ra-2H. RitterJ. B. ErhardA. KöppenF. MauthnerF. Boden    
 
GUSTAV ROSKOFF
Geschichte des Teufels

"Bevor der Mensch zum allgemeinen Denken emporwächst, faßt er nur die Einzelheiten, und sein Verständnis reicht so weit, als eben seine Sinne reichen. Der Algokiner in Amerika, der auf dieser Stufe steht, hat keinen Ausdruck für den allgemeinen Begriff Eiche, weil er nicht verallgemeinern kann, und benennt daher jede der verschiedenen Eichen, die in seinen Wälden wachsen, mit besonderen Namen. Es ist ein Gesetz der menschlichen Natur, das Empfundene gegenständlich zu machen, das Innerliche nach außen zu werfen. Da nun dem Naturmenschen so vieles unbekannt, fremd, unerklärlich ist, demnach so viele furchtbar erscheint, bildet seine Phantasie, durch mächtige Erscheinungen oder gewaltige Ereignisse angeregt, furchtbare Gestalten, die er hinter jenen als Urheber erblickt."


Vorwort

Alle Dinge, die in ihrer Gesamtheit das All ausmachen, bedingen sich gegenseitig, wirken in ihrem Nebeneinandersein aufeinander und bringen eine Vielheit und Mannigfaltigkeit des Inhalts und der Form hervor. Der denkenden Betrachtung, die nach dem Zusammenhang der Erscheinungen forscht, "was die Welt im Innersten zusammenhält", ist die in der Vielheit sich äußernde Einheit nicht entgangen. Sie faßt die zerstreuten Naturdinge und Naturkräfte zu einem einheitlichen Ganzen zusammen und sieht in ihm einen lebensvollen Organismus, innerhalb dessen sich eine Menge besonderer Systeme tätig erweisen, die, obschon selbständig, in steter Wechselwirkung aufeinander bezogen und durch allgemeine Gesetze im Zusammenhang erhalten, in  ein  Grundgesetz, das der Harmonie, zusammenlaufen. In dieser Erkenntnis feiert die Naturwissenschaft ihren Sieg, nachdem sie den eroberten Schatz von Wahrnehmungen der Herrschaft des Denkens unterworfen hat. Es ist ein auf Erfahrung gegründeter Satz, den ein Gewährsmann ausspricht: "Je tiefer man eindringt in das Wesen der Naturkräfte, desto mehr erkennt man den Zusammenhang der Phänomene, die, lange vereinzelt und oberflächlich betrachtet, jeglicher Anreihung zu widerstreben scheinen." (1) Die Betrachtung der eigenen Beschränktheit erfüllt zwar das Einzelwesen mit Wehmut; diese verliert aber an Herbheit im Hinblick auf die unendliche Reihe der unablässig forschenden und stets mehr erforschenden Menschheit. Denn "Wissen und Erkennen sind Freude und Berechtigung der Menschheit".

In dieser berechtigten Freude am Erkennen mag das Auge des Beobachters geschichtlicher Erscheinungen wohl auch, auf Kulturzustände hingelenkt, deren Zusammenhang mit jenen aufzufinden versuchen. Denn nicht nur in der physischen Welt gibt es nichts Unnatürliches, sondern alles ist Ordnung, Gesetz; auch die geschichtlichen Erscheinungen und ebenso die Gebilde des geistigen Lebens sind durch gewisse Faktoren bedingt. Wenn im Verlauf der Geschichte bestimmte Vorstellungen so mächtig heranwachsen, daß sie die Oberherrschaft in den Gemütern erlangen, muß sich wohl jedem, der nach dem Grund der Erscheinungen zu suchen gewohnt ist, die Frage aufdrängen: warum diese Vorstellungen gerade um diese Zeit eine so gewaltige Macht gewinnen, die sie ein andermal wieder verlieren? Warum sie in dieser bestimmten Form zur Herrschaft kommen, zu einer anderen Zeit eine andere Gestalt annehmen? Die Lösung solcher Fragen vom kulturgeschichtlichen Gesichtspunkt darf wohl untersucht werden, und die Neigung, herrschende Vorstellungen nach ihrem Zusammenhang zu begreifen, wird sich nicht abschwächen, wenn diese auch als Wahngebilde bezeichnet werden. Denn auch eine Geschichte der Wahngebilde eines Volkes oder der Völker kann nicht ohne Bedeutung sein, da jene wenngleich als Kehrseite der Bildung oder als Verbildungen betrachtet, mit der Individualität eines Volkes aufs innigste verwachsen sind und aus diesem Bildungsprozeß hervorgehen. Mögen derlei Erscheinungen immerhin mit einem kritischen Ausschlag verglichen werden: sie erregen mit dem pathologischen Interesse zugleich das kulturhistorische, weil sie, wie die Bildung selbst, durch eine Menge Faktoren bedingt sind, weil auch an ihnen das Gesetz menschlicher Entwicklung zutage tritt, weil sie mit dieser Hand in Hand gehen, die Eigentümlichkeit eines Volks abspiegeln, die Wandlungen des menschlichen Bewußtseins mitmachen.

Einer aufmerksamen Beobachtung wird es nicht entgehen, daß gewisse Faktoren die Anregung zur Erzeugung und Gestaltung bestimmter Vorstellungen geben und daß im allgemeinen zwei Hauptfaktoren in die Entwicklung der Menschheit eingreifen:  Natur  und  Geschichte.  Diese bedingen den Bildungsprozeß überhaupt und bieten die maßgebende Anregung zur Gestaltung bestimmter Anschauungsweisen. Bei Naturvölkern, die der allgemeinen geschichtlichen Bewegung abseits, gleichsam außerhalb der Strömung am festen Ufer stehen, ist das vornehmliche Anregungsmittel die sie umgebende Natur; bei den Kulturvölkern des Altertums, die laut ihrer kulturhistorischen Misson ihren Arbeitsanteil an die Weltgeschichte abgesehen haben, hat außer der Natur auch die Geschichte ihren Einfluß geltend gemacht; die später auftretenden Völker haben die Anregung vornehmlich aus den geschichtlichen Verhältnissen empfangen, obschon das Naturmoment auch bei diesen nicht außer Kraft ist. "Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen", bemerkt LAZARUS, "alles in uns, an uns ist Erfolg der Geschichte, wir sprechen kein Wort, wir denken keine Idee, ja uns belebt kein Gefühl und keine Empfindung, ohne daß sie von unendlich mannigfaltig abgeleiteten historischen Beindungen abhängig ist." (2) Gleiches gilt wohl auch von ganzen Völkern. Kein Volk schafft eine Kultur ganz aus sich selbst, jede ist die Summe der seitherigen Ergebnisse der Weltentwicklung, die es aufnimmt und, mit dem eigenen Geist verarbeitet, der Nachwelt als Erbe hinterläßt. Das ist die Tradition der Kultur.

Bei einer Studie über die Vorstellung vom christlichen Teufel, der im Mittelalter den kirchlichen Glaubenskreis ausfüllt, wird der unbefangene Forscher zunächst in die ersten christlichen Jahrhunderte zurückblicken müssen und, indem er dem Ursprung dieser Vorstellung nachspürt, führt ihn der Weg durch das Neue Testament zu den Hebräern und denjenigen Völkern, mit welchen jene in Berührung gekommen sind. Der Dualismus von guten und bösen Wesen, der bei den Parsen, deren Verwandten, bei den Ägyptern in die Augen fällt, die dualistische Anschauung, die in den Mythologien aller Kulturvölker mehr oder weniger entschieden auftritt, muß die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zum weiteren Rückschreiten auf der Stufenleiter der verschiedenen Religionen nötigen. Bei den Naturvölkern angelangt, wird sich die Tatsache herausstellen, daß auch in allen Naturreligionen der Dualismus zum Ausdruck kommt, und an diese Wahrnehmung knüpft sich die Aufforderung, den Grund dieser Erscheinung auf dem Gebiet der Anthropologie zu suchen, das menschliche Bewußtsein, das zur Bildung einer solchen Vorstellung angeregt wird, zu betrachten.

