cr-4R. HaymTrendelenburgvon HartmannB. CroceK. Popper    
 
FRIEDRICH ERNST DANIEL
SCHLEIERMACHER

(1768-1834)
Dialektik

"Es kann kein kunstgemäßes Verfahren geben, zur Übereinstimmung zu kommen, als wenn 1. ein gemeinschaftliches Bewußtsein da ist, und 2. gemeinschaftliche Regeln der Gedankenverknüpfung. Haben wir kein gemeinsames Bewußtsein, so können wir bloß zu der Überzeugung gelangen, daß wir nie zusammenkommen werden; haben wir keine gemeinschaftlichen Regeln des Übergangs von einem Denken zum andern, so kann auch nie Übereinstimmung entstehen."

"Gesprächführen im philosophischen Sinne setzt Verschiedenheit der Vorstellungen als Ausgangspunkt voraus, welchem zwei verschiedene Endpunkte gegenüberstehen, entweder der, daß die Vorstellungen der Gesprächführenden dieselben werden, oder der, daß beide Teile sich überzeugen, das Einswerden der Vorstellungen sei nicht zu erreichen. In beiden Fällen hat das Gespräch ein Ende und die Dialektik als Kunst, ein Gespräch zu führen, kann nichts sein als die kürzeste und sicherste Art, von einem gegebenen Anfangspunkt zu einem dieser beiden Endpunkte zu gelangen. Es kann uns aber nieamls gleichgültig sein, ob wir zum einen oder anderen Ende kommen."

Einleitender Teil

1. Dialektik als Philosophie

Jede gemeinschaftliche Untersuchung leidet am Anfang durch die schwere Aufgabe, einen Anknüpfungspunkt zu finden. - Am meisten die gegenwärtige, weil der Gegenstand derselben gar nicht außerhalb der Untersuchung vorhanden ist, also beide ein und dasselbe sind.

Zuerst sollte wohl eine Erklärung gegeben werden. Andererseits ist deutlich, daß die Erklärung das letzte ist, das ganze Erkennen. Denn ist sie rechter Art, so gibt sie den das Wesen des Gegenstandes darlegenden Begriff, und damit nicht nur sein Verhältnis zu allen anderen, sondern auch seinen rechten Gebrauch. Soll man also mit ihr anfangen, so dreht man sich im Kreis. Dessenungeachtet muß man mit ihr beginnen; es ist dies die zyklische Natur des Erkennens, und es gibt kein Erwerben auf dem Gebiet des Wissens so, daß  ein  Wissen vom andern abgeschnitten wäre, sondern nur so, daß eine allmähliche Verklärung des Wissens entsteht, indem deutlicher, bestimmter, sicherer wird, was man auf einer niedrigeren Stufe des Bewußtsein auch schon hatte.

Da eine Vergleichung des Umfangs und Inhalts der Disziplin auch eine Vergleichung aller üblichen Behandlungsweisen der analogen Gegenstände voraussetzte, wozu eben hier erst die Prinzipien gefunden werden sollen, so läßt sich ein Anknüpfungspunkt nur aufs Geratewohl finden. Dazu liegt der Name (auf PLATON zurückgeführt) am nächsten.

Das Wort Dialektik wird sehr verschieden gebraucht. Im gewöhnlichen Leben wird es durch Sophistik erklärt; Philosophen ist es gemeiniglich die negative Seite der Philosophie. Für uns aber ist sie ein wesentlicher Teil der Philosophie von eigentümlichem Inhalt. Von der Philosophie nun gilt, daß sie ihren Gegenstand außerhalb ihrer selbst nicht aufzuzeigen vermag, folglich gilt dasselbe von der Dialektik.

Dialektik muß irgendwie die Prinzipien des Philosophierens enthalten.

Welcher Teil der Philosophie ist nun die Dialektik? Ehe wir diese Frage beantworten, ist zu zeigen, was Philosophie ist.

