| MAX SCHELER
Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien
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"Es handelt sich, wie überall bei Thomas von Aquin darum, das Unrationalisierbare doch zu rationalisieren. Es muß alles, auch das sittliche Handeln zu rationalisieren zu sein; dies ist gleichsam eine axiomatische Voraussetzung. Geht es nicht direkt, so werden reflexe Prinzipien erfunden, um das rationale Weltsystem da, wo es gleichsam das menschliche Handeln selbst zu durchbrechen scheint, künstlich zu schließen."
"Nur demjenigen ist durch eine Lüge Unrecht geschehen, der ein Recht auf Wahrheit hat. Dieses Recht wird ihm aber erst durch den Vertrag, der den Staat gründet und ist als solches mit den übrigen Rechten, die aus diesem Vertrag und seiner Einhaltung hervorgehen, keineswegs fortwährend. Jeder kann dieses Recht verlieren oder auch (wie Unmündige) überhaupt noch nicht besitzen." |
II. Das Problem in der Geschichte der Philosophie
[Fortsetzung]
Mit dem Eintritt des Christentums in die römische Welt ändert sich auch sofort Fragestellung und Lösung unseres Problems. Die ältere Stoa war bereits in der Ethik SENECAs, im folgenden Jahrhundert bei EPIKTET und MARC AUREL macht sich eine starke dualistische Tendenz geltend und zu gleicher Zeit eine fortschreitende Entwertung des stoischen Naturbegriffs. Zugleich wächst das Mißtrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft auf praktischem Gebiet mehr und mehr, bis diese Entwicklung im grandiosen Bruch des Christentum mit der antiken Gesamtkultur ihren Abschluß findet. Wir brauchen kaum zu sagen, in was für einen scharfen Gegensatz sich CHRISTUS selbst mit der jüdischen intellektuellen Kultur, wie sie in den Schriftgelehrten zum Ausdruck kam, setzte, wie das ungelehrte und unwissende Kind zum Typus sittlicher Reinheit und innerer Größe wurde, wie die, "die da geistig arm sind", CHRISTUS als das fruchtbarste Erdreich für die neue Lehre galten. Freilich CHRISTUS selbst kam dieser Gegensatz niemals zur Empfindung; wie dies am gewaltigsten sein Wort zeigt: Ich bin die Wahrheit und das Leben (1). In ihm waren ja alle Gegensätz, die später in der Kirche zum Ausdruck kommen mußten, als der unendlich reicht, aber eben durch seine Lebendigkeit begrifflich kaum faßbare Geist in feste Formeln, wie sie der gewöhnliche Mensch braucht, gebracht worden, in ihm selbst waren jene Gegensätze durch eine unvergleichliche "Wesenstat", um mit einem so trefflichen Wort EUCKENs zu reden, ausgeglichen und gelöst. So sicher für CHRISTUS selbst Denken und Wollen, Wahrheit und Leben ein Ganzes gewesen ist, so sicher konnten diese Spaltungen nicht ausbleiben, sobald dieser Geist in das wirkliche menschliche Leben einzugehen suchte. Und so geschah es dann auch bezüglich unseres Problems. Bei den älteren Kirchenschriftstellern, wie ORIGINES und CHRISOSTOMUS (2), wird die Unwahrheit gebilligt, wenn sie aus der Liebe hervorgeht und gewöhnlich findet sich nach RUNZE (Ethik, Bd. 1) zu der Forderung nach aletheia [Wahrheit - wp] der Zusatz: en agape [und Liebe - wp], der zweifellos als eine Beschränkung des Begriffs der aletheia gefaßt werden muß. (3) Auch jenes Problem, wie weit der Priester in seiner Predigt von seiner eigenen Überzeugung abweichen darf, das sich später zur Lehre von der zweifachen Wahrheit, der theologischen und philosophischen entwickelte, findet sich schon sehr früh. Bereits Bischof SYNESIUS von Alexandrien (379-412 n. Chr.) unterschied ein exoterisches und ein esoterisches Christentum (bei sich und der Freunding HYPATIA). Gegen die ältere christliche Literatur wendet scharf der heilige AUGUSTINUS in seinen Schriften De mendacio und contra mendacium. Er ist sich der Schwierigkeit der Aufgabe, einen Wahrhaftigkeitsrigorismus auf der Grundlage des Evangeliums aufzubauen, völlig bewußt und nennt die Frage nach der Erlaubtheit der Unwahrhaftigkeit eine "magna quaestio" ja eine "quaestio latebrosa nimis" [Frage die sich im Dunkeln versteckt - wp]. Es dürfte zweifelhaft erscheinen, ob hier AUGUSTINUS die Frage wirklich im evangelischen Geist entschieden hat, ob nicht die älteren Schriftsteller, wie ORIGINES und CHRYSOSTOMUS mehr im Geist des Evangeliums gelehrt hatten. Denn soviel steht - wie auch die einzelnen Stellen in der christlichen Literatur lauten mögen - fest: Eine Lehre, welche den Naturbegriff im Sinne des Christentums gestaltet, eine Lehre, die ihre Sittlichkeit auf eine gefühlsmäßige Einigung mit Gott aufbaut und neben dieses Prinzip gleichwertig die Menschenliebe stellt, kann, sofern sie nicht Unmögliches fordern will, nicht zugleich eine absolute Wahrhaftigkeit fordern. Sie kann sie insofern fordern, als Wahrhaftigkeit zugleich den Nächsten vor Schädigung bewahrt, ihm hilft und ihn aufrichtet. Sie kann, indem sie ihren Schwerpunkt in die Erringung des ewigen Heils verlegt, des weiteren in der Erkenntnis der wirklichen Welt nicht eine sittliche Pflicht sehen. So lenkt hier bereits das Christentum ein in antike Bahnen, denn die Begriffe des Exoterischen und Esoterischen finden wir fast bei allen Denkern der antiken Welt: sogar die Stoiker unterscheiden eine annehmbare Empfehlung (probabilis ratio) von der wissenschaftlichen Ableitung der Moralgrundsätze, die nur für den Weisen ist. Und auf das gesamte Mittelalter hat AUGUSTIN in diesem Sinne eingewirkt, der Zoologe HERTWIG sagt mit Recht in der Einleitung seins Buches "Lehrbuch der Zoologie":
"Was das Auftreten des Christentums anlangt, so hatte dasselbe zunächst eine völlige Vernichtung des naturwissenschaftliche Forschens und Wissens zur Folge. Es kam die Zeit, in der man die Frage, wieviel Zähne das Pferd hat, in Streitschrifen abhandelte, welche das schwere Geschütz der Autoren ins Feld führten, ohne daß aber einer der Gelehrten Veranlassung genommen hätte, einem Pferd ins Maul zu schauen. Bezeichnend für diese Denkrichtung ist das im Mittelalter viel gebrauchte Buch "Physiologus" oder "Bestiarus", in welchem etwa 70 Tiere beschrieben wurden, darunter wieder fabelhafte, wie Drache, Vogel Greif, Phönix etc. Ja, wir haben Beispiele davon, daß gewisse Erkenntnisse sogar wieder vergessen wurden und erst wieder gefunden werden mußten."
Ich nenne nur die zoologische Beobachtung, daß Walfische lebendig gebären. ARISTOTELES wußte dies bereits und das ganze Mittelalter hindurch war es unbekannt. Solche Beispiele gäbe es noch viele. Zu dieser durchgreifenden Veränderung der Bestimmung des Menschen und der hieraus resultierenden Modifikation unseres Problems kam noch die teilweise Entwertung, welche die Vernunft durch die Idee der Gnadenwahl erfahren hatte. Von AUGUSTINUS bis auf ABÄLARD und später SCOTUS hat diese Idee, welche AUGUSTINUS mit völliger Berechtigung als dem Christentum wesentlich und auch deshalb unmodifizierbar zugesprochen hatte, die christliche Tradition völlig beherrscht. Das Resultat der Gnade, das bei verschiedenartiger Anerkennung der Macht des natürlichen Gesetzes doch erst die wahre Sittlichkeit erzeugen konnte, vermochte weder erkannt, noch anerzogen zu werden, noch ergab es sich aufgrund von irgendwelchen Gefühlsentwicklungen. In engster Berührung mit der Entwertung der Vernunft stehen die Tendenzen, die in Form von absichtlichen Paradoxien sich gegen die menschliche Logik überhaupt zu kehren scheinen, gleichsam aufgrund einer höheren Logik, die durch eine gefühlsmäßige Einigung mit der Gottheit direkt ergriffen wird und als Maßstab irdischer Logik gebraucht wird. Stellen, die diesen Geist tragen, finden sich im Evangelium häufig und es wäre vielleicht keine ganz unbillige Frage, ob sie nicht der Keim für die im Mittelalter auftretende Lehre von der theologischen und philosophischen Wahrheit gewesen sind. Denn dazu scheinen mir die Vorbedingungen in der Konzeption einer göttlichen Vernunft im Gegensatz zur menschlichen Vernunft im Grunde vollständig gegeben zu sein. (4) Diese das Evangelium durchziehenden Ideen konnten aber umso leichter in der Scholastik zur Lehrmeinung von den zwei Wahrheiten fortgebildet werden, als ihr zweiter Hauptanknüpfungspunkt, die Philosophie des ARISTOTELES durch die Unterscheidung des nous theoretikos vom nous praktikos dem entgegenzukommen schien. Die Lehre von den zwei Wahrheiten tritt in sehr verschiedenen Gestaltungen auf: wir können sie nicht alle verfolgen, weil dies dem Zweck einer historischen Einleitung widerstreiten würde. Auf der einen Seite stehen sich eine philosophische und eine theologische Wahrheit gegenüber; auf der anderen Seite theoretische und praktische Wahrheit. Die erste Unterscheidung fand ihre Bedingungen in der Abweichung ABÄLARDs von der augustinischen Tradition, insofern dieser bereits die Idee der Relativität in den göttlichen Willen verlegt; zum vollen Durchbruch aber kam der Gegensatz erst im Streit der Thomisten und Scotisten, wobei letztere die Lehre ABÄLARDs noch weiter fortbildeten, während die ersteren bei der Lehre, daß das Gute aus der festen und ewig gleichen Natur Gottes fließt, beharrten. (5) Von SCOTUS bis zu OCKHAM entwickelt sich dieser Prozeß eines Auseinandertretens von Intellekt und Wille, weltlicher Wissenschaft und Theologie immer weiter. Sie sind treue Anhänger der Kirche und echte Förderer einer voraussetzungslosen Naturwissenschaft. Man könnte es seine Ironie der Geschichte nennen, daß die franziskanische Tradition die Entwicklung der Wissenschaft auf allen Punkten beschleunigte, und doch das "bonum" im Rang über das "verum" stellt, während im Gegensatz hierzu die dominikanische Tradition gerade hierdurch die Entwicklung der neueren Wissenschaft zurück hielt, daß sie das "verum" über das "bonum" stellte. Siehe hierzu auch WINDELBAND, Geschichte der Philosophie, Seite 262. Die zweite Unterscheidung hat ihren Ursprung in der thomistischen Philosophie: diese suchte einen Weg anzugeben, wei man von theoretischer Ungewißheit über das Bestehen oder den Inhalt eines Gesetzes zur praktischen Gewißheit gelangt. So sehr sich diese beiden Formen voneinander unterscheiden mögen, so haben sie doch eine psychologische Wurzel. Beide Lehren sind unscheinbare Symptome, aber doch Symptome eines neuen Geistes, der seinen vollen Ausdruck freilich erst in der französischen Skepsis, vor allem in MONTAIGNE und BODIN erhält. Die erstere Lehre rüttelt an der absoluten Sicherheit und Einzigkeit der moralischen Grundsätze dadurch, daß sie dem Organ dieser Grundsätze, dem göttlichen Willen die Eigenschaft einer relativistischen Beweglichkeit erteilt. Freilich hieß es nicht, Gott hätte in dieser oder jener Hinsicht seinen Willen geändert. Es hieß nur, er kann ihn ändern, es ist also zu irgendeiner Zeit einmal möglich. Dieser scheinbar ganz harmlose Gedanke war aber doch ein Sturmvogel der nachfolgenden Skepsis, und die Thomisten wußten dies auch gut genug, weshalb sie die Scotisten "Skeptiker" nannten, während nach unseren heutigen Begriffen von Skepsis dieser Ausdruck fehl am Platz zu sein scheint. War in die Eindeutigkeit und Ewigkeit des göttlichen Vernunftwillens durch die Eintragung der Idee der Relativität in dieselbe gewissermaßen eine Bresche geschlagen, so kam dies notwendigerweise der menschlichen Vernunft zugute und das Unternehmen der Frühscholastik, die menschliche Vernunfttätigkeit so zu retten, daß man ihr als Objekt die Rationalisierung und Kodifizierung des evangelischen Geistes vorhielt, sie aber gleichsam immer unterhalb des religiösen Inhalts der Evangelien ihr Spiel treiben ließ, dieses Unternehmen hatte durch die Lehre von der Relativität und die daraus folgende Stärkung der menschlichen Vernunft eine Verschiebung erfahren. Diese Verschiebung ist nur eine Stufe in dem interessanten Prozeß, der mit dem Versuch der Rettung der menschlichen Vernunft vor dem Übergewicht der göttlichen beginnt und mit dem Versuch der Rettung der göttlichen Vernunft vor dem Übergewicht der menschlichen schließt. Die Lehre von den zwei Wahrheiten kann vielleicht gut der Kulminationspunkt dieses Prozesses genannt werden; denn hier ist gewissermaßen der Zustand gegeben, in dem sich menschliche und göttliche Vernunft gleich stark gegenüberstehen, was notwendig zur Konzeption zweier Wahrheiten führen muß. Vorher war die Einheit des Wahrheitsbegriffs durch das Primat der göttlichen Vernunft gerettet, später, d. h. seit dem Beginn der neueren Philosophie, was sie durch das Primat der menschlichen gerettet, freilich nur so lange, bis, wie wir sehen werden, dieser Zwiespalt in den Menschen selbst hineingetragen wurde. Nach der Überwingung diese kulturellen Kulminationspunktes beginnen zuerst leise, dann immer stärker die Versuche, die menschliche Vernunft in ihrem eigentümlichen Feld, der Wissenschaft, zu schwächen. Ein NIKOLAUS KUSANUS trägt kein Bedenken, in seinem Hauptwerk "de docta ignorantia", deutlicher noch in seiner kleineren Schrift "de coniectures", das weltliche Wissen zum Vermuten herabzusetzen und AGRIPPA von Nettesheim folgt diesem Beispiel mit seiner skeptischen Schrift "de eincertitudine et vanitate scientarium", welche dem geheimen Zweck dienen soll, dem Vorwurf, die magischen Lehren seien unsicherer als die philosophischen, einen Widerpart bieten zu können. Hier tritt zum erstenmal jene fragwürdige Apologetik auf, die dann später bis auf unsere Tage immer von neuem wieder ihr Haupt erhebt, jene mutlose und halb resignierte Apologetik, welche die Grundsätze der Religion nicht schöpferisch und positiv feststellen will, sondern ihr Genügen darin findet, durch Verkleinerung und Entwurzelung des wissenschaftlichen Strebens einen Zustand