"In allen Zeiten", sagt der Naturforscher, "hat der denkende Mensch versucht, sich Rechenschaft zu geben über den Ursprung der Dinge, um sich Aufschluß zu verschaffen über den Grund ihrer Eigentümlichkeiten." (3) Sollte denn dieses Streben nur auf die Dinge außerhalb des Menschen beschränkt bleiben, hat nicht der zum Denken erwachte Mensch seine eigene geistige Tätigkeit und deren Produkte zum Gegenstand seiner Denkoperation gemacht? Ein Versuch, die Vorstellung von einem bösen Wesen, vom Teufel, im Zusammenhang mit der Natur, den geschichtlichen Erscheinungen und deren Konjunkturen darzustellen, ist vorliegende Schrift. Sie will versuchen, die Geschichte des Teufels nach seinem Ursprung und seiner weiteren Entwicklung unter einem kulturgeschichtlichen Gesichtspunkt darzustellen, will auf die Momente hinweisen, die überhaupt zur Vorstellung von einem bösen Wesen anregen, will den religiösen Dualismus bei den Naturvölkern und den Kulturvölkern des Altertums nachweisen, sie will zeigen, wie innerhalb der christlichen Welt die Vorstellung vom Teufel Raum gewonnen und im Verlauf der Geschichte eine alle Gemüter beherrschende Macht erlangt hat. Die Geschichte des Teufels will gewisse Hauptfragen zu lösen versuchen, als: wie gelangt der Mensch überhaupt zur Vorstellung von der Existenz eines übermenschlichen bösen Wesens, oder wie bildet sich der religiöse Dualismus? wobei der Ausgangspunkt vom menschlichen Bewußtsein angegeben ist. Bei der christlich-kirchlichen Vorstellung vom Teufel handelt es sich um Faktoren, welche die allgemeine Verbreitung dieser Vorstellung gefördert haben. Daran knüpft sich die Frage: warum diese Vorstellung gerade zu einer bestimmten Zeit so mächtig geworden ist, welche Wandlungen sie erlebt hat, warum sie wieder abnimmt, welches die Ursachen der Abnahme sein mögen? und dgl. mehr. Manche, und vielleicht wichtige Momente, die in die Geschichte des Teufels eingreifen, mögen dem Verfasser entgangen sein, daher darf seine Schrift auch nur auf die Bedeutung eines  Versuchs  Anspruch machen. Denn es ist gewiß: "im geschichtlichen Zusammenhang der Dinge schlägt ein Tritt tausend Fäden, und wir können nur einen gleichzeitig verfolgen. Ja, wir können selbst dies nicht immer, weil der größbere sichtbare Faden sich in zahllose Fädchen verzweigt, die sich stellenweise unserem Blick entziehen." (4)


Erster Abschnitt
Der religiöse Dualismus

1. Mensch und Religion gegenüber der Natur

Der Mensch  wird in die  Natur  hineingeboren, bildet einen Teil des Weltganzen, ist mittels der Sinne den Eindrücken der ihn umgebenden Außenwelt unterzogen. Er selbst als ein organisches Ganzes, das als Leben auf einer immerwährenden Selbsttätigkeit beruth, ist der Natur gegenübergestellt, die ihm einen zu überwindenden Gegensatz bietet. Mit der Geburt, für das Kind mit Leiden verbunden, beginnt der Kampf mit der Außenwelt, und hat man in diesem Sinn auch die Worte SHAKESPEAREs deuten wollen, die er den König LEAR sagen läßt: "Wenn wir geboren werden, weinen wir."

Den nächsten Gegensatz unmittelbar nach der Geburt stellt die atmosphärische  Luft.  Dem Embryo im Mutterleib genügte zu seiner pflanzenartigen Existenz das durch das Atmen der Mutter rot gewordene Blut; das Neugeborene hingegen muß nun die Luft schon unmittelbar einatmen, es ist mit dem Luftkreis in unmittelbaren Verkehr gesetzt und vollzieht mit dem Atmen den ersten Akt der Selbsttätigkeit. Durch das unmittelbare Einatmen der Luft verschafft es dem Blut eine seinem selbständigen Leben angemessene Entwicklung und wird zugleich angeregt, seine Empfindung frei zu äußern. Auf das Niesen, das sich infolge des Luftreizes in der Nasenhöhle gewöhnlich einstellt, möchten wir dem kleinen Erdenbewohner ein ermutigendes "Prosit" zurufen, zur glücklichen Überwindung all der Gegensätze, durch die er zur freien Selbständigkeit gelangen soll, die ja seine Bestimmung ist.

Den nächsten Gegensatz, den das Kind zu überwinden hat, findet es in der  Nahrung.  Solange es diese an der Muttermilch hat, übernimmt die Mutterliebe das Geschäft der Vermittlung, deren der Säugling bedarf; mit dem Hervorbrechen der Zähne gibt aber die Natur den Wink, daß der kleine, werdende Mensch zur Selbständigkeit sich zu entwickeln bestimmt ist. Nach der Entwöhnung sich zu entwickeln bestimmt ist. Nach der Entwöhnung gewöhnt sich das Kind, selbsttätig seine Nahrung unmittelbar zu sich zu nehmen und in sein Fleisch und Blut zu verwandeln, d. h. den Gegensatz zu überwinden, um das Leben selbsttätig zu erhalten.

Wie das Kind im Kauen den  Stoff  überwindet, so kommt es dahin, im Gehen den  Raum  zu beherrschen und später im  Sprechen  die Vorstellung aus sich herauszubringen, wodurch es seine Innerlichkeit freimacht, wie es sich im Kauen und Gehen von der Außenwelt sich befreit, indem es dieselbe beherrscht. "Alles Leben kämpft gegen die Schranken von Raum und Zeit." (5) So greift der Mensch in die Natur ein, indem er sich seine Nahrung daraus holt; indem er sie vernichtend seiner Leiblichkeit assimiliert, übt aber auch die Natur eine Wirkung auf ihn aus. Im weiteren Verlauf greift er in die Natur ein durch die  Arbeit,  indem er den Boden kultiviert, das in der Natur Vorgefundene umbildet, wodurch er selbst wieder gebildet wird.

Es ist eine ununterbrochene Reihe von Wechselwirkungen im großen und kleinen und beider aufeinander.

Desgleichen findet auch im leiblichen Organismus des Menschen statt. Das Blut, welches man "die Mutter des ganzen Lebens" genannt hat, ist Ursache, daß der Magensaft sich bildet, und dieser ist die Ursache der Blutbildung, und wie jedes Organ Blut enthält, so ist dieses die Substanz aller Organe. Das Blut dient zur Erhaltung und Belebung der Organe, und diese erfüllen ihren Zweck in der Erhaltung des Bluts in seiner lebendigen Form. Ohne die Tätigkeit der Lunge kann das Gehirn nicht tätig sein und ohne dessen Einfluß wäre die Bewegung der Lunge unmöglich.

Indem der Mensch lebt, überwindet er den Gegensatz, den er an sich trägt, denn wo Leben ist, da ist Gegensätzlichkeit, die ausgeglichen werden muß. Das Leben betätigt sich in der Ausgleichung des Gegensatzes. Der Lebensprozeß kann daher füglich mit dem Ausgleichungsprozeß zweier chemisch gegeneinander gespannter Substanzen verglichen werden, (6) denn vom ersten Augenblick des Lebens sucht das Individuum die Zweiheit seines Wesens, die Innerlichkeit, die Psyche, mit der Äußerlichkeit oder Leiblichkeit auszugleichen. In der Ausgleichung dieses Unterschieds von Leib und Seele betätigt sich das individuelle Leben. Es ist Naturgesetz, daß alles, was den Leib affiziert, in die Seele hineinversetzt wird und umgekehrt, daß die innerlichen Zustände verleiblicht, d. h. äußerlich zur Erscheinung gebracht werden. Das menschliche Individuum lebt sonach im steten wechselwirkenden Verkehr zwischen Innerem und Äußerem und umgekehrt, und sein Leben ist nur so lane ein gesundes, als sich diese Gegensätzlichkeit zur Einheit zusammenfaßt.

Durch die Sinne, vermittelt durch die organische Tätigkeit des Nervensystems, tritt der Mensch in Verkehr mit der Außenwelt. Von den verschiedenen Sinnesorganen, in welchen die Nerven ihre peripherischen Enden haben, leiten diese die Eindrücke, die sie an jenen empfangen haben, im Zentralorgan zusammen und gelangen zu gegenseitiger Durchdringung. Die Mannigfaltigkeit der Lebenstätigkeiten zur Gemeinsamkeit zusammensummiert regt sich als Innerlichkeit und Einheit, als  Gemeingefühl worin sich das Leben selbst inne wird, sich selbst findet. Dieses dunkle Gefühl des Daseins wird zur  Empfindung,  wo der eigentliche Leibeszustand perzipiert wird. Die Entwicklung zur Klarheit wird angerecht durch den Gegensatz, wodurch das sich das Leben irgendwie gehemmt oder gefördert fühlt, sodaß der besondere Lebenszustand durch äußere Verhältnisse bestimmt empfunden wird. Ist der Gegensatz derart, daß die organische Tätigkeit des Lebens zur Kraftäußerung aufgefordert und jener dadurch überwunden wird, so ist die Empfindung eine  angenehme,  welche sich bei wachsender Regung zur  Lust  steigert; oder das Gemeingefühl bleibt wegen Mangels an Reiz oder durch übermäßige Reizung, welche die Tätigkeit der Organe zu stören droht, unbefriedigt, und die Empfindung ist  unangenehm,  die bei größerer Stärke zum  Schmerz  wird.

