ra-2ra-1ra-2K. GareisA. RugeG. AdlerF. DahnBabeufG. Jellinek    
 
ERICH KAUFMANN
Die Gleichheit vor dem Gesetz
[Vortrag auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer
zu Münster am 29. und 30. März 1926]

"Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz an die Stelle des Satzes von der Gleichheit vor Gott getreten ist. Dieser Satz der Gleichheit aller vor Gott bedeutet, glaube ich, nicht nur die gleiche Nähe und Ferne des Einzelnen zu Gott, sondern etwas Weiteres: die Gewißheit, daß ein reales persönliches Wesen da ist, welches uns gerecht beurteilt, und daß der Begriff der Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist mit einer absoluten Persönlichkeit."

"An die Stelle dieser Auffassung von der Gerechtigkeit stellt der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz eine andere: er ersetzt die Persönlichkeit durch das abstrakte Gesetz. In derselben Weise, wie bei der Konstruktion und dem Aufbau der natürlichen Welt das sachliche, abstrakte und allgemeine Naturgesetz den Gedanken der persönlichen Schöpfung verdrängt, so sollen, das ist immer wieder der wesentliche Grundgedane des rationalistischen Naturrechts, auf dem Gebiet der sittlichen Welt und auf dem der sozialen und staatlichen Ordnung sachliche, allgemeine, abstrakte Rechtsgesetze die Herrschaft von Persönlichkeiten verdrängen.

"Es war ein erster großer Irrtum des rationalistischen Naturrechts, nur eine Gerechtigkeitsidee zu kennen, die iustitia commutativa, die Verkehrsgerechtigkeit, und alle Fragen auf diesen Gedanken zurückzuführen. So wurde der Vertrag, das Grundinstitut des menschlichen Verkehrs, zum Grundinstitut des Rechts überhaupt. Sogar Staat, Kirche, Gesellschaft und Familie wurden auf ihn zurückgeführt. Es ist das Zeitalter der Auflösung aller Werte in Verkehrswerte, das Zeitalter der Schaffung der modernen Verkehrsgesellschaft. Darin aber liegt ebenso eine Verarmung und zugleich Denaturierung des Rechtsgedankens, wie in der konstruktiven Zurückführung der Phänomene der natürlichen Welt auf die Gesetze der reinen Mechanik eine Verarmung und Denaturierung des Erkenntnisproblems liegt."

In der Wahl des Themas liegt bereits etwas Besonderes. Ich glaube nicht, daß, wenn unsere Vereinigung schon vor dem Kriege bestanden hätte, der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz zum Gegenstand einer Erörterung im Kreise von Staatsrechtslehrern gewählt worden wäre. Ich begrüße es auf das Wärmste, daß die Zeiten sich geändert haben. Ich begrüße es, daß der Positivismus in der Rechtswissenschaft heute so weit als erledigt angesehen werden kann, daß unsere Vereinigung zum mindesten das Problem als Problem empfindet und daß man ernsthaft an die Erörterung von Fragen herantreten kann, die in den Kern des Rechtsproblems und in das, was jenseits des positiven Staatsgesetzes liegt, hineinführen. Die Erlebnisse, die unser Volk, und wir mit ihm, im Krieg, im Zusammenbruch, in der Revolution und unter dem Versailler Vertrag innen- und außenpolitisch gehabt hat, haben uns gewaltig aufgerüttelt und zu einer großen Selbstbesinnung geführt. Diese Erlebnisse haben uns den Zwang auferlegt, unsere Gedanken über Recht und Staat einer neuen Prüfung zu unterwerfen. Der Positivismus wächst seiner Natur nach auf dem Boden stabiler oder für stabil gehaltener Verhältnisse und der damit gegebenen Stimmung der Saturiertheit [bürgerliche Zufriedenheit - wp]. Durch Krieg, Revolution, Zusammenbruch und Friedensvertrag haben wir aufgehört ein saturiertes Volk zu sein; und damit dürfte es zusammenhängen, daß auch die mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz gestellten Probleme für uns wieder Probleme geworden sind.

In der Tat handelt es sich bei der Erörterung unserer Frage darum, sich zu besinnen auf etwas, was hinter allem rechtlichen Geschehen, hinter allem Geschehen überhaupt liegt. Ist doch jedenfalls in unserem Grundsatz ausgesprochen - man mag sich zu ihm stellen wie man will - der Glaube an Rechtsprinzipien über dem Gesetzesrecht, an die auch der Gesetzgeber gebunden ist, der Glaube an eine überpositive Ordnung, die wir gehalten sind zu verwirklichen, in der jede positive Ordnung wurzeln soll, die sie nicht verletzen darf. Letztlich steckt sogar darin die Überzeugung, daß das, was hinter dem Geschehen und dem geltenden Recht steht, nicht minder real ist als die geltende positive Ordnung, ja daß es das wahrhaft Reale ist, in dem wir mit dem Besten in uns wurzeln, wenn wir geistig und moralisch aufrecht stehen wollen, wenn wir schaffen wollen am Recht und wenn wir das rechtliche Geschehen beurteilen wollen.

In diesem Sinne ist der  Gedanke des Naturrechts  als das Wissen von einer höheren Ordnung etwas Ewiges und Unvermeidliches.

Freilich ruht der Grundsatz von der Gleichheit vor dem Gesetz in einem ganz spezifischen Naturrecht. Er hat so, wie er ursprünglich gemeint war, nichts zu tun mit dem absoluten Naturrecht in dem Sinne, in dem ERNST TROELTSCH diesen Begriff gebraucht hat. Er wurzelt auch nicht in der mittelalterlichen und christlichen Auffassung des Naturrechts, sondern in einem  rationalistischen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts,  welches sich auch bei der Prägung dieses Satzes darstellt als die Säkularisierung des christlichen Naturrechts.

Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß der Satz von der Gleichheit vor dem  Gesetz  an die Stelle des Satzes von der Gleichheit vor  Gott  getreten ist. Dieser Satz der Gleichheit aller vor Gott bedeutet, glaube ich, nicht nur die gleiche Nähe und Ferne des Einzelnen zu Gott, sondern etwas Weiteres: die Gewißheit, daß ein reales persönliches Wesen da ist, welches uns gerecht beurteilt, und daß der Begriff der Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist mit einer absoluten Persönlichkeit. An die Stelle dieser Auffassung von der Gerechtigkeit stellt der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz eine andere: er ersetzt die Persönlichkeit durch das abstrakte Gesetz. In derselben Weise, wie bei der Konstruktion und dem Aufbau der natürlichen Welt das sachliche, abstrakte und allgemeine Naturgesetz den Gedanken der persönlichen Schöpfung verdrängt, so sollen, das ist immer wieder der wesentliche Grundgedane des rationalistischen Naturrechts, auf dem Gebiet der sittlichen Welt und auf dem der sozialen und staatlichen Ordnung sachliche, allgemeine, abstrakte Rechtsgesetze die Herrschaft von Persönlichkeiten verdrängen. An die Stelle jedes persönlichen Regimes sollen abstrakte und allgemeine Gesetze gesetzt und so jede persönliche Willkür beseitigt werden. Dann soll Recht und Gerechtigkeit herrschen, wenn alles soziale Geschehen durch allgemeine Gesetze, das heißt durch Gesetze, die alle gleich behandeln, geregelt ist.

Soziologischer Träger  des rationalistischen Naturrechts und dieses Gedankens der Gleichheit aller vor dem Gesetz war das sich emanzipierende Bürgertum, welches das Prinzip seiner Gleichheit mit den anderen Ständen und damit der Gleichheit aller an die Stelle der überkommenen ständischen Ordnung der Gesellschaft zu setzen bestrebt war. So handelt es sich zunächst grundsätzlich um einen  liberalen Satz.  Er wird erst dadurch zum Grundsatz einer demokratischen Verfassungsform, daß ein zweites Element hinzukommt, nämlich dadurch, daß man mit ROUSSEAU fordert, daß das allgemeine Gesetz auch von der Allgemeinheit, der Gesamtheit der Bürger beschlossen sein muß, weil die Gerechtigkeit erst dann garantiert erscheint, wenn alle über alle und so jeder über sich selbst beschließt. Kurz, erst dadurch, daß die Gleichheit aller auf das  politische  Gebiet übertragen wird in dem Sinne, daß auch alle Bürger die gleichen Rechte auf die Herrschaft im Staat, auf eine aktive Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung haben, gewinnt der Satz einen  demokratischen  Sinn.