allgemeiner Skepsis zu erzeugen, in dem der Mensch die Unterscheidungsfähigkeit für das Gewicht der Gründe verliert und so präpariert ist, alle Sätze skrupellos anzunehmen, welche die Bedürfnisse des momentanen Kulturzustandes zu fordern scheinen. - Gehen wir nun über zu der anderen Form, welche die Lehre von der zweifachen Wahrheit in der Lehre des THOMAS angenommen hat. THOMAS hatte von ARISTOTELES die Unterscheidung des praktischen und spekulativen Verstandes übernommen. Der spekulative ist jener, "qui quo apprehendit non ordinat ad opus, se ad solam veritatis agnitionem" [die Auffassung lenkt nicht das Werk, sondern eine Anerkennung der einzigen Wahrheit - wp] , der praktische jener, "qui quod apprehendit ordinat ad opus" [da die Auffassung das Werk lenkt - wp]. Formalobjekt des spekulativen Verstandes ist die Wahrheit als solche, die Übereinstimmung zwischen Denken und Sein (adaequatio intellectus cum re). Ziel des praktischen Verstandes ist die rectitudo [Geradheit, Richtigkeit - wp] des Handelns. Schon hier ist interessant, wie das opus durch das sed mit der sola agnitio veritatis in einen Widerspruch tritt. Nun handelt es sich für THOMAS darum, diesen Widerspruch so zu schlichten, daß weder die Würde der spekulativen Wahrheit noch jener bereits bei PAULUS (Römer 14,23) auftretende Grundsatz: "omne qod non est ex fide peccatum est" [Alles, was nicht aus dem Glauben heraus getan wird, ist Sünde - wp], der nur bei völliger Gewißheit betreffs der Existenz oder Nichtexistenz, der eventuellen Geltung oder Ungültigkeit des Gesetzes ein Handeln erlaubt, irgendeine Schädigung erleidet. Ich kann nicht umhin, zu bemerken, daß diese Lehre in vielen neueren Darstellungen nicht ganz richtig aufgefaßt wird. Es wird so dargestellt, als ob die bloß wahrscheinliche Gewißheit über die Nichtexistenz eines Gesetzes ein Handeln gegen seinen Inhalt gestattet. So z. B. SIGWART (Vorfragen der Ethik, Seite 28). In Wirklichkeit gehen die Deduktionen des THOMAS gerade von dem Grundsatz aus, daß man nur bei völliger Gewißheit über die Nichtexistenz eines Gesetzes dagegen handeln darf. (6) THOMAS fährt weiter in diesem Sinne: Völlige Gewißheit ist notwendig. Nun aber ist es eine Tatsache, daß in vielen Fällen des Lebens, wo wir vor einer Handlung stehen, die Ereignisse gleichsam selber ein Handeln von uns verlangen, mittels des theoretischen Verstandes eine völlige Gewißheit (die doch unbedingt notwendig ist) nicht zu erreichen ist. Um diesen Zwiespalt des Handelnsollens und des nicht Handelndürfens zu überwinden, soll die Kirche neben alle ihre bestehenden Gesetze noch ein Gesetz des Inhalts hinzufügen, daß, wenn ein gewisses Maß von Gründen (bei den verschiedenen Schriftstellern verschieden) gegen die Existenz des Gesetzes sprechen, dieses Gesetz als nicht existierend zu erachten ist. LIMBACH gibt auf Seite 40 seines genannten Buches folgenden Fall:
"Jemand, der im Begriff steht, eine Handlung zu setzen, zweifelt, ob sie erlaubt ist oder ob ein Gesetz existiert, welches sie verbietet. Er hat die Pflicht, Sorgfalt und Prüfung anzuwenden. Das Ergebnis derselben ist, daß er die wahrscheinliche Meinung gewinnt, das Gesetz existiere nicht, d. h. daß gute und stichhaltige Gründe für seine Nichtexistenz sprechen, die Möglichkeit aber gleichwohl nicht ausgeschlossen ist, daß es existiert. Daraufhin darf er noch keineswegs handeln; er hat noch nicht die erforderliche Gewißheit, das entschiedene Urteil über die Erlaubtheit seiner Handlung. Nun nimmt er das reflexive Prinzip zu Hilfe, das er als gewiß erkennt, etwa, daß ein Gesetz, gegen dessen Existenz gewichtige Gründe sprchen, nicht verpflichtet. Indem er nunen seinen Spezialfall in diesem allgemeinen Prinzip erkennt, hat er offenbar die praktische Sicherheit, daß er durch jenes Gesetz nicht gebunden ist. Man nun spekulativ betrachtet jenes Gesetz wirklich existieren, ist er doch praktisch gewiß, daß er durch seine Handlung mit diesem Gesetz nicht in Widerspruch gerät. So ergibt sich auch, wie spekulative Nichtgewißheit mit praktischer Gewißheit, spekulativer Irrtum mit praktischer Wahrheit vereinbar ist."
Gemäß der Anschauungen der einzelnen nachthomistischen Denker über das Verhältnis von Gesetz und Freiheit zweigen sich nun aus diesem Grundprinzip verschiedene Einzelsysteme ab, die hier zu verfolgen keinen Zweck hat. Man mag über diese ganze Lehre verschieden urteilen, jedenfalls ist die Abschlachtung, die sie in neueren Darstellungen erfahren hat, kein Zeichen von Geschmack und intellektuellem Feinsinn. Denn die leichtsinnigen Anwendungen, welche die Lehre in späteren Zeiten durch gewisse katholische Orden erfahren haben mag (und hier wird noch viel übertrieben), ist (für den Philosophen wenigstens) noch kein Einwand gegen sie. Es ist darum erfreulich und vermehrt die Symptome dafür, daß wir schließlich auch in der Philosophie aufhören, uns nur als Widerparte der Scholastik zu fühlen, wenn SIGWART in den "Vorfragen der Ethik" (Seite 28) sagt:
"Die klugen Praktiker, welche die jesuitische Moral geschaffen haben, sahen darin ganz richtig, daß die Wahrscheinlichkeit eine Rolle im Handeln spielt und den Probabilismus in jedem Sinn verwerfen, würde nur ein voreiliges Urteil verraten."
Sehen wir doch einmal ein wenig hinter diese logische Akribie, deren Aufwand im Verhältnis zum Erfolg uns ja zuweilen ein wenig lächerlich anmuten mag, so bemerken wir, daß hier zumindest ein tiefes und schwerwiegendes Problem anerkannt wird, was doch immerhin, wenn es auch mit scholastischen Mitteln zu überwinden gesucht wird, einen wohltuenden Gegensatz bildet zur Moralphilosophie der neueren Zeit, in der es zumeist gar nicht in seiner Tiefe erkannt und wenn es erkannt wird, hinter einem Gesinnungspathos versteckt wird. Die Wahl ist vielfach folgende (wenn wir das Bestehen unwandelbarer Sittengesetze, die aus dem Willen Gottes fließen, im Sinne von THOMAS voraussetzen): Entweder es wird eine völlige theoretische Gewißheit verlangt: Dann kommt es bei der Natur unseres Intellekts, der oft im Zweifel stecken bleibt, auf alle Fälle aber langsamer zu seinem Ziel kommt als die Handlung, die meist nunc et hic [jetzt und hier - wp] erfolgen muß, wenn sie überhaupt erfolgt, gestattet, überhaupt wenig zum Handeln. Oder es wird keine theoretische Gewißheit verlangt, dann kommt es zwar zum Handeln, aber der Wahrheitsbegriff verliert einen Teil seiner Würde. Oder drittens, es erfolgt irgendwie eine Lösung dieses Widerspruchs. Eine bestimmte Lösung ist die der späteren Scholastik. Wir halten sie, wie wir gleich gestehen wollen, für falsch. Denn der Satz, der immer wiederkehrt, die rectitudo des Handelns oder auch des Willens sei praktische Wahrheit, hat im Grunde keinen Sinn. Die Richtigkeit eines Willens ist keine Wahrheit (7). Oder: Das Verhältnis eines Willens zu einem Gesetz, das ihn verpflichtet, ist nicht das Verhältnis eines Urteils zu einem Gegenstand, bei welchem Verhältnis allein von Wahrheit und Unwahrheit rechtmäßig gesprochen werden kann. Die praktische Wahrheit müßte doch auch eine Wahrheit sein. Es müßte ein Wahrheitsbegriff existieren, der noch nicht theoretische Wahrheit und noch nicht praktische wäre, diesen beiden Begriffen vielmehr übergeordnet wäre, sodaß erst durch die Beigabe zweiter weiterer Bestimmungsstücke der Wahrheitsbegriff in einen theoretischen und praktischen zerfällt. Einen solchen übergeordneten Wahrheitsbegriff, bwz. seine Definition suchen wir bei THOMAS vergebens. Wahrheit wird definiert als adaequatio intellectus cum re. Dieser Ausdruck definiert aber natürlich nur die theoretische Wahrheit und schließt die hinterherkommende praktische aus. Freilich verstehen wir dieses Unternehmen des THOMAS: Es handelt sich darum, wie überall bei ihm, das Unrationalisierbare doch zu rationalisieren. Es muß alles, auch das sittliche Handeln zu rationalisieren zu sein; dies ist gleichsam eine axiomatische Voraussetzung. Geht es nicht "direkt" (8), so werden "reflexe Prinzipien" erfunden, um das rationale Weltsystem da, wo es gleichsam das menschliche Handeln selbst zu durchbrechen scheint, künstlich zu schließen. So entsteht der interessante Widerspruch, menschliches Irren gewissermaßen gesetzmäßig zu machen, den Grundsatz aber, der dieses (objektive) Irren sanktioniert, selber als eine Wahrheit hinzustellen. Denn dieses reflexe Prinzip ist für THOMAS natürlich eine Wahrheit. Das Mittel zu diesem Zweck bietet die verhängnisvolle Unterscheidung des ARISTOTELES zwischen dem praktischen und dem theoretischen Intellekt, wie wir bereits anführten, prudentia und intellectus speculativus , wie THOMAS unterscheidt. Diese prudentia ist bei THOMAS ein eigentümlicher Terminus, indem hier das Wort ganz anders als in der Frühscholastik nicht mehr als Vermögen die Mittel zu gegebenen Zwecken zu suchen gemeint ist, sondern als Vermögen den (freilich noch objektiv gedachten) Bestand oder Nichtbestand der Zwecke selbst (wie sie das Gesetz eben vorschreibt) zu untersuchen. Damit ist nun auch der Zusammenhang dieser Form der zweifachen Wahrheit mit der früher genannten angedeutet, wenngleich THOMAS dieser ersten Form viel entfernter steht wie die Nominalisten, wie z. B. SCOTUS. Der Gedanke rückt gewissermaßen der Offenbarung bereits näher an den Leib. Vom rein technischen Mittel bekommt er bereits einen mehr normativen Charakter. Er gibt zwar noch keine Gesetze für das Handeln, urteilt aber bereits über den Bestand von Gesetzen. So ist es auch zu verstehen, wenn in der bedeutendsten und umfassendsten Darstellung der thomistische Moralphilosophie in VIKTOR CATHREINs zweibändigem Werk die Klugheit (prudentia) als "Königin der Tugenden" hingestellt wird. Auch hier wird ausdrücklich gelehrt, daß die Klugheit nicht bloße Überlegung über die Mittel ist (wie es der gewöhnliche Sprachgebrauch im Grunde erfordert), sondern die Vernunft selbst, sofern sie die Erfordernisse der sittlichen Gesetze in den einzelnen Fällen bestimmt. Damit war aber offenbar der erste Schritt zu der späteren typischen Lösung des Problems getan, der gemäß die Vernunft nun weder rein technisch noch als Organ zur Erkenntnis der unabhängig von ihr bestehenden göttlichen Gesetze, selbständig und aus sich selbst heraus die sittlichen Gesetze bestimmt. Dahin mußte die Lehre des THOMAS vom Naturgesetz notwendig treiben. Bei diesem selbst hat das Naturgesetz einen eigentümlich schillernden Charakter angenommen, was bei der Synthese der aristotelischen und christlichen Weltanschauung ja auch unumgänglich war. Es ist einerseits ganz und gar das gestaltende Prinzip des aristotelischen politikon dikaion physikon (im Gegensatz zum politikon dikaion nomikon), d. h. ein Ausfluß der Menschenvernunft. Da aber bei THOMAS dieselbe Vernunft das Dasein Gottes als Weltschöpfer erkannt hat, wird es gleichsam hinterher doch wieder ein Ausfluß des göttlichen notwendigen Willens, des Wesenswillens Gottes (im Gegensatz zu dessen freiem Willen, aus dem das göttliche positive Gesetz fließt). Der früher viel innigere Zusammenhang der einfachsten moralischen Vorschriften mit der Gottheit ist hier bereits gelockert, indem das Naturgesetz zwischen Gott und Mensch in die Mitte tritt, freilich noch so, daß die Harmonie nicht gestört wird. Die viel selbständigere Stellung, welche das Naturgesetz und das darauf fließende Naturrecht bei HUGO GROTIUS findet, der bekanntlich gesagt hat, daß auch bei der Nichtexistenz Gottes das Naturrecht bestehen bleibt und der noch weitere Fortschritt bei PUFENDORF ist nur die Etappe einer weiteren Loslösung der Moralvorschriften von der Gottheit. Das für unser Problem Wertvolle in diesem ganzen Zusammenhang besteht darin, daß seit PAULUS allen Moralphilosophen eine Alternative gestellt war, nach deren einem Teil sie unbedingt greifen zu müssen glaubten: Immer hieß es: Gott und Vernunft; was der Gottheit an gesetzgeberischer Kraft und Recht genommen wurde, kam der Vernunft irgendwie zugute; und ebenso umgekehrt. Bei THOMAS mildert dieses Verhältnis noch der Gedanke des Naturgesetzes, das harmonisch aus beiden Prinzipien herausfließt. Später verschärfte sich der Gegensatz immer mehr. An eine dritte mögliche Quelle der sittlichen Vorschriften dachte man nicht. Eine solche im Gefühlsleben des Menschen zu finden, blieb den Engländern vorbehalten; und wir werden später sehen, daß erst durch das Hineintragen dieses neuen Prinzips die innerliche Überwindung der Lehre von der doppelten Wahrheit ermöglicht wurde, daß erst hierdurch das "Richtige" vom "Wahren", das bei THOMAS identifiziert wird, unterschieden werden kann. Was die Gestaltung der thomistischen Lehre von der subjektiven Wahrhaftigkeit betrifft, so ist zunächst zu sagen, daß sie von der rigoristischen Tradition des AUGUSTINUS beherrscht ist. Bezüglich der Definition der Wahrhaftigkeit ist zu bemerken, daß die Absicht zu täuschen in die Definition nicht eingeschlossen wird (Summa theologica 2. 29. 110 a. 1). Die Folge hiervon ist eine doppelte: Erstens werden diejenigen unwahren Äußerungen zu Lügen, bei denen der Redende (THOMAS kennt im allgemeinen nur Wortlügen) weiß, daß der Angeredete ihm nicht glaubt. Zweitens sind hiernach jene Äußerungen keine Lügen, bei denen die Absicht zur Täuschung vorhanden ist, ohne daß ein als unwahr erkennbarer Vorstellungsinhalt geäußert wird, also alle doppelsinnigen Redensarten und Restriktionen. CATHREIN erlärt (a. a. O., Bd. II, Seite 83) die Sache so:
"Derartige doppelsinnige Redensarten sind keine Lügen, weil die gebrauchten Worte wirklich das ausdrücken, was der Redende im Sinn hat."
