ra-3 R. EuckenG. SimmelW. SombartH. Kantorowiczvon Rümelin    
 
THORSTEIN VEBLEN
[1857 - 1929]
Die Theorie der feinen Leute
[Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen]

"Der besondere Gesichtspunkt oder das besondere für die Klassifizierung der Tatsachen entscheidende Merkmal hängt vom Interesse ab, von dem aus die Entscheidung getroffen wird. Die Motive, nach denen unterschieden, und die Norm, nach der bei Klassifizieren der Fakten vorgegangen wird, verändern sich also in dem Maß, in dem sich die Kultur entwickelt; denn das Ziel, in dessen Dienst diese Fakten gesehen werden, ändert sich, und damit auch der Gesichtspunkt."

"Man kann die Institutionen der Ehe und des Eigentums in der ersten Phase ihrer Entwicklung nicht voneinander unterscheiden; beide entstehen aus dem Bedürfnis der erfolgreichen Männer, ihre Kampfkraft mit Hilfe von sichtbaren und dauerhaften Beweisen zu demonstrieren, und beide dienen sie jenem Streben nach Herrschaft, das alle räuberischen Gesellschaften kennzeichnet. Das Eigentum an der Frau wird allmählich zum Eigentum an den Produkten ihrer Arbeit, und so entsteht das Eigentum an Sachen wie an Personen."


Vorwort

Der Zweck des vorliegenden Buches besteht darin, Standort und Wert der müßigen Klasse als ökonomischen Faktor im modernen Leben zu untersuchen; allerdings war es nicht immer möglich, die Diskussion streng innerhalb der genannten Grenzen zu halten. Es ließ sich nicht vermeiden, auch auf den Ursprung von Institutionen und Merkmalen des gesellschaftlichen Lebens einzugehen, die man im allgemeinen nicht als wirtschaftliche Erscheinungen betrachtet. Hin und wieder werden Theorien und ethnologische Verallgemeinerungen berührt, die vielleicht nicht jedermann vertraut sind. Doch versucht das erste Kapitel die Natur dieser theoretischen Voraussetzungen zu erklären, um dadurch, wie wir hoffen, Unklarheiten zu beseitigen. Eine ausführliche Darlegung unseres theoretischen Standpunktes findet der interessierte Leser in Band IV des "American Journal of Sociology" in den Artikeln "The Instinct of Workmanship" und "The Barbarian Status of Women". Doch beruth die vorligenden Darstellung nicht in dem Maß auf diesen zum Teil neuen Verallgemeinerungen, daß sie als Teil der ökonomischen Theorie jeden möglichen Wert verlieren würde, falls, nach Ansicht des Lesers, die neuen Verallgemeinerungen nicht genügend begründet und gestützt sind.

Teils aus Gründen der Bequemlichkeit und teils um Mißverständnissen vorzubeugen, haben wir die Beispiele, die unsere Thesen beleuchten und erklären, mit Vorliebe dem alltäglichen, der Beobachtung zugänglichen und jedermann vertrauten Leben und nicht irgendwelchen entfernten und versteckten Quellen entnommen. Wir hoffen, daß wir dadurch nicht gegen das Gefühl der literarischen und wissenschaftlichen Angemessenheit verstoßen, und wir hoffen auch, daß wir niemanden beleidigen, wenn wir gewöhnliche und gemeine Erscheinungen mit einer - wie wir sagen möchten - unempfindlichen Freiheit behandeln und andere, intime Erscheinungen aufdecken, die bisher keine ökonomische Darstellung gefunden haben.

Diejenigen Voraussetzungen und Beispiele, die aus etwas abseitigen Quellen stammen, wie auch gewisse ethnologische Theorien sind wohl zumindest dem gebildeten Leser mehr oder weniger bekannt, weshalb wir von Anmerkungen absehen zu können glaubten; auch der Ursprung der wenigen vorhandenen Zitate wird jedermann sogleich klar sein, so daß es keiner Quellenangaben bedarf.


Einführung

Die Institution einer Klasse, die nicht arbeitet, also einer müßigen Klasse, hat in den Hochformen der barbarischen Kultur, etwa im feudalen Europa oder in Japan, ihre höchste Entwicklung gefunden. Die sozialen Klassen sind hier streng geschieden, und die größte wirtschafliche Bedeutung kommt wohl dem Umstand zu, daß die verschiedenen Tätigkeiten verschiedenen Klassen zugeordnet sind. So werden die oberen Klassen üblicherweise von jeder produktiven Tätigkeit ausgenommen oder gar ausgeschlossen, hingegen bleiben ihnen bestimmte Beschäftigungen vorbehalten, die als ehrenvoll gelten. Der Krieg stellt in allen feudalen Gesellschaften das vornehmste Handwerk dar, dem an zweiter Stelle meist das Priesteramt folgt. Besitzt die barbarische Gesellschaft. Besitzt die barbarische Gesellschaft keinen ausgesprochenen kriegerischen Charakter, so kann das Priesteramt an die erste Stelle rücken. Doch mit wenigen Ausnahmen gilt die Regel, daß Krieger wie auch Priester von aller produktiven Arbeit ausgenommen sind, und diese besondere Stellung kommt dem ökonomischen Ausdruck eines höheren Ranges gleich. Ein gutes Beispiel dafür bietet das Indien der Brahmanen. Innerhalb dieser Schicht, die allgemein als vornehme Klasse bezeichnet werden kann, zeigt sich in den Hochformen der barbarischen Kultur eine sehr ausgeprägte soziale Differenzierung, der gemäß sich dann auch verschiedene Beschäftigungen unterscheiden lassen. Als Ganzes umfaßt die müßige Klasse Adel und Priesterstand mitsamt einem großen Teil ihrer jeweiligen Gefolgschaft. Wenn auch die Beschäftigungen innerhalb dieser Klasse verschieden sind, so weisen sie doch ein gemeinsames wirtschaftliches Kennzeichen auf: Es handelt sich nämlich in keinem Fall um ein Gewerbe oder Handwerk. Diese nicht-produktiven Beschäftigungen der Oberklasse lassen sich in vier große Gruppen einteilen, in Regieren, Kriegführen, religiöse Aufgaben und Sport.

In einem früheren, allerdings nicht dem allerfrühesten Stadium der Barbarei, ist die müßige Klasse weit weniger differenziert. Die Unterschiede treten weder zwischen den einzelnen Gruppen noch zwischen den Beschäftigungen deutlich hervor. Die Inselvölker Polynesiens stehen zum Beispiel auf dieser Entwicklungsstufe, nur nimmt bei ihnen die Jagd nicht den sonst üblichen Ehrenplatz ein, da das Großwild fehlt. Ein anderes Beispiel bietet das Island der Sagas. In all diesen Gesellschaften herrscht eine strenge Scheidung zwischen den Klassen und den jeweiligen Beschäftigungen. Handarbeit, Gewerbe, kurz, alles, was unmittelbar dem täglichen Lebensunterhalt dient, wird ausschließlich von der Unterklasse verrichtet. Zu dieser gehören die Sklaven, sonstige abhängige Personen und in der Regel auch die Frauen. Gliedert sich die Aristokratie in verschiedene Ränge, so sind die Frauen des obersten Ranges für gewöhnlich von der gewerblichen Arbeit oder mindestens von der gemeinen Handarbeit befreit. Die Männer der Oberklasse sind nicht nur davon frei, sondern die Sitte verbietet ihnen sogar jede gewerbliche Arbeit, und die ihnen offenstehenden Beschäftigungen sind streng begrenzt. Zu diesen letzteren gehören wie in den höheren, anfangs erwähnten Entwicklungsstadien das Regieren, der Krieg, die religiösen Ämter und der Sport. Diese vier Tätigkeiten bestimmen das Leben der Oberklasse, und für den obersten Rang, nämlich für König oder Häuptling, sind sie die einzigen, die auszuüben ihm Sitte und Empfinden der Gesellschaft erlauben. Wo diese Lebensweise voll entwickelt ist, wird selbst die sportliche Betätigung für die Angehörigen dieses höchsten Ranges zu einer fragwürdigen Angelegenheit. Den unteren Stufen der vornehmen Klassen stehen hingegen auch andere Tätigkeiten offen, doch hängen sie in irgendeiner Weise mit den spezifischen Beschäftigungen dieser Klasse zusammen. Dazu gehören auch etwa die Herstellung und Pflege von Waffen, Kriegsgerät und Kanus, das Zähmen und Abrichten von Pferden, Hunden, Falken, die Vorbereitung der religiösen Zeremonien usw. Von dieser Art vornehmer Hilfsdienste bleiben die unteren Klassen ausgeschlossen, es sei denn, daß sie rein gewerblichen Charakter besitzen und mit den spezifischen Tätigkeiten der Oberschicht nur noch entfernt in Beziehung stehen.

