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GUSTAV SCHMOLLER
Die Gerechtigkeit
in der Volkswirtschaft


"Aristoteles nennt die Sklaverei dann eine gerecht, wenn Herr und Sklave von Natur aus so verschieden sind, wie Seele und Leib, wie ordnender Wille und äußeres Werkzeug. Dann ist die natürliche, innerlich berechtigte Sklaverei vorhanden; es entspricht das äußere soziale Rechtsverhältnis hier dem Wesen der Menschen. Ganz dasselbe läßt sich von allen sozialen Abstufungen und Klassenbildungen sagen; wir empfinden sie als gerechte, soweit wir finden, daß sie unseren Beobachtungen von gleichen oder ungleichen Eigenschaften der betreffenen Klassen entsprechen."

"Die Gesamtheit und ihr Interesse fordert Opfer in den oberen wie in den unteren Reihen. Die praktischen Vertreter dieses Standpunktes in der Politik werden daher auch notwendig die Folgerungen, die sich aus diesem Grundprinzip des Individualismus ergeben, zu bekämpfen oder abzuschwächen suchen. Und von ihrem Standpunkt aus ist das berechtigt. Aber ebenso berechtigt bleibt daneben der individualistische Standpunkt; und  er ist es, der Gerechtigkeit, Proportionalität der Pflichten und Rechte verlangt. Es wird für das Prinzip der staatsbürgerlichen, der politischen und der sozialen Gleichheit niemals ein festes Fundament geben, wenn man es nicht in diesem Zusammenhang sucht."

"Die verschiedenen Arten der Arbeit, die Tätigkeit des Unternehmers und Tagelöhners sollen nicht in irgendeinem gemeinsamen Maßstab meßbar sein! Als ob nicht die Preisbildung des Marktes schon das scheinbar Unvergleichbare, z. B. diese Ausgabe  Goethes und jene Flasche Champagner, gleichsetzt; - als ob nicht in jedem Strafgesetzbuch das scheinbar noch so Heterogenere, so und so viel Mark Geldstrafe und einen Tag Gefängnis, nach einem konventionellen Maßstab gleichgesetzt wäre."

Gibt es eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Güter? Oder soll es eine solche geben? So fragen die Menschen heute wieder, so haben sie gefragt, seit es menschliche Gesellschaften und soziale Institutionen gibt; so hat der größte Denker des Altertums gefragt nach ihm tausend andere arme schwitzende Menschenhäupter, Häupter in Turbanen und Baret, große Staatsmänner und hungernde Proletarier, besonnene Menschenfreunde und schwärmerische Idealisten.

Gerade heute freilich scheint die Frage weniger als je erlaubt. Selbst Leute, die sich etwas Besonderes auf ihren Idealismus zu Gute tun, erklären sie für eine der unnützen Fragen, die niemand zu beantworten weiß. Die Gedanken des ARISTOTELES über die verteilende Gerechtigkeit werden von oben herab als veraltet und wissenschaftlich überwunden bezeichnet. In oberflächlicher Weise die Erscheinungen des Naturlebens mit den sozialen Prozessen vergleichend, beruft man sich auf die DARWIN'sche Lehre vom Kampf ums Dasein, die dem Stärkeren das Recht gibt, den Schwachen zu unterwerfen und jeden Gedanken an eine gerechte Verteilung irdischer Güter ausschließt. Auch zahlreiche Nationalökonomen wollen von der Frage nichts wissen, und das umso weniger, je ferner sie philosophischen Studien stehen, je mehr sie sich nur in Spezialfragen vertiefen und sich trotz mancher Zugeständnisse an neuere Richtungen mit ihren Grundanschauungen doch noch in den alten Geleisen englischer und deutscher Schuldogmatik bewegen, welche andere Kategorien als Angebot und Nachfrage nicht kennt. Im Hintergrund schwebt dabei in der Regel die Vorstellung, daß der Sozialismus eine gerechtere Güterverteilung fordert, und daß es schon deshalb für den konservativen Staatsbürger und Anhänger der Ordnungspartei keine andere Wahl gibt, als sich gegen diesen Gedanken auszusprechen.