Nach dem Naturgesetz bringt jede Einwirkung eine Gegenwirkung hervor, weil jede angeregte Kraft sich zu äußern strebt. Die Empfindung, durch einen äußeren Reiz angeregt, erweckt den  Trieb,  der sich der willkürlichen  Muskeln  bedient, um das Leben zu äußern. Die innere Tätigkeit im Gehirnleben tritt durch den Trieb mit den Muskeln in Berührung, die innere Bewegung wird zur äußeren, die Gegensätzlich des Äußeren und Inneren wird ausgeglichen. Die willkürlichen  Muskelbewegungen  entsprechen den Sinnesempfindungen, indem ein Gehirnreiz, auf die peripherischen Teile des Nervensystems fortgeleitet, durch die Muskeltätigkeit eine Veränderung am Leib hervorbringt. In den unwillkürlichen Bewegungen kommen Modifikationen des Gemeingefühls zum Ausdruck.

Das Innewerden der Außenwelt durch die Sinne ist bedingt durch das Innewerden der eigenen Leiblichkeit, denn ohne Gemeingefühl des eigenen Daseins ist die Empfindung des fremden Daseins nicht denkbar. Die äußeren Gegenstände wirken auf die Sinnesorgane und durch die Nerven auf das Gehirn, welches dadurch in entsprechender Weise bestimmt wird.

In der anorganischen Natur zeigt sich die Wechselbeziehung zu einem fremden Körper zunächst in der Ausgleichung der Wärmeverhältnisse; im Pflanzenleben betätigt sich der Ausgleichungsprozeß in Modifikationen der Zellenernährung; im animalischen Leben wird der Gegensatz zur Außenwelt durch das Nervensystem vermittelt und das Leben durch die willkürliche Bewegung als höhere Form offenbar. Im Menschen findet die zusammenfließende Fülle von Empfindungen und Sinneseindrücken außer der Kompensation durch die Muskelbewegung den noch höheren Ausgleichspunkt im  Bewußtsein  und  Selbstbewußtsein.  Das menschliche Individuum hat mit dem animalischen Leben das gemeinschaftlich, daß die durch Sinneseindrücke affizierten Nerven zum Gehirn oder Rückenmark verlaufend von da zu den willkürliche Muskeln gelangen und, sich bis zu jeder Fleischfiber verteilend, diese als Bewegungsorgane in Anspruch nehmen. Der kennzeichnende Unterschied zwischen Mensch und Tier ist also das  Bewußtsein  und  Selbstbewußtsein womit die Grenz- und Scheidelinie gezogen ist, von der aus die spezifisch unterschiedene Bedeutung beginnt. Auch das Tier wird zwar die Eindrücke der Außenwelt durch die Sinnesorgane inne, es hat Empfindung und äußert sein Empfundenes durch die Muskelbewegung, es nährt sich vom Stoff, den ihm die Natur bietet, und assimiliert denselben seiner Leiblichkeit; aber während das Tier im Fraß und überhaupt in der Äußerlichkeit aufgeht, kommt der Mensch dahin, sich bewußt zu werden: daß die Außenwelt, von der er seine Nahrung und Sinneseindrücke erhält, ein von ihm Verschiedenes ist; er kommt zu  Bewußtsein daß sein eigenes Dasein und seine Umgebung als eine ihm fremde Außenwelt im Gegensatz stehen. Ja, er wird seiner eigenen physischen Tätigkeit inne, unterscheidet sie vom leiblichen Dasein des Organismus und stellt im Bewußtsein seine eigene Empfindung sich selbst gegenüber, d. h. er kommt zum  Selbstbewußtsein.  Dadurch wird er erst eigentlich  Mensch,  daß er zum selbstbewußten  Ich  gelangt, hiermit beginnt er ein vom materiellen Leben unterschiedenes  geistiges Leben;  insofern aber das Material, das der menschliche Geist umbildet, Leiblichkeit ist und das geistige Leben wohl selbsttätig, aber nicht eigenmächtig ist: so muß die  Einheit  von  Sinnlichem  und  Geistigem  die eigentliche Sphäre des Menschen ausmachen.

In der Periode, die dem Selbstbewußtsein vorhergeht, spricht das Kind von sich in der dritten Person, es lebt noch im Dämmerlicht, bis ihm die Sinne des Bewußt- und Selbstbewußtseins aufgeht, von wo an es sich mit  Ich  bezeichnet. Wenn FICHTE den Tag, wo er sein Kind das erst  Ich  sagen hörte, feierlich begangen haben soll, so beweist das eben die Bedeutsamkeit des Moments, den der große Philosoph zu würdigen wußte.

Das Tier, welches keine höhere Aufgabe hat als zu leben, sein inneres Empfindungsleben durch Bewegung zu äußern, seine Gattung durch Fortpflanzung zu erhalten, erfüllt seine Bestimmung mit dem natürliche Ende, dem Tod. Der Mensch fängt sein spezifisch-menschliches Leben erst an, wo er sich seiner selbst bewußt wird. Aber schon als Säugling, dessen nächste Aufgabe zwar auch im Lebendigsein gelöst wird, steht er mit dem Tier doch nicht auf gleicher Linie, weil er die Anlage zur Weiterentwicklung in sich trägt, die dem Tier versagt ist. Den schlagenden Beweis hiervon liefert das Kind, wenn es zu sprechen anfängt, womit der selbstbewußt werdende Geist sich zum Ausdruck bringt und der Gegensatz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit die ausgleichende Mitte findet.

Das Höchste, wozu es das animalische Leben zu bringen vermag, ist der Gattungsprozeß; der Mensch hingegen bringt es zum  Bewußt-  und  Selbstbewußtsein  und infolge dieses zur  Sprache, Arbeit, Geschichte, Religion zum begrifflichen Denken, zur  Wissenschaft

Es ist eine unzulängliche Definition, welche den Menschen nur als entwickeltes Tier hinstellt, da er vom Tier spezifisch verschieden, daher auch eine andere Bestimmung hat. Der Keim, aus dem der Mensch hervorgeht, ist wesentlich verschieden von dem eines Naturprodukts. Vergleichungspunkte sind nur dadurch gegeben, daß im System des organischen Menschenlebens alle anderen Systeme enthalten und ineinandergesetzt zur Erreichung der menschlichen Bestimmung dienen und der Physiologe daher ein vegetabiles und animales Leben im Menschen vertreten findet, wie im menschlichen Organismus auch Substanzen der anorganischen Natur notwendig vorhanden sein müssen.

Durch die  Aufmerksamkeit in welcher sich die Seelentätigkeit nach den durch die Außenwelt hervorgebrachten Eindrücken richtet, macht der Mensch  Wahrnehmungen,  deren Einzelheiten er zu einem Ganzen vereinend zur  Vorstellung  bildet, indem er mittels des Sinnen- und Hirnlebens das von außen gewonnene Material in eine geistige Tatsache umsetzt, das Äußere im Inneren abdrückt. Alles, was er inne geworden, wird durch das  Gedächtnis  innerlich fortwirkend aufbewahrt, und so faßt er eine Reihe von Wahrnehmungen, die er an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gewonnen hat, einheitlich zusammen in der  Erfahrung. 