Betrachten wir nun noch primitivere Formen des barbarischen Lebens, so finden wir keine voll entwickelte müßige Klasse mehr. Vorhanden sind hingegen bereits die Gebräcuhe, Motive und Bedingungen, aus denen diese Institution später hervorgeht. An den nomadisierenden Jägervölkern in verschiedenen Gegenden der Erde lassen sich die ersten Anfänge dieser Differenzierung nachweisen, wofür die nordamerikanischen Indianer als Beispiel dienen mögen. Hier kann man kaum von einer besonders unterschiedenen vornehmen Klasse sprechen. Wohl besteht eine Funktionsteilung und infolgedessen auch eine Unterscheidung von Klassen, doch ist die Befreiung der Oberschicht von der Arbeit nicht so weit fortgeschritten, daß man diese als "müßige" Klasse bezeichnen könnte. Die Gesellschaften, die dieser Stufe angehören, sind aber wirtschaftlich immerhin so weit differenziert, daß deutlich, und zwar in einem diskriminierenden Sinn, zwischen männlichen und weiblichen Beschäftigungen unterschieden wird. Die Sitte gebietet den Frauen fast all dieser Völker, jene Arbeiten zu verrichten, aus denen sich später Gewerbe und Handwerk entwickeln werden. Die Männer sind von diesen Arbeiten ausgenommen und widmen sich dem Krieg, der Jagd und religiösen Verrichtungen, wobei zwischen den einzelnen Aufgaben genau unterschieden wird.

Diese Arbeitsteilung stimmt mit der Einteilung in eine arbeitende und eine müßige Klasse überein, wie sie in der höher entwickelten barbarischen Kultur auftritt. Je weiter die Teilung und Spezialisierung der Arbeit fortschreitet, desto schärfer wird die Trennungslinie zwischen den produktiven und den übrigen Tätigkeiten. Die Beschäftigungen der Männer in der frühen barbarischen Epoche bilden keineswegs die Vorstufe zur späteren Entwicklung von Gewerbe und Handwerk, sondern setzen sich nur in unproduktiven Tätigkeiten fort, nämlich in Krieg, Politik, Sport, Gelehrsamkeit und Priestertum. Bemerkenswerte Ausnahmen bilden zum Teil die Fischerei un einige besondere Gewerbezweige, die man nicht eigentlich als produktiv bezeichnen kann, wie etwa die Herstellung von Waffen, Spielzeug und Sportgerät. Praktisch sind alle Gewerbe aus jenen Arbeiten hervorgegangen, die im ursprünglichen barbarischen Gemeinwesen die Frauen verrichteten.

Auf einer niedrigen Stufe der barbarischen Kultur ist die Tätigkeit der Männer genauso entbehrlich für das Gruppenleben wie die Arbeit der Frauen; unter Umständen tragen die Männer ebensoviel zur Beschaffung von Nahrung und sonstigen Notwendigkeiten bei. Der "produktive" Charakter der Männerarbeit ist hier in der Tat so augenfällig, daß die Jagd in der ökonomischen Literatur als typisches primitives Gewerbe gilt. Doch entspräche dies keineswegs der Auffassung eines Barbaren. In seinen eigenen Augen steht er nämlich weder mit den Frauen auf einer Stufe, noch darf sein Bemühen mit der weiblichen Plackerei gleichgesetzt und mit gewöhnlicher Arbeit verwechselt werden. Alle barbarischen Gesellschaften sind zutiefst von der Ungleichartigkeit männlicher und weiblicher Arbeit überzeugt. Die erstere mag zwar ebenfalls dem Fortbestand der Gruppe dienen, doch wird sie als so ausgezeichnet und so hervorragend empfunden, daß sie nicht ohne eine Herabwürdigung mit der langweiligen Emsigkeit der Frauen verglichen werden kann.

Gehen wir auf der kulturellen Stufenleiter noch einen Schritt zurück, nämlich zu den wilden Völkern, so erscheint die Arbeitsteilung noch weniger ausgeprägt und die diskriminierende Unterscheidung zwischen verschiedenen Klassen und Tätigkeiten noch weniger fest oder streng. Eindeutige Beispiele einer derart primitiven Kultur lassen sich schwer beibringen. Es gibt nämlich nur wenige Gruppen oder Gemeinschaften - Wilde  genannt -, die nicht vermuten ließen, daß sie einst auf einer höheren kulturellen Stufe standen. Immerhin sind bei einigen Gruppen die Merkmale primitiver Wildheit offenbar nicht das Ergebnis einer Rückbildung, sondern sie sind ursprünglich. Ein solche Kultur unterscheidet sich von der barbarischen durch das Fehlen einer vornehmen Klasse und weitgehend auch durch das Fehlen jener Geisteshaltung, auf der die Institution einer solchen Klasse beruth. Diese primitiven Gemeinwesen, bei denen sich keine wirtschaftlich bedingte Hierarchie von Klassen feststellen läßt, bilden nur einen verschwindend kleinen Teil der Menschheit. Das beste Beispiel für diese Kulturstufe bieten die Stämme der Andamanen-Inseln oder die Todas der Nilgiriberge. Ihre Lebensweise zur Zeit der ersten Berührung mit Europäern scheint für eine Gesellschaft ohne vornehme Klasse typisch gewesen zu sein. Als weitere Beispiele seien die Ainus in Yezo und, wenn auch nicht eindeutig, einige Buschmänner und Eskimos genannt. Möglicherweise gehören auch manche Stämme der Pueblo-Indianer hierher. Die meisten, wenn auch nicht alle hier genannten Völker, sind wahrscheinlich Beispiele einer Rückentwicklung aus einer höheren Kulturstufe; sie sind also nicht etwa Träger einer Kultur, die den gegenwärtigen Stand nie überschritt. Trifft diese Annahme zu, müssen wir diese Völker für unsere Zwecke mit Vorbehalt betrachten, doch mögen sie unserer These ebensogut als Beweis dienen, wie wenn es sich um ursprünglich Wilde handelte.

Gesellschaften, die keine vornehme Klasse kennen, weisen in ihrer sozialen Struktur und in ihrer Lebensweise weitere gemeinsame Züge auf. Sie leben in kleinen Gruppen von einfachster (archaischer) Struktur, sind meist friedlich, seßhaft und arm, und das Privateigentum spielt keine Rolle in der Wirtschaft. Das soll aber nicht besagen, daß es sich hier um die kleinsten existierenden Gemeinwesen handelt und daß ihre soziale Struktur in jeder Beziehung die am wenigsten differenzierte sei. Ebensowenig darf man alle jene primitiven Gesellschaften hier rechnen, bei denen das Privateigentum nicht entwickelt ist. Typisch dürfte hingegen sein, daß diese Kategorie die friedlichsten, vielleicht alle sich durch Friedlichkeit auszeichnenden Völker umfaßt. In der Tat ist den Mitgliedern solcher Gesellschaften eine gewisse freundliche Hilflosigkeit gemeinsam, wenn sie Betrug oder Gewalt begegnen.

Die Gebräuche und die kulturellen Einrichtungen einer auf einer niederen Entwicklungsstufe stehenden Gesellschaft weisen darauf hin, daß die vornehme Klasse allmählich, im Übergang von der primitiven zur barbarischen Stufe, entstanden sein muß - genauer ausgedrückt im Übergang von einem friedlichen zu einem vorwiegend kriegerischen Lebensstil. Die für die Entstehung dieser Klasse notwendigen Voraussetzungen scheinen folgende zu sein:
    1. Der Lebensstil der Gesellschaft muß räuberisch sein, das heißt, er muß in Krieg, Jagd oder beidem zusammen bestehen, mit anderen Worten müssen die Männer, die in diesem Fall die im Entstehen begriffene müßige Klasse bilden, daran gewöhnt sein, anderen Wesen durch Gewalt oder List Schaden zuzufügen.