Freilich setzen die, welche so fühlen und denken, sich damit in den schroffsten Gegensatz zu den großen Begründern der neueren Nationalökonomie. Niemand mehr als ADAM SMITH, als TURGOT, als ein Teil ihrer echten Nachfolger war überzeugt, eine gerechtere oder gar eine absolut gerechte Güterverteilung mit den von ihnen verlangten Reformen herbeizuführen. Der Glaube an die Gerechtigkeit ihrer Forderungen war die Stärke der naturrechtlichen Nationalökonomie. Als Konsequenz der "natürlichen Freiheit und Gerechtigkeit" verlangt ADAM SMITH die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit. Die freie individuelle Konkurrenz, so hat man neuerdings ganz richtig die Gedanken des größten Schülers von ADAM SMITH zusammengefaßt, erscheint bei RICARDO als die strikteste Gerechtigkeit gegen alle arbeitenden menschen. Und das ist nicht zufällig. Keine große soziale oder volkswirtschaftliche Reform kann unter Hinweis auf ihre Zweckmäßigkeit den trägen Widerstand, der sich ihr entgegenstellt überwinden. Erst wenn es gelingt, das Geforderte als das Gerechte erscheinen zu lassen, zündet die Forderung und setzt die Massen in Bewegung. Ich habe seit Jahren in der öffentlichen Diskussion wie in den volkswirtschaftlichen Schriften darauf geachtet, wann und wie die Frage der Gerechtigkeit bei volkswirtschaftlichen Dingen mit hereingezogen wird; und ich fand, daß es unwillkürlich fast überall geschieht. Wird das Bankwesen erörtert, so erklärt der Feind der ungedeckten Noten diese für eine Ungerechtigkeit. Stehen höhere Zölle in Frage, so erklärt der Freihändler sie zuerst für ungerecht, dann für unsittlich, erst in dritter Linie für verderblich in wirtschaftlicher Beziehung (1). Bei allen Diskussionen über die neueste Wendung unserer Zollpolitik suchte man von beiden Seiten immer zu beweisen, daß das, was der Gegner will, gerade dem kleinen Mann schadet, dem kleinen Unternehmer, also in ungerechtfertigter Weise auf die Einkommens- und Vermögensverteilung wirkt. Ein angesehener Politiker, welcher jede Erörterung der Gerechtigkeit der Vermögens- und Einkommensverteilung für überflüssig und absurd erklärt, verfällt in seiner Polemik gegen MARX sofort in denselben Fehler, den er seinen Gegnern vorwirft: er erklärt die heutige Vermögensverteilung in Deutschland für legitim, weil nicht der Besitz von Kolonien, nicht die Ausbeutung von Sklaven, sondern die redliche Arbeit des deutschen Bürgertums den Wohlstand selbst geschaffen hat. Er deutet damit ganz richtig auf den Kernpunkt hin, von dem heute das Volksbewußtsein bezüglich der gerechten Vermögensverteilung beherrscht wird. Ein wesentlicher Sprecher der heutigen Freihandelspartei im Reichstag meint, die Naivität, niedrige Löhne zu preisen, dürfe sich heute nicht mehr ans Licht wagen: "Heute betrachten wir nur dann die Verhältnisse als wirtschaftlich gesund, wenn sie jedem Teilnehmer an der Arbeit seinen gerechten Anteil am Gewinn sichern." Und er fügt hinzu: "Die ideale wirtschaftliche Aufgabe ist erfüllt, wenn die höchste Gütererzeugung und die gleichmäßigste Verteilung des dabei erzielten Gewinnes unter die Teilnehmer an der wirtschaftlichen Gesamtarbeit zusammenfallen."

Mag also eine gerechte Verteilung der Güter in Wirklichkeit bestehen oder nicht, was ich zunächst ganz dahingestellt sein lassen will, geredet wird immer von ihr; es wird an sie geglaubt, es wird auf diesen Glauben spekuliert, und es hat dieser Glaube seine praktischen Folgen.

Damit kommen wir zur richtigen Stellung der Frage, mit der wir beginnen müssen. Wir wollen nicht aus irgendeinem Prinzip heraus, als logische Folge desselben eine Formel entwickeln, deren strikte Anwendung überall das Gerechte ergäbe; wir wollen einfach und bescheiden zunächst fragen, wie es kommt, daß auch an die wirtschaftlichen Handlungen, an die sozialen Erscheinungen sich so oft ein billigendes oder mißbilligendes Urteil anknüpft, dessen Ausspruch dahin geht, dies sei gerecht, jenes ungerecht. Haben wir eine richtige Antwort hierauf, dann wird es leicht sein, weiter zu schließen und festzustellen, welche Kraft, welche Tragweite, welchen Einfluß dieses biligende oder mißbilligende Urteil nun rückwärts auf die volkswirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen habe.


I.

Auch derjenige, welcher alle menschlichen Triebe und alles Handeln der Menschen auf die Gefühle der Lust und der Unlust zurückführt, muß zugeben, daß, soweit wir Menschen kennen, neben den niedrien die höheren intellektuellen, ästhetischen und moralischen Gefühle vorhanden sind, daß sie dem Leben jene idealen Zielpunkte geben, daß aus ihnen jene Vorstellungen erwachsen, die alles menschliche Leben, alle Handlungen, alle menschlichen Einrichtungen als Idealbilder eines Sein-Sollenden begleiten und beeinflussen. Wenn wir den Inbegriff dieses Sein-Sollenden das Gute nennen, so ist das Gerechte ein Teil desselben. Die Gerechtigkeit ist eine menschliche Tugend; - man hat sie auch schon die Tugend aller Tugenden genannt, sie ist die dauernde Gewöhnung des Menschen, sein Handeln dem Ideal anzupassen, das wir das Gerechte nennen.