So entscheidet den Tatbestand einer Lüge nicht das Verhältnis des mit dem Bewußtsein der Wahrheit begleiteten Vorstellungsinhaltes im Redenden zu einem erzeugten oder beaufsichtigten Vorstellungsinhalt im Zuhörer, sondern das Verhältnis des mit dem Wahrheitsbewußtsein begleitenden Vorstellungsinhaltes zur Äußerung (den Worten, Sätzen) selber. Wir weisen, wie unser systematischer Teil besser begründen wird, diese Definition als zu bloß äußerlicher Werkgerechtigkeit verführend bereits hier zurück. Abgesehen hiervon wird vom heiligen THOMAS die Lüge nicht als eine Rechtsverletzung eines Anderen verworfen, sondern ihrer Natur nach. Wir können hier nicht umhin zu bemerken, daß hier von THOMAS eine moralphilosophische Methode eingeführt wird, die später z. B. auch bei CATHREIN (9) sehr schlimmer Erfolge gezeitigt hat. Es wird nämlich allenthalben ein Rigorismus erschlichen (ob subjektiv oder nur objektiv, ist gleichgültig) dadurch, daß in den Begriff der Handlungen, die es zu verdammen gilt, z. B. der Lüge, nur das aufgenommen wird, was auch nach anderen, weit laxeren Systemen, als böse gilt. Dies ist einfach und billig, wird aber nicht den Ansprüchen gerecht, die wir an eine wissenschaftliche Behandlung der Probleme zu stellen haben. Wenn z. B. wie bei CATHREIN gesagt wird, im Begriff des Redesn liege bereits der "Gedankenaustausch vernünftiger erwachsener Menschen", so ist es leicht, Rigorist zu sein. Denn die einem Kind oder einem Wahnsinnigen gegenüber geäußerten Lügen sind dann keine, da Lügen das "Reden" subjektiver Unwahrheit ist, Kinder und Wahnsinnige aber keine vernünftigen, erwachsenen Menschen sind. Dies ist ein Rigorismus der Worte, aber nicht der Sachen. - Die nachthomistische Scholastik hat, wie sie auch sonst weniger neue Ideen hervorbrachte, sondern sich mit einer schärferen Durcharbeitung der alten Probleme beschäftigte, auch bezüglich unserer Frage eine neue Antwort nicht erteilt. Im letzten umfassenden Werk des Jesuiten SUAREZ, dem letzten gewaltigen Kulturniederschlag der scholastischen Wissenschaft, findet sich bei all seinem Reichtum unser Problem noch an alter Stelle. Erst durch die Reformation und die nachfolgende Philosophie beginnt ein kräftiger Umschwung, der auch hier seine Wirksamkeit äußert. Er besteht, kurz gesagt, im Bruch mit der ganzen rationalistischen Methode der Scholastik. Zunächst macht sich dieser Bruch nur der Religion gegenüber bemerkbar durch eine ungeheure Vertiefung des Glaubensbegriffs durch LUTHER selbst. Der objektive Inhalt der Religion, der während der Scholastik gewissermaßen als starres Gebilde außerhalb der Menschheit schwebte und dieser ein Objekt der Vernunfterkenntnis bilden sollte, wird mit gewaltiger Kraft nun auf jedes einzelne Gemüt bezogen und in tiefere Lagen der menschlichen Seele, wie das abstrakte Denken eine darstellt, hineingedrängt.
"Es ist nicht genug, daß Einer glaubt, es sei Gott, CHRISTUS habe gelitten und dgl., sondern er muß festiglich glauben, daß Gott ihm zur Seligkeit ein Gott ist; daß CHRISTUS für ihn gelitten hat, gestorben, gekreuzigt, auferstanden ist, daß er seine Sünd für ihn getragen hat." (E. A. 22, 136)
Oder: "Der Glaube geht auf Dinge, die nicht einleuchten. Damit also der Glaube Platz hat, muß Alles verborgen werden, was Sache des Glaubens ist." (Nach EUCKEN, Lebensanschauungen, Seite 282)
Oder man denke an jenes tiefsinnige, paradoxe Wort, das man den Extrakt der ganzen lutherischen Reformtätigkeit nennen könnte:
"Wenn wir Gott wüßten, was hätten wir dann zu glauben."
So wird der Glauben von einem weniger gewissen Fürwahrhalten als es das Wissen gestattet ein tätiges, gefühlsstarkes Ergreifen der Gottheit und Festhalten. Es erscheint nicht mehr als eine Art des Wissens, eine schlechtere Art als diejenigen, zu der uns die Erfahrung und folgerichtiges Denken oder Begriffsanalyse führen, sondern wird in gewissem Sinne (freilich noch nicht genügen begrifflich scharf) diesen gewöhnlichen Prozessen zur Wahrheitsforschung entgegengesetzt. Hierdurch erleidet freilich der Wahrheitsbegriff eine der Wissenschaft gefährliche Umprägung ins Mystische und der abstrakte Denkprozeß verliert seine objektive Reinheit, aufgrund deren er leidenschaftslos die Tatsachen suchen kann, ohne sie durch vorgefaßte Wertungen durch Gefühl und Leidenschaft zu entstellen. Der Wert der Gottheit tritt anstelle ihrer bloßen Tatsache in den inneren Blickpunkt des Zeitgeistes, um einen Ausdruck WUNDTs zu gebrauchen. Denn wenn auch Wissen und Glauben eine gewisse Trennung erfuhren, so war doch diese Trennung nicht groß genug, um die beiden am Kampf miteinander zu hindern. So ist es leicht erklärlich, daß die gleichzeitige aufklärende humanistische Bewegung in Deutschland, durch ERASMUS hauptsächlich vertreten, trotz der gleichen Interessen, die sie als fortschrittliche Bewegung mit der religiös-reformerischen gemein hatte, doch auch in Widerspruch mit ihr geriet, wie es beispielsweise in der Polemik LUTHERs mit ERASMUS über die Willensfreiheit zum Ausdruck kam. Die Reformation ohne Verbindung mit dem Humanismus, eine Verbindung, die weniger innerlich begründet als historisch zufällig war, hätte es zum nachfolgenden Aufschwung der Wissenschaften, wie er uns seit Beginn der neueren Philosophie allenthalben entgegentritt, nimmermehr gebracht (10). So sagt auch EUCKEN (Lebensanschauungen, Seite 283):
"Jene Abweisung der Vernunft war zugleich ein schroffer Bruch mit all den freien Bewegungen und Gedankenrichtungen, welche in Reformationszeiten schon mächtig aufstrebten."
Der Wahrheitsbegriff, wie ihn LUTHER geprägt hatte, indem er in Gott weniger die Tatsache als den auf jeden Einzelnen bezüglichen ungeheuren Wert sah und indem er in die erkenntnistheoretische Funktion selber, die zur Gottheit führt, Gefühl und Willen einschloß, war für eine strenge, wissenschaftliche Forschung durchaus unbrauchbar, was auch, wie wir sehen werden, später genügend hervortrat. Gemäß dieser gekennzeichneten Stellung LUTHERs zu Wahrheit und Glauben war auch seine Stellung zum Problem der Wahrhaftigkeit. Wie wir sahen und noch sehen werden, findet bei den Denkern gewöhnlich diese Frage ein von ihrer Gesamtanschauung über die Funktionen der menschlichen Seele, welche sittliches Handeln verursachen, eine sehr getrennte Behandlung, ja sogar, wie wir wohl jetzt schon behaupten dürfen, eine widersprechende. Anders bei LUTHER. Es is dies ja nicht ein allzuseltenes Phänomen in der Geschichte der Philosophie, daß während der einen Zeitphase zwei Theorien ruhig nebeneinander bestehen, die sich in einer anderen Phase hart bekämpfen (11); dies gilt ebenso für Persönlichkeiten. Entscheidend ist hier, ob mehr Einheit oder Differenziertheit des seelischen Lebens vorhanden ist. Bei einem so eminent einheitlichen Charakter, wie ihn LUTHER besaß, ist dies also wohl erklärlich. Aus den Publikationen, aus den Königlich preußischen Staatsarchiven von 1880, Bd. V, ersehen wir, daß LUTHER in einer Konferenz vom 15. und 17. Juli 1540 dem Landgrafen von Hessen in Sachen der Doppelehe erklärte:
"Eine Notlüge, Nutzlüge, Hilfslüge zu tun, wäre nicht wider Gott." Der Landgraf soll hierauf an LUTHER geschrieben haben: "Denn Lügen lautet übel, hat's auch kein Apostel keinem Christen gelehrt, ja CHRISTUS sogar höchst verboten, man soll bei Ja und Nein bleiben." (12)
Bemerkenswert ist bei diesen Worten LUTHERs, daß er es nicht bei der Erlaubnis der Notlüge beläßt, sondern auch noch "Nutz- und Hilfslüge" hinzufügt; denn der Begriff der Nutzlüge kann hier doch sehr schwerlich als eine Lüge, die einem Anderen nützt, gefaßt werden, sondern als eine solche, die schlechthin nützt. Daß der Ausdruck im letzteren Sinn gemeint ist, beweist auch der Anlaß; denn der Landgraf will sich doch selber durch eine etwaige Lüge nützen, nicht irgendjemand Anderen; freilich könnte man hier wohl die Frage aufwerfen, ob nicht die meisten und gerade die schlimmsten Lügen in diesem Sinne Nutzlügen sind, ob der Unterschied zwischen einer völligen Erlaubnis des Lügens und der Nutzlügen eigentlich noch groß ist. Natürlich wäre es sehr ungereimt, aufgrund dieser Worte LUTHERs an seiner persönlichen Ehrlichkeit zu zweifeln, die für uns über alle Zweifel erhaben dasteht. Denn im Sturm und Drang der geistigen Entwicklung LUTHERs mag so manches Wort gefallen sein, welches die Goldwaage des hinterherkommenden objektiven Beobachters falsch charakterisieren würde und das (wie ich für CATHREIN bemerken möchte, der die Sache in einer Anmerkung nicht ohne Schadenfreude erzählt) ein gelehrter Jesuit in seinem kühlen Studio auf gutgefalztes Papier still hinzuschreiben freilich keinen Grund findet. Aber, wie dem auch sein mag: Ein Zusammenhang mit der so geäußerten Anschauung LUTHERs und der durch ihn erfolgten Umgestaltung des Wahrheits- und Glaubensbegriffs dürfte doch vorhanden sein. Denn wie dort das Hauptaugenmerk auf den Wert der Gottheit gegenüber ihrer bloßen Tatsächlichkeit gelegt wird, so hier auf den Wert der Aussage gegenüber ihrer Wahrheit, was im letzteren Fall geradezu zu einer Sprengung des sittlichen Begriffs der Wahrhaftigkeit (als der Eigenschaften, die Tatsachen, so wie sie stattgefunden haben, zu berichten) durch Wertüberlegungen führt. Es ist dies umso interessanter, als neuere (13) illusionistische Bewegungen in der Religionsphilosophie von hier aus bei LUTHER eine gewisse Berechtigung finden. Denn wenn auch LUTHER nie so weit gegangen war, die objektive Tatsächlichkeit der Gottheit auch nur in Zweifel ziehen zu wollen (hiervon bewahrte ihn sein gewaltiges Gemüt, das den höchsten Wert gewissermaßen unbewußt mit der Realität verschmolz), so mußten doch ruhigere, mehr intellektuelle begabte Köpfe mit breiterer Tatsachenkenntnis den Widerspruch, der sich bei LUTHER nur im untergeordneteren Problem der Wahrhaftigkeit zwischen Tatsache und Wert auftut, bis in die Höhe metaphysischer Gegenstände tragen, so daß die Tatsächlichkeit der Gottheit, die bei LUTHER im Gegensatz zur Scholastik in den Hintergrund tritt (auch wenn sie da ist), nun gänzlich vor der subjektiven Erregung über ihre Vorstellung verschwand. Die Stellung zum Wahrhaftigkeitsproblem blieb dann auch bei den früheren protestantischen Denkern die gleich. Besonders ausführlich behandelt es HUGO GROTIUS. Wenn er das "mendacium" [Lüge - wp] von einem "falsiloquium" [Unwahrheit - wp] unterscheidet, läßt er den Gefühlston des Bösen nur auf einen Teil der Unwahrhaftigkeit (14). Nur demjenigen ist durch ein mendacium Unrecht geschehen, der ein Recht auf Wahrheit hat. Dieses Recht wird ihm aber erst durch den Vertrag, der den Staat gründet und ist als solches mit den übrigen Rechten, die aus diesem Vertrag und seiner Einhaltung hervorgehen, keineswegs perpetuell [fortwährend - wp]. Jeder kann dieses Recht verlieren oder auch (wie Unmündige) überhaupt noch nicht besitzen. GROTIUS unterscheidet, von diesem Prinzip ausgehend, nun sechs Fälle, in denen ein falsiloquium nicht zugleich mendacium ist. So z. B. gegenüber Kindern und Irrsinnigen, sodann, wenn ein Dritter, aber nicht der Angeredete getäuscht wird, wenn dem Anderen ein Vorteil hieraus erwächst. Der Vorgesetzte hat das Recht gegenüber seinen Untergebenen aufgrund seines ius supereminens über alle Rechte des Untertanen. Nur Gott darf nie die Unwahrheit äußern, aber nicht, weil diese seiner Güte widerstreitet, sondern weil sie (nach PLATO) ein Zeichen von Schwäche ist. Zuletzt ist die Unwahrheit auch den Feinden gegenüber nicht mendacium (15). Auch hier zeigt sich GROTIUS als