    2. Das zum Leben Notwendige muß so leicht zu beschaffen sein, daß ein ansehnlicher Teil der Gesellschaft von der täglichen Arbeit befreit werden kann. Die Institution einer vornehmen Klasse ist damit das Ergebnis einer frühen Unterscheidung zwischen verschiedenen Tätigkeiten, einer Unterscheidung, der gemäß die einen Tätigkeiten wertvoll, die anderen unwürdig sind. Wertvoll sind danach jene Beschäftigungen, die man als Heldentaten bezeichnen kann, unwürdig hingegen alle jene notwendigen und täglichen Plackereien, die gewiß nichts heldenhaftes an sich haben.
Diese Unterscheidung besitzt in einer modernen industriellen Gesellschaft kaum noch Bedeutung, weshalb ihr die Ökonomen auch wenig Beachtung geschenkt haben. Betrachtet man sie im Licht jenes durchschnittlichen Verstandes, mit dem die wirtschaftliche Diskussion heute geführt wird, so scheint sie in der Tat formal und substanzlos zu sein. Und trotzdem lebt sie selbst in unserer Zeit als allgemeines Vorurteil hartnäckig weiter, was sich zum Beispiel in unserer Abneigung gegenüber den dienenden Berufen zeigt. Die Unterscheidung ist persönlicher Art und verkörpert sich im Verhältnis von Überlegenheit und Unterlegenheit. In früheren Stadien der Kultur, als die persönliche Kraft des Einzelnen unmittelbarer und sinnfälliger den Verlauf der Ereignisse bestimmte, zählte das Element heldenhafter Kühnheit im täglichen Ablauf des Lebens weit mehr, weshalb ihm auch das größte Interesse galt. Folglich erschien eine darauf sich gründende Unterscheidung als viel zwingender und endgültiger, als dies heute der Fall ist. Als Faktum der historischen Entwicklung ist diese Unterscheidung deshalb gewichtig und ruht fest auf gültigen und zwingenden Grundlagen.

Die Basis, auf der im allgemeinen Unterscheidungen zwischen Tatsachen getroffen werden, ändert sich dann, wenn sich das Interesse ändert, mit dem für gewöhnlich die Tatsachen gesehen werden. Wesentlich und entscheidend sind an den Dingen jeweils die Eigenschaften, auf die das vorherrschende Interesse eine Zeitlang sein Licht wirft. Jedes gegebene Motiv der Unterscheidung wird für jenen Menschen gegenstandslos, der die fraglichen Dinge unter einem anderen Gesichtswinkel zu sehen gewohnt ist und sie für andere Zwecke in Betracht zieht. Die Gewohnheit, die verschiedenen Ziele und Richtungen des Handelns zu unterscheiden und zu klassifizieren, herrscht notwendigerweise immer und überall vor, da man ihrer für jede Lebensanschauung oder Lebensordnung bedarf. Der besondere Gesichtspunkt oder das besondere für die Klassifizierung der Tatsachen entscheidende Merkmal hängt vom Interesse ab, von dem aus die Entscheidung getroffen wird. Die Motive, nach denen unterschieden, und die Norm, nach der bei Klassifizieren der Fakten vorgegangen wird, verändern sich also in dem Maß, in dem sich die Kultur entwickelt; denn das Ziel, in dessen Dienst diese Fakten gesehen werden, ändert sich, und damit auch der Gesichtspunkt. Was als wesentliche und entscheidende Züge bestimmter Tätigkeiten oder einer bestimmten sozialen Klasse in einem bestimmten kulturellen Stadium gilt, wird nicht dieselbe relative Bedeutung für die Klassifizierung einer späteren Zeit behalten. Doch diese Veränderung der Maßstäbe und Gesichtspunkte vollzieht sich nur schrittweise und führt selten zur Verdrängung oder gänzlichen Unterdrückung eines einmal gewonnenen Standpunktes. Noch immer findet sich eute die Unterscheidung zwischen Arbeit und anderen Tätigkeiten, und diese moderne ist nichts anderes als eine Abwandlung der alten, barbarischen Unterscheidung zwischen Plackerei und Heldentat. Krieg zu führen, Politik zu treiben, das Amt eines Priesters auszuüben und Volksfeste zu veranstalten, unterscheiden sich im Urteil der Menge wesentlich von der Arbeit, die der Herstellung der lebensnotwendigen Dinge dient. Die Trennungslinie verläuft zwar nicht mehr genauso wie in den frühen barbarischen Gesellschaftsordnungen, doch die Scheidung selbst ist keineswegs in Vergessenheit geraten.

Stillschweigend bezeichnet man heute ein Bemühen nur dann als Arbeit, wenn sein letzter Zweck in der Verwertung nichtmenschlichen Materials besteht. Die zwangsweise Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wird nicht als produktive Tätigkeit betrachtet, sehr wohl hingegen die Bemühungen um eine Verbesserung der Lebensumstände durch eine Ausnutzung der nicht-menschlichen Umelt. Die Ökonomen klassischer Schule stellen meist die "Herrschaft des Menschen über die Natur" als das eigentliche Merkmal der industriellen Produktionsweise dar. Diese Macht über die Natur begreift auch die Macht des Menschen über die Tiere und über alle elementaren Kräfte ein. Damit wird ein Trennungsstrich zwischen der Menschheit und der ungestalten Schöpfung gezogen.

Zu anderen Zeiten und unter Menschen, die in anderen Vorstellungen dachten, verlief dieser Trennungsstrich anders, als wir ihn heute ziehen. Im Lebensplan des Wilden oder des Barbaren verläuft er an einem anderen Ort und in anderer Weise. In allen barbarischen Kulturen besteht ein stark ausgeprägter Gegensatz zwischen zwei umfassenden Gruppen von Erscheinungen; zu der einen rechnet der barbarische Mensch sich selbst, zur anderen alles, was er für sein Leben braucht. Damit gibt es zwar einen scharfen Gegensatz zwischen wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen Erscheinungen, doch wird er nicht im modernen Sinn begriffen; er besteht nicht zwischen dem Menschen und der rohen Schöpfung, sondern zwischen beseelten und unbeseelten Dingen.

Heutzutage mag es unnötig sein, zu betonen, daß die barbarische Vorstellung davon, was wir hier mit dem Wort  beseelt  zu erfassen suchen, nicht dasselbe bedeutet wie  lebendig.  Der Begriff umfaßt nicht alle Lebewesen, dafür aber eine Reihe anderer Dinge. Ungewöhnliche Naturerscheinungen wie Stürme, Krankheiten, Wasserfälle, werden für beseelt gehalten, während dies bei Früchten und Kräutern, ja sogar bei kleinem Getier, wie Fliegen, Maden, Strandläufern und Schafen, nicht der Fall zu sein braucht, es sei denn, sie treten in Schwärmen oder Herden auf. So wie der Begriff hier verwendet wird, besagt er nicht notwendigerweise, daß dem betreffenden Wesen oder Phänomen eine Seele oder ein Geist innewohnt. Er bezieht sich vielmehr auf solche Dinge, die in der Vorstellung des animistischen Wilden oder Barbaren mächtig sind, und zwar dank der tatsächlichen oder zugeschriebenen Fähigkeit, irgendein Geschehen auslösen zu können. Er umfaßt demnach eine große Anzahl natürlicher Gegenstände und Erscheinungen. In den Denkgewohnheiten naiver Menschen lebt die Unterscheidung zwischen dem Leblosen und Aktiven weiter fort und beeinflußt auch heute noch weitgehend die Theorien über das menschliche Leben und die natürlichen Prozesse; doch durchdringt sie unser Alltagsleben nicht mehr in dem Maße und besitzt nicht mehr die weitreichenden praktischen Folgen wie in den früheren Epochen der Kultur und des Glaubens.