Ein Gerechtes ansich, ein schlechtin Gerechtes finden wir nun in der Wirklichkeit so wenig oder so selten, wie das schlechthin Gute; - das Gerechte ist immer eine Idealvorstellungen, der sich die Wirklichkeit nähern, die sie nie erreichen wird; das sittliche Urteil, eine Handlung, das Tun eines Menschen sei gerecht, will stets nur behaupten, dieses Tun entspreche einer Idealvorstellung und eine einzelne Handlung kann dies vielleicht vollständig tun; der ganze Mensch, die ganze Gesellschaft und ihr Tun kann sich dem nur nähern. Welches Handeln nennen wir nun aber gerecht? Das Wort wird in verschiedener Bedeutung gebraucht. Wir gebrauchen es oft schon, um nur anzudeuten, daß sich der Einzelne den Satzungen des Ganzen fügt, daß sein Handeln dem positiven Recht entspricht. Wir gebrauchen es auch in dem viel weiteren Sinn, so daß wir damit bezeichnen, daß das Handeln nicht nur dem positiven Recht, sondern auch den Idealen desselben entspricht. Wir setzen ein seinsollendes Recht - als das Gerechte - dem positiven Recht entgegen, messen das letztere an ersterem, nennen das positive Recht ungerecht, so weit es diesem Ideal nicht entspricht. Die Vorstellungen, die uns dabei leiten, aus denen wir das Gerechte ableiten, sind keine einfachen; die eigentümliche Natur der Rechtssatzungen als bestimmter formaler Regeln des sozialen Zusammenlebens und die idealen Zielpunkte des sozialen Lebens, welche den materiellen Inhalt des Rechts bestimmen, erzeugen zusammen dieses Idealbild. Vorstellungen vom vollendeten Staat, wie vom vollendeten Individuum verknüpfen sich in demselben. Nur eine dieser Vorstellungen, oder vielleicht richtiger nur einen dieser hier zusammenwirkenden Vorstellungskreise meinen wir, wenn wir vom Gerechten im engeren Sinn reden; wenn wir das Wort so gebrauchen, wie es nicht in der Schul-, sondern in der Sprache des Lebens heute regelmäßig angewandt wird. Wenn wir von einem gerechten Richter, von gerechter Strafe, von gerechten Institutionen sprechen, so haben wir dabei stets die Vorstellung von einer Gesellschaft, von einer Reihe von Menschen, von einer Vergleichung derselben und von einer entsprechenden Verteilung von Gutem oder Schlechtem, von dem was Lust oder Unlust macht, ansich nach einheitlichen, objektiven Maßstäben. Der spezifische Begriff der Gerechtigkeit, der, welcher uns hier vor allem interessiert, ist der der verteilenden Gerechtigkeit; er setzt stets die Proportionalität zweier sich gegenüberstehender Reihen, einer Reihe von Menschen und einer Reihe von positiven oder negativen Gütern, die zu verteilen sind, voraus. Wir ordnen uns jede Vielheit von Personen, die uns in irgendeiner Beziehung als Einheit erscheint, notwendig in eine Reihe nach objektiven Merkmalen und dementsprechend verlangt die Idealvorstellung des Sein-Sollenden die Verteilung der Güter und der Übel; nach diesem Maßstab mißt unser Ideal immer die Wirklichkeit. Immer ist unser sittliches Urteil tätig, die Handlungen der Menschen, ihre Laster wie ihre Tugenden und Leistungen zu werden, d. h. zu vergleichen und in Reihen zu bringen; immer ist unser sozialer Instinkt tätig, die Einzelnen und ihre Handlungen auf das Ganze der Gemeinde, des Staates, der Menschheit zu beziehen, sie danach zu messen, zu lozieren [Reihenfolge festlegen - wp]. Immer wieder beherrscht uns mit unerbittlicher Notwendigkeit die Vorstellung, nach dieser Lokation müssen die Verteilung der Ehren, des politischen Einflusses, der Stellen, des Einkommens, der Strafen stattfinden. Das Gleiche soll gleich, das Ungleich ungleich behandelt werden. Die Proportionalität der menschlichen Handlungen ist es, die wir fordern. Die Einhaltung der Proportionalität erscheint uns gerecht, die Nichteinhaltung ungerecht. Bei einem ungerechten Verhältnis hat das eine Glied zu viel, das andere zu wenig erhalten. Der Ungerechte maßt sich von einem zu verteilenden Gut zuviel an, der Unrechtleidende erhält davon zu wenig.

Wir nennen eine Wahlsystem gerecht, das den politischen Einfluß verteilt nach den Fähigkeiten und Leistungen der Einzelnen für Staat und Gemeinde. Wir nennen ein Strafgesetzbuch gerecht, das trotz der tausendfachen Verschiedenheit der Vergehen und Verbrechen, trotz der scheinbaren Unvergleichbarkeit der verschiedenen Strafen ein einheitlich abwägendes Doppelsystem gefunden hat, in welchem die bösen Taten und die Strafen dem Rechtsgefühl des Volkes entsprechend in zwei Reihen parallelisiert sind. Wir sprechen von einer gerechten Abstufung der Gehalte, von einer gerechten Beförderung der Beamten sowohl bei jeder Aktiengesellschaft, jeder Eisenbahn, als innerhalb des Offizierkoprs und der staatlichen Beamtenhierarchie; wir sprechen von einer gerechten Verteilung der Steuern, wie von einer gerechten Abstufung der Löhne, von einem gerechten Unternehmergewinn, wie von einer gerechten Vergütung der Kapitalüberlassung. Und immer ist die Vorstellung, die dabei im Hintergrund schweb, dieselbe: die Menschen werden nach gewissen Gesichtspunkten, nach Eigenschaften, Taten und Leistungen, Abstammung und Besitz in Gruppen und Reihen gebracht, und diesen Reihen sollen die Lasten oder Vorteile entsprechen.