Scholastiker (16) des Protestantismus; er systematisiert und ordnet die dort gegebenen Impulse. Aber auch mit seiner Gesamtanschauung über die Wurzeln der Sittlichkeit hängt die hier gegebene Lösung zusammen. Indem er die tierischen Instinkte der Mutterliebe, das Mitleid des Kindes etc. zur Erleuchtung der menschlichen Sittlichkeit heranzieht und letztere nur als eine vernünftige Ausgestaltung dieser naturgegebenen Triebe anspricht, vertritt er (psychologisch geredet) eine berechtigte Kausalität des Gefühlslebens auf das Denken und Äußern der Gedanken. Nichts Anderes als eine solche Kausalität ist aber auch die Lüge (wie wir im systematischen Teil noch besser bemerken werden). Wie bei GROTIUS die Vernunft des Ethos mehr einen triebartigen Charakter bekommt, so auch ähnlich bei BACON. Die angeborenen Normen, das "Licht und Gesetz der Natur" der Scholastik wird ihm zum sozialen Trieb (17); die Vernunft als der Begriff, in dem Reflexion und Gemüt als Einheit gedacht werden, ist bei ihm dem Wort, nicht aber der Sache nach zu finden. Reflexion, Erkenntnis tritt hier in einen Gegensatz zum Gefühl. Hiermit ist auch seine Stellung zu unserem Problem bereits angedeutet. Wahres und Gutes finden zwar in Gott für ihne ine Einheit, aber diese Einheit ist für ihn mehr Tradition, Konvention als Erlebnis. Wenn er die Gottheit noch nicht rein auf das Gefül stellt, wie es Spätere taten, so ist der einzige Grund hierfür, daß er sich mit dem Problem nicht innerlich beschäftigte, daß ihn die religiöse Frage im Grunde kalt ließ. Indem er den geistigen Blick mit aller Macht auf die Natur lenkt, "entwickelt sich bei ihm die Neigung, Intellekt und Geist gleichzusetzen" (EUCKEN, Seite 346). Der Widerspruch dieser erkenntnistheoretischen Wendung zu den Gütern des religiösen und sittlichen Lebens kommt ihm nicht zu Bewußtsein. Er trennt zwei Welten auseinander; aber er sucht sie weder zu vereinigen, noch heißt er diese Trennung mit klarem Bewußtsein sachgemäß und richtig. So wenig man bei ihm von Monismus reden kann, so wenig auch von Dualismus, im Sinne einer Weltanschauung. Der Dualismus ist gewissermaßen im Blut, nicht im Geist. Dies ist nur dadurch erklärlich, daß der durch ein induktiv-naturwisenschaftliches Denken und klares sich Hingeben an die Sinnenwelt unterdrückte Affekt, sich anstatt an die höchsten Güter zu wenden und auszuleben, ein praktisch-technisches Wirken zu erzeugen sucht. So entstehen in seiner Seele drei Gebiete, die wenig von einander wissen. Das Gebiet des objektiven, klaren, von allem Gefühl unbeeinflußten Denkens, die Welt praktisch-technischen Schaffens, das am wenigsten entwickelte Gebiet der Religion und Sittlichkeit. Die erste Welt bedingt die zweite, während die dritte unverbunden an den beiden hängt. Denn auch das praktisch-technische Schaffen, das BACON empfiehlt und dem er in einem prophetischen Geist eine ungeheure Zukunft eröffnet, sucht keinen Anschluß an die Sittlichkeit und Religion. So gehört BACON zu den wenigen, großen Denkern in der Geschichte, die den Dualismus zu sehr gelebt haben, als daß sie ihn hätten lehren können. Trotzdem hat er, mehr indirekt, durch seine Neugestaltung der Wissenschaft zu einem langsamen Fort- und Zusammenarbeiten vieler, auch zeitlich getrennter Forscher mitgewirkt, die Idee einer objektiven, gleichsam über allen einzelnen Denkern schwebenden Wissenschaft zu erzeugen, die keiner ganz besitzt, die jeder nur zum Teil in sich trägt. So wird gerade dieser durchaus unhistorische Denker paradoxerweise zum Förderer des historischen Zusammenschlusses der Forscher. Indem die Wahrheit so auf Einzelne verteilt, doch aber als einheitliches Ziel gedacht, erwächst ihr ohne allen Bezug auf das Gute, nach der Meinung Einiger eine sittliche Kraft (18). Ich möchte aber bereits hier daran einen Zweifel wagen. Abgesehen von den endlosen Prioritätsstreitigkeiten, der Eifersucht und dem Neid unter den Gelehrten, den dieser (für mich ebenso wie für Andere notwendige) Wissenschaftsbetrieb mit sich bringt, scheint mir die hier verschmähte Systemwissenschaft, auch wenn sie schneller zum Abschluß schreitet als es unter einem bewußten oder unbewußten Opfer des Intellekts geschehen könnte, einen innigeren Bezug zu sittlichem Handeln zu haben. Handeln verlangt Entscheidung, und sein größter Feind ist Zweifel und Kritik. Entscheidung aber ist die innerste Natur des Systems; Zweifel und Kritik das Lebenslicht aller induktiven, langsam fortschreitenden Wissenschaft. Gerade wir wir im Leben oft das Denken abbrechen müssen, so bricht der Systematiker gleichsam die Strebungen der intellektualen Kultur seiner Epoche ab, damit zumindest das bisher Erreichte in Leben und Tat eingeht. So richtet sich die von BACON inaugurierte Forschung freilich nicht gegen das gute Handeln als solches; wohl aber gerät sie in einen gewissen Widerspruch mit dem Handeln überhaupt. Im systematischen Teil werden wir sehen, daß Alles darauf ankommt, ob man diesen Wissenschaftsbetrieb für unumgänglich notwendig hält oder nicht, daß die Lösung unseres ganzen Problems in gewisser Hinsicht von dieser Frage abhängt. Zu betonen ist im übrigen noch, daß dieser Betrieb nicht etwa zufällig ist und bei gleichen logischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen noch eine Änderung derselben erfolgen könnte. Vielmehr folgt dieser Betrieb notwendig aus dem Begriff einer induktiven Forschung, wobei es sogar gleichgültig erscheint, ob die Induktion rein in BACONs Sinne oder in idealistischer Art (wie etwa in SIGWARTs Logik) gegründet und geboten wird, wofür der treffendste Beweis die Übereinstimmung BACONs mit dem Idealisten SIGWART in diesem Punkt ist (siehe hierzu SIGWARTs "Kleine Schriften II, "Die sittlichen Grundlagen der Wissenschaft"). In beiden Denkern, BACON und GROTIUS, liegen die Keime zur nachfolgenden Spaltung der englischen Moralphilosophie in Intellektualismus und Gefühlsmoral. So sehr sich die verschiedenen Denker, welche diesen Richtungen angehören, unterscheiden mögen: für unser Problem kommte gerade nur dieser Unterschied in Betracht. Die Hauptrepräsentanten der ersteren Richtung sind HOBBES und CUDWORTH. Bei HOBBES ist für unser Problem hauptsächlich dies interessant, daß es hier den denkbar schroffsten und einseitigsten Intellektualismus, der in einem reinen Verstand das einzig wertvolle und den bloßen Bewußtseinstatsachen überlegene Vermögen der Seele erblickt, trotzdem zu gelingen scheint, zu äußerst festen, gewichtigen, ja überstrengen Normen zu gelangen.
"Jede Verletzung des natürlichen Gesetzes entsteht nur durch falsches Schließen, nur durch die Thorheit der Menschen, welche die zu ihrer eigenen Erhaltung unentbehrlichen Verpflichtungen gegen Andere nicht zu erkennen imstande sind." (19)
Sieht man den Satz nur oberflächlich an, so erscheint hier die Wahrheit, die nur aus bloßer Reflexion, nicht aus Vernunft (im Sinne der Scholastik) hervorgegangen ist, das Gute als einen Teil zu umschließen: Das Gute eine Wahrheitserkenntnis unter anderen, die natürliche oder sonstige Gegenstände haben. Zu einem ähnlichen Satz waren wir bei PLATO gekommen. Wie ist dies aber möglich? Denn, daß diese beiden Denker auch nur Ähnliches meinten, ist von vornherein ausgeschlossen. Das Rätsel löst sich leicht, wenn man bedenkt, daß in PLATOs "Vernunft" Willens- und Gefühlselemente , Induktion und Phantasie einbeschlossen liegen, hier aber die "Vernunft" zu einem rein abstrakten, diskursiven Denken geworden ist. Wenn PLATO die Sittlichkeit von Einsicht verursacht sein läßt, so findet dies seine Berechtigung in der die ganze antike Philosophie durchziehenden Undifferenziertheit an Denken und Wollen, während hier bei HOBBES, wo das Denken alle Wertungselemente verloren hat (wie uns seine mechanische Naturwissenschaft ja unwiderleglich beweist), allein imstande sein soll, Normen zu begründen. Wie gelingt ihm nun aber dieses philosophische Taschenspielerkunststück? Offenbar durch jenen Grundfehler, der dem ganzen intellektualistischen Utilitarismus bis auf HELVETIUS gemeinsam ist, wenngleich er bei HOBBES in der denkbar stärksten Form auftritt: Er begründet nicht die Normen, sondern er beweist bloß ihre Vorteile und verwechselt die logische Abhängigkeit zweier Phänomene mit ihrem objektiv-kausalen Zusammenhang. Er hält die Überlegung, die er als Forscher über "bellum omnium contra omnes" [Krieg aller gegen alle - wp], "Bürgerfrieden" und dessen nützliche Konsequenzen anstellt, für jene seelische Ursache, welche in den Menschen den Übergang vom Naturstand zur staatlichen Gemeinschaft hervorgebracht hat. Also nicht nur der Mangel an allem genetischen und historischen Sinn bringt jenes Paradoxon der bloßen Reflexion und der festen Norm zustande, sondern noch hinzukommend der positive Glaube, er hätte genetisch und auch normativ begründet, was er sich rein logisch zurechtgelegt hat. So finden wir bei ihm, bezüglich unseres Problems, denselben Dualismus wie bei BACON, nur noch in weit härterer Form; auch hier gelangt er nicht zum Bewußtsein, da das gesamte seelische Leben nur von der einzigen (Natur-)Aufgabe der mechanischen Naturerklärung beherrscht ist. Ganz anders beim zweiten Repräsentanten des Rationalismus, bei CUDWORTH (20). Er war der Gründer jener Schule von Cambridge, welche im gleichen Maß den religiösen Dogmatismus der Puritaner, wie den Radikalismus des HOBBES bekämpfte. Man hat ihn einen Vorläufer KANTs genannt und er ist dies auch in gewisser Hinsicht bezüglich unseres Problems. Auch für ihn ist das Gute eine Erkenntnis der Vernunft und als solches eine "ewige Wahrheit". Die "recta ratio" und die "lex naturalis" sind Begriffe, die HOBBES und CUDWORTH gemeinsam haben. Indem aber CUDWORTH auf PLATO und den Neuplatonismus des PLOTIN zurückgeht, ist seine ratio natürlich nicht bloße Reflexion wie dort, sondern ein gehaltreiches (a priori erkennendes) Vermögen. So rückt hier die Vernunft dem Wollen wieder näher, indem das Denken selbst als eine Tätigkeit und Schöpfung erscheint. Dabei ist freilich von einer völligen Autonomie der vernünftigen Sittlichkeit im kantischen Sinne keine Rede. Im göttlichen Geist, der hier als reine Intelligenz (nicht als Wille wie später bei LOTZE) gedacht ist, haben die sittlichen Ideen ihren Ursprung. Es ist klar, daß diese Anschauung in einem völligen Widerspruch mit der Naturwissenschaft eines BACON treten muß. Das Problem hat keine neue Stufe erreicht. Es mochte für die Theologie und für die tiefere Fundierung der Sittlichkeit hier manches gewonnen sein; indem die sich entwickelnde Naturwissenschaft samt ihren logischen Voraussetzungen unter den Tisch fiel (denn niemals hätte diese mit der ratio des CUDWORTH erfolgreich weiterarbeiten können), fand das Problem eine antike Lösung, die sich wohl in einem engeren Schulkreis halten konnte, darüber hinaus aber keine Zukunft besaß. So knüpfen dann auch die nachfolgenden englischen Ethiker durchaus an HOBBES an. LOCKE gelangt über die Stellung des HOBBES hinsichtlich unseres Problems nicht hinaus. Denn daß zum Willen des Souveräns hier noch als bestimmend für die Handlungen des Willen Gottes und die öffentliche Meinung trit, ist für unsere Frage wenig erheblich. Hier wie dort befinden wir uns im Kreis eines intellektuellen Utilitarismus, für den das Gute ein Teil der Reflexionswahrheit ist. Dabei wird nicht einmal der Unterschied dieses Teils der Wahrheit, der das Gute ist, mit dem Ganzen deutlich empfunden. Denn der Kreis der Denkobjekte selber erhält hier eine utilitarische Bestimmung.