Wie sich aus dem Gesagten ergibt, ist der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz  keine Erfindung der Weimarer Nationalversammlung;  diese hat ihn vielmehr vorgefunden als einen Bestandteil des allgemeinen Rechtsbewußtseins der Zeit. Wenn er daher auch ein allgemeines liberales Erbgut ist, so hat er doch seine hauptsächlichste praktische Ausgestaltung und lebendige Anwendung vor allem in den kalvinistischen Ländern gefunden und ist besonders in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu bedeutsamer praktischer Wirkung gekommen. In der kalvinistischen Abneigung gegen jedes  irdische  persönliche Regiment mußte er wichtige Anknüpfungspunkte in den religiösen und ethischen Anschauungen finden. Aber auch wo diese fehlen, gehört er zum eisernen Bestand liberaler Forderungen. Wenn die Weimarer Nationalversammlung den Satz in die Verfassung aufgenommen hat, so bedeutet dies daher ein Bekenntnis zu etwas Vorhandenem, zu einem Gedanken, der in der Gemeinschaft der Völker im 18., 19. und 20. Jahrhundert lebendig war und ist, und zwar nicht nur im innerstaatlichen, sondern auch im internationalen Recht. Für eine Erörterung seines Sinnes ist daher die rechtsvergleichende Methode nicht nur nicht abzuweisen, sondern sogar geboten. Die Gleichheit der Staaten im Völkerrecht wirft ähnliche Probleme auf. Und noch neuestens hat der Satz als ein dem internationalen Rechtsbewußtsein angehöriger Satz eine neue Bezeugung erfahren in der großen Reihe der Minderheitsverträge, welche die alliierten und assoziierten Großmächte auf der Friedenskonferenz mit den neu gegründeten Staaten und denjenigen Staaten, die ihr Gebiet bedeutend vermehrt haben, abgeschlossen haben. Alle diese Verträge stellen den Satz auf, daß alle polnischen, tschechoslowakischen, griechischen, rumänischen usw. Staatsangehörigen vor dem Gesetz gleich sind; und die Durchführung dieses Satzes in der inneren Ordnung des Lebens dieser Staaten weist eine Fülle von wichtigen und interessanten Problemen auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet auf, um deren Lösung sich Wissenschaft und Praxis gerade heute lebhaft bemühen.

Ursprung und Sinn des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz zeigen, daß in ihm ein Rechtsprinzip aufgestellt sein sollte, das überpositiv gilt. Darum  richtet er sich vor allem und in erster Linie an die Adresse des Gesetzgebers,  der berufen ist, geschriebenes Recht zu schaffen und der dabei dieses Rechtsprinzip nicht verletzen darf. Nur wenn gewisse oberste Rechtsprinzipien nicht verletzt worden sind, schafft das "Gesetz" wirklich "Recht".

Das ist überhaupt der Sinn der in die Verfassungsurkungen aufgenommenen Grundrechte. Und wenn die Entwürfe für Kataloge von Grundrechten, die Ende 1918 und 1919 aufgestellt worden sind, und schließlich die Weimarer Verfassung selbst einen Katalog von Grundrechten aufgestellt hat, so bekennt sie sich eben damit zu diesem Gedanken. Die Grundrechte enthaltenden Verfassungssätze sollen "Richtschnur und Schranke" sein sowohl für die Gesetzgebung wie für die mit der Gesetzesanwendung betrauten Behörden. Ein Rechtssatz, welcher ausdrücklich feststellt, daß die Grundrechte "Richtschnur und Schranke" auch für den Gesetzgeber sein sollen, befand sich in einem der privaten Entwürfe, die dem Verfassungsausschuß vorlagen und war auch in einen den Ausschußentwürfe übergegangen. Er ist dann zwar letztlich gestrichen worden; aber lediglich aus dem Grund, weil in den endgültigen Katalog der Weimarer Grundrechte eine ganze Reihe von Grundrechten aufgenommen war, die nicht unmittelbar aktuell geltendes Recht sein, sondern lediglich ein Programm für den künftigen Gesetzgeber aufstellen sollten. Damit hat man aber keineswegs den Grundsatz beseitigen wollen, daß diejenigen grundrechtlichen Bestimmungen, die unmittelbar geltendes Recht darstellen, und so auch der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz, "Richtschnur und Schranke" auch für den Gesetzgeber sind.

Bloß auf die Gesetzesanwendung bezogen besagt der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz nur etwas Selbstverständliches, ist er nur eine Trivialität. Dieser Gedanke hätte keiner grundrechtlichen Sanktion bedurft; er folgt aus den Begriffen des Gesetzes und der Gesetzesanwendung: ein allgemeines Gesetz anwenden, heißt gar nichts anderes als es gleichmäßig anwenden. Wenn ein Gesetz nicht sinnlos sein soll, muß es eine gleiche und allgemeine Anwendung finden. Etwas wirklich Bedeutsames besagt der Satz von der Gleichheit nur in seiner Anwendung auf den Gesetzgeber.

In Artikel 105 der Weimarer Verfassung finden wir den Satz, daß Ausnahmegerichte nicht statthaft sind. Selbst einer der bedeutendsten Vertreter der Auffassung, daß der Artikel 109 den Gesetzgeber nicht bindet, GERHARD ANSCHÜTZ, steht nicht an, das Verbot von Ausnahmegerichten als auch an die Adresse des Gesetzgebers gerichtet aufzufassen. Es ist nicht einzusehen, warum das, was für die Ausnahmegerichte gilt, nicht auf für die Ausnahmegesetze gelten soll. Vieles von dem, was ANSCHÜTZ in ausgezeichneter Weise über die Ausnahmegerichte sagt, kann fast wörtlich für das Verbot von Ausnahmegesetzen übernommen werden. Was sodann den Artikel 153 über die Garantie des Eigentums und die Voraussetzungen einer zulässigen Enteignung betrifft, so ist ja bekanntlich allgemein anerkannt, daß auch diese Norm sich an den Gesetzgeber wendet und so auch den Gesetzgeber bindet. Auch ANSCHÜTZ hat sich dem nunmehr angeschlossen.

Diese Auffassung ist auch auf dem Gebiet des internationalen Rechts anerkannt. Der Artikel 1 der Minderheitsverträge des internationalen Rechts bestimmt, daß der Artikel, der die Gleichheit vor dem Gesetz statuiert, zu den Bestimmungen gehört, welche grundgesetzlichen Charakter haben, und daß das bedeutet, daß kein Gesetz, keine Verordnung und keine amtliche Handlung diesem Prinzip widersprechen darf und ihm gegenüber keine Geltung beanspruchen kann. Als sich die Deutsche Regierung gelegentlich des Abkommens über Oberschlesien mit diesen Fragen näher zu beschäftigen hatte, ist gerade von ihr entscheidender Wert darauf gelegt worden, den in Artikel 1 des Minderheitenvertrages ausgedrückten Gedanken in klarer Weise herauszuarbeiten und jedem Zweifel zu entziehen, indem die einzelnen Rechtskonsequenzen, die sich aus ihm ergeben, ausdrücklich formuliert werden sollten. So ist in Artikel 75 des Genfer Abkommens über Oberschlesien der Grundsatz der Rechtsgleichheit in folgende vier Rechtsprinzipien auseinandergelegt worden:
    1. Gesetze oder Anordnungen dürfen keine unterschiedliche Behandlung gegen eine Minderheit vorsehen;

    2. auch dürfen Gesetze und Anordnungen nicht zuungunsten dieser Personen ungleich ausgelegt oder angewendet werden;

    3. auch das bloß tatsächliche Verhalten der Regierung und der Behörden muß gegenüber allen Staatsangehörigen gleichmäßig sein; schließlich

    4. auch dürfen differenzierende Unterlassungen von Seiten der Behörden und Beamten nicht stattfinden; insbesondere dürfen Behörden und Beamte nicht unterlassen einzuschreiten, wenn dies zum Schutz von Minderheiten notwendig ist.
Das Bekenntnis zu diesen Sätzen ist umso bedeutener, als Deutschland sie nicht nur von Polen erwartet, sondern sich in voller Reziprozität [Gegenseitigkeit - wp] ebenso zu ihrer Einhaltung verpflichtet. Auch die Auslegung des Artikel 109 der Verfassungsurkunde wird an dieser Bezeugung der deutschen Rechtsauffassung nicht vorübergehen können.