Der Unternehmergewinn, sagt man, ist gerechterweise höher als der Zinsfuß, weil sich in ihm eine größere Möglichkeit des Verlusts mit einer Belohnung für Arbeit verknüpft, die beim Zins fehlt. Die Kapitalrente ist gerecht, weil der Kapitalhinleihende auf einen möglichen Gewinn oder Genuß verzichtet, der Kapitalleihende ohne diese Hilfe in einer viel schlechteren Lage wäre, weil für den Dienst des Einen eine Vergütung des Anderen als gerecht erscheint. Die hohe Einnahme des berühmten Arztes oder Advokaten ist gerecht, so ungefähr folgert ADAM SMITH, weil von der großen Schar, welche den teuren Aufwand für diese Studien machen, Viele ganz geringe Einnahmen haben, die auserlesenen Tüchtigen also gleichsam einen Ersatz dafür erhalten. Jede Hausfrau und jedes Dienstmädchen findet täglich und ständlich diese oder jene Preisforderung gerecht und die andere ungerecht und immer aufgrund von Vergleichen, Reihenbildungen und Wertschätzungen. Am wichtigsten bleibt das Urteil über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der sozialen Klassenverhältnisse im Ganzen.

ARISTOTELES nennt die Sklaverei dann eine gerechte, wenn Herr und Sklave von Natur aus so verschieden sind, wie Seele und Leib, wie ordnender Wille und äußeres Werkzeug. Dann ist die natürliche, innerlich berechtigte Sklaverei vorhanden; es entspricht das äußere soziale Rechtsverhältnis hier dem Wesen der Menschen.

Ganz dasselbe läßt sich von allen sozialen Abstufungen und Klassenbildungen sagen; wir empfinden sie als gerechte, soweit wir finden, daß sie unseren Beobachtungen von gleichen oder ungleichen Eigenschaften der betreffenen Klassen entsprechen. Das Volksgefühl hat, von Zeiten des Irrtums und der Leidenschaft abgesehen, zu allen Zeiten Ehre, Reichtum und Stellung denen gegönnt, deren Taten, deren Leistungsfähigkeit, deren Tugend und Bildung entsprechend hervorragten; es hat die Lage der mittleren und unteren Klassen dann gemißbilligt, wenn es fand, daß Menschen derselben Rasse, desselben Glaubens, desselben Staates von ihnen Gleichstehenden mißhandelt, unter einem ihrer Bildung und ihren Leistungen nicht entsprechenden Druck gehalten wurden. Alle Klassenkämpfe der Vergangenheit sind aus diesen Empfindungen hervorgegangen. Die größten Politiker und Volksführer aller Zeiten, auch die größten Könige und Cäsaren haben sich an die Spitze der Bewegungen gestellt, die, von unterdrückten, ausgebeuteten und mißhandelten Klassen ausgehend, mit glücklichem oder unglücklichem Erfolg eine Beseitigung der ungerechten sozialen Verhältnisse anstrebten. Oft handelte es sich in diesen Klassenkämpfen nur um politische Rechte, oft nur um Ehrenstellen oder um das Eherecht; den Kernpunkt derselben bilden aber stets die wirtschaftlichen Fragen, die Einkommens- und Vermögensverteilung oder die Vorbedingungen und die Zugänge derselben, die Erwerbsmöglichkeiten. Denn das Wichtigste im sozialen Kampf ums Dasein ist die wirtschaftliche Existenz.

Und daher tritt auch hier stets die Frage auf, ist das Bestehende gerecht? Ist diese Schranke des Erwerbs, ist diese oder jene Institution der Vermögensverteilung, ist diese gesamte Einkommensverteilung gerecht?

Freilich wird diese Frage nicht jederzeit gleich stark betont; die aus der Beantwortung sich ergebenden Gefühle werden nicht zu allen Zeiten in gleicher Stärke die Massen oder die einzelnen Parteien beeinflussen. Gewiß ist auch das Urteil, eine bestimmte Klassenbildung und Einkommensverteilung sei gerecht oder ungerecht, nicht das einzige, was über die betreffende soziale Erscheinung gefällt wird. Noch weniger ist das betreffende Urteil, auch wenn schon tausende von Menschen in ihm übereinstimmen, die einzige Kraft, welche die Einkommensverteilung beherrscht. Aber dieses Urteil ist die einzige psychologische Basis, auf der alle Forderungen des Rechts der Gleichheit erwachsen sind. Es ist der Angelpunkt alles Individualismus. Der Standpunkt der Gesamtheit mag oftmals etwas anderes verlangen; die Gesamtheit und ihr Interesse fordert Opfer in den oberen wie in den unteren Reihen. Die praktischen Vertreter dieses Standpunktes in der Politik werden daher auch notwendig die Folgerungen, die sich aus diesem Grundprinzip des Individualismus ergeben, zu bekämpfen oder abzuschwächen suchen. Und von ihrem Standpunkt aus ist das berechtigt. Aber ebenso berechtigt bleibt daneben der individualistische Standpunkt; und  er  ist es, der Gerechtigkeit, Proportionalität der Pflichten und Rechte verlangt; er verlangt Gleichheit, soweit er gleiche Menschen, Ungleichheit, soweit er ungleiche sieht. Es wird für das Prinzip der staatsbürgerlichen, der politischen und der sozialen Gleichheit niemals ein festes Fundament geben, wenn man es nicht in diesem Zusammenhang sucht. Jede andere Abgrenzung des Prinzips der Gleichheit, als die nach den Eigenschaften und Leistungen der Menschen, ist willkürlich. Gleiche Rechte fordert die materielle Gerechtigkeit immer nur so weit, als sie gleiche Eigenschaften sieht und die Möglichkeit gleicher Leistung und Pflichterfüllung voraussetzt.