"Unsere Aufgabe hier ist nicht, alle Dinge zu erkennen, sondern die, welche unser Benehmen angehen." (Nach EUCKEN, Lebensanschauungen)
Indem so das Denken als ein Aufsuchen von Wahrheit selber von praktischen Gesichtspunkten geleitet wird und das Gute gleichfalls utilitarisch bestimmt wird, kommt dieses von vornherein leichter mit jenem zur Deckung. Dagegen rückt unser Problem auf eine neue Stufe in der schottischen Schule. Hier wird eine Stellung eingenommen, welche die entgegengesetzten Interessen des Wahren und Guten noch am besten zu einer gewissen Einigung führt. Und zwar erfolgt dies zunächst durch HUTCHESON. Der Vernunftbegriff eines CUDWORTH mit seinem platonischen Charakter, der sich im Gegensatz zu aller induktiven Forschung befindet und der Vernunftbegriff eines BACON und HOBBES, der zwar dieser Forschung gute Dinge leistet, als bloß diskursive, abstrakte Reflexion aber niemals zu einer Begründung, wenn auch zu einem Verstehen der Vorteile des Sittlichen führen kann, die rein emotionale Sittlichkeit eines SHAFTESBURY, welche das sittliche Phänomen in einem ungeleiteten Naturtrieb, für den der Mensch mehr Sklave als Herr ist, aufgehen läßt, alle diese Theorien mit ihren Mängeln werden hier glücklich umschifft. Von einer teleologischen Erklärung des Sittlichen, wie sie (wie oft vergessen wird) ein HOBBES so gut wie ein PLATO verfochten hat, wie verschieden die Inhalte des Zieles auch gewesen sein mögen, wird hier eine wirkliche Kausalerklärung mit psychologischen Mitteln unternommen. Hier wird ein neuer Begriff geprägt: "Der moralische Sinn." Dieser moralische Sinn ist ein gemeinsames Produkt von Reflexions- und Gefühlsprozessen. Er ist nicht bloß ein passives Vermögen, wie es der Ausdruck "Sinn" erwarten läßt (21). Vielmehr hat die Vernunft als tätige Reflexion die Aufgabe, die Eindrücke mit denen ihren anhaftenden Gefühlen zu vergleichen. Dies klingt freilich ein wenig utilitaristisch. Und ganz freizusprechen vom Utilitarismus scheint HUTCHESON auch nicht zu sein. Trotzdem bedenkt der Denker immer wieder die Unmittelbarkeit des sittlichen Gefühls, das von allen anderen Gefühlen der bloßen Lust streng unterschieden wird. So gerät hier unser Problem auf eine durchaus neue Stufe. Das Gute ist nicht mehr eine Wahrheit, auch die Wahrheit nicht ein Teil des Guten. Das Gute ist eine Folge jenes moralischen Sinns, der allen Menschen angeboren, weder durch Denken, noch bloße passive Sympathie ersetzt werden kann. So wird hier neben das Denken, als einer mehr als bloß psychologischen Funktion, aus dem Bewußtsein der moralische Sinn als einer normgebenden Kraft kräftig herausgehoben. Die Erscheinung der verschiedenen Anschauungen der Völker über die Sittlichkeit, welche sonst für die Relativität des Sittlichen geltend gemacht wird, wird auf die Verschiedenheit im Grad und der Art ihrer Vernunfttätigkeit zurückgeführt. Freilich ergibt sich hieraus eine gewisse Inkonsequenz insofern, als zuerst die Vernunfttätigkeit in den Begriff des moralischen Sinns aufgenommen und dieser moralische Sinn als allgemein-menschlich bezeichnet wurde, während nun die gerade Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen der Völker durch eine Verschiedenheit der Vernunfttätigkeit erklärt wird. Auch wird gewissermaßen hinterher betont, daß die "großmütigen Regungen unserer Seele vollständig mit unseren eigenen Interessen zusammen bestehen können", (22) wodurch sich der zuerst vermiedene Utiltarismus in der Form eines wunderbaren Parallelismus wieder einschleicht. Auch die psychologische Analyse ist noch nicht auf der Höhe, wie wir heute wünschen möchten. Trotzdem können wir nicht verschweigen, daß uns in diesem Gedankensystem ein Weg bestritten zu sein scheint, der nach unserer Ansicht vielleicht noch am ehesten zum Ziel führt. Zunächst behält der Wahrheitsbegriff diejenige Form, die ihn zu einer streng induktiven Wissenschaft geeignet erscheinen läßt. Er braucht nicht zum Zweck, die Ethik auf ihn zu stellen, seine objektive Reinheit aufzugeben. Freilich ist zuzugeben, daß auch hier die rechte Konsequenz fehlt. Denn "wir gelangen nach HUTCHESON durch Vernunftschlüsse zur Erkenntnis eines weltregierenden Geistes und einer sittlichen Weltordnung". (23) Hier erhält die Vernunft freilich den Charakter eines metaphysischen Organs, ja es scheint, als wäre die ganze Mühe zur Umgrenzung eines moralischen Sinnes überflüssig gewesen, wenn wir eine sittliche Weltanschauung durch Vernunftschlüsse erkennen können. Man muß jedoch diesen Widerspruch, der ja große Lücken des Systems aufzeigt, nicht so verstehen, als hätte HUTCHESON seiner Vernunft hierdurch den Charakter eines intuitiven Vermögens geben wollen. Zweitens aber wird durch die Festsetzung eines moralischen Sinnes die Ethik und ihr Fundament nicht in den Wechsel der wissenschaftlichen Reflexion hineingezogen. Die sittlichen Zustände erhalten eine gewisse Stabilität (durch den Gefühlsinhalt des moralischen Sinnes) und behält doch auch eine Entwicklungsmöglichkeit (durch den Vernunftinhalt des moralischen Sinnes). Diese Folge (man verzeihe hier das antizipieren des folgenden systematischen Teils) scheint mit der gesamten historischen Kulturentwicklung gut übereinzustimmen. Denn so sicher sich die sittlichen Zustände im Laufe derselben verbessert haben, so sicher ist dieser Fortschritt dem Fortschritt der Wissenschaft nicht ebenbürtig gewesen. Hierfür kann eine Vernunftethik niemals eine Erklärung geben, so wenig wie eine reine Triebethik. Denn vermag erstere das Zurückbleiben der sittlichen Zustände hinter der Wissenschaft nicht zu erklären, so letztere nicht den Fortschritt. Dagegen wird jene Verschmelzung des "konservativen Gefühls" (HÖFFDING) "mit der leichtbeweglichen Vernunft" (GOETHE, Iphigenie) obigem Sachverhalt gereht. Und viertens lassen sich vom "moralischen Sinn" aus, der über das bloße Bewußtsein als mit dem Denken gleichwertiges Organ hinausgeschoben erscheint, sehr wohl Pflichten und Normen aufstellen, die wie ihre Quelle Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit besitzen können. Die Fortbilder dieser Theorie waren HUME und ADAM SMITH. Sie kamen über die Stellung HUTCHESONs unserem Problem gegenüber nicht hinaus. Was bei ihnen die psychologische Analyse des Zusammenwirkens logischer und Gefühlselemente beim Zustandekommen des sittlichen Phänomens gewinnt, verliert die Kraft und Bestimmtheit der Norm. Denn indem der "moralische Sinn", der ja schon bei HUTCHESON eine Zusammensetzung war, seine Einheitlichkeit, die ihm dieser dennoch in gewisser Hinsicht gelassen hatte, ganz verliert und in Elemente zerspalten wird, verliert das ethische Organ den Charakter eines überpsychologischen Vermögens mehr und mehr; da es aber bei HUME dem Verstand nicht besser ging und auch er in elementare Assoziationsprozesse aufgehen schien, so blieben die Begriffe des Wahren und Guten auseinanderliegend und koordiniert; der ethische Skeptizismus verliert hier dadurch seinen peinlichen Charakter, indem ein logischer Skeptizismus mit ihm einhergeht. SMITH dagegen sondert die Gefühlsprozesse, die mit Hilfe des Verstandes in allgemeine Regeln eingehen ("Reflexionsgefühl"), wieder schärfer ab von den übrigen Gefühlsprozessen, woraus sich bei ihm eine sehr feine und durchdachte Verbindung SHAFTESBURYs mit HUTCHESON und HUME ergibt. Von ersterem nimmt er den "Vergeltungstrieb" auf, mit HUTCHESON gibt er dem moralischen Organ einen normativeren Charakter, und HUME benützt er hinsichtlich der psychologischen Analyse. In dieser schottischen Schule, welche bis auf den heutigen Tag die Moralphilosophie Englands beherrscht, sind die Begriffe Wahrheit und Wert klar und deutlich auseinandergetreten. Dies halten wir für einen sehr großen Fortschritt; aber wir halten den Zustand nicht für den endgültig richtigen. Der Zusammenhang dieser Ideen mit dem Utilitarismus, der bei HUME besonders stark hervortritt und der zwar in SMITHs Moralphilosophie aufgegeben, sich in seiner Nationalökonomie aber nur umso breiter ausstreckt, der Zusammenhang dieser Ideen mit dem Liberalismus, der die objektiven sittlichen Mächte nicht verstehen und würdigen kann, die, wenn auch bei HUTCHESON vorhandene, so doch unserer Absicht nach ungenügende Erhebung des sittlichen Vermögens über die psychologische Tatsächlichkeit: All das halten wir für Mängel, die vielleicht auf dieser Grundlage schwer, aber nach unserer Ansicht doch zu heben sind. Ein anderer Hauptmangel erscheint uns an diesen Theorien die Zusammenhangslosigkeit derselben mit Religion und Metaphysik; dagegen halten wir den Zusammenhang derselben mit dem wirtschaftlichen Leben für einen gewaltigen Vorzug (der englischen Moralphilosophie) vor der deutschen Moralphilosophie. Mag dieser Zusammenhang die Erhabenheit der sittlichen Idee auch ein wenig herunterzuziehen scheinen: es ist besser so, als daß diese Idee zwar in großer, aber einsamer Höhe über dem Leben und seinen Aufgaben schwebt, während das Leben selber sich nach gänzlich verschiedenen Prinzipien abspielt.
Man verzeihe die Abweichung von unserem Thema in den letzten Sätzen. Wir hielten es aber für notwendig, den Punkt anzuzeigen, wo die Entwicklung unserer eigenen ethischen Anschauungen einsetzte. Denn anders würde unsere systematische Abhandlung über das Problem, welche in allgemeinen Anschauungen über die Theorien der Ethik ihre natürliche Voraussetzung besitzt, nicht verstanden werden (24).
Ganz anders wie in England vollzog sich währen derselben Zeit die Entwicklung unseres Problems auf dem Festland. Die Differenzierung von Sein und Wert, von Gefühl und Verstand, welche die Reformation inauguriert hatte, konnte sich nicht erhalten, weil das ethische Gesamtproblem mit dem theologischen bei den großen Denkern eng verknüpft war (im Gegensatz zu England), und eine Religionsphilosophie, die im reinen Gefühl oder im reinen Wollen das seelische Organ für die Erfassung des religiösen Phänomens gesehen hätte, mit beiden Kirchen und deren festen Überzeugung und Lehre von der objektiven Realität der Gottheit in einen unauflöslichen Widerspruch hätte geraten müssen. So erscheint bei den englischen Gefühlsethikern die religiöse Indifferenz geradezu als eine Bedingung dieser Differenzierung der Begriffe, und bei HUTCHESON, wo diese Indifferenz weniger stark ist, zeigt ich auch sofort der aufgewiesene Widerspruch mit der "durch Vernunftschlüsse erkannten Gottheit und sittlichen Weltordnung" und dem Gefühl, das er zum Hauptfundament der Moralität macht. Erst durch KANT, noch mehr durch BENEKE und SCHLEIERMACHER vollzog sich hier eine gewisse Synthese. Zunächst aber blieb es hier, indem man die Lebensarbeit LUTHERs philosophisch völlig beiseite ließ (25), beim Rationalismus. "Das ethische Element des Lebens gelangte dabei nicht zur völligen Entwicklung" und "es entwickelte sich die Neigung, das Erkennen zum Hauptinhalt des Lebens zu machen" (Siehe EUCKEN, Lebensanschauungen, Seite 346). CARTESIUS hat in der Ethik eine "grundlegende Tätigkeit nicht entfaltet" (JODL I, Seite 258). Trotzdem ist er für unser Problem von Bedeutung. Er definiert die Sittlichkeit als das "Tun dessen, was man als richtig erkannt hat". Damit ist das Gute als eine Wahrheit genügend gekennzeichnet. Wie man aber aus dieser Erkenntnis zu einer Beherrschung der Affekte, die er in seiner Schrift "De passionibus animae" so fein analysiert hat, gelangen kann, erscheint ganz unerklärlich. Dies hängt mit seinem schroffen psychologischen Dualismus auf das Engste zusammen. In obiger Schrift, Artikel 45 und 211 sagt er, daß die Seele keine Macht über die Affekte hat; dies erklärt sich leicht, wenn man bedenkt, daß nach ihm (im Gegensatz zur Lehre SPINOZAs) die Affekte aus den Bewegungen der Lebensgeister entspringen; da erscheint jede Verbindung mit dem Denken von vornherein als abgebrochen. Freilich wird dieses Verhältnis dadurch für die Ethik wenig erheblich, als nach derselben oben bezeichneten Stelle die Affekte ansich gut sind und nur im Übermaß schlecht werden. So erscheint hier das Gute einerseits als eine Wahrheit, andererseits als etas durchaus natürliches. Es herrscht gewissermaßen ein Parallelismus zwischen Natürlichgutem und als Guterkanntem. Damit stimmt dann auch die Fassung des Willensbegriffs bei DESCARTES gut zusammen. Das Wollen verlegt sich (im schärfsten Gegensatz zu ARISTOTELES, der das Wollen und Denken zuerst klar unterschieden hatte) in den Erkenntnisprozeß hinein. Velle [wollen - wp] ist affirmare [zustimmen - wp] oder negare [ablehnen - wp] und als solches Bestandteil eines Urteils. Jedes Urteil ist eine volitio mit actio. Die perceptio wird identifiziert mit passio, die volitio mit actio. Diese Begriffsbestimmungen sind ungemein bezeichnend. Ähnlich wie bei den Stoikern (synkatathesis [Anerkennung eines über die Wahrnehmung hinausgehendes Urteil - wp], epoche [Haltepunkt - wp]) werden hier Tun und Leiden nicht als zwei Verhältnisse des Menschen zur Außenwelt erfaßt, sondern als Verhältnisse des Geistes zu sich selbst. So rückt der Schauplatz des Lebens durchaus in die Innenwelt und das Denken erhält einen aktiven Charakter, während das Verhältnis zur Außenwelt durch den Mechanismus natürlicher und von Haus aus guter, ja sanfter Affekt seine fast unwillkürliche Regelung findet. So konnte das Gute nicht ein selbständiges, von der Erkenntnis und seinem Ziel, der Wahrheit unabhängiges Reich bilden. Wenn trotzdem theologisch ein strenger Dualismus vertreten wurde, der im Grunde ganz andere Lebensbedingungen im Gemüt und Geist des Menschen verlangt, als sie ein reiner Intellekt bieten kann, so war dies weit mehr durch die starke Tradition veranlaßt als durch die innerlichen Kräfte dieses philosophischen Systems. Darum liegt auch hier gerade seine Hauptschwäche. Das Denken führt auf der einen Seite zu Gott (Gottesbeweise). Und auf der anderen Seite soll das Dasein der Gottheit die Möglichkeit begründen, daß unser Denken zur Wahrheit gelangen kann. Denn diese Möglichkeit erscheint durchaus als eine aus der göttlichen Willkür frei dem Menschen überlieferte Gabe (DESCARTES war strenger Anhänger von DUNS SCOTUS und OCKHAMs, welche die Gottheit vor allem als Wille faßten). Es ist im Grunde derselbe Zirkelschluß (26), dem wir bei ARISTOTELES und, wie wir zeigen werden, auch bei SIGWART begegnen, nur daß er hier gemäß des Wandels der sonstigen Verhältnisse in theologischer Form anstatt in ethischer auftritt. Hatte ARISTOTELES das Gute auf der einen Seite auf die Vernunft gestellt, andererseits (wie wir gezeigt haben) aber doch wieder als angeboren erscheinen lassen, so waren es bei DESCARTES (wenn man ganz vom Äußerlichen absieht) dieselben Triebfedern, die ihn zu diesem Zirkel brachten. Das Denken sollte beide Male seinen "freischwebenden Charakter" verlieren, um ein Wort EUCKENs zu gebrauchen, und doch als Grundkraft des Geistes nicht aufgegeben werden. Es sollte tiefer begründet werden und doch der letzte Grund bleiben. Nur die psychologische Genesis des Zirkels erscheint mir bei beiden Denkern umgekehrt. (War bei ARISTOTELES der ethische Rationalismus die Tradition gewesen und stammen die Stellen, welche im Guten ein Irrationales sehen, hier mehr aus selbständiger Beobachtung und der Verarbeitung von Beobachtungen, so ist bei DESCARTES der irrationale Grund des Denkens (im Willen Gottes) die Tradition und seine Zutat das überaus starke rationale Element seiner Ethik und Theologie.