Bei dem Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz handelt es sich um ein Grundrecht der  Deutschen,  d. h. um ein Recht, das jedem Deutschen als solchem gegen den Staat, d. h. gegen das Reich und die Länder, zusteht. Ich bin mir über die außerordentlich starken  unitarischen [Einigung bezweckend - wp] Konsequenzen  dieser These klar.

Bereits die Tatsache, daß man in die Verfassung eines Bundesstaates Grundrechte aufnimmt, bedeutet stets eine Unitarisierung der Verfassung. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika hatte aus diesem Grund ursprünglich die Aufnahme von Grundrechten unterlassen; sie sind ihr erst später als Zusatzartikel beigefügt worden und stellen anerkanntermaßen eins der bedeutendsten unitarischen Elemente des amerikanischen Verfassungslebens dar. Und wenn BISMARCK im Jahre 1867 und 1871 von der Aufnahme von Grundrechten in die Norddeutsche Bundes- und in die Reichsverfassung absah, so war auch bei ihm, abgesehen von seiner persönlichen Abneigung gegen Grundrechtskataloge, unzweifelhaft der Gedanke mitbestimmend, daß der unitarische Zug, der notwendig in den Grundrechten eines Gesamtvolkes liegt, ihm mit dem Prinzip der möglichst zu erhaltenden Souveränität der Gliedstaaten nicht vereinbar erschien.

FRIEDRICH NAUMANN hat im Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung einmal in feiner Weise dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß mit dem Wegfall der Monarchie unzweifelhaft ein wichtiges Einheitssymbol für das deutsche Volk verloren gegangen ist und daß man nach einem Ersatz dafür suchen muß; NAUMANN sah dieses neue Symbol in den "Grundrechten der Deutschen". Mir scheint hier eine große Wahrheit zu liegen.

Es würde auch unserem heutigen Staats- und Volksgefühl widersprechen, gerade beim Satz der Rechtsgleichheit von einem Grundrecht der Preußen, Bayern, Württemberger, Thüringer, Anhalter usw. zu sprechen, ebenso wie es unserem Gefühl widersprochen haben würde, wenn neben der deutschen Nationalversammlung die verfassunggebenden Landesversammlungen sich mit dem Namen einer preußischen, bayrischen, sächsischen, hessischen Nationalversammlung geschmückt hätten.

Als Grundrecht kann der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz nur gemeindeutsch sein und für alle Deutschen als solche gelten. Die letzten Gerechtigkeitsforderungen, die wir an das positive Recht richten, können nur solche des gesamten deutschen Volkes sein; und die Legitimitätsaufstellungen, nach denen das deutsche Recht fortzubilden ist, sind dem deutschen Volk gemein. Die Präambel der Deutschen Reichsverfassung bringt zum Ausdruck, daß das einige deutsche Volk von dem Willen beseelt ist, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu gründen und zu festigen. Was Freiheit und Gerechtigkeit ist, ist Gemeingut des ganzen deutschen Volkes. Das hat nichts mehr zu tun mit den Partikularitäten von Gemeinwesen, die von der Stellung eines Staates täglich mehr herabsinken zu Selbstverwaltungskörpern nicht eigentlich staatlicher Art.

Was ist nun, daß ist die große Frage,  der Sinn und der Inhalt des Satzes der Gleichheit vor dem Gesetz? 

Der Sinn des Satzes wird jedenfalls  nicht  dadurch erfüllt, daß ein Gesetz in allgemeinen Sätzen und begriffen formuliert ist, so daß jeder Tatbestand des Lebens, der unter sie subsumierbar ist, durch sie erfaßt wird. Das folgt aus dem Begriff der Allgemeinheit und trifft auch für das drückendsten und ungerechteste Ausnahmegesetz. Die  vermeintliche Zauberkraft des abstrakt Allgemeinen an die das rationalistische Naturrecht geglaubt hat, versagt; und gerade infolge dieses Versagens ist erst die ganze Problematik entstanden, die der Gleichheitssatz aufwirft. Der Inhalt des Gleichheitssatzes bezieht sich vielmehr auf den  Inhalt  der Unterscheidungen, die in jedem Rechtssatz enthalten sind. Jeder Rechtssatz besteht in einer Verknüpfung von Rechtsbegriffen; und die Bildung aller Rechtsbegriffe bedeutet, daß eine unterschiedliche Behandlung der unter sie allen Tatbestände des Lebens von der aller anderen Tatbestände stattfinden soll. Die Frage, um die es ich beim Gleichheitssatz handelt, ist die, ob diese verschiedene Behandlung der Tatbestände des Lebens berechtigt ist oder nicht. Das aber ist eine Forderung, die nicht durch die Allgemeinheit der Formulierung der Rechtssätze erfüllt werden kann.

Sodann verdient hervorgehoben zu werden, daß der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz nicht nur dann verletzt wird, wenn diejenigen, die unberechtigt unterschiedlich behandelt werden, im Gesetz nicht ausdrücklich genannt sind, und ebensowenig dann, wenn neben den unterschiedlich Behandelten auch in einzelnen Fällen, die meist besonders gelagert sein werden, auch andere Tatbestände von den Begriffen des Gesetzes erfaßt werden. Das ist eine für die Praxis außerordentlich wichtige Auslegung des Gleichheitssatzes. Sonst wäre seine Umgehung ein Kinderspiel. In diesem Sinn hat sich auch der  Ständige Internationale Gerichtshof  im Haag in seinem Rechtsgutachten vom 10. September 1923 über die deutschen Ansiedler in Polen ausgesprochen. Die Tatsache, daß bei dem zur Erörterung gestellten polnischen Gesetz keine Diskriminierung im Text erscheint und daß das Gesetz in gewissen Fällen sich auch auf andere Tatbestände bezieht, sei unwesentlich: "There must be egality in fact as well as ostensible legal equality in the sense of the absence of discrimination in the words of the law." [Es muss sowohl die Gleichwertigkeit als auch die angebliche Rechtsgleichheit im Sinne des Fehlens von Diskriminierung in den Worten des Gesetzes geben. - wp] Es kommt nur darauf an, ob das Gesetz im Ganzen eine bestimmte Gruppe von Personen unterschiedlich behandelt.

Ein Rechtssatz ist nur dann richtig ausgelegt, wenn auch seine  Umgehung unmöglich gemacht  ist.

Betrachtet man alle Formulierungen, die für die Entwicklung des Sinnes des Gleichheitssatzes versucht worden sind, so glaube ich, ist die Formulierung, die das Schweizer Bundesgericht für den Artikel 4 der Schweizer Verfassung gefunden hat, die beste und treffendste. Danach sollen durch den Gleichheitssatz  all ungerechtfertigten Unterscheidungen und alle ungerechtfertigten Nichtunterscheidungen  verboten sein. Ausgezeichnet scheint mir auch die Formel, zu der LAMPERT in seinem schweizerischen Bundesstaatsrecht gelangt. Er sagt:
    "Die Verschiedenheiten, die der Gesetzgeber aufstellt, müssen  sachlich  begründet sein, d. h. auf vernünftigen und ausschlaggebenden Erwägungen  in der Natur der Sache  beruhen derart, daß der Gesetzgeber nur durch solche Unterscheidungen  dem inneren Zweck der Ordnung der betreffenden Lebensverhältnisse  gerecht wird."
Insbesondere der Hinweis auf den inneren Zweck der Ordnung der Lebensverhältnisse scheint mir vortrefflich zu sein.