II.

Das billigende oder mißbilligende Urteil über die Gerechtigkeit menschlicher Handlungen oder Institutionen beruht also immer auf den gleichen psychologischen Prozessen; aber das Resultat, zu dem es kommt, kann ein sehr verschiedenes sein Wie wäre es sonst auch erklärbar, daß die Gerechtigkeitsbegriffe des Barbaren, des Heiden, des Christen, des modernen Kulturmenschen so weit auseinander liegen, daß immer wieder etwas anderes als das Gerechte gefordert wird. Selbst innerhalb desselben Volkes und derselben Zeit wird der Streit darüber, was gerecht ist, nie aufhören; es wird nur zeitweise gewissen Urteilen gelingen, sich in den beherrschenden Mittelpunkt der Vorwärtsbewegung zu stellen, es werden nur gewisse Resultate früherer geistiger Kämpfe als festes Erbe der Folgezeit überliefert werden; sie werden sie, soweit nicht die Nacht der Barbarei und Unkultur wieder hereinbricht, immer sicherer beherrschen oder beeinflussen.

Versuchen wir nun die psychologischen Prozesse, um die es sich handelt, noch etwas näher darzulegen, so scheint der erste Schritt stets die Zusammenfassung eienr Anzahl Menschen zu Gruppen sittlicher Gemeinschaft in unseren Vorstellungen. Die so als Einheit gedachten Menschen werden dann verglichen, nach ihren Eigenschaften und Handlungen geprüft; es wird das Gleiche vom Urteil gesucht und gefunden, das Ungleiche in seinen Abständen vom Wertgefühl geprüft; in der Tiefe der Gemütsempfindungen erfolgen die letzten Entscheidungen über diesen wichtigsten Punkt. Alle Gefühle gehen ja in letzter Linie auf ein Anerkennen oder Aberkennen, auf ein Schätzen, ein Empfinden des Förderlichen oder Hemmenden, sind Entscheidungen über den Wert der Menschen und Dinge. Und daran knüpft sich zuletzt der einfache logische Schluß: Die Personen, welche ich mirals sittliche Gemeinschaft denken muß, sollen auch, soweit die menschliche Einwirkung reicht, insofern als gleich behandelt werden als sie gleich sind, ungleich, so fern sie ungleich sind.

Die Gruppen von Personen, zu welchen unsere Vorstellungen notwendig die Menschen zusammenfassen, sind die mannigfachsten. Die Mitglieder der Familie und des Stammes, die Genossen eines Vereins und einer Gemeinde, die Bürger eines Staates und eines Staatenbunes, die Glieder einer Kirche und einer Rasse, schließlich in gewisser Beziehung die ganze Menschheit können dabei in Betracht kommen, aber immer nur insofern als sie eine sittliche Gemeinschaft ausmachen und bestimmte gemeinsame Zweck verfolgen. Wer außerhalb der Gruppe steht, wird nicht verglichen, wird nicht in das Urteil über das Gerechte einbezogen. Und deshalb erscheint es dem Barbaren nicht ungerecht den Fremden zu töten; erst die Vorstellung einer sittlichen Gemeinschaft zwischen allen Völkern und Menschen verhindert das. Auch erscheint es mir nicht ungerecht, wenn ein Engländer gleichen Einkommens die doppelten Steuern zahlt, als ein Deutscher. Je nach den verschiedenen menschlichen Zwecken und Gemeinschaften erscheint derselbe Mensch hier gleich, dort ungleich. Für irgendeinen gleichgültigen Verein, dem wir nur mit einem ganz geringen Bruchteil unserer Interessen angehören, scheint uns eine Kopfbesteuerung gerecht, die wir in Staat und Gemeinde unerträglich finden. Zur Verteidigung des Vaterlandes erscheinen unserem Rechtsgefühl alle jungen kräftigen Männer gleich verpflichtet, die für andere staatliche und soziale Zwecke die größten Verschiedenheiten zeigen, und demgemäß als verschieden behandelt werden.

Das Urteil über die Gleichheit und Ungleichheit ist deshalb stets ein sehr kompliziertes: es kommen nicht bloß die Eigenschaften und Handlungen der Menschen ansich in Betracht, sondern auch ihre Beziehungen zu den Zwecken menschlicher Gemeinschaft. Bei dieser Gruppen- und Reihenbildung haben wir nur eine bestimmte, engbegrenzte Qualität der Menschen im Auge, bei jener suchen wir nach einer Abwägung aller Eigenschaften, nach dem Durchschnittsresultat des ganzen Menschen. Eine Gesellschaft Schiffbrüchiger, die sich in ein zu kleines Boot gerettet hat, das nicht alle tragen kann, wird geneigt sein, in Bezug auf Leben und Sterben alle Genossen als gleich zu werten, das Los über alle gleichmäßig zu werfen; in Bezug auf die geretteten Nahrungsmittel aber wird sie billig nach dem Bedürfnis verteilen, d. h. dem rudernden Matrosen die doppelte Portion geben, wie dem dreijährigen Kind. In einem kriegerischen Nomadenstamm wird dem tapfersten Kämpfer, im Jockey-Club dem besten Reiter billig ein Vorzug eingeräumt, der in anderen Gruppen von Menschen als ungerecht erscheint. Auch in Familie und Staat wird oft nur eine bestimmte Art von Eigenschaften oder Handlungen die Grundlage des Urteils bilden; der Strafrichter fragt nur nach gewissen unrechten Handlungen; der Vater, der jedem Kind gleich viel hinterlassen will, weil er das gerecht findet, will die Verschiedenheit der Kinder in mannigfacher anderer Hinsicht damit nicht leugnen. Seine Ehren und Würden aber wird der Staat möglichst nach dem Gesamtdurchschnitt der für ihn wichtigen Eigenschaften verteilen. Jede Wahl, jede Beförderung erfolgt nach durchschnittlichen Gesameindrücken. Das Urteil über eine gerechte Vermögens- und Einkommensverteilung wird stets auch auf solchen ruhen.