Philosophieren heißt im engeren Sinne die Philosophie, d. h. den inneren Zusammenhang allen Wissens machen. Alle Erkenntnis muß mit einem unvollkommenen Begriff ihres Gegenstandes anfangen. Mag sie sich vervollkommnen, ja mag sie sogar das Wesen des Gegenstandes wirklich ergreifen, was wäre das höchste Resultat? Ist man von einem einzelnen Punkt ausgegangen, so kann man nicht dahin kommen, daß das Wesen des Gegenstandes und die Totalität seiner Relationen zu den übrigen Gegenständen ein und dasselbe wäre. Dies ist nur möglich, wenn das Wesen des Gegenstandes von einem Mittelpunkt aus gefunden ist. Darum bleiben alle einzelnen Wissenschaften unvollkommen, wenn nicht über ihnen eine Zentralwissenschaft schwebt, und diese ist eben die Philosophie. Von ihr getrennt, ist alle Erkenntnis, sowohl die der Natur als die der Tatsachen der Menschheit, nur ein Aneinanderreihen des einzelnen. Wie kommt der Mensch zur einzelnen Erkenntnis? Entweder durch Entdeckung oder durch Tradition. Die erste verhält sich aber zur zweiten nur wie ein Minimum, so daß wir unser ganzes Wissen ein traditionelles nennen können, das erst höheren Gehalt bekommt durch die Verbindung mit der Philosophie.

Alles Philosophieren im weiteren Sinne von einzelnen Dingen aus findet nur statt, solange die Philosophie nicht fertig ist. - Philosophie ist also das höchste Denken mit dem höchsten Bewußtsein. - Ich kann nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß meine Zuhörer schon philosophiert hätten, weil ich sonst mit Polemik oder Apologie anfangen müßte. - Wenn ich nun von der Voraussetzung ausgehe, daß sie noch nicht philosophiert hätten, wie soll ich über den Gegenstand mit ihnen reden? - Diese Schwierigkeit drückt Philosophie überhaupt, da doch jeder sein Philosophieren mitteilen soll, und darum ist sie nur im Werden und Gestalten aus dem Chaos heraus. - Unsere Untersuchung sucht also eine Form und einen Namen, und findet den der Dialektik als Prinzipien der Kunst zu philosophieren.

Dialektik heißt dem PLATON  die Kunst, ein Gespräch zu führen.  Nicht die Kunst, jemanden um irgendeines äußeren Erfolges willen zu Vorstellungen zu bringen, die man selbst nicht für die rechten hält, nicht Kunst des Scheins.

Daher richtig, auch den Namen der Dialektik wieder aufzunehmen, welche eigentlich Kunst des Gedankenwechsels ist von einer Differenz des Denkens aus, denn sonst gibt es keinen Wechsel, bis zu einer Übereinstimmung, denn sonst gibt es keinen Schluß.

Dialektik = Kunst des Gedankenwechsels, Kunst, mit einem andern in einer regelmäßigen Konstruktion der Gedanken zu bleiben, woraus ein Wissen hervorgeht. Es könnte wunderlich scheinen, daß die erste philosophische Disziplin einen so speziellen Namen bekam. Es erklärt sich aber leicht. Denn als man die Prinzipien des Philosophierens fand, wurde die freiere Komposition des bis dahin geltenden poetischen Philosophierens bloße Willkür, und aus dieser zu befreien kam der Dialog der sokratischen Schule auf, der ein und dasselbe war mit der wissenschaftlichen Konstruktion. Auch liegt noch etwas Tieferes in dem Namen, ohne welches er gewiß nicht so lange gültig geblieben wäre, nämlich die  Gemeinschaftlichkeit  des Denkens und der Konstruktion, die Identität der Prinzipien und des Verfahrens in allen.

Dialektik = Kunst, ein Gespräch zu führen und zu leiten. Das scheint freilich etwas sehr Spezielles zu sein für einen so großen Gegenstand. Aber ein Gespräch führt man doch nicht, wenn man vollkommen einerlei Meinung ist, sondern nur bei Differenz der Vorstellungen, und das Gespräch soll eben die Differenz aufheben. Demnach die Erklärung gefaßt, ist sie so zu stellen:  Dialektik ist die Kunst, von einer Differenz im Denken zur Übereinstimmung zu kommen. 