Ich möchte mir auch noch gestatten, auf gewisse Formulierungen der Denkschrift der Deutschen Regierung für den Ständigen Internationalen Gerichtshof in der Ansiedlersache hinzuweisen; hier heißt es:
    "Die Unterscheidungen im Tatbestand und die daran geknüpften differentiellen Rechtsfolgen müssen  vor höheren Gesichtspunkten des natürlichen Rechts  bestehen können, sie müssen dem  Telos  des betreffenden Lebensverhältnisses entsprechen; weder der allgemeine Begriff der Rechtsfolge, noch der des Tatbestandes, jeder für sich betrachtet, brauchte unbegründet zu sein; jeder dieser allgemeinen Begriffe kann in Verbindung mit bestimmten rechtlichen Folgen sachlich begründet sein; aber die Verbindung beider allgemeinen Begriffe zu demselben Rechtssatz kann den Grundsatz der Rechtsgleichheit aufheben. Mag auch die Beantwortung der Frage, wann dieser Fall vorliegt, kaum in einer allgemeinen Formel möglich sein, so wird doch stets der an der Beurteilung des Einzelfalles orientierte Takt des Richters eine Rechtsentscheidung finden können, die sich ebenso von törichter Besserwisserei wie von unzulässiger und feiger Duldsamkeit fernzuhalten weiß."
Letztlich bedeutet das alles, daß die Unterscheidungen und die Nichtunterscheidungen der Gesetz  gerecht  sein müssen. Was heißt das?

Wenn ich nunmehr dazu übergehen, diese Frage zu beantworten, so möchte ich betonen, daß ich zunächst nur vom Inhalt des Satzes der Gleichheit vor dem Gesetz spreche und demnach die Frage völlig ausschalte:  "quis judicabit?",  wer hat letztlich darüber zu  entscheiden,  ob der Gleichheitssatz verletzt ist oder nicht?

Ich stehe mit anderen auf dem Standpunkt, daß es auch für den Gleichheitssatz ein Prüfungsrecht des Richters gibt, wenn ich auch andererseits davon überzeugt bin, daß diesem Prüfungsrecht gewisse Schranken gezogen sind. Aber von all dem will ich erst später sprechen. Hier handelt es sich zunächst nur um die Frage, was der  inhaltliche Sinn des Gleichheitssatzes  ist, der auch den Gesetzgeber bindet, mag der Gesetzgeber nun selbst souverän und inappellabel [nicht angreifbar - wp] darüber entscheiden, ob er die Forderungen des Satzes eingehalten hat, oder mögen die Gerichte berufen sein, die Richtigkeit seiner Entscheidung zu prüfen.

So stehen wir vor der Frage:  was heißt gerecht

Man wird geneigt sein, darauf relativistisch zu antworten, daß man darüber verschiedener Meinung sein, darüber streiten kann. Ist das aber der Fall, wird man erwidern müssen, so liegt schon in dieser Tatsache die Anerkennung, daß man eben darüber diskutieren  kann.  Und das beweist, daß es etas über den Menschen gibt, dem sie unterworfen sind, dem sie sich unterworfen fühlen, und von dem sie wissen, daß es wirklich existiert. Und zwar nicht nur als etwas bloß Formales. Es handelt sich beim Begriff der Gerechtigkeit nicht bloß um eine  Methode  für Diskussionen, nicht bloß um Diskussions regeln,  wie vielfach behauptet wird, sondern um eine  materielle Ordnung,  die zu verwirklichen unsere Aufgabe ist, in deren Dienst ein jeder steht, der mit dem Recht zu tun hat, der Gesetzgeber ebenso wie der Richter. Es handelt sich nicht darum, daß der Gesetzgeber und jeder andere, der mit dem Recht zu tun hat, bestimmte Regeln und Methoden befolgen soll, sondern sie sollen eine bestimmte materielle  Ordnung  schaffen, die  inhaltlich  gerecht ist.

Was das ist, läßt sich nicht definieren. Definieren läßt sich nur, was Gegenstand mittelbarer Erkenntnis ist. Das unmittelbar Erkannte ist als solches undefinierbar. Auch das Gute, Wahre und Schöne ist nicht zu definieren, weil es uns unmittelbar gewiß wird. Wir haben eine unmittelbare Erkenntnis des Guten und Bösen, des Schönen und Häßlichen, des Gerechten und Ungerechten. All das ist uns in unserem  Gewissen  gegeben. Das Gewissen ist aber nichts Subjektives und darf nicht psychologistisch aufgelöst und relativiert werden, sondern es ist die unmittelbare Gewißheit einer höheren objektiven Ordnung, an der wir teilhaben, die wir realisieren müssen, in deren Dienst wir stehen. Diese Ordnung haben wir nicht geschaffen. In diesem Sinne ist keine echte Ethik nur  autonome Ethik.  Wenn wir tun, was das Gewissen gebietet, tun wir etwas, was ein Höherer uns durch unser Gewissen sagt. Aber wir müssen es tun, nicht weil wir es sind, die das Gesetz  gemacht  haben, sondern weil wir uns verpflichtet fühlen, das Gesetz zu dem unseren zu machen, es in unseren Willen aufzunehmen. Nur insofern kann von einer autonomen Ethik gesprochen werden. Daher scheint mir auch gegen die Ausdrücke  Rechtsgefühl  und  Rechtsbewußtsein  nichts einzuwenden zu sein. Nur muß für uns volle Klarheit darüber bestehen, daß dieses Bewußtsein und dieses Gefühl eine unmittelbare Erkenntnis von etwas Höherem über uns ist, das uns im Rechtsgewissen gegeben ist, und hier unserer unmittelbaren Erkenntnis unterliegt.

Weil es sich um eine unmittelbare Erkenntnis, um eine Erkenntnis im Gewissen handelt, hängt sie allein davon ab, ob das Gewissen spricht, das heißt, ob der Handelnde, wie der Beurteilende und Richtende ein reines Gefäß ist, das heißt, daß nicht seine unreine Subjektivität, sondern das über uns allen stehende Objektive aus ihm spricht.  Wer reinen Herzens ist, ist gerecht als Handelnder und als Richtender, und nur er.  Gerechtigkeit ist nicht in dem Sinne eine  ewige Aufgabe,  daß sie nur durch die geschichtliche Entwicklung und geschichtlichen Fortschritt in allmählicher Annäherung an ein unendliches Ideal asymptotisch [sich nähernd, aber nie erreichend - wp] realisiert wird. Sie ist wohl ewige Aufgabe, aber eine ewige Aufgabe, die jeder Augenblick in gleicher Weise stellt. Die Welt wird nicht gerechter oder ungerechter; alle Epochen sind, wie RANKE sagt, gleich nahe zu Gott. Es kommt auf die Gesamtpersönlichkeit und ihre Lauterkeit an. Das ist der zweite Sinn, in dem wir von einer  Autonomie  auf sittlichem Gebiet sprechen können. Die Tatsache, daß durch sittliche Erziehung die Gesamtpersönlichkeit zu einem reinen Gefäß werden kann, das an den objektiven Werten teil hat, ist uns die sicherste Bürgschaft für die Realität dieser objektiven Werte. Nur  Persönlichkeiten in diesem Sinne sind gut und gerecht. 

Ein merkwürdiges Ergebnis. Der Gleichheitssatz ging aus vom Ersatz des Persönlichen durch das allgemeine, abstrakte und sachliche Gesetz; und diese Ausführungen münden aus in einen Hinweis auf die Persönlichkeit. Aber alle Versuche der Lösung der Probleme der natürlichen und sittlichen Ordnung durch  generalisierende, abstrahierende und isolierende Normen  sind eben zum Scheitern verurteilt. Wie die Naturgesetzlichkeit nicht den Schöpfungsgedanken beseitigen kann, kann auch auf moralischem Gebiet die abstrakte, generelle Norm nicht die sittliche Persönlichkeit ausschalten. Eine gerechte Entscheidung kann nur eine gerechte Persönlichkeit fällen oder beurteilen. Darin liegt  kein Subjektivismus,  sondern nur die Erkenntnis der Tatsache, daß Gerechtigkeit etwas  Schöpferisches  ist und  nicht die mechanische Anwendung starrer abstrakter Normen.  Nur wo sich in einer Persönlichkeit objektive transpersonale Werkt offenbaren, in ihr und durch sie geformt werden, gibt es schöpferisches Tun. In unserem Ergebnis liegt daher nur die Erkenntnis der Tatsache, daß menschliche Schöpfungskust an menschliche Persönlichkeiten gebunden ist und daß der Grad der Vollkommenheit des Geschaffenen von dem Maß abhängig ist, in dem sich in den Persönlichkeiten ewige Werte offenbaren und formen.