Dem Barbaren scheint die Verwendung und Bearbeitung der von ihm leblosen Natur gebotenen Materie eine völlig andersgeartete Tätigkeit zu sein als sein Umgang mit "beseelten" Erscheinungen und Mächten. Die Trennungslinie mag vage und schwankend sein, doch ist sie wirklich und zwingend genug, um die barbarische Lebensweise zu beeinflussen. Den Dingen, die er für beseelt hält, schreibt er in seiner Einbildung die Entfaltung einer auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Aktivität zu. Eben diese teleologisch bestimmte Aktivität ist es, die aus einem Gegenstand oder ein Erscheinung ein beseeltes Wesen macht. Wann immer der naiv denkende Wilde oder Barbar mit einer ihm irgendwie auffallenden Aktivität zusammentriff, deutet er sie in den einzigen, ihm zur Verfügung stehenden Begriffen, nämlich in den Begriffen, die ihm aus seinem eigenen Handeln bewußt wurden. Aktivität ist also etwas, das dem menschlichen Handeln verglichen wird, und insofern sind aktive Objekte dem Menschen als handelndem Wesen vergleichbar. Phänomene dieser Art - vor allem jene, deren Verhalten besonders erschreckend oder verwirrend wirkt - wollen in einem anderen Geist und mit einer anderen Art von Geschick angegangen sein als unbeseelte Gegenstände. Mit solchen Erscheinungen erfolgreich umzugehen, ist eher eine Heldentat als eine Arbeit, ist ein Beweis der Tapferkeit und nicht des Fleißes.

Die Tätigkeiten primitiver sozialer Gruppen neigen entsprechend dieser naiven Unterscheidung zwischen Beseeltem und Unbeseeltem dazu, in zwei Klassen zu zerfallen, die wir im modernen Sprachgebrauch mit  Heldentat  und  produktiver  Arbeit überschreiben können. Produktive Arbeit ist das Bemühen, aus dem passiven "rohen" Stoff etwas Neues mit einem neuen Zweck zu schaffen, der ihm durch die bildende Hand des Menschen verliehen wird; die Heldentat hingegen, insofern, als sie ein für den Handelnden nützliches Ergebnis zeitigt, besteht in der Verwandlung von Kräften - die ursprünglich von einem anderen Agens für andere Zwecke bestimmt waren - und in deren Lenkung für die eigenen Zwecke. Wenn wir heute von "roher" Materie sprechen, so bewahrt sich darin noch etwas von der tiefen Bedeutung, welche diese Vorstellung für die barbarische Denkweise besaß.

Die Unterscheidung zwischen Heldentat und Plackerei fällt mit dem Unterschied zwischen den Geschlechtern zusammen. Diese unterscheiden sich nicht nur in Gestalt und Kraft, sondern vor allem auch im Temperament, was schon früh zu einer entsprechenden Arbeitsteilung geführt haben muß. Jene Tätigkeiten, die als Heldentaten betrachtet werden, fallen dem Mann als dem stärkeren und robusteren zu, der einem plötzlichen und heftigen Druck besser standhält und der auch in höherem Maße zur Selbstbestätigung, zum aktiven Wettstreit und zur Aggression neigt. Die Unterschiede im Körperbau, in der physiologischen Anlage und im Temperament mögen zwar bei den Mitgliedern primitiverer Gruppen gering sein und scheinen in der Tat auch bei den archaischsten Gesellschaften, die wir kennen - auf den Adamanen etwa -, kaum eine Rolle zu spielen. Sobald aber eine Scheidung der Aufgaben entsprechend dieser Verschiedenheit von Körperbau und Charakter eingesetzt hat, tritt auch die natürliche Verschiedenheit der Geschlechter stärker zutage. Ein kumulativer Prozeß selektiver Anpassung an die neue Verteilung der Aufgaben beginnt, und dies zumal dort, wo die natürliche Umwelt der betreffenden Gruppe handfeste Tugenden erfordert. Die regelmäßig betriebene Großwildjagd verlangt zum Beispiel spezifisch männliche Eigenschaften wie Kraft, Gewandtheit, ja sogar Grausamkeit, was die Differenzierung der Aufgaben zwischen den Geschlechtern zweifellos fördert und vergrößert. Und sobald die Gruppe in eine feindliche Berührung mit anderen Gruppen gerät, wird aus der bloßen Verschiedenheit der Aufgaben die bereits voll entwickelte Unterscheidung zwischen Heldentat und Arbeit.

In einer solchen vom Raub lebenden Gruppe stellen Kampf und Jagd den Beruf der körperlich tauglichen Männer dar. Die Frauen leisten, was an anderer Arbeit zu tun übrig bleibt, und jene Gruppenmitglieder, die für die männliche Arbeit nicht zu gebrauchen sind, werden zu den Frauen gerechnet. Nun weisen sowohl der Kampf als auch die Jagd denselben Charakter auf - beide sind räuberischer Natur; Krieger und Jäger ernten beide dort, wo sie nicht gesät haben. Die aggressive Entfaltung von Kraft und List unterscheidet sich deutlich von der emsigen, sich immer gleich bleibenden Bearbeitung von rohem Material, wie sie Aufgabe der Frauen ist. Man kann also die männliche Beschäftigung weniger als produktive Arbeit, sondern eher als gewaltsame Aneignung von Gütern kennzeichnen. Wo diese Beschäftigung des Barbaren am höchsten entwickelt ist und sich somit am weitgehendsten von der Frauenarbeit unterscheidet, wird jedes Bemühen eines Mannes unwürdig, das nicht zugleich ein Zeugnis von Kühnheit ist. In dem Maße, in dem diese Auffassung zur gefestigten Tradition wird, entwickelt sie sich im Empfinden der Gruppe zu einer Vorschrift des Verhaltens; in diesem Stadium der kulturellen Entwicklung ist dem sich selbst respektierenden Mann moralisch keine andere Betätigung und keine andere Art des Erwerbs möglich, als was er sich durch Tapferkeit, Gewalt oder List aneignen kann. Sobald sich dieser räuberische Lebensstil tief genug verwurzelt hat, besteht die volkswirtschaftliche, allgemein anerkannte Aufgabe des Mannes darin, im Existenzkampf jene Gegner zu töten und zu vernichten, die ihm Widerstand zu leisten oder ihm zu entgehen versuchen, und jene fremden Kräfte zu überwinden und sich dienstbar zu machen, die sich in widerspenstiger Weise selbst behaupten wollen. So genau wird dieser theoretische Unterschied zwischen Heldentat und Plackerei beachtet, daß bei vielen Jägervölkern der Mann die erlegte Beute nicht selbst nach Hause bringen darf, sondern sein Weib ausschicken muß, um diese niedrige Arbeit zu besorgen.

Wie schon gesagt, ist diese Unterscheidung zwischen Heldentum und Plackerei wertbetont. Die Heldentat ist wertvoll, ehrenhaft und edel, die übrigen Tätigkeiten hingegen, besonders jene, die Unterwürfigkeit oder Unterwerfung mit sich bringen, gelten als unwürdig, verächtlich und gemein. Der Begriff der Würde, des Wertes oder der Ehre, wie er auf Personen oder auf das Verhalten angewendet wird, ist von größter Bedeutung für die Entwicklung von Klassen und Klassenunterschieden, weshalb es nötig wird, etwas über seine Herkunft und seinen Sinn zu sagen. Der psychologische Hintergrund läßt sich folgendermaßen darstellen. Der Mensch ist als Produkt der natürlichen Auslese ein handelndes Wesen. Nach seiner eigenen Auffassung ist er der Ausgangspunkt einer sich entfaltenden, impulsiven - einer "teleologischen" Aktivität. Als Handelnder sucht er in jedem Tun die Verwirklichung eines konkreten, objektiven, unpersönlichen Ziels. Deshalb ist er von der Freude an "greifbaren" Ergebnissen besessen und haßt die nutzlose Anstrengung. Er schätzt Brauchbarkeit und Leistung, verachtet hingegen vergebliches Tun, Unfähigkeit und Vergeudung. Diese Fähigkeit oder Neigung wollen wir als  Werkinstinkt  bezeichnen. Wo immer die Umstände oder Traditionen des Lebens die Gewohnheit geschaffen haben, die Menschen im Hinblick auf ihre Tüchtigkeit zu vergleichen, wirkt sich der genannte Trieb zugunsten eines vom Konkurrenzneid bestimmten, also eines neidvollen Vergleiches aus. Das Ausmaß, in dem dies eintritt, hängt zum großen Teil vom Temperament der Bevölkerung ab. In einer Gesellschaft, die daran gewöhnt ist, derartige Vergleiche zu ziehen, wird der allen sichtbare Erfolg zur Grundlage des Ansehens und zum Selbstzweck. Man demonstriert die eigene Leistung, um Prestige zu gewinnen und der Mißachtung zu entgehen. So führt der Werkinstinkt schlußendlich zu einer auf Konkurrenz beruhenden Demonstration der Macht.