Die Dialektik gehört in das Gebiet, welches wir Deutsche mit dem Ausdruck "Philosophie" zu bezeichnen pflegen. Unsere gesamte wissenschaftliche Bildung stammt aber von den Griechen her, deren philosophische Bestrebungen indessen anfangs von den poetischen nicht gesondert waren. Von der sokratischen Schule erst ist die Sonderung ausgegangen, deren Stifter jede Gelegenheit benutzte, das Bewußtsein, daß es bei den Verhandlungen des höheren Denkens an einem gemeinschaftlichen Anknüpfungspunkt fehle, bei allen zu wecken, und denselben mit allen zu suchen. Darauf gründet sich der Name  dialektike,  von  dialegesthai,  und es gibt dazu eine zweifache Ergänzung,  techne  und  episteme,  was aber noch keinen gemeinschaftlichen Ausgangspunkt geben kann, da beide Ausdrücke sehr verschieden gebraucht werden. Es ist also noch eine andere Operation nötig, ehe wir auf den Punkt kommen, uns über unsere Aufgabe und den Charakter des ganzen Unternehmens zu verständigen.

Wir sind uns der Identität der Sprache bewußt. Nicht so, als ob Differenzen nicht möglich wären; wir setzen sie vielmehr voraus, aber nur so, daß sie sich vermöge der Identität lösen lassen werden. Wäre alle möglichen Differenzen vorgekommen und durch Gesprächsführung aufgelöst, so wäre die Sprache absolut identisch geworden für alle, die sie reden, und damit auch das Denken. Gibt es nun auf diesem Endpunkt noch eine  Kunstlehre  des Sichverständigens? Nein. Solange er aber noch nicht erreicht ist, muß es eine Anweisung darüber geben, wie er mit Sicherheit von jedem Punkt aus erreicht werden kann. Ergänzen wir  episteme,  bleiben aber genau beim Ausdruck des Sichverständigens stehen, so ist hier  episteme  dasselbe wie  techne,  denn das Sichverständigen ist ein Tun und also dabei von einem Verfahren die Rede, und beide Ausdrücke sind nur bestimmte Arten und Weisen, wie das, was durch  Denken  bezeichnet wird, in der Wirklichkeit auf eine zeitliche Weise vorkommt. Ist nämlich der Endpunkt erreicht, ist aller Zweifel gelöst, egal, ob in einem einzelnen durch einsames, oder in mehreren durch gemeinsames Überleen, so ist die Sprache vollkommen sich selbst gleich und fest geworden und ein vollständiges Wissen entstanden, sofern man sich des Verfahrens und der Regeln dabei bewußt geworden ist, d. h. sofern man nach derselben Kunstlehre zu Werke gegangen ist, und das zeigt uns das Verhältnis, in welchem beide Ergänzungen zueinander stehen.


2. Dialektik als Lehre von
der philosophischen Wissensbildung

Welche Mittel gehören dazu, von der Differenz im Denken zur Übereinstimmung zu kommen? Hier kommen wir auf die beiden Hauptpunkte der Philosophie zurück. Denn es kann kein kunstgemäßes Verfahren geben, zur Übereinstimmung zu kommen, als wenn 1. ein gemeinschaftliches Bewußtsein da ist, und 2. gemeinschaftliche Regeln der Gedankenverknüpfung. Haben wir kein gemeinsames Bewußtsein, so können wir bloß zu der Überzeugung gelangen, daß wir nie zusammenkommen werden; haben wir keine gemeinschaftlichen Regeln des Übergangs von einem Denken zum andern, so kann auch nie Übereinstimmung entstehen. Beide Punkte sind also  conditiones sine qua non  [Grundvoraussetzungen - wp] für die Aufhebung der Differenzen im Denken. Ebenso klar aber ist, daß man mit beiden dazu vollkommen ausreicht. Denn ist ein gemeinsames Denken gegeben, von wo aus es eine Reihe gibt, in welcher der Gegenstand, über den Differentes gedacht wird, liegt, und sind gemeinsame Regeln des Verfahrens gegeben, so müssen die Gesprächführenden notwendig an ein und demselben Ziel mit Bewußtsein ankommen. Mit beidem ist aber notwendig auch die Kunst gegeben, und am besten wird sie üben, wer am schnellsten den andern auf das Gemeinsame zurückführt unter beständiger Vorhaltung und Geltendmachung der Regeln, die gemeinsam anerkannt sind. Was also die alten unter dem Namen  Dialektik  dachten, das wollen wir aufstellen, nämlich  das ursprünglich Gemeinsame im Bewußtsein und die gemeinsamen Regeln des Verfahrens lediglich als Kunst der wissenschaftlichen Konstruktion.  Dies scheint einerseits mehr, andererseits weniger zu sein, als eine Kunst der Gesprächsführung. Denn Gespräch bedeutet auf etwas einzelnes, wissenschaftliche Konstruktion auf ein Ganzes, ferner wissenschaftliche Konstruktion auf ein Individuum in der Betrachtung, Gespräch auf mehrere. Allein im wesentlichen ist es eins.