So sind in diesem Ergebnis auch keineswegs die  Antinomien im Gerechtigkeitsbegriff  verkannt, die wir alle empfinden. Im Gegenteil, sie kommen gerade in diesem Ergebnis erst zum vollen Ausdruck. Absolut gerecht ist nur eine absolute Persönlichkeit. Aber wir Menschen sind diskursive Wesen; d. h. wir sind auf dem Gebiet der moralischen Erkenntnis ebenso gespalten wie auf dem der theoretischen Erkenntnis, wo uns der "intuitive Verstand" versagt ist. Wir erkennen nicht das Ding ansich, sondern Dinge, ohne das in ihnen erscheinende Absolute erkennen zu können, wenn wir auch andererseits in den Dingen das dahinter stehende Absolute ahnen müssen, wenn wir sie erkenenn wollen. Die verschiedenen Erkenntnismethoden und Erkenntnisprinzipien, mit denen wir an die Dinge herantreten, sind nur immer neue Versuche, uns von den verschiedensten Seiten dem unserer diskursiven Erkenntnis verschlossenen Ansich zu nähern, dessen Realität wir gerade damit anerkennen. Das liegt nicht anders auf ethischem Gebiet. Auch hier ist uns die unmittelbare Verwirklichung der Gerechtigkeit selbst, im Handeln wie im Urteilen, verschlossen. Als endliche Wesen sind wir auch hier genötigt, uns dem absolut Gerechten  von verschiedenen Gerechtigkeitsprinzipien aus  zu nähern und das Absolute nur zu ahnen, womit wir es gleichzeitig anerkennen.

Es war ein  erster großer Irrtum des rationalistischen Naturrechts,  nur  eine  Gerechtigkeitsidee zu kennen, die  iustitia commutativa,  die  Verkehrsgerechtigkeit,  und alle Fragen auf diesen Gedanken zurückzuführen. So wurde der Vertrag, das Grundinstitut des menschlichen Verkehrs, zum Grundinstitut des Rechts überhaupt. Sogar Staat, Kirche, Gesellschaft und Familie wurden auf ihn zurückgeführt. Es ist das Zeitalter der Auflösung aller Werte in Verkehrswerte, das Zeitalter der Schaffung der modernen Verkehrsgesellschaft. Darin aber liegt ebenso eine Verarmung und zugleich Denaturierung des Rechtsgedankens, wie in der konstruktiven Zurückführung der Phänomene der natürlichen Welt auf die Gesetze der reinen Mechanik eine Verarmung und Denaturierung des Erkenntnisproblems liegt.

Wir müssen demgegenüber wieder zurückgehen auf die rechtsphilosophischen Anschauungen des vorrationalistischen Naturrechts, auf ARISTOTELES und auf das christliche Naturrecht, um zu erkennen, daß es neben der  justitia commutativa  auch noch andere Gerechtigkeitsprinzipien gibt, die der  justitia distributiva, vindicativa [Verteilungs-, Strafgerechtigkeit - wp].

Wenn gestritten wird, was im einzelnen Fall gerecht ist, geht meist der Streit nicht um die Frage, was die einzelnen Gerechtigkeitsprinzipien, die Verkehrsgerechtigkeit oder die verteilende Gerechtigkeit verlangen; das ist relativ einfach zu sagen. Was Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte im einzelnen Fall erfordert, gilt mit Recht als so unmittelbar einzusehen, daß das Bürgerliche Gesetzbuch für das Gebiet des Verkehrsrechts den Richter auf diese allgemeinen Grundsätze der Verkehrsgerechtigkeit hinweisen konnte, wie das römische Recht mit dem Prinzip der  fides bona [guter Glaube - wp] getan hatte. Wir sind also gewöhnt, die Forderungen, die sich aus dem Prinzip der  justitia commutativa  ergeben, als so gesichert und gegeben anzusehen, daß man ihre Anwendung auf den Einzelfall dem Richter überlassen kann. Nicht anders liegt es bei den Forderungen, die sich aus den Prinzipien der  justitia distributiva  für den Verwaltungsrichter ergeben. Der Streit über das, was gerecht ist, geht daher meist gar nicht darum, was für Forderungen sich aus den einzelnen Gerechtigkeitsprinzipien ergeben, sondern  um die Wahl des jeweils anzuwendenden Gerechtigkeitsprinzips  und darüber, wie sie gegeneinander abzuwägen, welchem von ihnen im einzelnen Fall der Vorrang zu geben ist.

Auch die Großmächte haben auf der Pariser Friedenskonferenz behauptet und beansprucht, im Vertrag von Versailles ein der Gerechtigkeit entsprechendes Werk zu schaffen, und sie haben besonderen Wert darauf gelegt, dies in zahlreichen Noten zu begründen. Das Studium dieser Argumentationen ist von großem methodischem Interesse für die Problematik der Gerechtigkeitsidee und ihrer Dialektik. Letztlich rechtfertigen sie ihr Werk aus dem Prinzip der strafenden Gerechtigkeit; und man wird zugeben müssen, daß unter diesem Gesichtspunkt die "Gerechtigkeit" des Versailler Vertrages unwiderlegbar ist. Nicht nur weil die klagende Partei sich im Gegensatz zu allen Forderungen des "due process of law" [ordentliches Gerichtsverfahren - wp] selbst zum Richter machte, sondern auch weil es ein Wahnsinn war und ist, einen Friedensvertrag auf den Grundsätzen der strafenden Gerechtigkeit aufzubauen. Denn gerade das Institut, der Begriff des  Friedens  forderte, daß die Grundsätze der  justitia distributiva  und  commutativa  zur vollsten Geltung kommen. Die  justitia vindicativa  ist aber nicht nur mit dem Wesen des Friedens und einer Friedensordnung unvereinbar, sondern es ist überhaupt eine das Wesen der Internationalen Ordnung zerstörende Anmaßung, auf das Verhältnis der Staaten untereinander das Gerechtigkeitsprinzip der  justitia vindicativa  anzuwenden. Das gilt als sol selbstverständlich, daß die "Rechtfertigungsversuch" aus diesem Prinzip der Welt als Heuchelei erscheinen. Jedenfalls, auch bei der Diskussion über die Gerechtigkeit des Versailler Vertrages geht der Streit nicht darum, welche Forderungen sich im einzelnen aus einem bestimmten Gerechtigkeitsprinzip ergeben, sondern darum, welches Gerechtigkeitsprinzip Anwendung finden mußte.

Der zweite Irrtum des rationalistischen Naturrechts  lag in der Ableitung der ganzen sittlichen Welt aus den Individuen und in deren Zurückführung auf die Individuen, ihre psychologischen Eigenschaften oder auf ihre Utilität und Eudämonie. So wie die natürliche Welt zurückgeführt wird auf Atome und Moleküle und deren Gesetze, wie die Dinge gelöst werden in Relationen, so werden die Institute der sittlichen Welt, Staat, Ehe, Kirche, Eigentum, Vertrag aus einer individualistischen Psychologie und Utilität hergeleitet.