Dasselbe Gesetz, wonach das animalische, unbewußte Leben, die Empfindung in der Muskelbewegung zum Ausdruck kommt, drängt den bewußten Geist, sich zu äußern durch die  Sprache.  Nach den Beobachtungen der Physiologen wird infolge innerer Bewegungen der Kehlkopf leicht affiziert, womit eine spezielle Beziehung zwischen beiden, gleich der zwischen dem Vagus und den Herzbewegungen, der Sphäre des kleinen Gehirns und den Bewegungsmuskeln der oberen Extremitäten, angedeutet wäre. Dies kann aber erst die lautliche Äußerung der aufgenommenen Eindrücke erklären, allerdings als Vorbereitung zum ausgesprochenen  Wort.  Das Tier hat eine Stimme, durch die es sein empfindendes Leben offenbart; es bleibt aber nur beim  Laut,  wodurch es das unbewußte Leben äußert, und bringt es nimmermehr zum  Wort,  dem Ausdruck des selbstbewußten Geistes, weil ihm eben das Selbstbewußtsein nicht aufgeht. Es ist daher treffend, wenn LOTZE irgendwo den Gesang der Vögel ein "willenloses und absichtsloses Springen mit den Stimmbändern" nennt, denn es ist eben nur eine Muskelbewegung, durch die der Laut hervorgebracht wird. Die  Sprache  ist Ausdruck des selbstbewußten Geistes, der Mensch spricht im  Wort  nicht nur seine Empfindung, sein Gefühl aus, sondern auch seine Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken. Eben weil er Wahrnehmungen macht, Vorstellungen bildet und Gedanken erzeugt,  spricht  der Mensch. Er erfindet die Sprache nicht, so wenig aler er sein Dasein erfunden hat, sie ist ein Erzeugnis seines Geistes, dessen Wesen in der Sprache laut wird, wobei die Sprachwerkzeuge entgegenkommend in Bewegung gesetzt werden. Ohne Zunge, Zähne, Gaumen, Stimmritze könnte der Mensch allerdings keine Vorstellung und keinen Gedanken sprachlich darstellen; er spricht aber nicht,  weil  er diese hat, sonst würde der Hund und das Schwein auch eine Sprache haben. Das Grunzen, Bellen, Miauen und dgl. ist nur der elementare, unartikulierte Ausdruck von Empfindungen, aber von keinem Gedanken, zu welchem nur der Mensch die Empfindung zu verarbeiten vermag. "Die Sprache befreit den Menschen von der Unbestimmtheit des Fühlens und Anschauens und macht ihm den Inhalt seiner Intelligenz zum Eigentum." (7) In der Sprache zeigt sich der bildende Trieb und eine Art Herrschaft über den Gegenstand, der, von außen nach innen angeregt, zur Vorstellung verarbeitet, als Wort wieder ausgesprochen wird. "Durch Benennung wird das Äußere wie eine Insel erobert und vorher dazu gemacht, wie durch Namengeben Tiere bezähmt werden" (8), und man erinnert sich hierbei der trefflichen Darstellung in der Genesis, wonach die Herrschaft des Menschen über die Tiere, außer deren Genuß, damit bezeichnet wird, daß er sie benennen soll. Beim Kind zeigt sich die Herrschaft des Geistes in den "kühnen" und "doch richtigen" Wortbildungen, deren JEAN PAUL (9) mehrere anführt, die er von drei- und vierjährigen Kindern gehört hat, als: "der Bierfässer, Saiter, Fläscher" (der Verfertiger von Fässern, Saiten, Flaschen), "die Luftmaus" für Fledermaus, "die Musik geigt, das Licht ausscheren (von der Lichtschere), dreschflegeln, drescheln; ich bin der Durchsehmann (hinter dem Fernrohr stehend), ich wollte, ich wäre als Pfeffernüßchenesser angestellt oder als Pfeffernüssler; am Ende werde ich gar zu klüger; er hat mich vom Stuhl heruntergespaßt; sieh wie Eins (auf der Uhr) es schon ist" usw. Ähnlich nennen die nordamerikanische Indianer ihnen fremde Gegenstände mit selbstgebildeten Namen, wie "Lochmacher" statt Bohrer und dgl. (10)

Wie das Bewußt- und Selbstbewußtsein von minderer Klarheit zur festeren Bestimmtheit fortschreitet, so läßt sich bei Kindern auch die allmähliche Entwicklung der Sprache beobachten. Aus den unbestimmten Vokallauten entstehen erst reine Vokale, zu denen wieder zunächst stumpfe Konsonanten hinzutreten und undeutliche Silben bilden, bis endlich die Vokale zur Klarheit kommen, die Mitlauter ihre Schärfe erhalten und die Silben das deutliche Gepräge bekommen. Ein ähnliches Fortschreiten zeigt sich auch im Gebrauch der Wortformen, indem das Kind aus dem Infinitiv und der dritten Person allmählich zur ersten Person, zur Konjugation und Deklination übergeht und endlich die Syntax in die Sprache aufnimmt.

Von gleichgroßem Interesse ist in dieser Beziehung die Verfahrensweise der Naturvölker, die in der Kindheit der menschlichen Entwicklungsgeschichte stehen geblieben sind. Wie die Kinder sprechen die brasilianischen Indianer immer im Infinitiv, meist ohne Fürwort oder Substantiv. Der Unzulänglichkeit einer solchen Sprache müssen dann gewisse Zeichen mit der Hand, dem Mund oder andere Gebärden zu einem verständlichen Ausdruck verhelfen. "Will der Indianer z. B. sagen: ich will in den Wald gehen, so spricht er "Waldgehen" und zeigt dabei mit rüsselartig vorgeschobenem Mund auf die Gegend, die er vermeint." (11) "Die Grönländer, besonders die Weiber, begleiten manche Worte nicht nur mit einem besonderen Akzent, sondern auch mit Mienen und Augenwinken, sodaß, wer dieselben nicht gut wahrnimmt, des Sinnes leicht verfehlt. Wenn sie z. B. etwas mit Wohlgefallen bejahen, schlürfen sie die Luft durch die Kehle hinunter mit einem gewissen Laut. Wenn sie etwas mit Verachtung und Abscheu verneinen, rümpfen sie die Nase und geben einen feinen Laut durch dieselbe von sich, wie sie es auch durch Gebärden erraten lassen, wenn sie nicht aufgeräumt sind." (12)

Wie die selbstbewußte Tätigkeit, das Denken im weiteren Sinne, den ersten Ausgangspunkt von sinnlichen Eindrücken erhält, so wählt auch die Sprache zunächst solche Laute, die auf das Ohr einen entsprechenden Eindruck hervorbringen. (13) Es sind dies die sogenannten Onomatopoetika, wie sie jede Sprache hat, so etwa in unserem "starr" der Eindruck des Widerstandskräftigen, in "Wind" das Bewegende, in "Wirr" das Durcheinandergehende kaum unbemerkt bleiben kann, und dgl. mehr.

Solange das Denken nur in sinnlichen Vorstellungen geschieht und die Ideen Gestalt annehmen, kann auch nur das Sinnlichwahrnehmbare seinen Ausdruck finden, wogegen das Begriffliche durch Umschreibung aufgenommen und ausgedrückt wird. Dadurch erhalten diese Sprechweisen einen überfließenden Pomp und malerischen Glanz, wovon BASTIAN (14) aus der Sprache der Indianer treffende Beispiele anführt. In dem aller abstrakten Begriffe entbehrenden Materialismus der amerikanischen Indianer wird "Glück" bezeichnet durch "Sonnenglanz", "Friede" durch "Waldbaumpflege" oder "eine Streitaxt begraben", "Leidtragende trösten" durch "das Grab der Verstorbenen bedecken". Selbst fremde Wörter kann er nur durch Umschreibungen aufnehmen: Kerze wird übersetzt als Wassa kon-a-em jegun von wassan (heller Gegenstand), kon-a (Brand), jegun (Werkzeug); Lichtputze durch Kischke-kud-jegun von kischk (abschneiden, ked oder skut (Feuer) und jegun (Werkzeug).

Wie in der Sprache die höhere Lebenspotenz des Selbstbewußtsein offenbar wird, jene aber wieder auf die Entwicklung des Menschen zurückwirkt, so zeigt sich die Herrschaft des selbstbewußten Wesens besonders merklich in der  Arbeit.  Die Bedeutsamkeit der Arbeit liegt in der umbildenden Einwirkung auf den Gegenstand, zunächst auf die Natur, ferner in der bildenden Rückwirkung auf den Arbeitenden. Der Mensch arbeitet, indem er wirkt und selbst dadurch eine Rückwirkung empfängt, indem er geistig umbildet und dadurch selbst geistig gebildet wird. Arbeiten kann daher nur der Mensch als geistiges, selbstbewußtes Wesen. Wenn er den Gegensatz, in welchem er sich der Natur gegenüber befindet, dadurch überwunden und ausgeglichen hat, daß er ihre Produkte vernichtend verzehrt und seiner Leiblichkeit assimiliert, bietet er hiermit ein Analogon zum Tier, welches auch sein Futter in Fleisch und Blut verwandelt; indem aber der Mensch das Feld bearbeitet, die Tierhaut zur Kleidung verarbeitet, bildet er die Natur um, und die Folge ist eine rückwirkende, sodaß mit der Bearbeitung der Natur die Bildung des Mneschen Hand in Hand geht. Das Tier arbeitet in diesem Sinne nie, weil es nie zum Selbstbewußtsein kommt und wenn der Vogel sein Nest baut, die Biene Honig und Wachs sammelt, so ist dies eine emsige Geschäftigkeit, in welcher das rückwirkende Moment der Bildung, das die Arbeit kennzeichnet, mangelt. (15) Ist es doch zum Axiom erhoben, daß mit dem Ackerbau, also mit der Bearbeitung der Natur, die Kultur der Menschheit ihren Anfang nimmt. "Nicht das mythische Paradies oder goldene Zeitalter, sondern die  Arbeit  ist der Anfang der Kulturgeschichte." (16) In der Arbeit selbst liegt daher ein Fortschreiten, denn wenn der rohe Mensch arbeitet, weil ihn die Not zwingt, weil er  muß,  so arbeitet der Gebildete aus eigener freier Bestimmung, weil er  will.  Durch die Arbeit drückt der Mensch dem Gegenstand, den er bearbeitet, das Gepräge seines eigenen geistigen Wesens auf, er stempelt ihn mit seinem Willen und erklärt ihn hiermit für sein Eigentum. Jäger- und Nomadenstämme bilden sich nicht, weil sie nicht zur Umbildung der Natur, zur Arbeit kommen, weil sie nicht zur Umbildung der Natur, zur Arbeit kommen, und obschon sie nicht gänzlich im reinen Naturzustand leben gleich dem Tier, da es überhaupt gar keinen Menschenstamm gibt, bei dem nicht z. B. der Gebrauch des Feuers sich vorfände (17) oder der Brauch sich zu schmücken, wenn auch in roher Weise, angetroffen würde, so bringen sie es doch nicht zur ständigen Arbeit, zu keinen festen Sitzen und daher auch nicht zur Totalität eines Volkes und Staates.