Während der ersten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, zu einer Zeit also, in der die Gesellschaft im allgemeinen noch friedlich, vielleicht auch seßhaft und das Privateigentum noch nicht ausgebildet ist, kann die Tüchtigkeit des Einzelnen vor allem und am wirksamsten in der Förderung des Gruppenlebens zum Ausdruck kommen. Wenn unter den Mitgliedern einer solchen Gruppe überhaupt ein wirtschaftlicher Wettbewerb besteht, so wird er vor allem die Form von praktischen Dienstleistungen annehmen. Der Anreiz für den Wettbewerb ist überdies schwach und dieser in seinen Möglichkeiten begrenzt.

Beim Übergang zum räuberischen Lebensstil ändern sich jedoch die Bedingungen des Wettbewerbs. Gelegenheit und Anreiz nehmen an Umfang und Bedeutung zu, die Tätigkeit der Männer trägt mehr und mehr den Charakter einer Heldentat, und der neidvolle Vergleich eines Jägers oder Kriegers mit dem andern wird zusehens gewohnter und geläufiger. Die sichtbaren Beweise der Kühnheit - die Trophäen - erobern sich einen Platz in den Denkgewohnheiten der Menschen und werden allmählich zum wesentlichen Bestandteil des Lebens. Beute, Jagd- und Kriegstrophäen sind Beweise überlegener Kraft. Der Angriff wird zur gültigen Form des Handelns, und die Beute bezeugt die erfolgreiche Aggression. Der Kampf stellt in diesem Stadium der Kultur die allgemein anerkannte und für wertvoll gehaltene Form der Selbstbestätigung dar, durch Raub oder Zwang erbeutete Dienste oder Gebrauchsgegenstände zeugen für seinen glücklichen Ausgang. Deshalb ist es eines Mannes unwürdig, Güter auf eine andere Weise als durch Raub zu erwerben. Aus demselben Grund bringt man der produktiven Arbeit oder der Beschäftigung im Dienst einer anderen Person nichts als Verachtung entgegen. Auf diese Weise entsteht die diskriminierende Unterscheidung zwischen Heldentat und gewaltsamem Erwerb auf der einen und produktiver Arbeit auf der anderen Seite. Die Arbeit wird als Bürde empfunden, weil ihr das Odium des Verächtlichen anhaftet.

Bevor die Entwicklung des Begriffs und der weiter daran geknüpften Vorstellungen die einfache Bedeutung verschleierte, scheint der primitive Barbar unter "ehrenvoll" nichts anderes verstanden zu haben als überlegene Kraft. "Ehrenvoll" heißt "furchbar", "würdig" heißt "übermächtig". Letztenendes ist eine ehrenvolle Tat nichts anderes als eine allgemein gebilligte und erfolgreiche Aggression, und wo Angriff einen Kampf mit Tieren bedeutet, besteht die ganz besonders ehrenvolle Tätigkeit in der Anwendung von Gealt. Die naive archaische Vorstellung, die in allen Manifestationen der Macht den Ausdruck einer Persönlichkeit oder eines "Willens" sah, trug viel dazu bei, die Anwendung von Gewalt zu verherrlichen. Ehrende Beinamen, wie wir sie sowohl in der barbarischen als auch in höher entwickelnden Kulturen finden, sind regelmäßig von diesem naiven Begriff der Ehre geprägt. Beinamen oder Titel, wie sie Häuptlingen verliehen oder wie sie dazu verwendet werden, die Gunst von Königen und Göttern zu erlangen, schreiben diesen häufig einen Hang zur anmaßenden Gewalt und eine unwiderstehliche Zerstörungsmacht zu. In gewissem Sinne gilt dies auch für die zivilisierten Gesellschaften unserer Zeit. Wenn Wappenschilder mit Vorliebe von Raubtieren und Raubvögeln geziert werden, deutet dies in dieselbe Richtung.

Gemäß dieser für den Barbaren selbstverständlichen Deutung von Ehre und Wert ist das Töten mächtiger Gegner - ob Tiere oder Menschen - eine im höchsten Grad ehrenvolle Tat. Als Ausdruck der Übermächtigkeit des Mörders breitet das hohe Amt des Mordens den Glanz der Ehre und des Wertes über jeden einzelnen Mord und die dazu notwendigen Werkzeuge aus. Denn auch die Waffen sind ehrenvoll, und wenn sie auch nur dazu verwendet werden, um den niedrigsten Kreaturen des Feldes zuleibe zu rücken, so ist dies nichtsdestoweniger eine Handlung, die Ehre einbringt. Gleichzeitig wird die produktive Arbeit entsprechend verhaßt, und nach allgemeiner Anschauung liegt der Umgang mit Werkzeug und Geräten unter der Würde eines wirklichen Mannes. Arbeit wird lästige Bürde.

Wir haben hier angenommen, daß im Laufe der kulturellen Entwicklung primitive menschliche Gruppen von einer anfänglich friedfertigen auf eine weitere Stufe gelangten, auf welcher der Kampf die allgemein anerkannte und charakteristische Tätigkeit der Gruppe bildet. Doch ist dies weder so zu verstehen, als hätte ein plötzlicher Übergang von einem Zustand ungebrochenen Friedens und guten Willens zu einer späteren oder höheren Lebensphase stattgefunden, in welcher der Kampf zum erstenmal auftritt, noch heißt es, daß jegliche friedliche Tätigkeit beim Beginn der räuberischen Kulturphase verschwindet. Wahrscheinlich hat es in allen frühen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung Kampf gegeben, und seine Ursache mag wohl zum Teil im sexuellen Wettbewerb gelegen haben. Darauf deuten sowohl die uns bekannten Gebräuche der Primitiven wie auch die der Menschenaffen hin, und die wohlbekannte Veranlagung der menschlichen Natur weist in dieselbe Richtung.

Deshalb kann eingewendet werden, daß es niemals ein ursprüngliches Stadium friedlichen Lebens gab, wie wir es hier angenommen haben. Wir wissen in der Tat von keinem Zeitpunkt in der kulturellen Entwicklung, an dem der Kampf unbekannt war. Jedoch geht es in unserer Diskussion nicht um das gelegentliche oder zufällige, mehr oder weniger häufige oder regelmäßige Auftreten des Kampfes, sondern um das Erscheinen einer gewohnheitsmäßigen kriegerischen Denkweise, die Dinge und Ereignisse unter dem Gesichtspunkt des Kampfes beurteilt. Die räuberische Phase der Kultur verwirklicht sich erst dann, wenn die räuberische Einstellung zur üblichen und anerkannten geistigen Haltung der Gruppenmitglieder geworden ist, wenn der Kampf zum beherrschenden Thema in der allgemeinen Theorie des Lebens aufsteigt und wenn Menschen und Dinge im Hinblick auf ihn gewertet werden.

Der wesentliche Unterschied zwischen dem friedlichen und dem räuberischen Kulturstadium ist also nicht technischer, sondern geistiger Art. Die Veränderung in der geistigen Einstellung ist die Folge einer Veränderung der materiellen Lebensumstände; sie vollzieht sich allmählich, und zwar in dem Maß, in dem sich die materiellen Bedingungen entwickeln, welche die räuberische Einstellung begünstigen. Die Räuberkultur wird nach unten durch die Arbeit begrenzt, denn der Raub kann solange nicht zum gewohnheitsmäßigen und normalen Rückhalt einer Gruppe oder Klasse werden, als die Arbeitsmethoden nicht weit genug entwickelt sind, daß über dem bloßen Subsistenzniveau ein Spielraum bleibt, für den zu kämpfen es sich lohnt. Der Übergang vom Frieden zum Raum hängt damit von der Entwicklung technischer Kenntnisse und von der Verwendung von Werkzeugen ab. Auch in frühen Zeiten wird eine räuberische Kultur erst dann möglich, wenn der Mensch seine Waffen so weit verbessert hat, daß sie aus ihm ein gefährliches Biest machen. Die frühe Entwicklung von Waffen und Werkzeugen ist natürlich dasselbe, nur unter zwei verschiedenen Blickpunkten betrachtet.