Demgegenüber gilt es wieder eine  institutionelle Auffassung  zur Geltung zu bringen, wie dies in Frankreich namenentlich MAURICE HAURIOU gefordert hat, und die Phänomene der sittlichen Ordnung als objektive Institute der sittlichen Weltordnung zu begreifen, die ihre spezifische Gesetzlichkeit haben. Alle diese Institute haben ein ihnen eigentümliches  telos,  wie schon STAHL richtig gesehen hatte, eine ihnen eingeschaffene Eigengesetzlichkeit, aus der sich unabhängig von allem geschriebenen Recht eine Fülle von Rechtssätzen ergibt, die der Richter zu finden und anzuwenden hat. Das geschriebene Recht selbst kann nicht umhin, ebenso wie wir das vorher bei Grundsatz von Treu und Glauben gesehen haben, auf diese Institute als solche zu verweisen als Quelle von Rechtssätzen und als letztes Prinzip für die richterliche Entscheidung: so wenn das Bürgerliche Gesetzbuch im Familienrecht auf "das Wesen der Ehe" verweist und demgemäß erwartet, daß der Richter aus ihm als ein seinem Gewissen gegebenen Institut Rechtssätze für den einzelnen Fall zu finden vermag. Aber auch wo das geschriebene Recht solche ausdrücklichen Verweisungen nicht enthält, schöpft der Richter aus dem Wesen der objektiven Institute, aus dem Eigentum, der Nachbarschaft, den einzelnen Treu- und Vertrauensverhältnissen die Normen für seine Entscheidungen. Ebenso lesen zahlreiche Entscheidung der obersten Verwaltungsgerichte aus dem Wesen des Staates, der Autorität und Freiheit, gewisse Rechtssätze ab, die sie für den konkreten Einzelfall finden und zur Anwendung bringen. Sie setzen dabei voraus, daß diese Institute nicht von uns geschaffen sind, und daß, wenn der Einzelne z. B. einen Vertrag schließt, eine Ehe eingeht, Eigentum erwirbt, er nur schöpferisch tätig ist in einem Rahmen, der bereits vorgezeichnet ist in der moralischen Ordnung, und unter dessen Gesetzen er steht, sobald er sich in diese Lebensverhältnisse stellt oder gestellt sieht. Ob wir wollen oder nicht, die Gesetzlichkeit dieser Institute ergreift uns und zwingt uns unter ihre Norm.

Dazu kommt ein Drittes,  wofür das rationalistische Naturrecht blind war. Während die natürliche Welt uns  gegeben  ist und wir uns bei ihrer Erkenntnis darauf beschränken müssen, die in ihr enthaltenen Schöpfungsgedanken nachzuzeichnen, ist uns bei der Gestaltung der sittlichen Welt trotz des Institutionell-Objektiven, das ihr eigentümlich ist, eine  aktive und schöpferische Rolle aufgegeben:  wir haben die Institute mit unserem Geist zu erfüllen. Jeder Generation ist die Aufgabe gestellt, ihren Geist in die Institute hineinzulegen, nicht, wie gesagt, in dem Sinne, daß sie es ist, welche die Institute erst schafft, sondern in dem, daß sie berufen ist, nicht nur diese Institute überhaupt zu realisieren, sondern sie mit ihren eigenen  Legitimitätsvorstellungen  zu erfüllen, in die ewigen Formen ihren Geist zu gießen, ihnen so eigentlich erst wirkliches Leben zu geben und so ein  eigenes Kultursystem von individueller Werthaftigkeit  zu schaffen.

Dies alles glaubte ich anführen zu müssen, um zu zeigen, wieviel komplizierter, problematischer, vielschichtiger der Begriff des Rechts und der Gerechtigkeit ist als wir uns dies klar zu machen geneigt sind. Für eine absolute Persönlichkeit ist das eine Einheit, was sich für uns diskursiv und hier zugleich zu einer aktiven schöpferischen Tätigkeit berufene Wesen in die geschilderte Mannigfaltigkeit auseinanderlegt. Gerade diese Vielschichtigkeit aber beweist, warum sich die Idee der Gerechtigkeit nicht in abstrakte, allgemeine und sachliche Normen auflösen läßt, wie das rationalistische Naturrecht, der Boden auf dem der Gleichheitssatz erwachsen ist, annahm, sondern daß er  nur durch gerechte und sittliche Persönlichkeiten erfüllt werden  und die Beurteilung ob dies geschehen ist, nur durch sie geschehen kann. Nur eine solche Persönlichkeit vermag die schöpferische Tat zu tun, die erforderlich ist; nur sie kann unter den verschiedenen möglichen Gerechtigkeitsprinzipien wählen und sie gegeneinander abwägen; nur in ihrem Gewissen vermögen sich die Normen zu formen und zu offenbaren, die sich aus den gewählten Gerechtigkeitsprinzipien und aus dem Wesen der objektiven Institute ergeben; nur sie kann die Legitimitäts- und Wertvorstellungen der Zeit und der Volksgemeinschaft erfassen und weiterbilden; nur sie einen gegebenen Lebenstatbestand in seiner moralischen Gesetzlichkeit verstehen, in ihm das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden und ihn so nach den Normen der Gerechtigkeit beurteilen.

Im Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz sollten vor allem auch  ganz bestimmte Legitimitätsvorstellungen  zur Geltung gebracht werden: er sagt neben seiner Beziehung zu letzten Rechts- und Gerechtigkeitsfragen auch konkretere Dinge aus.

Im Gegensatz zu den Legitimitätsvorstellungen des Mittelalters, die sich in der mittelalterlichen ständischen Ordnung offenbarten, will der Gleichheitssatz zum Ausdruck bringen, daß die Rechtsordnung  nicht nach Ständen, Klassen, Konfessionen, Volkstum, Rasse differenzieren  darf. Er will die besondere Legitimität, die im Gedanken eines  homogenen Bürgertums  liegt, sichern. Er enthält die Forderung, daß an diese gesellschaftlichen Differenzierungen keine gesetzlichen Differenzierungen geknüpft werden dürfen. So würde es dem Sinn des Artikels 109 widersprecen, ein Jesuitengesetz, ein Ansiedlergesetz für Posen und Westpreußen, eine Sozialistengesetz zu erlassen, wie jedes Gesetz, das Stände, Klassen, Konfessionen und Sprachgemeinschaften benachteiligt, mit dem Artikel 109 nicht vereinbar wäre.

So sieht man wieder, daß es sich um ein  liberales Legitimitätsprinzip  handelt. Die sozialistische Legitimitätsidee, die für alle die gleichen Rechte, gleich viel an Geld, Eigentum und anderem stabilieren will, ist in ihm nicht enthalten. Man könnte das vielleicht dahin formulieren, daß er nur die liberale Forderung der  Gleichheit der Chancen  für alle, nicht die sozialistische Forderung, daß für alle  die gleichen materiellen Voraussetzungen zu schaffen  sind, zum Ausdruck bringen will. Wohl ragen solche sozialistischen Elemente in unser rechtliches Denken selbst hinein; so wenn an einigen Stellen unserer Verfassung nicht nur die Gleichheit der Chancen, sondern auch die Gleichheit der materiellen Voraussetzungen gesichert werden sollte: z. B. in Artikel 121, der fordert, daß den unehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen sind, wie den ehelichen Kindern; und ferner in den Artikeln 146 und 147, in denen der Satz aufgestellt wird, daß für den Aufbau des Schulwesens und die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Eltern nicht maßgebend sein darf, und daß, soweit Privatschulen als Ersatz für öffentliche Schulen zugelassen sind, keine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert werden darf; so schließlich wenn der Versailler Vertrag der "Arbeit" einen besonderen Abschnitt widmet.

Beim liberalen Legitimitätsprinzip der Gleichheit der Chancen hat stets der gesellschaftlich oder wirtschaftlich Stärkere den Vorteil. Es entspricht der Ideologie des Bürgertums. Gerade darum hat es die Reaktion des sozialistischen Legitimiätsprinzips hervorgerufen. Es entspricht dem  sozialen Einschlag in unseren liberalen Legitimitätsvorstellungen,  den wir auch sonst vielfach, z. B. bei der Durchführung der Grundsätze von Treu und Glauben auf dem Gebiet des Verkehrsrechts, beobachten können, daß wir Differenzierungen  zugunsten  wirtschaftlich, gesellschaftlich oder politisch  schwacher  Klassen, Berufe, Konfessionen und Sprachgemeinschaften nicht als Verstoß gegen den Gleichheitssatz empfinden. In den USA hat die höchstrichterliche Rechtsprechung von rein liberalen Legitimitätsvorstellungen aus früher vielfach soziale Schutzgesetze als verfassungswidrig für nichtig erklärt. Das entspricht nicht den Legitimitätsanschauungen unseres Volkes, wie sie insbesondere in dem Abschnitt unserer Verfassungsurkunde über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen zum Ausdruck gekommen sind. Die Tatsache, daß die Legitimitätsanschauungen des Zeitalters und der deutschen Volksgemeinschaft in diesem Abschnitt bezeugt worden sind, macht ihn so wichtig für den Juristen, der aus ihm für die Auslegung zweifelhafter gesetzlicher Begriffe und für die Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien die letztlich maßgebenden und leitenden Gesichtspunkte selbst da ablesen kann und soll, wo die einzelnen grundrechtlichen Sätze kein unmittelbar aktuell geltendes Recht geschaffen haben.  Als Zeugnisse für die auch den Richter bindenden Legtimitäts- und Wertauffassungen  sind daher auch diese Sätze von praktisch juristischer Bedeutung.