Da mit der Arbeit die Gesittung und Bildung ihren Anfang nimmt, ist jene die Bedingung der  Geschichte, Sprache  und  Arbeit  als Äußerungen des selbstbewußten Geistes sind notwendige Voraussetzungen der Geschichte. Es gibt keinen wilden Stamm, der keine Sprache hätte, der seine inneren Zustände bloß durch unartikulierte Laute oder durch bloße Muskelbewegung als Gebärden zu erkennen gäbe; aber ebenso hat kein Volksstamm eine Geschichte, in dessen Leben die Arbeit mit der erforderlichen Seßhaftigkeit fehlte. Der Beduinenaraber steht deshalb auf derselben Stufe, die er zu ABRAHAMs Zeit eingenommen, er hat keine Geschichte, weil sein Leben der bildenden Arbeit ermangelt. Man kann sagen: die Arbeit ist das Bildungsmittel des Menschen und die Sprache das Fortpflanzungsmittel der Bildung. Beide Faktoren sind unentbehrlich in der Geschichte der Menschheit, und diese ist undenkbar ohne jene. Was die mündliche Tradition in der Vorhalle der Geschichte durch die Fortpflanzung der Mythen- und Sagenkreise bewerkstelligt, das vollzieht mit dem Beginn der wirklichen Geschichte die durch die Schrift oder andere Denkmäler fixierte Sprache. Der einzelne bringt durch das Wort sein inneres Leben zum Ausdruck und zur Mitteilung für den andern und die Schätze der Bildung eines Volkes kommen dem andern mittels der Sprache zugute; die Kultur längstvergangener Reiche, durch die Sprache dient der Zukunft als Hebel, der sie auf die Schultern der Vergangenheit und Gegenwart heben wird. Die  Sprache  ist das Gebinde, worin die mittels Arbeit erzielten Früchte der Kultur von einem Geschlecht dem andern, von einem Volk dem andern, von einer geschichtlichen Periode der andern überreicht werden. Sprache und Arbeit haben aber ihren Grund im Menschen als bewußtem und selbstbewußtem Wesen, d. h. im menschlichen Geist und hierin ist also auch der Grund, daß das Menschengeschlecht eine  Geschichte  hat. Die Natur und ihre Produkte haben diese nicht in dem Sinne, daß ein und dasselbe Geschöpf, wie der Mensch, sich durch Entwicklung seiner Anlage ändert. Der Fliederstrauch treibt dieselben Blüten und bringt dieselben schwarzen Beeren wie vor 3000 Jahren und die Ameise ist heute noch ebenso geschäftig wie ehedem, der Orang-Utan sieht dem Menschen zwar ähnlich, ist ihm aber noch immer nicht gleich geworden, weil er seiner ursprünglichen Anlage nach verschieden ist; aber der sprechende und arbeitende Mensch von heute fühlt und weiß sich anders, hat andere Bedürfnisse und andere Anschauungen als der vor 3000 Jahren, und obschon das Gesetz, nach dem er sich entwickelt, ein unwandelbares ist, so sind ihm die Kulturen längstvergangener Zeiten zugefallen, die er sich kraft dieses unwandelbaren Gesetzes eigen gemacht und in sich verarbeitet hat.

Im Selbstbewußtsein des Menschen liegt aber der Grund nicht nur, daß der Mensch eine  Sprache  hat, daß er sich durch  Arbeit  seiner Bestimmung nähert, was schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte tiefsinnig angedeutet wird, daß er ferner eine  Geschichte  hat, in der er sein Wesen als ein sich entwickelndes darlegt; im selbstbewußten Geist liegt auch der Grund, daß der Mensch  Religion  hat. Der Consensus populorum hat zwar als Beweis für das Dasein Gottes nicht mit Unrecht seine Kraft verloren und ist bei den meisten Theologen und Philosophen außer Geltung gesetzt; er birgt aber dennoch in gewisser Beziehung ein Körnchen Wahrheit in sich: daß es keinen noch so rohen Völkerstamm gibt, bei dem nicht Spuren von religiösen Vorstellungen anzutreffen wären.
    "An Götter im Sinne zivilisierter Völker, an höhere Wesen, die, mit übermenschlicher Macht und Einsicht begabt, die Dinge dieser Welt nach ihrem Willen lenken, glauben allerdings durchaus nicht alle Völker; versteht man aber unter religiösem Glauben nur die Überzeugung vom Dasein meist unsichtbarer geheimnisvoller Mächte, deren Wille überall und auf die mannigfachste Weise in den Lauf der Natur einzugreifen vermag, sodaß der Mensch und sein Schicksal von ihrer Gunst äußerst abhängig ist, so dürfen wir behaupten, daß jedes Volk eine gewisse Religion besitze. Es ist nicht zu leugnen, daß bei den Völkern der niedrigsten Bildungsstufe diese Religion im Grunde nichts ist als ein meist sehr ausgedehnter Gespensterglaube, aber man wird sich hüten müssen, das religiöse Element, welches unzweifelhaft darin enthalten ist, zu verkennen." (18) "Der Mensch sieht in den natürlichen sinnlichen Dingen durchgängig mehr und etwas anderes als bloß sinnliche Eigenschaften und materielle Kräfte, er sieht in ihnen übernatürliche Mächte und einen übernatürlichen Zusammenhang, er vergeistert die Natur." (19)
Diese Erscheinung findet ihre Erklärung darin, daß der Mensch selbst auf der niedersten Kulturstufe zum Bewußt- und Selbstbewußtsein gelangt, daß er es zu Vorstellungen bringt, daß er Schlüsse zieht, daß er überhaupt als geistiges Wesen eine ideale Seite, religiösen  Sinn  und  Trieb  hat, die im  religiösen Glauben  zum Ausdruck kommen. Man mag Religion als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl von einem höchsten Wesen bezeichnen, als Beziehung des Endlichen zum Unendlichen, als Glaube des Menschen an Gott ansprechen, oder nach der anthropologischen Anschauung den Satz der Theologen: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde", umkehren und sagen: "Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde"; das Wesentliche an der Sache bleibt, daß Religion auf einem Zug im Menschen nach einem höheren vollkommeneren Wesen und in der Anerkennung einer höheren Macht, als die des Menschen ist, beruth.

Der Anthropologe hat hierin recht, daß jede Vorstellung von Gott Spuren des menschlichen Bewußtseins an sich trägt, wie schon LUTHER bemerkt, wenn er sagt: "Wie das Herz, so der Gott", was wohl soviel sagen will wie: nach der mehr oder minder entwickelten Bildungsstufe wird auch die menschliche Vorstellung vom höchsten Wesen eine mehr oder weniger sinnliche oder geläuterte sein. Die schlagendsten Beweise bieten die religiösen Vorstellungen der Naturvölker, welche eigentlich in der Personifizierung derjenigen Dinge in der Natur bestehen, von denen der Mensch seine Existenz und sein Schicksal abhängig glaubt, und dessen günstige oder ungünstige Wendung der Wirkung selbständiger Geister zugeschrieben wird. Auf diesem Standpunkt fällt die Naturansicht mit der religiösen Ansicht der Dinge zusammen, und diese Geister sind ganz nach der Analogie der menschlichen Individualität gedacht.