Friedlich kann man also das Leben einer Gruppe nur solange nennen, wie die Vorstellung des Kampfes im täglichen Denken noch nicht an erster Stelle steht, wie sie das menschliche Leben noch nicht beherrscht. Die räuberische Einstellung einer Gruppe kann nun mehr oder weniger vollkommen sein, Lebensplan und Verhaltensregeln mögen mehr oder weniger vom räuberischen Denken bestimmt werden, weshalb man sich vorstellen kann, daß sich die räuberische Kulturphase allmählich immer stärker entfaltet, und zwar dank einer kumulativen Zunahme räuberischer Fähigkeiten, Gewohnheiten und Traditionen. Diese Zunahme wird durch eine Veränderung in den Lebensumständen der Gruppe verursacht, durch eine Veränderung, welche die Entwicklung und Bewahrung jener Züge der menschlichen Natur, jener Traditionen und Verhaltensnormen begünstigt, die das räuberische im Gegensatz zum friedlichen Leben kennzeichnen.

Die Annahme eines friedlichen Stadiums primitiver Kulturen läßt sich eher psychologisch als ethnologisch begründen und kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Wir wollen darauf in einem späteren Kapitel zurückkommen, welches das Fortbestehen archaischer menschlicher Züge in der modernen Kultur behandelt.


Der Wettlauf um das Geld

In der kulturellen Entwicklung fällt das Entstehen einer vornehmen, nicht arbeitenden Klasse notwendigerweise mit den Anfängen des Eigentums zusammen, denn beide Institutionen werden von denselben wirtschaftlichen Kräften hervorgerufen. In ihrer ersten Entwicklungsphase stellen sich nur verschiedene Aspekte derselben allgemeinen Erscheinungen der sozialen Struktur dar.

Muße und Eigentum interessieren uns hier als Elemente der gesellschaftlichen Ordnung, als konventionelle Erscheinungen. Die Gewohnheit, nicht zu arbeiten, begründet noch keine vornehme Klasse, und die bloße Tatsachevon Verbrauch und Konsum schafft noch kein Eigentum. Unsere Untersuchung hat also weder mit dem Ursprung der Trägheit noch mit der beginnenden Verwendung von Gebrauchsgegenständen für den individuellen Konsum zu tun. Sie betrifft vielmehr den Ursprung und die Natur einer konventionellen müßigen Klasse einerseits und die Anfänge des Privateigentum als herkömmlichem Recht und berechtigtem Anspruch andererseits.

Die Unterscheidung zwischen einer müßigen und einer arbeitenden Klasse enstand ursprünglich aus jener Arbeitsteilung, wie sie in den frühen barbarischen Kulturstadien zwischen Männern und Frauen bestand. Dementsprechend besteht die früheste Form des Eigentum in der Herrschaft der körperlich fähigen Männer über die Frauen. Allgemeiner und im Sinne der barbarischen Lebenstheorie richtiger wäre es, von der Frau als vom Eigentum des Mannes zu sprechen.

Zweifellos hat man sich schon Gebrauchsgegenstände angeeignet, bevor es Sitte wurde, sich Frauen anzueignen. Die Gebräuche heute noch lebender archaischer Gesellschaften, die das Eigentum an Frauen nicht kennen, bestätigen diese Auffassung. In allen Gesellschaften eignen sich zwar Männer und Frauen eine Reihe von Dingen zur persönlichen Verwendung an, doch gelten diese Dinge nicht eigentlich als Eigentum. Besitz und Verbrauch geringfügiger persönlicher Kleinigkeiten werfen die Frage des Eigentums, das heißt die Frage nach einem herkömmlichen berechtigten Anspruch auf fremde Güter, nicht auf.

Das Eigentum an der Frau beginnt wahrscheinlich im frühen Stadium der barbarischen Kultur mit dem Raub von weiblichen Gefangenen. Das ursprüngliche Motiv für den Raub scheint der Wert der Frau als Trophäe gewesen zu sein, und diese Sitte führt zur Einrichtung der Besitzehe, aus der ein Haushalt unter Führung eines Mannes hervorging. Darauf wurde die Sklaverei auf andere Gefangene und Untergebene und die Besitzehe auf andere als die vom Feind geraubten Frauen ausgedehnt. Unter den Bedingungen des räuberischen Lebens bestanden die Folgen des Wettbewerbs also einerseits in einer auf Zwang gegründeten Form der Ehe und andererseits in der Begründung des Eigentums. Man kann die beiden Institutionen in der ersten Phase ihrer Entwicklung nicht voneinander unterscheiden; beide entstehen aus dem Bedürfnis der erfolgreichen Männer, ihre Kampfkraft mit Hilfe von sichtbaren und dauerhaften Beweisen zu demonstrieren, und beide dienen sie jenem Streben nach Herrschaft, das alle räuberischen Gesellschaften kennzeichnet. Das Eigentum an der Frau wird allmählich zum Eigentum an den Produkten ihrer Arbeit, und so entsteht das Eigentum an Sachen wie an Personen.

Auf diese Weise entwickelt sich allmählich ein folgerichtiges System des Eigentums. Obwohl es in den letzten Phasen dieser Entwicklung die Brauchbarkeit der Güter für den Konsum ist, die deren Wert in allererster Linie bestimmt, so hat der Reichtum doch auch heute noch keineswegs seinen Nutzen als Beweis der Ehrenhaftigkeit und der Überlegenheit des Reichen verloren.

Wo immer das Privateigentum, auch in wenig entwickelter Form, besteht, trägt der Wirtschaftsprozeß den Charakter des Kampfes zwischen Menschen um den Besitz von Gütern. In der ökonomischen Theorie, insbesondere unter den hartnäckigsten Anhängern der modernisierten klassischen Lehrmeinungen, ist es üblich geworden, diesen Kampf um Besitz als einen Kampf ums Dasein zu erklären. Diese Deutung mag wohl in früheren Zeiten, als die Arbeit wenig einbrachte, richtig gewesen sein, und gilt auch heute noch in all jenen Fällen, wo eine kärgliche Natur trotz unablässigem menschlichen Bemühen nur ein knappes Überleben erlaubt. Doch alle modernen Gesellschaften haben dieses frühe Stadium der technologischen Entwicklung überwunden. Das Arbeitsprodukt ist heute so groß, daß es den am Arbeitsprozeß Beteiligten erheblich mehr verschafft, als sie zum bloßen Überleben benötigen. Die ökonomische Theorie spricht dann für gewöhnlich von dieser Art des Kampfes um den Reichtum, der auf einer neuen industriellen Grundlage vor sich geht, als von einem Wettstreit um vermehrte Annehmlichkeiten im Leben - in erster Linie umd vermehrte materielle Annehmlichkeiten, die der Güterkonsum zu verschaffen vermag.

Das Ziel des Erwerbs und der Akkumulierung von Gütern besteht üblicherweise in deren Verbrauch - entweder durch den Eigentümer oder durch dessen Haushalt, der theoretisch mit ihm identisch ist; zumindest wird dies für den wirtschaftlich legitimen Zweck des Erwerbs gehalten, was allein für die Theorie von Bedeutung ist. Unter Verbrauch ist natürlich sowohl die Befriedigung leiblicher Bedürfnisse - leiblicher Komfort - zu verstehen, wie auch die Befriedigung sogenannter "höherer" Bedürfnisse, nämlich der geistigen, ästhetischen, intellektuellen usw.; auch diese letzteren Bedürfnisse werden, wie alle Leser durch den Verbrauch von Gütern befriedigt.