Ich fürchte Ihre Geduld schon zu lange in Anspruch genommen zu haben und sehe mich daher genötigt über meine Thesen 5 und 6 zunächst hinwegzugehen, in der Hoffnung, daß sich bei der Diskussion Gelegenheit findet, auf die in ihnen enthaltenen Probleme einzugehen. Es muß mir vor allem noch darauf ankommen, über das vorhin zunächst beiseite gelassene  Problem des richterlichen Prüfungsrechts  zu sprechen. Nicht zuletzt, um meine Anschauungen hierüber darzulegen, war es nötig, die prinzipiellen Ausführungen über Recht und Gerechtigkeit zu machen.

Ich sagte bereits, daß ich grundsätzlich das richterliche Prüfungsrecht auch gegenüber Gesetzen bejahe, auch unter dem Gesichtspunkt, ob ein Gesetz mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit vereinbar ist. Aber ich leugne auf der anderen Seite nicht, daß diesem richterlichen Prüfungsrecht gewisse im Wesen der richterlichen Stellung liegende Grenzen gezogen sind: das Prüfungsrecht darf natürlich  nicht die gegebene Ordnung umstoßen, die zwischen Gesetzgeber und Richter obwaltet;  der Richter muß sich vielmehr im Rahmen seiner spezifischen richterlichen Aufgaben halten und darf nicht spezifisch gesetzgeberische Aufgaben an sich reißen.

Dazu gehört zunächst und vor allem, daß der Richter  nur die Verletzung gewisser äußerster Grenzen  rügen, daß er sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers stellen darf. Er darf auch bei den Fragen, die er zu prüfen befugt ist, nicht durch ein Alles-Besserwissenwollen das gesetzgeberische Ermessen beseitigen. Daß hierzu ein besonderer Takt gehört, dessen Normen sich nicht auf eine allgemeine Formel bringen lassen, versteht sich von selbst. Wie weit der Richter hierin zu gehen hat, hängt von mancherlei Faktoren ab: von den Anschauungen des Volkes und der Gesellschaft über die Stellung des Richters und des Gesetzgebers, von der gesellschaftlichen Stellung, die der Richter besitzt, vom sozialen Ansehen, das der Richterstand genießt, von der Anzahl und der Auswahl der Richter, von seinem Selbstgefühl, ob er sich mehr als Beamter des Staates oder als Organ des Rechts fühlt, vom Vertrauen, das der Richterstand in Volk und Gesellschaft zu erwerben vermag. Man mag in all dem labile Faktoren sehen, welche die  Rechtssicherheit  gefährden können. Aber wir können gewiß sein, daß sich gerade aus ihnen mit der Zeit eine feste  Tradition  herausbilden wird, wie dies auch in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz geschehen ist. Auch das technisch durchgebildete Gesetz, wie es im Reichsgesetzblatt erscheint, schafft noch keine eigentliche Rechtssicherheit. Auch das Staatsgesetz wird nicht schon dadurch zum wirklich geltenden Recht, daß der autoritäre Verband es erläßt und sanktioniert. Erst die Praxis der Gerichte macht aus ihm wirklich geltendes Recht und beseitigt so - soweit dies überhaupt möglich ist - in einem allmählichen Aufbau die Rechtsunsicherheit. Eine solche Praxis und Tradition kann und wird sich auch beim richterlichen Prüfungsrecht herausbilden.

Um das Wesen und zugleich die Schranken dieses Prüfungsrechts zu erkennen, dürfte es vor allem darauf ankommen, daß wir uns wieder darauf besinnen, daß die richterliche Tätigkeit der gesetzgeberischen nicht so scharf gegenübersteht, wie die  Lehre von der Gewaltenteilung,  auf der unsere positivistische Rechtswissenschaft aufgebaut ist, annimmt.

Der Gesetzgeber ist nicht Schöpfer des Rechts.  Er hat weder die Begriffe  des Darlehens, des Kaufs, der Ehe, des Eigentums, der Polizeigewalt, der Steuerhoheit, des öffentlichen Dienstes, der öffentlichen Anstalt  geschaffen, noch auch die grundlegenden Rechtssätze, welche diese Institute konstituieren. Eine ganze Fülle von Rechtssätzen, die in keinem Gesetzbuch aufgezeichnet sind, gelten für diese Institute und werden vom Richter angewendet. Ja, auch wo es überhaupt an gesetzlichen Bestimmungen fehlt, besteht nicht etwa ein rechtsleerer Raum. Die Praxis hat sich oft ohne gesetzliche Bestimmungen helfen können, und es ist gut so gegangen. Es hat daher seinen guten Sinn, wenn der Gesetzgeber dem Richter den Vortritt läßt, oder, wie man zu sagen pflegt, gewisse Fragen der Praxis, d. h. der richterlichen Rechtsfindung, überläßt. Das zum größten Teil ohne die Krücken der Gesetzgebung aufgebaute deutsche System des internationalen Privatrechts ist vielleicht besser ausgefallen, als wenn es im Bürgerlichen Gesetzbuch selbst geregelt worden wäre. Alle diese bekannten Tatsachen bezeugen, daß gesetzgeberische und richterliche Tätigkeit nicht durch den Abstand, den die Lehre von der Gewaltenteilung annimmt, getrennt sind.

Wir machen uns überhaupt meist nicht klar, wie wenig auch auf kodifizierten Rechtsgebieten unsere Rechtsentscheidungen den geschriebenen und ausdrücklich vom Gesetzgeber formulierten Rechtssätzen entnommen sind. Das Meiste und Beste, vielfach das eigentlich Entscheidende entnehmen wir nicht den geschriebenen Rechtssätzen, sondern wir folgern es unmittelbar aus den für das Rechtsgebiet maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien, aus dem Wesen der Institute, aus dem Legitimitätsvorstellungen der Zeit und der Gemeinschaft, in denen wir leben. Dazu kommen noch die mancherlei Normen, die einen Niederschlag rein technischer Erfahrungen bilden: vom  bonus pater familias [guter Familienvorstand - wp] zum gewissenhaften Kaufmann, ordentlichen Arzt, Spezialarzt, Turnlehrer, Frachtführer, Chauffeur usw., alles Abbreviaturen [Abkürzungen - wp] für einen Inbegriff rationaler Sätze, die auch der Gesetzgeber nicht schafft, sondern voraussetzt. Man sieht: der Staat schafft nicht  Recht,  der Staat schafft  Gesetze und Staat und Gesetz stehen unter dem Recht. 

Macht man sich all dies einmal grundsätzlich klar, so ergibt sich für die besonderen Aufgaben, die gerade dem Gesetzgeber und nur ihm gestellt sind und die nicht zugleich richterliche Aufgaben sein können, sehr viel weniger als dies nach der Lehre von der Teilung der Gewalten der Fall zu sein scheint. Es sind  nur zwei spezifische Aufgaben,  die dem  Gesetzgeber  unbedingt vorbehalten bleiben müssen und keine richterliche Aufgabe sein können.

Das ist zunächst die  Entscheidung über die Wahl der maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien  für die zu regelnden Lebensgebiete. So liegt z. B. in der Regelung der Probleme der Aufwertung unzweifelhaft ein radikaler Verstoß gegen die Prinzipien der Verkehrsgerechtigkeit, gegen die Grundsätze von Treu und Glauben im Verkehr. Aber der Gesetzgeber hat geglaubt, und wohl mit Recht geglaubt, diese Frage nach den Grundsätzen der  justitia distributiva  regeln und so eine andere Ordnung vornehmen zu müssen, wobei er die gesamte historische, politische, wirtschaftliche, finanzielle und soziale Lage des deutschen Volkes in internationaler und innerer Beziehung berücksichtigen mußte. An die Wahl dieses Gerechtigkeitsprinzips durch den Gesetzgeber ist der Richter gebunden.