Daß dieser Zirkel auch bei SIGWART in der Logik wieder auftritt, werden wir bei aller Verehrung, die wir diesem hervorragenden neueren Denker zollen, später zu erweisen suchen. Wenden wir uns nun zu SPINOZA, der einen gewissen Typus der Lösungen unseres Problems mit ganz besonderer Schärfe herausgearbeitet hat. Beginnen wir mit einem Satz, der sich "Kurzer Tractatus von Gott etc." (übersetzt und herausgegeben von SIGWART), Seite 74 findet: "Gott oder was wir für ein und dasselbe nehmen, die Wahrheit" (27). Man muß den Satz recht verstehen: Gott ist nicht eine wahre Erkenntnis unter anderen wahren Erkenntnissen. Sondern die Wahrheit überhaupt als solche ist Gott. Wer eine Wahrheit hat, hat darin auch Gott. Und er hat sie nicht als das mehr oder minder symbolische Bild eines draußen liegenden Seins, sondern seine Seele identifiziert sich mit dem Sein; sie geht in ihm auf. Der Wahrheitsbegriff ist in seiner höchsten Form durchaus intuitiv und mystisch gedacht. SPINOZA kennt wohl auch eine Wahrheit, die aus dem diskursiven Denken hervorgeht; aber diese steht durchaus an zweiter Stelle. SPINOZA unterscheidet (a. a. O., II, Kap. 1, Hauptstück 1) scharf den Glauben, der durch "Hörensagen oder Erfahrung" (die Gleichstellung ist bezeichnend), vom "wahren Glauben", der durch Gründe gestützt ist; und von diesen zwei Möglichkeiten, die Wahrheit zu erhalten, unterscheidet er die "klare Erkenntnis", die "nicht durch Überzeugung aus Vernunftgründen, sondern durch Gefühl und Genuß der Sache selbst entsteht". Und er setzt hinzu: "und sie (die klare Erkenntnis) geht weit über die andern" (Arten der Erkenntnis) (nach der Übersetzung von SIGWART, Seite 64). Und (a. a. O., II, Kap. 4, Hauptstück 1) heißt es: Der "wahre Glaube" (als Frucht diskursiven Denkens) "läßt wohl sehen, wie beschaffen die Sache sein muß, aber nicht, wie sie in Wahrheit ist; und das ist der Grund, warum sie uns niemals mit der geglaubten Sache vereinigen kann". Dagegen findet bei der sogenannten "klaren Erkenntnis" diese "Vereinigung" statt. Hierbei ist das Verhalten des Menschen durchaus passiv gedacht; das "Verstehen ist reines Leiden" (a. a. O., II, Kap. 16, Seite 105) "Wir sind Diener, ja Sklaven Gottes." (a. a. O., II, Kap. 18) Ja, "wir bejahen und verneinen selbst Nichts von den Dingen, sondern die Sache selbst ist es, die etwas von sich bejaht und verneint". (a. a. O.) Dieses Bejahen und Verneinen wird im Begriff (ens rationis, nicht reale) "Willen" zusammengefaßt. Wir haben also durchaus den Willensbegriff des DESCARTES, nur daß eine perceptio nicht noch eigens davon geschieden, als Objekt des Bejahens oder Verneinens erscheint, sondern die beiden Vorgänge als zusammengehörig gedacht werden. Wie bei DESCARTES wird hiervon das "Begehren" völlig geschieden. Im Traktat II, Kap. 17,2 wird gegen den arisotelischen Willensbegriff, als "Neigung zum Guten oder Schlechten" direkt polemisiert und für diesen Begriff "Begierde" gesetzt. Die "Begierde" setzt stets den "Willen" voluntas, d. h. das Bejahen und Verneinen eines Gegenstandes durch ein Urteil voraus (28); dieses Urteil gehört aber dem diskursiven Denken an, das zu "wahrem Glauben", nicht zu "klarer Erkenntnis" führt. Andererseits aber ist es gerade die "klare Erkenntnis", als höchste Erkenntnisart, welche in uns die "wahre Liebe", den amor intellectualis dei, erzeugt, der uns die höchste Vollkommenheit, ja die "Wiedergeburt" zuteil werden läßt. Hier also haben wir das letzte und höchste Ziel des Menschen. Aber wir haben es zugleich da, wo "Begierde" und "Wollen" keine Rolle mehr spielen. Das "Gute und Schlechte", das SPINOZA Objekte der Begierde nennt, haben mit dieser "wahren Seligkeit" des Menschen nichts zu tun. Das Gute und Schlechte sind relative Begriffe und haben keine objektive Bedeutung. Bezeichnend dafür, daß SPINOZA ein eigenes Reich menschlicher Sittlichkeit, die sich in Wollen und Handeln ausdrückt, nicht kennt, ist es, wenn er (a. a. O. I, Kap. 16, 10. Hauptstück) in einem Atem sagt: "so sagt man, daß ein Mensch schlecht ist, nicht anders als im Hinblick auf Einen, der besser ist: oder auch, daß ein Apfel schlecht ist im Hinblick auf einen andern, der gut und besser ist". Das Prinzip, nach dem ein Mensch geschätzt wird, ist das gleiche, wie das, nach dem ein Ding geschätzt wird: die Nützlichkeit. So gehen bei SPINOZA zwei grundverschiedene Gedankenreihen, die beide in das Gebiet der Ethik gehören, nebeneinander her. Die eine enthält einen ganz gewöhnlichen Utilitarismus, die andere zeigt aus diesem Reich des Begehrens und Wollens, in dem dieser Utilitarismus seine Geltung (29) besitzt, einen Ausweg, eine Befreiung davon, eine (wie er es bezeichnenderweise nennt) "Wiedergeburt". So ist es dann auch kein Wunder, wenn er (Ethik, 5, Prop. 41) von einer Religion der "Denker" und der "Massen" spricht. Ganz ähnlich den Stoikern wird auch er zu einer doppelten Moral gedrängt, ein Punkt der mir bei neueren Darstellungen der Lehre nicht genug betont erscheint. Das Gut und Schlecht als Objekt des Begehrens hat hier eine Auseinandersetzung mit dem Wahren überhaupt nicht zu verlangen, da es ihm durchaus nicht ebenbürtig ist. Soweit es ein Gutes gibt, das ihm ebenbürtig erscheint, fällt es mit ihm zusammen, ist es eben das Wahre. Wir glauben in der Tat hier bereits das verhängnisvolle Wort GOETHEs klingen zu hören:
"Wer Wissenschaft und Kunst besitzt
Der hat auch Religion,
Wer diese beiden nicht besitzt,
Der habe Religion."
Freilich konnte SPINOZA nicht unversucht lassen, eine Brücke zwischen diesen zwei so schroff auseinanderfallenden Reichen des Erkennens und der Wahrheit auf der einen Seite, des Begehrens und des Guten auf der anderen Seite, zu schlagen. Und gerade hier gewinnt er für unser Problem eine neue Bedeutung. Im Gegensatz zu englischen Intellektualismus, z. B. eines HOBBES, erkennt SPINOZA klar und deutlich:
"Die Erkenntnis von Gut und Böse kann, sofern sie wahr ist, nimmermehr einen Affekt einschränken, sondern nur, sofern sie selbst als Affekt betrachtet wird. (Ethik IV, Prop. 3, 14 und 15)
Auch im Traktat ist er sich, so sehr er gerade hier den Affekt (sogar den der "Dankbarkeit", der "Gunst", der "Ehre", der "Scham", der "Reue", der "Ahnung", der "Hoffnung") als das Schlechte hinzustellen sucht, darüber klar, daß "wir zuweilen sehen, daß eine Sache gut oder schlecht ist, und dennoch keine Macht in uns finden, das Gute zu tun und das Schlechte zu lassen" (Traktat II, Kap. 21). Dieser Widerstreit ist für SPINOZA umso schwieriger zu lösen, als er vorher (im Gegensatz zu DESCARTES und der Theorie der Lebensgeister) im Affekt nur eine inadäquate Erkenntnis gesehen hat. SPINOZA sucht nun folgendermaßen den Knoten zu lösen: Diskursives Denken kann einen Affekt, der in uns wirklich ist (den wir nicht nur durch Hörensagen kennen), überhaupt nicht überwinden. Wohl aber kann es "die klare Erkenntnis", die, wenn sie ihr Objekt im Weltganzen hat, amor intellectualis dei ist; denn sie ist selbst Affekt, Liebe, innige Vereinigung mit der Sache, Genuß der Sache. "Die eine Liebe wird nur durch die andere, die größer ist, vernichtet" (Traktat II, Kap. 21, Schluß). So gilt hier dasselbe Wort, das EUCKEN einmal für PLOTIN gebraucht (Lebensanschauungen I, Seite 127): "Der Intellektualismus zerstört sich in seiner Überspannung selbst" und "das Erkennen kann sich nur halten, wenn es aufhört, eigentliches Erkennen zu sein und zum Gefühl wird." Oder derselbe Gedanke auf unser Problem gemünzt: Der Wahrheitsbegriff, der zugleich das höchste Gute enthalten soll und dies nicht so, daß das eine ein Teil des anderen wäre wie bei PLATO auf der einen, im Christentum (30) auf der anderen Seite, sonder so, daß die ganze Wahrheit auch als das ganze Gute erscheint, kann zu dieser seiner Eigenschaft nur auf Kosten seiner Reinheit, ja, wir glauben nicht zu viel zu sagen, seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit gelangen. Der aufstrebende naturwissenschaftliche Monismus hat bekanntlich das Studium SPINOZAs in neuerer Zeit wieder sehr lebendig gemacht. Vor allem war es SPINOZAs Kampf gegen den Zweck und die Theologie, der gerade hier Gefallen erregen mußte. Aber gerade hier scheint man den oben bezeichneten Punkt nicht gehörig in Betracht gezogen zu haben. Denn mit dem Wahrheitsbegriff SPINOZAs könnte die Naturwissenschaft nie und nimmer arbeiten, wenigstens so weit nicht, als sie exakt bleibt. Die Wahrnehmung des Naturforschers, die das Objekt in seiner scharfen Begrenztheit erfaßt, an allen seinen Punkten untersuchend sichtet und es dann nicht im Zusammenhang mit dem ganzen Weltall, sondern im Zusammenhang mit anderen ähnlichen Objekten betrachtet, ist von einer Intutione SPINOZAs, die auf einem gefühlswarmen Hingeben an das Subjekt beruth, wobei dann sofort dessen Grenzen verfließen und die Einzelheit unter religiösen Affekten vom Gedanken der Allheit verschlungen wird, gänzlich verschieden. Und doch konnte SPINOZA nur auf Kosten der Reinheit und wissenschaftlichen Brauchbarkeit seines Wahrheitsbegriffs eine rationale Ethik herausbringen. Er mußte die Vernunft so zurichten, daß sie am Leben der Affekte einen Angriffspunkt finden konnte; erst dann hatte sie für die Ethik irgendeine Bedeutung; aber gerade dadurch erhielt dieses seelische Organ Elemente beigemischt, die es zu einem streng wissenschaftlichen Gebrauch untauglich machen. Und nun kann man nicht etwa den intuitiven Wahrheitsbegriff SPINOZAs abweisen und glauben, daß man damit nicht den Lebensnerv der Moralphilosophie SPINOZAs durchschneidet. Auch gegen den Zweck konnte SPINOZA nur kämpfen, weil die Wahrheit ihm höchster und zwar durchaus eudämonistischer Zweck war. (Wir erringen durch den amor intellectualis dei die "wahre Seligkeit".) (31) Indem das Sein selber für SPINOZA jenen Wert in sich trägt, den wir sonst nur als mit der vernünftigen Schöpfung einer Persönlichkeit verbunden denken können, war für SPINOZA kein Platz für den Naturzweck und die Wahrheit als Erkenntnis dieses Seins konnte dem Guten nicht widerstreiten. Wenn nun aber der Materialismus diese Tat SPINOZAs preist, so verkennt er natürlich diesen notwendigen Zusammenhang. Denn SPINOZA mag es noch so oft sagen, Gut und Schlecht seien nur subjektive Erregungen (entia rationis), denen nichts objektives entspricht, er meint dabei immer nur das Gut und Schlecht als Objekt des Begehrens; hinterher bringt er doch einen objektiven Wertbegriff herbei, um seine Philosophie als einen Pantheismus zu retten. Es ist dies der Begriff der "Vollkommenheit" (32). Die Vollkommenheit ist eine Eigenschaft, besser ein Grad des Seins, ein Mehr oder weniger Sein. Die Wahrheit als Erkenntnis des Seins muß also ähnlich ihrem Objekt gleichfalls Gradabstufungen des Wertes in sich tragen. Und in der Tat sagt SPINOZA im Traktak II, Kap. 3, 10:
"Doch auch die wahre Erkenntnis ist nach den Gegenständen, die ihr vorkommen, verschieden, so daß, wie viel besser der Gegenstand ist, mit welchem sie sich vereinigt, so viel besser auch diese Erkenntnis ist und deshalb ist der der vollkommenste Mensch, welcher mit Gott, dem allervollkommensten Wesen sich vereinigt und ihn so genießt."
Das "besser" als eine Eigenschaft des Gegenstandes steht hier zweifellos im Sinne von "vollkommener", wie auch am Ende des Satzes anstatt des erwarteten "das beste Wesen" der Ausdruck "allervollkommenstes Wesen", gesetzt ist. Die Stelle ist für unser Problem sehr wichtig. Denn hier wird der Versuch gemacht, den Wert der Wahrheit zu bestimmen, was auf den sonstigen Grundlagen des spinozistischen Systems, das doch, wie wir gleich anfänglich sahen, Gott und die Wahrheit identifiziert, zunächst fast unmöglich erscheint. Wie die wahre Erkenntnis (als intuitiv gedacht) zugleich höchstes Wertprinzip und doch einer Wertabstufung nach ihren Inhalten fähig sein soll, wozu doch nur ein noch höheres Wertprinzip von qualitativ anderer Art erforderlich wäre, dies ist schlechterdings nicht einzusehen. So zweifelt auch CAMERER in seinem Buch "Die Lehre Spinozas", daß SPINOZA die widerspruchslose Durchführung dieses Gedankens gelungen ist. Wir schließen uns dem völlig an, setzen aber nur noch hinzu, daß dieser Gedanke nach unserer Meinung im System nicht etwa nebensächlich ist, sondern geradezu der Kerngedanke des Systems, mit dem es steht und fällt. Lassen wir diese dunkle Lehre von der objektiven Vollkommenheit der Realität weg, so ist das System kein Pantheismus mehr, sondern einfach Materialismus und zugleich hat das System seine Fähigkeit, eine mehr als utilitaristisch Machtethik (die in ihrer Form weit hinter den späteren englischen Formen an Ausarbeitung und Tiefe weit zurückbleiben würde) aus sich herauszutreiben, völlig eingebüßt. Die einzige Wendung, die sich zumindest als Versuch einer Rettung hier einführen könnte, ist der Vorhalt, daß ja die Grade der Vollkommenheit nur eine quantitative Abstufung der Realität selbst darstellten. Und hierauf werden wir im systematischen Teil noch zu reden kommen. Bis jetzt ist die Stellung SPINOZAs zu unserem Problem, kurz folgendermaßen gekennzeichnet: durch die innige Bindung, in den SPINOZA Wahr und Gut durch seinen Begriff der "klaren Erkenntnis" bringt, ist ein exakt wissenschaftlich brauchbarer Wahrheitsbegriff ebenso ausgeschlossen, wie ein objektives Gutes, das im menschlichen Handeln irgendwie zum Ausdruck kommen könnte. Die Frische und Kraft menschlicher Werturteile wird hier durch eine Moral des tout comprendre, c'est tout pardonner [Alles verstehen heißt alles verzeihen. - wp] (et mépriser [und verachten - wp] wie man meist hinzufügen vergißt) im gleichen untergraben, als die notwendige Nüchternheit wissenschaftlicher Forschung. - In vieler Hinsicht anders, wenn auch bezüglich des intellektualistischen Grundgedankens ähnlich, steht unser Problem bei LEIBNIZ. Auch für ihn ist das Gute eine wahre Erkenntnis. Nouveau Essais II, § 62 heißt es:
"Niemand würde seinen Zustand unselig machen, wenn er nicht durch falsche Urteile dahin gebracht würde."