Gesprächführen im philosophischen Sinne setzt Verschiedenheit der Vorstellungen als Ausgangspunkt voraus, welchem zwei verschiedene Endpunkte gegenüberstehen, entweder der, daß die Vorstellungen der Gesprächführenden dieselben werden, oder der, daß beide Teile sich überzeugen, das Einswerden der Vorstellungen sei nicht zu erreichen. In beiden Fällen hat das Gespräch ein Ende und die Dialektik als Kunst, ein Gespräch zu führen, kann nichts sein als die kürzeste und sicherste Art, von einem gegebenen Anfangspunkt zu einem dieser beiden Endpunkte zu gelangen. Es kann uns aber nieamls gleichgültig sein, ob wir zum einen oder anderen Ende kommen.

Die  Kunst des Gesprächs  setzt eine Differenz der Vorstellung voraus und kann entweder bei der Identität enden, oder bei der Überzeugung, daß eine solche nicht möglich sei. Das letztere Ende ist aber immer nur provisorisch. Denn Gleichgültigkeit gegen die Differenz ist entweder  moralisch  - aber die ist nur erlaubt, wenn ein anderer, näher stehender, die Pflicht übernimmt, und dann bleibt doch die Aufgabe selbst unverringert - oder  technisch,  und dann sollen auch die Hindernisse gehoben werden.

Mit dieser Kunst des Gesprächs sollen aber nach platonischer Ansicht auch die  höchsten Prinzipien des Philosophierens  und die  Konstruktion der Totalität des Wissens  gegeben sein. Frage: Inwiefern kann dies vorläufig eingesehen werden? Die Kunst des Gesprächführens ist auch die des Lesens und Schreibens, was die Gedanken betrifft, ja auch die der eigenen Gedankenentwicklung und Gedankenänderung. Wenn wir nun aber denken, daß einige in einigem bis dahin gekommen sind, daß sie zu wissen (d. h. ihre Gedanken nicht mehr ändern zu können) glauben, und ist dies wirklich wahr, so sind sie zu diesem Wissen nur durch die Kunst des Gesprächführens in jener weiteren Bedeutung gekommen. Da sie nun am Anfang des Prozesses den Unterschied zwischen dem vollkommenen und unvollkommenen Denken nicht kannten, also auch die Prinzipien des Wissens nicht hatten, so sind sie ihnen mittels dieser Kunst entstanden und müssen sich also in derselben mit ergeben.