Aber nur in einem von der ursprünglichen Wortbedeutung weit entfernten Sinne läßt sich vom Güterkonsum behaupten, daß er dem Akkumulieren von Reichtum als Anreiz dient. Das Motiv, das recht eigentlich an der Wurzel des Eigentums liegt, ist die Konkurrenz oder die Rivalität, und dieses selbe Motiv beteiligt sich auch aktiv an der späteren Entwicklung jener Institution, die es einst ins Leben rief, wie auch an der Entfaltung all jener Züge der sozialen Struktur, die mit der Institution des Eigentums in Beziehung stehen. Reichtum bringt Ehre, und die Unterscheidung zwischen Reichen und Armen ist neiderfüllt. Nichts ebenso Zwingendes kann entweder mit Bezug auf den Konsum von Gütern oder mit Bezug auf irgendein anderes denkbares Erwerbsmotiv gesagt werden, und schon gar nicht mit Bezug auf irgendein Motiv für die Anhäufung von Reichtum.

Dabei ist natürlich nicht zu übersehen, daß in einer Gesellschaft, in der nahezu alle Güter Privateigentum sind, die Notwendigkeit, sich das tägliche Brot zu verdienen, einen machtvollen und allgegenwärtigen Antrieb für die ärmeren Gesellschaftsmitglieder darstellt. Die Notwendigkeit, sein Leben zu fristen, und der Wunsch nach vermehrtem materiellem Komfort mögen zwar zeitweilig das wichtigste Erwerbsmotiv für jene Klassen bilden, die von ihrer Hände Arbeit leben, wenig besitzen und meist wenig sparen können, und deren Existenzgrundlage schmal und unsicher ist. Doch wird sich im Laufe dieser Untersuchung zeigen, daß selbst bei den besitzlosen Klassen die physischen Bedürfnisse keine so entscheidende Rolle spielen, wie man oft angenommen hat. Was nun jene Mitglieder und Klassen betrifft, deren Hauptsorge dem Anhäufen von Reichtum gilt, so besitzen die beiden eben beschriebenen Motive überhaupt keine Bedeutung. Als Institution entwickelte sich das Eigentum aus Gründen, die mit dem Existenzminimum nichts zu tun haben. Das Hauptmotiv bildete von Anfang an die mit Neid betrachtete Auszeichnung, die dem Reichtum anhaftet, und wenn man von kurzen Unterbrechungen und Ausnahmen absieht, so ist auch später niemals ein anderes Motiv in Erscheinung getreten.

Das erste Eigentum bestand in der Beute, den Trophäen eines siegreichen Raubzuges. Solange die Gruppe wenig von der ursprünglichen gesellschaftlichen Ordnung abwich und solange sie in Berührung mit feindlichen Gruppen stand, lag der Nutzen von Sachen oder Personen, die der Gruppe zu Eigentum gehörten, hauptsächlich in dem neiderfüllten Vergleich zwischen der besitzenden Gruppe und dem Feind, dem sie abgenommen wurden. Die Unterscheidung zwischen individuellen und Gruppeninteressen ist offenbar erst später entstanden. Der neiderfüllte Vergleich zwischen dem Besitzer der Ehre verleihenden Beute und seinen weniger glücklichen Gruppengefährten wurde aber zweifellos schon früh gezogen und stellte einen Teil des Nutzens dar, den Eigentum brachte, doch bildete er nicht von Anfang an dessen hauptsächlichsten Wert. Zunächst wurde die Kampfkraft des Einzelnen mit der Kampfkraft der Gruppe identifiziert, und der Besitzer der Beute fühlte sich vor allem als Hüter der Gruppenehre. Diese gleichsam kollektive Auffassung der Heldentat findet sich auch noch in der späteren sozialen Entwicklung, insbesondere was den Kriegsruhm betrifft.

Doch sobald die Einrichtung des Privateigentum an Festigkeit gewinnt, beginnt sich der Gesichtspunkt, unter dem neiderfüllte Vergleiche - die eigentliche Grundlage des Eigentums stattfinden, zu ändern. In der Tat ist die eine Veränderung nur ein Spiegelbild der anderen. Auf das primäre Stadium des Eigentums, nämlich auf den Erwerb durch einfachen Raub, folgt eine weitere Phase, nämlich die beginnende Organisation der Arbeit auf der Grundlage des Privateigentums (das heißt hier: der Sklaverei), die Horde wird zu einer mehr oder weniger autarken Arbeitsgesellschaft. Besitz gilt nun nicht mehr in erster Linie als Zeugnis eines geglückten Raubzuges, sondern vor allem als Zeichen der Überlegenheit des Besitzenden über andere Gruppenmitglieder. Damit wird der neiderfüllte Vergleich zu einem Vergleich zwischen den besitzenden und den besitzlosen Angehörigen der Gruppe. Noch ist Eigentum weitgehend Trophäe, doch im Laufe der kulturellen Entwicklung wird es mehr und mehr zum Zeichen des Erfolgs, welchen das einzelne Gruppenmitglied im Spiel um den Besitz erringt, in einem Spiel, das mit den scheinbar friedlichen Methoden der Nomadenvölker gespielt wird.

In dem Maße, in dem die Arbeit den Raub im täglichen Leben und in den Vorstellungen der Menschen verdrängt, ersetzt das Anhäufen von Reichtum allmählich die Trophäe der räuberischen Heldentat, die bisher das konventionelle Symbol von Erfolg und Überlegenheit darstellte. Mit der Entwicklung geregelter Arbeitsverhältnisse wächst deshalb auch die Bedeutung des Reichtums als Grundlage von Ruf und Ansehen. Natürlich kann Prestige noch immer durch Kühnheit erworben werden; erfolgreiche räuberische Aggressionen und kriegerische Heldentaten finden wie früher die Zustimmung und Bewunderung der Menge und erregen den Neid der weniger glücklichen Konkurrenten, doch vermindern sich die Möglichkeiten, die eigene physische Machtüberlegenheit unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Dafür vermehren sich aber die Gelegenheiten industrieller Aggressionen in hohem Maß, die Gelegenheiten, mit Hilfe von Methoden Besitz anzuhäufen, die scheinbar der friedlichen Arbeitsweise der Nomanden entlehnt sind. Und bedeutsamer ist dabei noch, daß es nun das Eigentum - im Gegensatz zur heroischen Tat - ist, welches zum leicht erkennbaren Beweis des Erfolgs und damit zur gesellschaftlich anerkannten Grundlage des Prestiges wird. Besitz wird notwendig für eine angesehene Stellung in der Gesellschaft; Besitz zu erwerben und zu vermehren ist unerläßlich, um den guten Namen zu wahren. Wenn angehäufte Güter auf diese Weise zum Merkmal der Tüchtigkeit geworden sind, so bildet der Reichtum die unabhängige und endgültige Grundlage des Prestiges. Ganz abgesehen davon, ob Besitz durch eigenes aggressives Handeln oder passiv durch Erbschaft erworben wurde, so stellt er auf jeden Fall die herkömmliche Basis des Ansehens dar. Reichtum, der einst nur als Beweis der Tüchtigkeit galt, wird nun in der öffentlichen Meinung zum Verdienst ansich; er ist seinem Wesen nach ehrenhaft und verleiht deshalb seinem Besitzer Ehre. Und im Laufe einer sich immer weiter verfeinernden Entwicklung wird der von den Vorfahren ererbte Reichtum bald für ehrenhafter gehalten als vom Besitzer selbst erworbene Güter; doch gehört diese Unterscheidung einer späteren Zeit an, worauf wir noch zurückkommen werden.

Tapferkeit und Heldentum können auch weiterhin ein hohes allgemeines Ansehen verschaffen, doch ist es in erster Linie der Reichtum, auf dem normalerweise der untadelige Ruf und die gesellschaftliche Stellung beruhen. Der räuberische Instinkt und die daraus folgende Billigung räuberischer Fähigkeiten sind zutiefst im Denken jener Völker verwurzelt, die lange Zeit unter den Normen einer räuberischen Kultur lebten. In der Meinung des Volkes gebühren die höchsten Ehren, die ein Mensch erlangen kann, noch heute jenen, die in Krieg und Politik ein außergewöhnliches räuberisches Geschick entfalten; doch um eine angesehene Stellung in der Gesellschaft einzunehmen, genügen normalerweise der Erwerb und die Anhäufung von Gütern. Um in den Augen der Öffentlichkeit zu bestehen, bedarf es eines gewissen, nicht genau festgelegten Maßes an Aufwand und Besitz, genauso wie es in einem früheren Kulturstadium der körperlichen Ausdauer, der List und des Geschicks im Umgang mit Waffen bedurfte, um den Anforderungen des Stammes zu genügen. Die Forderung nach Reichtum im einen und diejenige nach Tapferkeit im anderen Fall angemessen zu erfüllen, sind die notwendigen Voraussetzungen von Ehrbarkeit und Anshen; was über das normale Maß hinausgeht, gilt als verdienstvoll.