Die zweite spezifische Aufgabe des Gesetzgebers ist die  Schaffung der rechtstechnischen Formen und Normen.  Während sich die erste Aufgabe auf die oberste Stufe im Aufbau des Gerechtigkeitsbegriffs bezieht, steht die zweite auf der untersten Stufe. Nur der Gesetzgeber kann statuieren, daß man mit 21 Jahren grundsätzlich volljährig wird, welche Formen für die Errichtung eines Testaments erforderlich sind, wie eine Erbschaftsregulierung, der Grundbuchverkehr usw. vor sich zu gehen hat. Auch die Schaffung dieser Art Rechtssätze ist naturgemäß dem Richter entzogen.

Aber alles, was zwischen dieser obersten und untersten Stufe liegt, die Entwicklung der Forderung der Verkehrsgerechtigkeit, der verteilenden Gerechtigkeit, der strafenden, der ausgleichenden Gerechtigkeit, des Rechts der Not, - die Entwicklung der aus dem  telos  der Institute und objektiven Lebensverhältnisse folgenden Normen, - und schließlich die Entwicklung der Legitimitätsvorstellungen der Gemeinschaft sind die Aufgaben am Ausbau des Rechts, die Gesetzgebr und Richter gemeinsam sind; sie können von beiden wahrgenommen werden. Jedenfalls sind sie auch ausgesprochen richterliche Aufgaben, wie sie der Richter täglich zu üben gewöhnt ist.

Der Richter findet diese Normen zwar nur am einzelnen Fall und für den einzelnen Fall, aber zugleich mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit; und darum schafft auch er im wirklichen Sinn des Wortes Recht;  das Gesetz ist nicht die einzige Erscheinungsform des Rechts.  Um auf den Grundsatz der Rechtsgleichheit hinzuweisen, ist der Richter jedenfalls befugt und befähigt, über der Einhaltung dieses Grundsatzes da zu wachen, wo die Legitimitätsvorstellungen der heutigen Kulturwelt aus der Idee des homogenen Bürgertums jede differenzielle Behandlung von Klassen, Ständen, Konfessionen, Volkstum usw. verlangen, zu deren Schutz insbesondere der Gleichheitssatz aufgestellt wurde. Dieses Prinzip ist auch wieder in Artikel 73 Abs. 2 des Genfer Abkommens über Oberschlesien von Deutschland international bezeugt und bekräftigt worden.

Wenn man dem Richter diese Aufgaben gegenüber dem Gesetz zumutet, so entfremdet man ihn nicht von den ihm eigentümlichen Aufgaben, sondern man ermöglicht ihm nur das völlig zu tun, was seines spezifischen Amtes ist. Denn es macht das Wesen der richterlichen Tätigkeit aus, daß sie einen  Bestand von rationalen Normen voraussetzt,  die der Richter auf die einzelnen Fälle anwendet, gleichgültig, ob diese Normen im geschriebenen Recht ausdrücklich formuliert sind oder von diesem vorausgesetzt werden. Nur für die beiden genannten spezifisch gesetzgeberischen Aufgaben gibt es keine rationalen Normen; sie beruhen auf den letzten, vom Richter nicht zu prüfenden  Entscheidungen  des Gesetzgebers.

Auch in dieser Einschränkung sind die dem Richter obliegenden Aufgaben nur von gerechten Richterpersönlichkeiten zu lösen, d. h. von Menschen, die ihr Rechtsgewissen ausgebildet haben und ein reines Gefäß sind. Wir sind - und darin sehe ich eine der Hauptmängel und Hauptgefahren unserer Zeit - viel zu sehr geneigt,  die bloß rechtstechnische Bildung und Schulung zu überschätzen,  ja juristische Bildung mit rechtstechnischer Fertigkeit gleichzusetzen und für die juristische Ausbildung der Studierenden in der Lehre und Übung dieser abstrakten Technik das alleinige Ziel des Rechtsunterrichts zu sehen. Mir scheint die Methode der Römer und der Angelsachsen, der beiden größten Rechtsvölker, die Seele des heranwachsenden Juristen an den großen  Präjudizien [Präzendenzfälle - wp]  der hervorragenden Juristenpersönlichkeiten  zu bilden glücklicher und besser zu sein; nur das Studium von Entscheidungen, die eine große Juristenpersönlichkeit für den einzelnen Fall gefunden hat, ist geeignet, die Seele des künftigen Richters in dem zu bilden, was die Gerechtigkeit neben aller Technik fordert. Nur durch eine solche Bildung kann der heranwachsenden Generation das wieder zuteil werden, was wir heute schmerzlich vermissen, der  Glaube an das Recht.  Die bloß technische Rechtswissenschaft ist eine Hure, die für alle und zu allem zu haben ist. Man hat gesagt, daß jeder technisch gut ausgebildete Jurist im Grund alles beweisen kann, und daß nur die anständigen unter ihnen von dieser Fähigkeit keinen Gebrauch machen. Es muß unsere Aufgabe als akademische Lehrer sein, der künftigen Richtergeneration neben dem rein Technischen vor allem immer wieder die ethischen Werte vor Augen zu führen, die im Recht und im Dienst am Recht liegen, und sie immer wieder zu lehren, daß nur eine ethische Persönlichkeit ein guter und gerechter Richter sein kann. Es muß in ihnen immer wieder das Gefühl lebendig gemacht werden, daß sie bei jeder Entscheidung, die sie treffen, im Dienst ewiger Werte stehen, daß sie bei allem, was sie tun, mitberufen sind zum Bau an einer Welt, an einer materiellen Ordnung, die der Idee der Gerechtigkeit entspricht, und daß sie dazu nur fähig sind, wenn sie sich selbst erziehen zu Persönlichkeiten, die mit ihrem innersten Kern im Ewigen wurzeln.




Leitsätze des Hauptberichterstatters
    1. Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz bezieht sich nicht nur auf die Rechtsanwendung, sondern auch auf die Gesetzgebung.

    2. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit ist so allgemein formuliert, daß er für Reich und Länder gilt.

    3. Der darin liegende Unitarismus entspricht sowohl den Realitäten wie den Bedürfnissen und Notwendigkeiten des einheitlichen, von denselben Rechtsanschauungen beseelten deutschen Volkes.

    4. Die Unterscheidungen des Gesetzgebers müssen dem inneren Wesen der Ordnung des betreffenden Lebensverhältnisses gerecht werden.

    5. Es muß bei der Ausgestaltung der materiellen Norm und der zu ihrer Durchführung bestimmten organisatorischen und Verfahrensnormen für ausreichende Garantien gegen eine ungleiche Anwendung gesorgt sein.

    6. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit setzt gewisse allgemeine Grundsätze voraus, die ihm übergeordnet und daher als in ihm eingeschlossen anzusehen sind.

    7. Grundsätzlich besteht ein richterliches Prüfungsrecht, ob der Grundsatz der Rechtsgleichheit vom Gesetzgeber und von den rechtsanwendenden Behörden beobachtet ist.

    8. Der Richter muß sich hierbei im Rahmen seiner spezifisch richterlichen Aufgabe halten und darf nicht spezifisch gesetzgeberische Aufgaben an sich reißen.

    9. Der Richter darf nur die Verletzung gewisser äußerster Grenzen rügen.

    10. Sein Prüfungsrecht setzt einen Bestand von ungeschriebenen, rationalen, spezialisierten und technischen Normen voraus.

    11. Die spezifisch gesetzeberische Tätigkeit liegt in der Entscheidung über die Wahl der maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien und in der Schaffung rechtstechnischer Formen.

    12. Die Durchführung und die am Einzelfall orientierte Entwicklung und Ausgestaltung der vom Gesetzgeber gewählten Gerechtigkeitsprinzipien und der Legitimitätsvorstellungen der Gemeinschaft ist eine spezifisch richterliche Aufgabe.
LITERATUR Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 3, Berlin und Leipzig 1927