Aber auch die Vertreter des absoluten Abhängigkeitsgefühls von Gott haben die Wahrheit für sich, daß das Gefühl ein Wesensbestandteil des religiösen Glaubens ist, ohne welches Religion weder unter dem Gesichtspunkt des Glaubens noch des Handelns lebendig oder wirksam sein kann. Außerhalb des Zusammenhangs der geschichtlichen sowohl als der begrifflichen Entwicklung steht nur diejenige Ansicht, welche eine Religion ungeahnt und historisch unvorbereitet urplötzlich einem Meteorsteine gleich über die Menschen herabfallen läßt. Dem Denker ist die Entstehung dieser Ansicht wohl erklärlich, obschon diejenigen selbst, die sie hegen, dieselbe für unbegreiflich halten.

Bei erweiterter Fassung des Begriffs Religion wird deren Element überall erkannt werden, wo sich ein Streben nach Idealem kundgibt, ob dieses in einer Naturkraft besteht oder im Schönheitsideal, ob im Patriotismus oder in der Wissenschaft, es bleibt immer eine Beziehung zu etwas, das über dem Endlichen und Alltäglichen liegt und deshalb stets in irgendeiner Hinsicht etwas Erhebendes in sich trägt. Weil jeder Religionsform der Zug nach Idealem zugrunde liegt, hat auch jede ein bildendes Moment in sich, und weil es keinen Menschenstamm gibt, bei dem nicht Spuren von Religion vorhanden wären, lebt auch keiner ein reines Tierleben, sowie kein Stamm der Sprache entbehrt, weil sich jeder zum vorstellenden Bewußtsein erhebt.


2. Die Gegensätzlichkeit in der
religiösen Anschauung der Naturvölker.

Das alte Sprichwort: "Not lehrt beten" enthält zwar, wie alle Sprichwörter, nicht die ganze Wahrheit, ist aber auch nicht aller Wahrheit bar. Ob der Satz dahin erklärt wird: die Not sei als Mutter der Religiosität zu betrachten (20) oder ob man dabei an die Worte des GOETHEschen Harfners erinnert: "Wer nie sein Brot in Tränen aß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte"; soviel ist gewiß, das religiös-gläubige Gemüth fühlt in Augenblicken der Bedrängnis am meisten das Bedürfnis, sich seinem Gott zu nahen und sich ihm zuzuwenden. In der Not überkommt den Menschen das Gefühl seiner Schwäche, hervorgerufen durch einen Gegensatz, der unüberwindlich zu sein droht und daher mit Furcht erfüllt.

Allerdings wird die Religiosität, durch Not und Bedrängnis veranlaßt, eine unfreie sein und die daraus entspringenden Handlungen auch das Merkmal der Unfreiheit an sich tragen, indem sie als Opfer zur Sühnung oder zur freundlichen Stimmung des göttlich verehrten Wesens dargebracht werden; ungeachtet dessen muß doch das religiöse Moment dabei anerkannt werden und die unfreie Religionsform wird dem geistig entwickelteren Religionsbegriff gegenüber eben als niedrigere Stufe erscheinen.

Im dunlen Gefühl, ein einheitliches Ganzes zu sein, betrachtet der Mensch zunächst alles, was er in der Außenwelt wahrnimmt, in Beziehung auf sich, inwiefern es seinem Wohl zuträglich ist oder entgegensteht und unterscheidet das Angenehme, als mit seinem Gemeingefühl übereinstimmende, vom Widersprechenden, dem Unangenehmen. Weil Harmonie das Grundgesetz sowohl des großen Ganzen, des Makrokosmos, als auch der menschlichen Natur, des Mikrokosmos, ist, sucht der Mensch unbewußt nach angenehmen Empfindungen und alles mit sich in Übereinstimmung zu bringen. Der Naturmensch nimmt seine mikroskopische Auffassungsweise auch zum Maßstab seiner Handlungsweise und erhebt das eigene Wohl, das ihm Angenehme zum Hauptgrundsatz der Moral und erachtet nur das für recht und gut, was seiner Selbsterhaltung dienlich, seinem Zustand angenehm ist. Ein treffendes Beispiel gibt jener Buschmann, der, über den Unterschied von gut und böse befragt, für böse erklärt, wenn ihm ein anderer seine Frauen raube, für gut hingegen, wenn er die Frauen eines anderen raube. (21) Der Naturmensch wird alles, was in sein einheitliches Sein störend eingreift, für böse und übeltätig ansehen, während er das mit ihm Übereingestimmte wohltätig und gut nennt. Mit dem Naturerleben im innigsten Zusammenhang, in die Sinnlichkeit versenkt, ist auch seine geistige Tätigkeit von dieser abhängig. Der Sinneseindruck bringt eine gewisse Stimmung hervor, und diese vertritt beim Naturmenschen die Stelle des Urteils. Solange dem Menschen der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, Grund und Folge ein unaufgelöstes Rätsel ist, erfüllt ihn die staunende Furcht vor jeder Erscheinung, die ihm fremd entgegenkommt. Der Naturmensch und das Kind sind daher am meisten von der Furcht heimgesucht, daher auch für "große" Furcht das Epitheton "kindisch" als synomym gebraucht zu werden pflegt. Das Kindesalter weist auf den Urzustand des Menschen hin und "noch immer ist die Menschheit im kleinen das fortlebende Bild der Menschheit im großen" - "ein jeder von uns war also einmal auch Naturmensch, hat da angefangen, wo der erste Mensch seine Entstehung anfing" (22). Der Satz: "Die Kindheit der Natur bleibt immer das Symbol aller ersten Entwicklung", dürfte freilich nur auf die erste Zeit des Kindesalters zu beschränken sein, denn ein Kind, das in einem zivilisierten Land, in einem gebildeten Familienkreis sechs Jahre alt geworden ist, wird mit einem sechsjährigen Indianerkind im Urwald kaum mehr auf gleicher Linie stehen. Die Eindrücke, die auf das Kind zivilisierter Eltern von Geburt an eingewirkt haben, sind ganz verschieden von denen, welche der kleine Urwaldbewohner in sich aufgenommen hat, demnach wird auch das Geistesleben beider verschieden sein, ja schon die Dämmerung des werdenden Bewußtseins in dem einen wird nicht ganz gleich sein dem Traumleben des andern. Vor dem Erwachen des Bewußtseins verschwimmen beide Kinder mit der Außenwelt, die sie umgibt; aber eben diese ist bei beiden eine verschiedene und bringt eine verschiedene Wirkung hervor. Beide Kinder entwickeln sich allerdings nach demselben Gesetzt des menschlichen Geistes und in dieser Beziehung ist die Beobachtung des Kindeslebens sowie des Lebens des Naturmenschen von wesentlichem Wert für den Psychologen; betrachtet man aber die Summe, d. h. das zum Bewußtsein entwickelte Kind, so wird niemand in Abrede stellen können, daß es im Bewußtsein des kleinen Europäers anders aussieht als in dem des kleinen Waldindianers. Da in der Natur nichts sprungweise vor sich geht, jede Erscheinung viel mehr das Resultat von unabsehbaren notwendigen Vorbereitungsstufen ist, da dasselbe Gesetz auch bezüglich der menschlichen Natur in Kraft steht, wonach jede Form des geistigen Lebens eine ganze Reihenfolge von Faktoren voraussetzt, deren Produkt sie ist: so muß die Verschiedenheit der Faktoren auch ein verschiedenes Fazit hervorbringen.

Dem Menschen, der in den Jahren der Kindheit oder im Kindesalter der Geschichte steht, erscheint die Natur zunächst furchtbar. Denn das Fremde ansich erregt Schrecken und alles Unbekannte, Unerklärte jagt Furcht ein. Man erzählt von THOMAS PLATTER, der, bei Beginn seiner Laufbahn als fahrender Schüler am Berg Grimsel zuerst ihn aneifernde Gänse erblickend, dieselben für den Teufel haltend die Flucht ergriff. Weil jede unbekannte Erscheinung feindlich zu wirken droht, betrachten die Wilden jeden Fremden als Feind.