Sei es nun aber eine einzelne Eigenschaft oder Handlung oder eine Summe von solchen, die in Betracht kommenden sind die, welche mit dem oder den Zwecken der Gemeinschaft zusammenhängen. Und das kann natürlich das Mannigfache sein, z. B. selbst körperliche Stärke oder Schönheit. Es wird gerecht erscheinen, in einem Turnverein dem Stärksten einen Preis zu geben, bei der Darstellung lebender Bilder die schöne Frau zu bevorzugen. In der Regel aber werden bei den sozialen Gebilden höherer Ordnung eben die Eigenschaften in Betracht kommen, die, wie Tugend und Talent, ihnen am wirksamsten dienen, die sich in Handlungen ausdrücken, welche die Gesamtheit fördern. Oft sind dabei freilich ganz heterogene Eigenschaften zu vergleichen, da die großen sittlichen Gemeinschaften, vor allem der Staat, gar verschiedene Zwecke verfolgen. Es kann die Frage entstehen, ist der tapfere General oder der große Staatsmann, der große maler oder die große Sängerin mehr wert für das Ganze. Da entscheidet eben das jeweilige Volksbewußtsein nach der Ordnung der Zwecke, die im Augenblick asls die richtige erscheint, und dem folgt das öffentliche Urteil, das die Dotierung eines Generals, das Gehalt eines Ministers, die Sage einer Sängerin gerecht oder ungerecht findet.

Ebenso schwierig aber wie die Vergleichung verschiedener Eigenschaften und Handlungen ist die Bemessung der Ungleichheit in derselben Sphäre menschlichen Handelns. Daß dem Minister ein Höheres Gehalt gebührt, als seinem Sekretär, daß der Chef einer großen Firma mehr verdient, als der erste Prokurist und dieser mehr als der letzte Kommis, daß der Musterzeichner in einer Fabrik wichtiger ist, als der Portier, darüber ist das wertmessende Gefühl fast aller Menschen einig. Aber wenn es sich darum handelt, die Abstände der Ungleichheit nun zu messen, in Zahlen auszudrücken, wie es doch für alle praktischen Fragen des Lebens nötig ist, so werden zahlreiche Meinungsverschiedenheiten nicht ausbleiben, ja es könnte gerade unter diesem Gesichtspunkt am meisten die Meinung verteidigt werden, daß die psychologischen Urteile, auf denen sich die Vorstellungen über das Gerechte aufbauen, stets ein Chaos ohne Einheit und Klarheit darstellen. Es scheint der Einwurf nahe zu liegen, den man auf dem Gebiet des ästhetischen Urteils so oft hört, es gebe hier kein allgemeines Urteil, alles sei hier eine individuelle Geschmackssache; es handle sich hier um rein individuelle Gefühlsprozesse, die ohne jedes Maß wirr durcheinander gehen, die nur von einem Toren als Grundlage staatlicher Dinge und Institutionen aufgefaßt werden könnten.

Dem wäre nun wohl auch so, wenn das individuelle Gefühls- und Gedankenleben wirklich nur das Produkt vereinzelter, für sich stehender Individuen wäre. Aber jede Gefühlsstimmmung, jedes Wort, jede Vorstellung, jeder Begriff ist, tiefer verfolgt, nicht das Ergebnis eines individuellen, sondern eines gesellschaftlichen Prozesses. Auch das bedeutendste und genialste Individuum denkt und fühlt nur als Glieder der Gemeinschaft; neunzig Prozent dessen, was es besitzt, ist ein anvertrautes, von Vätern, Lehrern, Mitmenschen überliefertes Gut, das es zu pflegen und weiter zu geben hat. Die Mehrzahl der gewöhnlichen Menschen sind nicht viel mehr als gleichgültige Gefäße, in die die Gefühle und Gedanken der vor ihnen und mit ihnen lebenden Millionen eintreten. Die Sprache ist ein Produkt der Gesellschaft: "Mittels des Wortes, der Rede", sagt HERBART, "geht der Gedanke und das Gefühl hinüber in den Geist des Andern. Dort wirkt er neue Gefühle und Gedanken, welche sogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorstellungen des Ersteren zu bereichern. Auf diese Weise geschieht es, daß der allermindeste Teil unserer Gedanken aus uns selbst entspringt, vielmehr wir alle gleichsam aus einem öffentlichen Vorrat schöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung Teil nehmen, zu welcher jeder Einzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liefern kann."

