige gibt die Sprachwissenschaft, insbesondere die etymologische Forschung, für die Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe ab?"
    - Andererseits ist es freilich ebenso nötig, die Teilnahme der Physiologen und Mediziner für diese Probleme (vom Wert der bisherigen Wertschätzungen) zu gewinnen: wobei es den Fachphilosophen überlassen sein mag, auch in diesem einzelnen Fall die Fürsprecher und Vermittler zu machen, nachdem es ihnen im Ganzen gelungen ist, das ursprünglich zu spröde, so mißtrauische Verhältnis zwischen Philosophie, Physiologie und Medizin in den freundschaftlichsten und furchtbringendsten Austaus umzugestalten. In der Tat bedürfen alle Gütertafeln, alle "du sollst", von denen die Geschichte oder die ethnologische Forschung weiß, zunächst der physiologischen Beleuchtung und Ausdeutung, eher jedenfalls noch als der psychologischen; alle insgleichen warten auf eine Kritik von seiten der medizinischen Wissenschaft. Die Frage: was ist diese oder jene Gütertafel und "Moral"  wert? will unter die verschiedensten Perspektiven gestellt sein; man kann namentlich das "wert  wozu?" nicht fein genug auseinander legen. Etwas zum Beispiel, das ersichtlich Wert hätte in Hinsicht auf möglichste Dauerfähigkeit einer Rasse (oder auf Steigerung ihrer Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima oder auf Erhaltung der größten Zahl), hätte durchaus nicht den gleichen Wert, wenn es sich etwa darum handelte, einen stärkeren Typus herauszubilden. Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind entgegengesetzte Wertgesichtspunkte:  ansich schon den ersteren für den höherwertigen zu halten, wollen wir der Naivität englischer Biologen überlassen ...  Alle Wissenschaften haben nunmehr der Zukunftsaufgabe des Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, daß der Philosoph das  Problem vom Wert zu lösen hat, daß er die  Rangordnung der Werte zu bestimmen hat. -
LITERATUR - Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Nietzsches Werke, Bd. VII, Stuttgart 1921