Bevor der Mensch zum allgemeinen Denken emporwächst, faßt er nur die Einzelheiten, und sein Verständnis reicht so weit, als eben seine Sinne reichen. Der Algokiner in Amerika, der auf dieser Stufe steht, hat keinen Ausdruck für den allgemeinen Begriff Eiche, weil er nicht verallgemeinern kann, und benennt daher jede der verschiedenen Eichen, die in seinen Wälden wachsen, mit besonderen Namen. (23) Es ist ein Gesetz der menschlichen Natur, das Empfundene gegenständlich zu machen, das Innerliche nach außen zu werfen. Da nun dem Naturmenschen so vieles unbekannt, fremd, unerklärlich ist, demnach so viele furchtbar erscheint, bildet seine Phantasie, durch mächtige Erscheinungen oder gewaltige Ereignisse angeregt, furchtbare Gestalten, die er hinter jenen als Urheber erblickt. Die sinnliche Anschauung hat keinen Blick für den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, der sich dem denkenden Geist erschließt; jene ahnt nur eine besondere Ursache und kleidet sie, ihrer Eigenartigkeit gemäß, in eine besondere sinnliche Form. Eigentlich spiegelt sich die ganze Summe der Empfindungen, die Totalität des Lebens in den Vorstellungen des Menschen. Ein treffendes Beispiel liefert die Ansicht des Grönländers vom seligen Zustand nach dem Tod. "Weil die Grönländer ihre meiste Nahrung aus der Tiefe des Meeres bekommen, so suchen sie den glückseligen Ort unter dem Meer oder unter dem Erdboden und denken, daß die tiefen Löcher in den Felsen die Eingänge dafür seien. Daselbst wohnen TORNGANSUK und seine Mutter, da ist beständiger Sommer, schöner Sonnenschein und keine Nacht, da ist gutes Wasser und ein Überfluß an Fischen, Vögeln, Seehunden und Renntieren, die man ohne Mühe fangen kann oder gar in einem großen Kessel lebendig kochend findet." (24) KLEMM macht hierzu die Bemerkung, daß der Grönländer ebensowenig über seinen Horizont hinausgehe wie jene beiden Schweinehirten, die einander frugen, was sie tun würden, wenn sie NAPOLEON geworden wären? Der eine meinte: er würde von da an braune Butter aus Bierkrügen trinken; der andere versicherte, er möchte dann seine Schweine zu Pferde hüten. Wir sehen, daß beide, im Schweinehirtentum befangen, auch als NAPOLEONe dasselbe nicht losgeworden wären.

Das Gefühl der Furcht wird gegenständlich, indem es mittels der Phantasie die Gestalt des Furchtbaren erhält. Der Indianer schreibt darum jede ihm unerklärliche Naturerscheinung einem Manitou zu und versetzt in die Prärien den großen Geist des Feuers, der mit glühendem Bogen dahinrast; der Australier finden den schwarzen Wandvag in den Gummiwäldern hausesn; der Kamtschadale sieht überall die tollen Streiche Kuka's; auf Tonga Treiben die Holuah Pou ihren Schabernack; im brasilianischen Wald übt Gurupira seine Neckereinen; bei Wassergefahr sieht der Dajak den Nesi-panjang mit seinen Beinen über dem Fluß stehen; am Ufer des Maranon steht der Unhold Ypupiara und erdrosselt den Wanderer; in Senegambien brüllt Horey nach Opfern im Wald; auf Ceylon erfüllen die bösen Faradets die Luft und die Kalmücken hören den Drachen Dun Chan durch dieselbe fahren; in den kanadischen Wäldern haust der Gigri; auf den Philippinen leben die Tibalangas auf den Baumgipfeln. "In Patna sitzt die Cholera mit Schädelknochen behangen an den Ufern der Sone" (25). An der Sklavenküste unterläßt es der Dahomeer, des Nachts zu reisen, aus Furcht vor dem bösen Leiba, der in Schlangengestalt die Luft durchfliegt. (26)

Furcht ist wesentlich das Gefühl, womit der Naturmensch erfüllt wird. Der indianische Führer des Reisenden MARTIUS glaubte sich dem Gurupira verfallen, als im Wald zufällig eine Eidechse herabgefallen und nachdem er sich hierauf in einem Sumpf verirrte, verzweifelte er vollends, je wieder aus dessen Macht zu kommen. "Noch scheuer war ein Indianer vom Stamm der Catanaxis. Jeder krumme Ast oder abgestorbene Baumstumpf, jede seltsame Verschlingung von Sipos erschreckte ihn. Die Wanika fürchteten sich vor ihrem eigenen Schatten". (27)

In der Furcht liegt das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit gegenüber einer Macht, die über den Menschen waltet, und mit der Abhängigkeit geht Hand in Hand die anerkennende  Verehrung  des mächtigen furchtbaren Wesens.

Furcht ist nicht nur die Mutter der Weisheit, sondern auch der Religion, insofern sie den großen Anstoß gibt zur Elementarregung des religiösen Sinnes und mittels der Phantasie religiöse Vorstellungen erzeugt. Es gibt dieser Anfang allerdings nur erst ein religiöses Dämmerlicht, das im Bewußtsein aufsteigt, daher auch die Gestalten dunkel gefärbt sind und das Gemüt in Bangigkeit gefesselt liegt. Es fehlt dieser Religionsform das Moment der Freiheit, ist aber doch schon eine religiöse Ahnung vom Walten übermenschlicher Mächte, vor denen sich der Naturmensch als vor einer Gottheit beugt. Wir müssen daher auch dieser niederen Form den Titel "Religion" zuerkennen, wie der Botaniker nicht nur in der Palme, sondern auch in den Algen vegetabilische Gebilde erkennt.

Es ist erklärlich, daß Erscheinungen, welche Unheil und Verderben drohen und das Dasein des Naturmenschen zu gefährden scheinen, zu allernächst dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie durch den merklichen Gegensatz auch merklich reizen, während die wohltätigen Wirkungen der Natur, durch die der Mensch sein Dasein fristet, als selbstverständlich hingenommen werden. Man mag diesen Umstand "Undankbarkeit" nennen (28), es genügt uns, darin den Grund zu sehen, warum wir bei den Bojesmanen (Buschmännern) in Südafrika, den Indios da matto in den südamerikanischen Wäldern, bei den Pescheräh, den Bewohnern des Feuerlandes und den Ureinwohnern Australiens, Kaliforniens, soweit sie von europäischen Einflüssen unberührt geblieben, mehr das  Böse  als das  Gute  als Gegenstand der Verehrung antreffen. Schon HERODOT (29) erwähnt ein rohes Volk in der Wüste Sahara, die Ataranten, die sogar in der Sonne eine böse Macht sehen und dieselbe beim Aufgang unter heftigen Lästerungen verwünschen, weil sie dieselbe zugrunde richte. Es wird von manchen Stämmen, wie z. B. von der Indianern Caracas, behauptet, daß sie nur an ein böses Urwesen glauben (30) oder daß die bösen Wesen ein so großes Übergewicht haben, daß die guten fast ganz unbemerkt bleiben und keine weitere Berücksichtigung finden, da sie, als dem Menschen freundlich gesinnt, ihm keinen Anlaß bieten, ihnen zu dienen. Wie diese Stämme erst in den Windeln des menschlichen Daseins liegen, in den Anfängen der menschlichen Gesellschaft begriffen sind, so besteht auch ihre Religion auf der untersten Stufe des Schamanentums in einem dumpfen Gefühl der Furcht vor ungewöhnlichen Ereignissen, die das menschliche Dasein bedrohen, deren Ursachen aber nicht gesehen werden können. Diese Ursachen, die der sinnlichen Wahrnehmung des Naturmenschen entzogen sind, die aber sein Schlußvermögen voraussetzen muß, kommentiert seine Phantasie, indem sie ihnen eine sinnliche Form verleiht, d. h. sie  personifiziert.  Allenthalben, wo der Naturmensch Bewegung und Tätigkeit bemerkt, vermutet er als Ursache ein Wesen seiner Art, die ihm unerklärlichen Veränderungen in der Natur, die ihm verderblich erscheinen, erhalten daher persönliche Wesen zu Urhebern, die er fürchtet, von denen er sich abhängig fühlt, die er deshalb für sich zu gewinnen sucht durch Opfer und dgl. Da es zumeist nur unangenehme, störende, also feindliche Einwirkungen sind, die den Menschen im Naturzustand auf seine Umgebung aufmerksam machen, so wird seine Phantasie die Ursachen auch in schreckliche Formen fassen. Solche sind die Fetische der Neger, die Ana der Brasilianer, die Balichu der Chacostämme, die Dämonen bei allen Völkern.