Mögen also die Gefühle, die dem wertschätzenden Urteil über das Gerechte zugrunde liegen, zunächst rein auf der dunklen Sphäre einer bloßen Gemütsstimmung verharren, schon auf dieser Stufe sind sie nicht ein psychologisches Chaos, sondern eine rythmische Massenbewegung. Und je mehr sie sich erheben zu Urteilen und Maßstäben, je mehr die Gefühlsstimmungen durch das Mittel der öffentlichen Beratung, Erwägung, Besprechung sich verdichten zu Urteilen mit bestimmten Merkmalen und Kriterien, desto mehr haben wir zwar nicht ganz einheitliche, aber doch in Massen geordnete, nach Mittelpunkten und Autoritäten gruppierte, klar, fest und gleichmäßig eintretende Massenurteile vor uns, die aufgrund derselben Eigenschaften, mit Rücksicht auf dieselben Zwecke immer wieder dieselben Resultate ergeben, zu herrschenden Wertmaßstäben werden.

Jede Zeit hat konventionelle herrschende Wertmaßstäbe über Eigenschaften und Handlungen, Tugenden und Laster der Menschen; sie stellt konventionell diese Art von Tätigkeit höher, als die anderen, und fordert dann entsprechend dort höheren Lohn und höhere Ehre, hier größere Strafe und geringeres Einkommen. Diese konventionellen Wertmaßstäbe sind mehr oder weniger für jedes Urteil über die Gerechtigkeit der Ausgangspunkt. Eine neue veränderte Auffassung mißt sich zunächst vor allem an der Abweichung vom Überlieferten. Wie jede einzelne Preisbildung in der Gesellschaft nicht von Neuem aus Angebot und Nachfrage ensteht, sondern wie Angebot und Nachfrage stets nur den überlieferten Wert zu modifizieren suchen, so geht es auch mit dem Werturteil über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Die Summe dessen, was als gerecht überliefert ist, bildet stets das eigentliche Schwergewicht in allen Urteilen. Ein verfeinertes Rechtsgefühl fordert da und dort eine Änderung; gegenüber der Gesamtheit der Vorstellungen über das Gerechte ist das immer nur ein einzelner, wenn auch bedeutungsvoller Punkt.

In der bestehenden Sitte und im bestehenden Recht haben diese konventionell überlieferten Wertmaßstäbe ihr eigentliches Bollwerk; da haben sie eine feste, starre, weite Kreise gleichmäßig beherrschende Form angenommen, in dieser festen Form werden sie von Generation zu Generation sicher überliefert. Aber sie fehlen auch außerhalb dieses festen Bodens nicht; sie erzeugen sich überall aus der Wiederholung ähnlicher Fälle und bilden die Grundlage der Urteile über das Gerechte. Diese Urteile entstehen ja täglich und stündlich bei jedem denkenden und fühlenden Menschen in Bezug auf alle sozialen Lebensverhältnisse; sie sind nicht auf das positive Recht beschränkt. In der Familie fühlt das Schwesterchen die Bevorzugung des Brüderchens als Unrecht; in jedem geselligen Kreis werden täglich Besuche, Einladungen, ja lächelnde Worte, Blicke und Winke als ungerechte Bevorzugung empfunden. Die seelischen Vorgänge sind dieselben, ob wir uns hier oder auf dem Boden des positiven Rechts befinden, und überall sind es vor allem die hergebrachten Maßstäbe, die das Urteil beherrschen. Diese hergebrachten konventionellen Maßstäbe sind der historische Niederschlag des Gerechtigkeitsgefühls von Millionen und Milliarden von Menschen, auf deren Schultern wir stehen. Durch sie gewinnt das scheinbar regellos Schwankende, zufällig Individuelle einen festen Körper und dauerhafte Gestalt, trotz ewiger Umbildung und Neubildung.

Von diesem Standpunkt aus werden wir auch leicht schon hier den kindlichen Einwurf widerlegen können, der Begriff des Gerechten lasse sich auf volkswirtschaftliche Dinge nicht anwenden, weil es sich hier um unvergleichbare Größen und Qualitäten handelt; die verschiedenen Arten der Arbeit, die Tätigkeit des Unternehmers und Tagelöhners seien nicht in irgendeinem gemeinsamen Maßstab meßbar. Als ob nicht die Preisbildung des Marktes schon das scheinbar Unvergleichbare, z. B. diese Ausgabe GOETHEs und jene Flasche Champagner, gleichsetzt; - als ob nicht in jedem Strafgesetzbuch das scheinbar noch so Heterogenere, so und so viel Mark Geldstrafe und einen Tag Gefängnis, nach einem konventionellen Maßstab gleichgesetzt wäre. Überall, auf dem Boden der Preisbildung und auf dem des Rechts ist das überlieferte konventionelle Urteil, das sei gleichzusetzen, das nicht, der Ausgangspunkt. Nur wenn die Menschheit ihre Urteile jeden Moment von Neuem zu bilden beginnen müßte, wäre daher jener Einwurf richtig. So aber, wie die Dinge wirklich liegen, bleibt die Tatsache bestehen, daß der durchschnittliche Verdienst der Unternehmer gegenüber dem Lohn der Arbeiter durch eine Veränderung von Angebot und Nachfrage innerhalb einer volkswirtschaftlichen Organisation, wie wir sie heute haben, erhöht oder erniedrigt werden kann; daß aber unabhängig davon aufgrund einerseits der überlieferten Maßstäbe und andererseits der heute zur Herrschaft gelangenden Gefühle und Idealvorstellungen diese Veränderung, sobald sie einen gewissen Umfang erreicht, als eine gerechte oder ungerechte erscheinen wird.