Erstens nämlich ist das Gute eine angeborene ewige Wahrheit, nicht ein erst durch den Denkprozeß während des Lebens Errungenes. Zweitens aber ist für LEIBNIZ Gefühl und Instinkt selber eine wahre Erkenntnis, nur keine deutliche. Die Schwierigkeit ist gegenüber der Lösung SPINOZAs bei LEIBNIZ dadurch überwunden, daß Affekt und Gefühl aus der gegnerischen Stellung, die es bei SPINOZA dem Denken und seinem Streben nach Wahrheit gegenüber einnahm, herausgedrängt ist und in den Dienst des Denkens gestellt wird, in dem es als eine gebundene Vorform ("Keimbildung") der Wahrheit erscheint. So kann LEIBNIZ, Nouveau Essais I, § 10, in einem Atem von einem "Sozialinstinkt" "der geschlechtlichen" und Elternliebe (storge) und zugleich von diesen angeborenen Neigungen als von "ewigen Wahrheiten" reden. Gerade so wie er etwa in der gelben Farbe ein undeutliches (verworrenes) Denken der Farbenbegriffe "Grün", "Weiß" etc. sieht, so auch in diesen Instinkten ein verworrenes Urteilen: "Man muß die Menschen lieben etc." So ergibt sich durch diese intellektualistische Psychologie, welche die seelischen Tatsachen nicht betrachtet, wie sie sind, sondern sie sofort teleologisch ergreifen und erklären will, für die Ethik eine gewisse Synthese der englischen Gefühlsethik und des deutschen Intellektualismus. In welche Schwierigkeiten LEIBNIZ hierdurch gelangt, das zeigen die Stellen, wo er unser Problem in sehr interessanter Weise behandelt: NE II, Kap. XXI, § 31 - 47, sowie § 62. LEIBNIZ beginnt hier damit, seinen Philalethes auf die Tatsache hinweisen zu lassen, daß wir sehr oft das Gute kennen, ohne danach zu handeln, was er mit der Vorführung einiger Beispiele, wie des Trinkers, der seine schlechte Leidenschaft erkennt, ohne sie abschütteln zu können, illustriert. Hierauf antwortet Theophilus mit einer Theorie, welche die Frage zu beantworten unternimmt. Er sagt:
"Der Umstand, daß man den wahren Gütern wenig zugetan ist, kommt zu einem guten Teil daher, daß bei den Gegenständen und den Umständen, wo die Sinne nicht wirken, unsere meisten Gedanken sozusagen taub sind (auf Latein nenne ich sie cogitationes caecas - blinde Gedanken), d. h. leer von Verständnis und Gefühl' und in der bloßen Anwendung von Zeichen bestehen, wie es denjenigen ergeht, die algebraische Berechnungen machen, ohne daran zu denken, daß die geometrischen Figuren und Wörter von Zeit zu Zeit dabei dieselbe Wirkung haben, als die arithmetischen und algebraischen Zeichen. Man denkt oft in Worten, ohne den Gegenstand im Geist zu haben" (§ 35).
Weiterhin: "Die verworrenen Gedanken lassen sich oft sehr klar empfinden, aber unsere deutlichen Gedanken sind gewöhnlich nur der Möglichkeit nach klar."
Dieser Satz muß jedermann befremden, welcher LEIBNIZ' Terminologie nicht kennt. Die Begriffe, "verworren" - "deutlich" und "klar" - "unklar" gehen hier allem sonstigen Sprachgebrauch zuwider eigentümliche Verbindungen ein. Die "Klarheit" eines Gefühls ist hier diese Seite an ihm, die man gewöhnlich mit "Intensität" bezeichnet. "Verworren" ist dagegen alles Gefühl überhaupt im Gegensatz zu Begriff und Urteil, n dem es von vornherein teleologisch gemessen wird. Die "deutlichen Gedanken", d. h. hier die über das Gefühl hinausgehenden Urteile und Begriffe brauchen nicht (wie man dies nach der herkömmlichen Redensart "klar und deutlich" erwarten möchte) "klar" zu sein. So erscheinen bei LEIBNIZ auch Begriff und Urteil als intensive Größen, die bei gleichem logischen Gehalt "klar" und "weniger klar" etc. sein können. Und kurz vorher:
"Fassen wir sie aber nicht fest ins Auge, so sind unsere Gedanken und Räsonnements, engegengesetzt dem Gefühl (d. h. den verworrenen Gedanken), eine Art von Psittazismus [Papageiensprache - wp], der im Augenblick für den Geist nichts ausmacht, und wenn wir nicht Maßregeln zur Abhilfe dagegen ergreifen, so sind sie wie im Wind verflogen" etc.
Hatte LEIBNIZ oben gesagt; daß wir oft nur in "Worten denken" "ohne Verständnis und Gefühl", so gibt er doch im letzten Satz "Gedanken und Räsonnements zu", die im Gegensatz zum Gefühl für den "Geist nichts ausmachen", d. h. hier unser Handeln nicht bestimmen. Dürfen aber diese Gedanken "blind" und ohne "Verständnis und Gefühl" genannt werden? Ohne Verständnis brauchen sie keineswegs zu sein, um doch ohne Gefühl sein zu können. Kann der Trinker sich nicht sehr klar und deutlich das Gute, das er tun soll, vorstellen, keineswegs in bloßen Worten, sondern in Urteilen und Begriffen, ohne doch ihnen gemäß zu handeln? Uns erscheint es, als hielte LEIBNIZ auch hier, wie es ja auch seiner gesamten Weltanschauung entspricht, den logischen Wert der Begriffe und ihre ihnen anhaftenden Gefühlstöne nicht genügend auseinander, indem ihm das Gefühl ein verworrener Gedanke, der Gedanke ein verdeutlichtes Gefühl ist, wie wir bereits sahen. Die Selbständigkeit der Stellung des Gefühls im Seelenleben und der qualitative Unterschied der Vorstellung vom Gefühl tritt hier viel zu wenig hervor. Und eben aus diesen psychologischen Grundlagen heraus ist auch die Lösung unseres Problems zu verstehen. Zwischen einem bloßen Denken "in Worten" und einem Denken mit "Verständnis und Gefühl" gibt es eben noch ein Mittelding, das recht eigentlich wissenschaftliche Denken, das keineswegs in Worten, sondern in klaren, deutlichen Begriffen, aber ohne Gefühl verläuft. Im Weiteren erweist sich LEIBNIZ keineswegs als Rigorist. So entschuldigt er jenen Assassinenfürsten, den Alten vom Berge, der seine Krieger in tiefem Schlaf an einen reizenden Ort bringen ließ, "wo sie sich im Paradies des MOHAMMED wähnten und durch Engel oder zu Heiligen Verkleidete solche Lehren empfingen, wie ihr Fürst sie bei ihnen wünschte" etc. Er sagt hierzu:
"Aber gesetzt, daß er es verlangt hätte (den Glauben seiner Leute, daß sie im Paradies gewesen seien), so durfte man sich nicht wundern, daß dieser fromme Betrug mehr Wirkung gehabt hat, als die vielleicht schlecht angebrachte Wahrheit."
So erweist sich, im Ganzen gesehen, LEIBNIZ auch unserem Problem gegenüber als der versöhnende Geist, der die reine Aufklärung eines DESCARTES mit dem praktischeren und das Wesen des sittlichen Handelns vielleicht tiefer durchschauenden Geist der Engländer in die Einheit einer Weltanschauung so zusammenschließen möchte, daß er, wo jene beiden Parteien Gegensätze sehen, nur die Stufen ein und desselben, wo jene innere Widersprüche wahrnehmen, eine Entwicklung sieht. Wenn auch LEIBNIZ diese seine Aufgabe mit unendlichem Scharfsinn und der breiten Erfahrung eines tätigen und (im besten Sinne) allen Satteln gerechten Lebens durchführte, so konnte diese Versuch einer Harmonisierung der theoretischen und praktischen Kultur der Folgezeit doch nicht genügen. Viel zu weitgehend und an viel zu vielen Stellen der Vergangenheit war dieser Gegensatz angelegt. Viel zu tief reichte er nicht nur in den Intellekt, sondern in das ganze Gemüt des menschlichen Geistes hinein. Dies hätte er genugsam an seinem Zeitgenossen und Gegner BAYLE sehen können. WINDELBAND sagt (Geschichte der Philosophie, Seite 389):
"In seinem (BAYLEs) Streit mit ihm (LEIBNIZ) war dieser (BAYLE) nicht der unterliegende Teil."
In BAYLEs Seele hatten sich alle jene breit in der Kulturentwicklung angelegten Widersprüche zu einer ungeheuren Heftigkeit und Wucht gesteigert. Der Widerspruch von Glauben und Wissen, aber auch, was noch tiefere Beziehungen zu unserem Problem hat, der Widerspruch von "Erkennen und Ausführen des Guten" (siehe FALCKENBERG, Geschichte der Philosophie, Seite 123) wurden von diesem Geist mehr begrüßt und in Orgien des Scharfsinns gefeiert, als dargelegt und beklagt. Die Lehre von der "zweifachen Wahrheit" gewann hier in nie dagewesener Schärfe einen begeisterten Verteidiger. Das christliche Sittengesetz wurde hier auf die Widervernünftigkeit geradezu basiert und auf dieser Grundlage mit feinster Vernunft verteidigt. Stimmen wir in dem so gegebenen Dualismus mit BAYLE auch völlig überein, so können wir dies doch nicht für richtig finden, daß die Rettung von Glauben und Sittengesetz hier auf Kosten der Vernunft erfolgt. BAYLE war zugleich Skeptiker. Anstatt der Vernunft auf ihrem Gebiet ihr Recht zu lassen, suchte er es auch hier zu brechen. Hatte er die Widersprüche der Vernunft bezüglich der Glaubensobjekte durch die Geltendmachung des alogischen Charakters der Offenbarung und ihrer Gültigkeit trotz allem durch die Gewißheit des sittlichen Gewissensurteils für diese Objekte niedergeschlagen, so waren ja diese Gegenstände gerettet und es war ganz unnötig, wenn er versuchte, Sätze wie: "Jemand, der nicht existiert, kann keine Schuld an einer bösen Tat tragen" oder "zwei von einem dritten nicht verschiedene Dinge sind unter sich gleich", mit Offenbarungssätzen, wie dem Satz von der Erbsünde bzw. jenem von der Trinität widerlegen zu wollen und dies nicht nur für diese Objekte, sondern überhaupt. Ja, man kann sagen, damit verließ BAYLE, der sich doch zur "zweifachen Wahrheit" offen bekannte, im Grunde seinen eigenen Standpunkt, indem er die Vernunftwahrheit an der Offenbarungswahrheit maß und letztere so der ersteren überordnete, daß ihm die Wahrheit unter der Hand zu einer wurde, der religiösen nämlich, während alles wissenschaftliche Erkennen zu einem bloßen Meinen herabsank. Aber eben hierdurch zeigt sich bei diesem vielleicht bedeutendsten Vertreter des Satzes von der zweifachen Wahrheit die völlige Unhaltbarkeit dieses Standpunktes. Eine Lehre, die den Satz vom Widerspruch einfach leugnet (und dies tut der Standpunkt einer zweifachen Wahrheit ohne Zweifel), untergräbt sich selbst ihr Daseinsrecht, denn dieses kann nur wieder auf der Logik fußen, deren oberstes Gesetz das vom Widerspruch ist.
In diesem Zustand einer unleidlich gegensätzlichen Lösung traf das Problem der große KANT an und verstand es auch hier, eine durchaus neue und originelle Synthese zu finden. Darüberkann auch für denjenigen, der sich auch bei diesem Lösungsversuch nicht zu beruhigen vermag, kein Zweifel bestehen. Hierzu waren in seinem Wesen auch durchaus die Vorbedingungen gegeben. Ein Mann, der die exakte Wissenschaft und ihre Methode, wie sie sich bis zu seiner Zeit vor allem in der Mathematik und den allgemeinen Naturwissenschaften, in allgemeiner Physik und Astronomie entwickelt hatte, liebte, ja verehrte und selbst bis zur Meisterschaft beherrschte, der aber andererseits sich nicht wie SPINOZA mit einer sozusagen dem Erkenntnisprozeß nachlaufenden Ethik beruhigen konnte, für den vielmehr die Unvergleichlichkeit sittlicher Würde allem bloßen Wissen gegenüber ein oberstes Axiom seines Lebens, Handelns und Denkens gewesen ist, ein solcher Mann konnte sich auch bei LEIBNIZ' Monismus in dieser Frage so wenig beruhigen, wie bei der Rettung der Sittlichkeit eines BAYLE, die auf Kosten der Wahrheit, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des wissenschaftlichen Urteils erfolgt war. Er konnte auch in seiner Theorie weder die Wissenschaft als einen Nebenertrag wisenschaftlicher Tätigkeit begreifen, sondern mußte dem in der gesamten Kulturentwicklung zutiefst angelegten Gegensatz auch eine theoretische Fassung geben. Ein gewisser Dualismus bezüglich unseres Problems war mit diesen Bedingungen einfach unausweichbar gegeben. Nur um die nähere Fassung konnte noch eine Frage sein. Diese bestimmte Art der Dualität, wie sie KANT aufstellte, hängt nun, wie natürlich, mit seinem gesamten Gedankensystem auf das Innigste zusammen. Sie endgültig und nach allen Seiten hin betrachten und kritisch beleuchten, hieße mehr oder weniger eine Kritik des kantischen Gesamtwerks geben, was unsere Aufgabe nicht sein kann, auch nicht sein könnte. Wir wollen darum nur darauf unser Augenmerk richten, ob der Hauptgedanke bei KANT folgerichtig durchgeführt worden ist. Darüber kann kein Zweifel sein: die Vernunft ist für KANT immer ein und dieselbe. Es gibt nicht eine theoretische und praktische in dem Sinne von zwei verschiedenen geistigen Vermögen, sondern eine Vernunft, die sich nur das eine mal theoretisch, das andere mal praktisch auswirkt. Wie reine Vernunft als theoretische die für sich betrachtet ungeordnete Welt der Empfindungen durch die Tätigkeit ihrer Kategorien zu einer "Erfahrung werden läßt, wodurch ihre Aufnahme in die Einheit des Selbstbewußtseins erst ermöglicht wird, so bringt erst dieselbe reine Vernunft als praktische unser ungeordnetes, schweifendes Triebleben durch dieselbe Tätigkeit in gesetzmäßige Formen.