Nach diesem "der Phantasie eigenen Pragmatismus", wie GERVINUS sich irgendwo ausdrückt, wonach der Mensch die Ursachen der Erscheinungen zu erklären meint, wenn er sie personifiziert, kann es nicht befremden, wenn sich in Cassange der Mann nach der Entbindung seines Weibes in das Bett legt, damit der Krankheitsdämon getäuscht werde; oder wenn der Bowakke nach der Geburt seines Kindes alles vermeidet, z. B. Tiere zu töten, Bäume zu fällen und dgl., wodurch er vielleicht unberwußterweise irgendein dämonisches Wesen beleidigen könnte, das sich dann am Säugling rächen würde. Darum zündet auf den Philippinen der Hausherr, sobald die Hausfrau Geburtswehen bekommt, vor seiner Hütte ein großes Feuer an, hinter welchem er sich, mit einer Waffe in der Luft fechtend, aufstellt, um den Pontianak, das böse Wesen, das dem Gebären hinderlich ist, zu verscheuchen. (31)

So dumpf der Zustand des Naturmenschen auch sein mag, und so blind seine Furcht, wenn der Donner kracht, der Vulkan seine feurigen Rauchwolken emportreibt oder die Erde erbebt, so unterscheidet sich diese Furcht doch immer vom Schrecken, von welchem das Tier bei ähnlichen Gelegenheiten ergriffen wird. (32) Denn wenn der Naturmensch kraft seiner Phantasie an die Stelle der wirklichen Ursache auch bloß ein Surrogat setzt, nämlich ein personifiziertes Wesen, so beweist er damit doch, daß er eine Ursache ahnt, und in dieser dunklen Ahnung liegt ein unmittelbar gegebenes Urteil, obschon noch unentwickelt, gleichsam im Schlaf begriffen. In religiöser Beziehung ahnt die Seele des Naturmenschen ein Unbeschränktes, Unendliches, in welchem ihr eigenes Sein wurzelt.

Nach der Wirkung der umgebenden Natur, welche der Naturmensch als angenehm oder unangenehm unterscheidet, indem er sich dadurch wohl oder unwohl befindet, bewegt sich auch sein religiöses Gefühl im Kreis der Gegensätzlichkeit von Furcht und Scheu und dankbarer Anerkennung. Nach demselben Gesetz, wonach die sinnliche Anschauung hinter den Erscheinungen, welche dem Naturmenschen Furcht einflößen, persönliche Wesen vermutet, werden auch wohltätige Naturmächte personifiziert, so daß das religiöse Bewußtsein inmitten des Gegensatzes guter, wohltätiger und böser oder übeltätiger göttlicher Wesen sich bewegt. Obgleich, wie schon bemerkt, bei den auf der untersten Kulturstufe stehenden Jäger- und Fischerstämmen die Verehrung übeltätiger Wesen mehr betont ist, indem das Widerwärtige und Feindliche mehr gefürchtet, als der Dank für das wohltuende gefühlt wird, weil Dankgefühl, wo es vorherrscht, schon einen höheren Grad der Zivilisation voraussetzt, daher meist erst bei ackerbautreibenden Stämmen zu finden ist, so läßt sich doch behaupten:  Der Dualismus ist in allen Religionen der Naturvölker vorhanden. 

Diese Ansicht findet schon an PLUTARCH ihren Vertreter (33): "Deswegen ist auch von Theologen und Gesetzgebern auf Dichter und Philosophen diese uralte Ansicht übergegangen, deren Urheber sich zwar nicht angeben läßt, die aber doch durchaus zuverlässig und wahr ist, da sie nicht bloß in Erzählungen und Sagen, sondern sich auch in den Mysterien und bei den Opfern allerwärts bei Griechen und Barbaren findet, ich meine die Ansicht, daß das Weltall keineswegs vernunft- und verstandlos ohne Leitung dem Ungefähr überlassen herumschwebe, noch von einem einzigen vernünftigen Wesen beherrscht und gelenkt werde, gleichsam wie mit einem Steuer oder Zügel, sondern von vielen Wesen, und zwar von solchen, die aus Bösem und Guten gemischt sind; oder, um es gerade herauszusagen, daß die Natur nichts Lauteres enthält, daher auch nicht ein einzelner Verwalter wie ein Schenkwirt aus zwei Fässern die Elemente gleich Getränken uns mischen und austeilen kann, sondern daß aus zwei entgegengesetzten Prinzipien und zwei einander feindseligen Kräften, von welchen die eine rechts in gerader Richtung führt, die andere nach der entgegengesetzten Seite sich wendet und umbeugt, das Leben und die Welt, wenn auch nicht die ganze, so doch diese irdische und lunarische, gemischt und dadurch ungleich, mannigfaltig und allen Veränderungen unterworfen ist. Denn da nichts ohne Ursache entstehen kann, so muß das Böse wie das Gute einen besonderen Ursprung und eine besondere Entstehung haben."

Dies ist die Ansicht der meisten und besten Philosophen. Einige von ihnen nehmen zwei einander gleichsam entgegenwirkende göttliche Wesen an, wovon das eine das Gute, das andere das Böse schaffe, andere nennen das Gute  Gott,  das andere Dämon."

Obschon PLUTARCH in demselben Buch von einer "Harmonie dieser Welt" spricht, scheitert er doch an der Schwierigkeit, das Gute und das Üble in der Natur zu erklären. Diese Frage, die seit jeher den Menschengeist beschäftigt hat, bleibt auch ungelöst, solange der Mensch Licht und Finsternis, Frost und Hitze und ähnliche Erscheinungen nicht auf den letzten Grund zurückführt, aus dem Gesetz herzuleiten nicht vermag, so lange er bei der Erklärung der Erscheinungen ihre Beziehung auf sein eigenes Dasein hineinmengt und die Relativität des Übels nicht zu klarem Bewußtsein erhebt.

LITERATUR Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels I, Leipzig 1869
    Anmerkungen
    1) ALEXANDER von HUMBOLDT, Kosmos I, Seite 30
    2) MORITZ LAZARUS, Zeitschrift für Völkerpsychologie
    3) JUSTUS von LIEBIG, Chemische Briefe, Seite 79
    4) F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, 1866, Seite 282
    5) KARL FRIEDRICH BURDACH, Der Mensch nach den verschiedenen Seiten seiner Natur, 1854, Seite 631
    6) JOHANN EDUARD ERDMANN, Psychologische Briefe, Seite 168
    7) KARL ROSENKRANZ, Psychologie, 2. Auflage, Seite 389.
    8) JEAN PAUL, Levanna, Ausgabe von 1814, Seite 420
    9) JEAN PAUL, a. a. O. Seite 423
    10) ADOLF BASTIAN, Der Mensch in der Geschichte
    11) SPIX und MARTIUS bei BASTIAN I, Seite 427
    12) BASTIAN, ebenda, Seite 430
    13) Vgl. WILHELM von HUMBOLDT, Über die Kawisprache, Seite 94f
    14) BASTIAN I, Seite 426
    15) "Die Tiere bauen sich bisweilen recht künstliche Wohnungen", sagt treffend LANGE (Geschichte des Materialismus, Seite 416), "aber wir haben noch nicht gesehen, daß sie sich zur Herstellung derselben künstlicher Werkzeuge bedienen" - "eben die Ausdauer, welche auf die Fertigung eines Instruments verwandt wird, das sich nur mäßig über die Leistungen eines natürlichen Steins oder Steinsplitters erhebt, zeigt eine Fähigkeit, von den unmittelbaren Bedürfnissen und Genüssen des Lebens zu abstrahieren und die Aufmerksamkeit um des Zweckes willen ganz auf das Mittel zu wenden, welche wir bei Tieren nicht leicht finden werden."
    16) WILHELM WACHSMUTH, Allgemeine Kulturgeschichte I, Seite 7
    17) Wie LINEK, Urwelt I, Seite 341, die widersprechenden Angaben vollständig widerlegt hat.
    18) THEODOR WAITZ, Anthropologie I, Seite 324
    19) WAITZ, a. a. O. Seite 328
    20) Dr. KRAFT, Die Religionsgeschichte in philosophischer Darstellung, Seite 19
    21) BASTIAN, Der Mensch in der Geschichte II, Seite 83
    22) FRIEDRICH AUGUST CARUS, Ideen zur Geschichte der Menschheit, Seite 195
    23) BASTIAN II, Seite 35
    24) GUSTAV FRIEDRICH KLEMM, Allgemeine Kulturgeschichte II, Seite 310
    25) BASTIAN II, Seite 38
    26) BASTIAN II, Seite 145
    27) BASTIAN II, Seite 45
    28) WAITZ, Anthropologie I, Seite 362
    29) HERODOT IV, Seite 181
    30) DEPONS im Magazin für merkwürdige Reisebeschreibungen, Seite XXIX und 143
    31) BASTIAN I, Seite 128
    32) Dagegen vgl. RENAUD, Christianisme et paganisme, Seite 12
    33) PLUTARCH, De Iside et Osiride, Seite 45