Jene Gesellschaftsmitglieder, die den üblichen Normen der Tapferkeit bzw. des Eigentums nicht genügen, verlieren an Anshen und damit auch an Selbstachtung, denn die Grundlage der Selbstachtung besteht normalerweise in der Achtung, die einem der Nachbar entgegenbringt. Nur Menschen mit abweichendem Charakter können auf die Dauer das Mißfallen ihrer Mitmenschen ertragen und ihre Selbstachtung bewahren. Solche Ausnahmen sind vor allem Leute mit starken religiösen Überzeugungen, doch handelt es sich hier kaum um wirkliche, sondern eher um scheinbare Ausnahmen, denn derartige Menschen finden ihren Halt zumeist im Glauben an einen übernatürlichen Zeugen, der ihre Taten gutheißt.

Ist der Besitz einmal zur Grundlage des öffentlichen Ansehens geworden, so bildet er alsbald die Voraussetzung für jenes selbstgerechte Gefühl, das wir als Selbstachtung bezeichnen. In jeder Gesellschaft, die das Privateigentum kennt, muß der Einzelne im Interesse seines inneren Friedens, mindestens ebensoviel besitzen wie jene, mit denen er sich auf dieselbe Stufe stellt; und es ist außerordentlich wohltuend, etwas mehr zu haben als die andern. Doch sobald jemand neue Güter erworben und sich an den neuen Besitzstand gewöhnt hat, bereitet ihm dieser kein größeres Vergnügen mehr als der alte. Immer besteht nämlich für die Neigung, den augenblicklichen Stand nur als Ausgangspunkt für einen weiteren Zuwachs an Gütern zu betrachten. Daraus ergibt sich dann ein neuer Maßstab und eine neue Selbsteinschätzung im Vergleich mit dem Nachbarn. Was unsere Diskussion betrifft, so verfolgt man mit der Anhäufung von Gütern nichts anderes, als sich eine hohe Stellung in der Gesellschaft zu erobern, die an der Menge des Geldes gemessen wird. Fällt dieser Vergleich zum eigenen Nachteil aus, so lebt der Mensch in ständiger Unzufriedenheit mit seinem Schicksal. Hat er hingegen die in seiner Gesellschaft oder Klasse vorherrschende Norm erreicht, weicht zwar die chronische Unzufriedenheit, aber nur um einem ruhelosen Streben Platz zu machen, das den Abstand zwischen dem eigenen und dem durchschnittlichen Vermögen möglichst vergrößern möchte. Der neiderfüllte Vergleich kann für den Einzelnen nie so günstig ausfallen, daß er nicht immer noch den Wunsch nach einer höheren Stellung und nach größerem Ansehen verspüren würde.

Bei dieser Lage der Dinge kann das Streben nach Reichtum schwerlich eine individuelle Erfüllung finden, und eine allgemeine Befriedigung des Wunsches nach Wohlstand kommt offensichtlich auch nicht in Frage. Wie weit, gleichmäßig oder "gerecht" der Reichtum auch verteilt sein mag, so kann doch keine gesamtgesellschaftliche Zunahme des Besitzes dieses Streben je befriedigen, und der Grund dafür liegt gerade in dem Wunsch jedes Einzelnen, alle anderen in der Anhäufung von Reichtum zu übertreffen. Wenn es wirklich stimmen würde - wie manchmal angenommen wird - daß der Anreiz zum Akkumulieren von Gütern nur in der Sorge um die Existenz und im Wunsch nach materiellem Komfort liegt, dann müßte es auch möglich sein, die wirtschaftlichen Bedürfnisse einer Gesellschaft an einem bestimmten Punkt der industriellen Entwicklung ganz zu befriedigen. Da aber der Kampf in erster Linie in einem Wettlauf nach Ansehen und Ehrbarkeit besteht, die beide auf einem diskriminierenden Vergleich beruhen, so kann dieses Ziel niemals erreicht werden. Diese Ausführungen dürfen nicht so verstanden werden, als gäbe es neben dem Wunsch, durch Reichtum zu glänzen und den Neid seiner Mitbürger zu erregen, keine weiteren Motive für den Erwerb und die Vermehrung von Besitz. Auch das Streben nach vermehrtem Komfort und größerer Sicherheit macht sich in jeder Phase des Akkumulationsprozesses einer modernen industriellen Gesellschaft bemerkbar. Doch auch hier werden die Ansichten darüber, welches Maß an Komfort und Sicherheit ausreichen soll, im wesentlichen wiederum durch Rivalitäten bestimmt. Es ist der Konkurrenzneid, der die Methoden prägt und die Güter auswählt, welche für den persönlichen Komfort und eine anständige Lebensweise nötig sind.

Ferner stellt die Macht, die der Besitz verleiht, ein weiteres Motiv für dessen Anhäufung dar. Das zweckgerichtete Streben und der Widerwille gegen jede sinnlose Anstrengung - typische Eigenschaften des handelnden Menschen - gibt dieser auch dann nicht auf, wenn er das naive Stadium des gemeinschaftlichen Besitzes überwindet, dessen Hauptmerkmal in der spontanen und undifferenzierten Solidarität des Einzelnen mit der Gruppe besteht. Im räuberischen Stadium, das durch ein egoistisches Verhalten im engeren, das heißt in einem persönlichen Sinn gekennzeichnet ist, wird das menschliche Leben noch immer von dieser Neigung geprägt. Das zweckgerichtet Streben und der Widerwille gegenüber sinnlosem Tun bilden weiterhin das wirtschaftliche Grundmotiv, nur die Ausdrucksformen und die unmittelbaren Ziele der Aktivität haben sich geändert. Unter der Herrschaft des Privateigentums besteht der sichtbarste und bequemste Weg, ein Ziel zu erreichen, im Erwerb und in der Vermehrung von Gütern. In dem Maße, in dem der egoistische Gegensatz zwischen Mensch und Mensch ins Bewußtsein tritt, verwandelt sich das zweckgerichtete Streben - der Werkinstinkt - immer mehr in den Willen, andere an Besitz zu übertreffen. Der relative Erfolg, der durch den neiderfüllten Vergleich mit anderen Menschen gemessen wird, stellt das normale Ziel des Handelns, den allgemein anerkannten und legitimen Zweck jedes Bemühens dar, weshalb sich der Widerwille gegenüber der sinnlosen Anstrengung weitgehend aus dem Motiv der Konkurrenz erklären läßt. Das so verstandene Ziel des Handelns verschärft den Kampf um das auf dem Geldbesitz beruhende Prestige, indem jeder Mißerfolg, ja selbst jedes Anzeichen eines solchen Mißerfolges scharf verurteilt wird. Das zweckgerichtete Streben zieht nun in erster Linie darauf den angehäuften Reichtum in achtbarer Weise zur Schau zu stellen. Unter den Motiven, die den Menschen zum Akkumulieren von Gütern verleiten, steht also noch immer dasjenige des finanziellen Wettbewerbs an erster Stelle.

Wenn wir den Ausdruck  neidvoll  oder  neiderfüllt  verwenden, so verfolgen wir damit natürlich nicht die Absicht, irgendeine der Erscheinungen, die so bezeichnet werden, zu preisen oder herabzuwürdigen, zu empfehlen oder zu beklagen, wir gebrauchen den Ausdruck vielmehr in einem rein technischen Sinn; er soll einen Vergleich zwischen Personen beschreiben, und zwar einen Vergleich, der den relativen moralischen oder ästhetischen Wert dieser Personen mißt und so den relativen Grad von Selbstzufriedenheit beurteilt und festlegt, den sich jedermann legitimerweise zuschreiben und von anderen erwarten darf. Ein neiderfüllter Vergleich ist also mit anderen Worten eine Wertung von Personen.
LITERATUR: Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute, New York 1912