So scheint es, als betätige sich ein und dasselbe geistige Vermögen nur an zwei verschiedenen Materien, das eine mal an den Empfindungen, das andere mal an den Trieben. Die Leistung der praktischen Vernunft begreiflich erscheinen zu lassen, zu diesem Zweck kommt KANT besonders dies zu statten, daß ja reine Vernunft schon als theoretische sich nicht einfach aufnehmend (rezeptiv) verhält, sondern vielmehr tätig (spontan) die ungeordnete Empfindungsmasse zu einer "Natur", d. h. einem gesetzmäßigen Zusammenhang umschafft. Hierdurch erschein die praktische Vernunft nicht einfach im Gegensatz zur theoretischen, nicht ein qualitativ neues geistiges Tun, sondern nur als deren Fortsetzung; "die Objektsetzung des Willens liegt in der Fortsetzung der Erfahrung; so bleibt sie in der verlangten Verbindung und fällt doch nicht in ihr Gebiet" (NATORP, "Religion innerhalb der Grenzen der Humanität", Seite 41). Soweit wäre die Idee einfach und wohl kaum irgendwie zu beanstanden. Schwierig und dunkel wird die Lösung aber sofort, wenn man frägt, was denn eigentlich diese eine Vernunft mit den verschiedenen "gegebenen" Materien beginnt und ob ihre Bearbeitung derselben auch wirklich die gleiche oder eine verschiedene ist. Und nun behaupten wir: Wenn auch nach KANT das geistige Vermögen ein und dasselbe ist, bzw. sein soll, so liegt der einzige Unterschied in den beiderseitigen Gesamtleistungen der theoretischen, bzw. der praktischen Vernunft dennoch nicht nur in der Verschiedenheit der jeweilig gegebenen Materien, sondern auch in einer Verschiedenheit der Tätigkeiten des Vermögens selbst. Soll nämlich erstens im einen Fall (bei der Gestaltung der gegebenen Empfindungen) die Tätigkeit nur eine ordnende sein, so soll sie im anderen Fall nicht nur eine Ordnung, sondern auch eine partielle Unterdrückung des Gegebenen leisten. Die gegebenen Empfindungen sollen durch die Tätigkeit, welche die Vernunft durch ihre Kategorien an ihnen übt, ja nicht verloren gehen oder auch nur in ihrem Inhalt umgestaltet werden; sie sollen nur in einen gesetzmäßigen raum-zeitlichen Zusammenhang, in eine Ordnung gebracht werden; die Triebe aber sollen durch die Vernunft, soweit es gemäß ihren natürlichen Richtungen angeht, zwar auch in eine gesetzmäßige Ordnung gebracht werden, aber doch nicht nur dieses; einige von ihnen müssen vielmehr direkt unterdrückt werden, wenn nicht von vornherein die Voraussetzung gemacht wäre, daß die Triebe ohne Unterdrückung einzelner in eine gesetzmäßige Ordnung gebracht werden können, eine Voraussetzung, welche KANT unseres Wissens nicht nur nirgends ausdrücklich gemacht hat, der vielmehr seine Überzeugung vom "radikalen Bösen" in der Menschennatur direkt widersprechen würde. So wenig also reine Vernunft eine Empfindung schaffen oder unterdrücken könnte, so wenig vermag sie irgendeinen Trieb zu schaffen oder zu unterdrücken. Hat sie diese Leistung im ersten Fall auch nicht nötig, so hat sie dieselbe doch im zweiten Fall nötig. Die praktische Vernunft, besser die reine als praktische Vernunft, hat also in der Bearbeitung ihrer Materie ein Plus zu leisten, welches die reine Vernunft als theoretische nicht zu leisten braucht. Eine noch weitere Gewährleistung der Richtigkeit dieses Gedankens wäre aber dann gegeben, wenn sich zeigen ließe, daß die reine Vernunft auch bei Gegebenheit der Triebe als Materie ihrer Bearbeitung sich theoretische verhalten kann, so daß bezüglich der Materie zwar alle Bedingungen zur Begriffsbestimmung einer praktischen Vernunft gegeben wären, diese Vernunft in ihrer Betätigung aber doch nicht die "praktische Vernunft" KANTs wäre, weil sie eben dieses Plus nicht leistet. Denn damit wäre gewissermaßen experimentell festgestellt, daß nicht nur die Verschiedenheit der Materien (Empfindungen - Triebe) den Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bestimmen, sondern gemäß unserer Behauptung eine Verschiedenheit der Tätigkeiten der Vernunft im einen und anderen Fall. Dies kann aber in der Tat gezeigt werden. Denn was ist die Vernunfttätigkeit des Psychologen oder irgendeins Anderen, der die ihm gegebenen Triebe zu begreifen, d. h. in ihrer kausalen Aufeinanderfolge zu verstehen sucht, anderes, als eine vernünftige Bearbeitung des Gegebenen (der Triebe) durch die Kategorien? Trotzdem leistet diese Tätigkeit nicht, was die "praktische Vernunft" leisten soll; sie ist nur eine theoretische Vernunfttätigkeit. Das Kennzeichen der praktischen Vernunft kann somit nicht an ihrer Materie gesucht werden. Dieselbe Vernunft muß sich an derselben Materie das eine mal so, das andere mal anders betätigen können. Neuere Kantianer, z. B. NATORP und STAMMLER, suchen diesen Tatbestand dadurch abzuschwächen, daß sie von einer doppelten Objektsetzung" reden; wer setzt aber das Objekt, das gesetzt wird? Ist es die Vernunft? Gut. So kann die Vernunft, wenn sie sich stets gleichmäßig betätigt, ihr Objekt, z. B. den Trieb, auch nur auf eine Weise setzen. Ist es die Vernunft nicht, was ist dann das Setzende? Wir kennen nur Materie und Vernunft und nichts dazwischen. Erstere ist einfach "gegeben" und kann sich nicht selber so oder anders setzen. Letztere kann, wenn sie sich gleich betätigt, immer nur auf eine Weise setzen. Die hier angenommene Tätigkeit der Objektsetzung kann also weder der Vernunft, noch der Materie angehören. Sie schwebt in der Luft. Ist es so gewiß, daß es konsequenterweise verschiedene Tätigkeiten der Vernunft geben muß (nach KANT), so kann man die berechtigte Frage stellen, inwiefern es denn gestattet ist, dann noch von einem geistigen Vermögen zu reden, nämlich "der Vernunft". Denn "als Vermögen" kennen wir doch die Vernunft nicht; wir schließen nur, daß denselben Tätigkeiten ein und dasselbe Vermögen zugrunde liegt; (dies muß selbst derjenige zugeben, der die "Vermögenstheorie" gegen HERBARTs Kritik erhalten haben möchte). Bemerken wir ein (nach Annahme) einheitliches Vermögen an derselben Materie (z. B. den Trieben) Verschiedenes leisten, einmal ein theoretisches Begreifen, das andere mal ein praktisches Ordnen und teilweises Unterdrücken des Trieblebens, so müssen wir eben schließen, daß die Annahme der Einheit dieses Vermögens eine falsche war, daß wir nicht ein, sondern zwei Vermögen vor uns haben. Daß konsequentes Denken die Theorie KANTs an diese Stelle unbedingt hintreiben muß, hat schon SCHLEIERMACHER bemerkt, als er in seinen "Grundlinien zur Kritik der bisherigen Sittenlehre" (Seite 65) über KANT schrieb:
Von der "Zweideutigkeit im Ausdruck eines vernünftigen Wesens, der sowohl bedeuten kann ein solches, welches die Vernunft hat als Vermögen, und ein solches, welches von ihr wirklich getrieben und dessen übrigens von ihr gehabt wird."
Damit aber wird die Stellung unhaltbar. Es muß nun einfach heißen: Entweder es soll beides vom menschlichen Geist geleistet werden: eine tatkräftige Ordnung und teilweise Unterdrückung des Trieblebens und eine völlige Erkenntnis des Wirklichen, dann kann ein und dieselbe Vernunft dies auch nach KANT nicht leisten; das Plus, das die praktische Vernunft unbeschadet ihrer Identität mit der theoretischen leisten sollte, muß dann entweder ein anderes geistiges Geschehen als überhaupt Vernunft oder eine zweite Vernunft leisten. Ersteres wäre das Aufgeben einer rationalistischen Ethik; letzteres wäre die Annahme zweier verschiedener Vernunftvermögen und somit eine Sprengung des einheitlichen Wahrheitsbegriffs, d. h. der Standpunkt der "zweifachen Wahrheit". Oder aber, es soll vom menschlichen Geist nur eine völlige theoretische Vernunfterkenntnis geleistet werden. Dann bleibt es bei der einheitlichen Vernunft. Oder aber, es soll vom Menschen nur die sittliche Ordnung und teilweise Unterdrückung des Trieblebens geleistet werden, dann gibt es wiederum zwar eine Vernunft, aber es hängt nun in der Luft: die Wissenschaft. Die beiden letzten Möglichkeiten sind aber in gleicher Weise unhaltbar. Die Gedankenrichtungen, welche sich in der Folgezeit je einer von beiden annäherten, sanken beide, ganz abgesehen von der Lösung, weit unter die Tiefe und Größe der bloßen kantischen Problemstellung. Die idealistische Philosophie, vor allem FICHTE und HEGEL konnten ohne Künstlichkeit die Methoden einer exakt forschenden Wissenschaft, sowohl der Natur-, als auch der Geschichtswissenschaften, aus sich heraus nicht rechtfertigen, ja, sie versuchten es kaum: diese entwickelten sich vielmehr trotz ihrer Philosopheme. Der Neukantianismus, der sein Hauptaugenmerk auf die theoretische Vernunft richtete, konnte das sittliche Phänomen in seiner Bedeutung nicht rechtfertigen. Somit bleibt nur die erste Möglichkeit, volle Rechtfertigung des sittlichen Phänomens und der exakten Wissenschaft und ihre angegebenen Modi: Erstens das Aufgeben einer rationalistischen Ethik (die etwaige Stellung des Sittlichen auf ein Irrational-Geistiges, z. B. das Gefühl), oder aber der Standpunkt der doppelten Vernunft und damit der "zweifachen Wahrheit". Da letztere Möglichkeit gänzlich unannehmbar ist (wiewohl sie sich in Begriffen wie "Herzens-, Gemüts-Wahrheit" zwar nich so offen (33) und ehrlich wie im Mittelalter und bei BAYLE, aber mit nicht geringerem Belang in der neueren protestantischen Theologie forterhalten hat), so bleibt nur übrig der erste Modus: das Aufgeben einer rationalistischen Ethik.
LITERATUR: Max Scheler, Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien, Jena 1899
Anmerkungen
1)
Man stelle das Wort SCHILLERs gegenüber: "Nur der Irrtum ist das Leben und die Wahrheit ist der Tod."
2)
Vgl. CATHREIN, Moralphilosophie, Bd. 2, Seite 75
3)
Eine Ausnahme macht hier in gewissem Sinne CLEMENS, der vielleicht am weitesten vom echt evangelischen Geist abweicht. Durch den Satz, daß der Erkenntnis die Werke folgen wie dem Körper der Schatten, hebt er die Vernunfterkenntnis zum Mittel eines religiösen und sittlichen Lebens.
4)
Mit Recht sagt hierzu WINDELBAND, Geschichte der Philosophie, Seite 253: "Sie (die zweifache Wahrheit) ist der ehrliche Ausdruck des geistigen Zustandes, der durch den Gegensatz der beiden Autoritäten, unter welchen das Mittelalter stand, der hellenistischen und religiösen Tradition notwendig herbeigeführt wurde."
5)
siehe hierzu KREIBIG, Geschichte und Kritik des ethischen Skeptizismus, Seite 58.
6)
Vgl. die treffliche Monographie über den Probabilismus etc. "Untersuchungen über verschiedene Moralsysteme" von Dr. ALEX LIMBACH.
7)
Man vergleiche die feinsinnigen Ausführungen über die Richtigkeit und Wahrheit bei JHERING, Der Zweck im Recht.
8)
Siehe hierzu LIMBACH, a. a. O., Seite 40
9)
Siehe die Kritik des GROTIUS bei CATHREIN II, Seite 76
10)
Siehe hierzu die trefflichen Bemerkungen JODLs, Geschichte der Ethik, Bd. 1, Seite 82-83.
11)
Zum Beispiel bei GROTIUS die doppelte Ableitung des Ethischen aus der Vernunf und den sozialen Trieben. Später wird hieraus der Kampf des englischen Intellektualismus mit der Gefühlsethik.
12)
siehe CATHREIN II, Seite 75
13)
Ich denke vor allem an ZIEGLER und NATORP.
14)
HUGO GROTIUS, De jure belli et pacis 1 III a. § 11 n. 1
15)
GROTIUS, a. a. O. § 12-16, 17-18
16)
Er kannte die Scholastik sehr gut und sprach es offen aus, was er ihr verdankte.
17)
siehe JODL, a. a. O., Bd. 1, Seite 95
18)
siehe SIGWART, Kleine Schriften II, Die sittlichen Grundlagen der Wissenschaft.
19)
HOBBES, De Cive, Kap. II § 1, Seite 169
20)
JODL, a. a. O., Bd. 2, Seite 129 - 133 benutzt.
21)
Nach JODL, Seite 224, protestiert HUTCHESON gegen diese falsche Auffassung selbst. Er hat den Ausdruck von SHAFTESBURY, bei dem er freilch das Passive einschließt, diesen Ausdruck in Ermangelung eines bessern übernommen.
22)
Nach JODL, a. a. O., Seite 224
23)
JODL, a. a. O., Seite 224
24)
Das Wahrhaftigkeitsproblem konnten wir, um diese historische Einleitung nicht noch länger auszudehnen, bei den einzelnen englischen Denkern nicht berücksichtigen. Es soll der Hinweis genügen, daß die Gefühlsethik hier nicht rigoristisch ist, während die Intellektualethik mehr zu einem Rigorismus neigt.
25)
Man verwechselt sehr oft die Frage, welchen Einfluß die politischen, sozialen und sonstigen Konsequenzen der Reformation für die Entwicklung der Forschung hatte mit der Frage, was sie durch LUTHERs geistige Arbeit profitierte. Die Antwort auf die erste Frage ist: Große. Auf die zweite: Zunächst Nichts.
26)
EUCKEN, Lebensanschauungen, 2. Auflage, Seite 350.
27)
27) Der Satz findet sich übrigens noch an mehreren Stellen des Traktats. So auch Kap. 15, Seite 99.
28)
SPINOZA, Traktat Kap. II, 16, 8
29)
Zuweilen eine naturgesetzliche, zuweilen eine normative (siehe SIGWART, Erläuterungen).
30)
Bei PLATO ist das Gute dem Wahren, im Christentum das Wahre dem Guten subordiniert.
31)
Wir bemerken hier, daß die Identifizierung des Wahren mit dem Guten bei SPINOZA mit seinem Determinismus eng zusammenhängt. Wir können aber dieses Problem hier nicht mehr berücksichtigen, um den Rahmen einer Dissertation, der ja sowieso schon durchbrochen ist, nicht noch mehr zu überschreiten.
32)
Wenn JODL a. a. O. I, Seite 324 sagt: "Gut und Böse, Vollkommen und Unvollkommen seien Begriffe (für SPINOZA), welche für eine objektive Weltbetrachtung keinen Sinn haben", so ist das unrichtig. Der Satz gilt nur für das erste Begriffspaar, nicht für das zweite.
33)
siehe hierzu WINDELBAND, Geschichte der Philosophie, Seite 253: "So war sie (die zweifache Wahrheit) auch in diesen Fällen der ehrliche Ausdruck des inneren Zwiespaltes, in dem sich gerade die bedeutendsten Geister befanden."
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