Und wenn man diese und ähnliche Fragen diskutiert, wenn sich verschiedene Ansichten darüber streiten, so stehen in der Regel nicht die einander gegenüber, welche die Kategorien der Gerechtigkeit auf diese Erscheinungen anwenden wollen und die, welche die Anwendbarkeit leugnen; sondern es kämpfen ältere, hergebrachte Maßstäbe der Beurteilung mit neueren, die Idealvorstellungen des 18. Jahrhunderts mit denen des 19., es kämpft ein roheres Rechtsgefühl mit einem verfeinerten, es kämpfen Idealvorstellungen, deren Durchführung heute unmöglich ist, mit solchen, die durch die Sitte und das Recht der Gegenwart realisierbar sind; es kämpfen schließlich Idealvorstellungen der Gerechtigkeit, welche sich mit anderen nicht minder berechtigten Idealen schon auseinandergesetzt haben, mit solchen, in denen das Prinzip der Gerechtigkeit sich ausschließlich zur Geltung bringen will.

Und eben weil dieser Kampf nie ruht, gibt es, wie wir schon bemerkten, keine einfache, allen Menschen und Zeiten gleich verständliche und geläufige, für alle Gebiete gleich anwendbare Formel der Gerechtigkeit. Die Vorstellungen, um die es sich handelt, gipfeln wohl alle in dem Grundgedanken: jedem nach seiner Leistung,  suum cuique;  aber die mögliche Anwendung dieses Satzes bleibt nach dem Heer der möglichen Wertvorstellungen, Schätzungen, Gruppierungen und Reihenbildungen immer eine verschiedene. Der abstrakten Forderung z. B., in der Arbeit oder gar in der Handarbeit den einzigen Maßstab der Gerechtigkeit zu sehen, tritt sofort gleichberechtigt die gegenüber, das Talent oder die Tugend oder gar nur den Besitz eines Menschenantlitzes ansich in Rechnung zu stellen. Nur in Bezug auf bestimmte Kreise und bestimmte Zwecke wird sich die eine oder die andere Formel nach und nach als die berechtigtere darstellen und sich dann auch Anerkennung erkämpfen.

Was ist es aber, das im Kampf der verschiedenen Ansichten zuletzt entscheidet? Sind es Gründe logischer Art? Es scheint nicht, oder wenigstens nicht in erster Linie. So sehr überall im Kampf über öffentliche und gesellschaftliche Einrichtungen alle möglichen Gründe logischer Art für die Gerechtigkeit eienr Sache angerufen wurden, dieselben überzeugen selten, sie erscheinen immer mehr oder weniger stumpf. Sie überzeugen wenigstens den Gegner nicht, während sie fähig sind, den Anhänger bis zum äußersten Kampf für sie zu begeistern. Und das ist natürlich. Es sind keine logischen Entscheidungen. Seien es althergebrachte Wertmaßstäbe, deren unvordenkliches Alter oder gar göttliche Herkunft dem Gemüt imponiert, seien es neuere Vorstellungen, die mit der Macht der Leidenschaft die Jünger einer Schule, einer Partei, die Mitglieder einer Klasse, eines Volkes erfassen: immer liegt die letzte Entscheidung im Gemütsleben, im inersten Zentrum des menschlichen Seelenlebens.

Daher auch die weite Möglichkeit des Irrtums, des Wahns, der heftigen Leidenschaften; die Ideale der Gerechtigkeit können in verschiedener Gestalt auftreten; das Wahnsinnigste wird in ihrem Namen gefordert, wie das Höchste und Heiligste. Oft bedarf es langer Läuterungskämpfe bis der Irrtum abgestreift ist, das Ideal in seiner Reinheit herausgebildet ist. Aber zugleich erklärt der innere Zusammenhang der Vorstellungen über das Gerechte mit den Tiefen des Gemütslebens die magische Kraft ihrer Wirkung. Was das Herz im Innersten bewegt, das bezwingt den Willen, den Egoismus, das schafft Taten, das reißt den Einzelnen und die Millionen zu Leistungen und Opfer fort. Daher das Geheimnis, daß jede politische Forderung, jede volkswirtschaftliche Einrichtung nur züdet, wenn sie als eine Konsequenz der Gerechtigkeit erscheint; daher der unwillkürliche Wunsch in jeder Diskussion, die Gerechtigkeit anzurufen. Daher auch die Tatsache, daß dieselbe Theorie, welche eine Forderung der Gerechtigkeit als ihre Konsequenz aufstellt, oft lange nur von Einzelnen vorgetragen, von der öffentlichen Meinung aber abgewiesen wird, um dann plötzlich mit unwiderstehlicher elementarer Kraft die Massen zu ergreife, sie in neue Bahnen zu führen, die Gesetzgebung aufs Tiefste zu beeiflusse, ganzen Perioden ihre veränderte Signatur aufzudrücken.
LITERATUR: Gustav Schmoller, Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Wirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 5, Leipzig 1881
    Anmerkungen
    1) Vgl. diese charakteristische Reihenfolge in den Elementen der Wirtschaftslehre von L. COSSA (deutsch 1879), Seite 69.