Daß aber mit der Dialektik auch der Zusammenhang alles Wissens gegeben sei, liegt noch nicht hierin. Daß nun einiges mit einigem zusammenhängt, ist für sich klar. Alles aber hängt nur untereinander zusammen, wenn mit dem Wissen über  einen  Gegenstand in demselben Menschen nicht Unwissenheit oder Irrtum oder verworrenes Denken über einen anderen Gegenstand zusammen sein kann. Inwiefern dies der Fall ist, erhellt sich, wenn wir uns dahin zurückversetzen, wie einer dazu kommt, seine Gedanken über einen Gegenstand zu ändern. Es gibt nämlich keine andere Genesis dieser Veränderung, als wenn die Sache einmal in einer anderen Beziehung betrachtet wird. Wie überhaupt alle Differenz hieraus entsteht (oder aus einem bloßen Verrechnen, welche keine Veranlassung zum Gesprächführen gibt). Wenn also alle Differenzen über einen Gegenstand durchgesprochen sind, so muß auch feststehen, in welchem Zusammenhang er betrachtet werden kann und in welchem nicht, indem in jedem Gespräch entweder  ein  Zusammenhang gesetzt und ein anderer geleugnet wird, oder ein zweifacher gesetzt wird. Daß aber alles Wissen unter sich in einem Zusammenhang steht, erhellt sich aus folgendem vorläufig. Gesetzt, es gäbe einen, so könnte auch alles Wissen als  eines  angesehen werden, und alle Teilungen wären nur relativ. Nun ist dies aber wirklich die beständige Behandlungsweise. Jedes Gebiet wird bald als Teil, bald als Ganzes behandelt; also ist wenigstens die Gestaltung allen menschlichen Wissens aus dieser Voraussetzung entstanden. Es erhellt sich aber auch so, daß, wenn einiges mit einigem zusammenhängt, entweder mittelbar jedes mit allem zusammenhängt, oder einiges völlig isoliert sein muß; das letzter aber findet nicht statt. Besteht nun ein allgemeiner Zusammenhang, so entsteht er nur allmählich, und zwar nur in der Gesprächsführung.

Es ist noch die Einwendung übrig, daß Prinzipien und Zusammenhang zwar  während  des Gesprächs, aber nicht durch die Regeln desselben entstehen. Aber dann müßten die Prinzipien entweder aus einem anderen Gedankenprozeß entstanden sein, oder man müßte sie in sich ausgeprägt fertig und unverkennbar finden, was aber nicht der Fall ist. Und ebenso müßte der Zusammenhang äußerlich nachgewiesen werden können, was aber auch nicht der Fall ist, so wenig als ein falscher äußerlich als solcher erwiesen werden kann. Entsteht also beides im Übergang vom fragmentarischen und verworrenen Denken zum Wissen, so entsteht es auch durch die Kunst des Gesprächführens. Probe davon ist auch dieses: Jedes Gespräch vermindert die Aufgabe der Dialektik. Fragen wir nun, wann wird gar kein Gespräch mehr entstehen? so ist die Antwort: wenn alle alle Prinzipien haben und allen Zusammenhang. Also ist beides durch alle Gespräche geworden.

Prinzip und Zusammenhang kommen uns nicht nur während des Gesprächführens, sondern auch durch dasselbe. Denn wir fangen allen an bei zerstreuten Punkten, also kann uns der Zusammenhang nur während des Fortschreitens kommen. Ebenso fangen wir alle an bei verworrenen Vorstellungen mit der Unfähigkeit, Sicheres und Unsicheres zu unterscheiden; also kann uns diese Unterscheidung, d. h. die Prinzipien des Wissens, nur während der Fortschreitung, d. h. während wir unsere Kunst üben, kommen. Das erste gewisse Wissen ist das Entgegensetzen des Ich und anderen, und der erste Zusammenhang ist der der Moment und Funktionen des Ich. Von da geht erst die Möglichkeit des Gesprächführens an.

In der Vollendung ist also Massentotalität, Unveränderlichkeit mit vollkommener Gewißheit gedacht. Endlich auch vollkommener Zusammenhang. Vereinzelte wissenschaftliche Massen genügen nicht. Denn entweder ist der Zusammenhang nur noch nicht gegeben - dann ist er entweder postuliert, und also die Vollendung nicht da, oder der Gegensatz zwischen Gewißheit und Ungewißheit ist noch nicht entwickelt (wenn man ihn nämlich nicht bemerkt), und also auch keine Vollendung da. Oder er kann nicht gemacht werden. Aber dies geht nicht an, da ja doch alles seinen Zusammenhang in der Seele haben muß.

Folgerungen,
    a) daß man nicht eher etwas weiß, bis man alles weiß, und wir also unsere Kunst nicht eher haben, bis wir sie nicht mehr nötig haben. Das heißt aber doch nur, daß wir sie nicht vollkommen haben. Über die Nichtigkeit der Ansprüche deren, welche einen vollkommenen Besitz vorgeben.

    b) daß, insofern mit dem vollkommenen Besitz auch die Vollendung des Wissens gegeben ist, dann  die Regeln des Verfahrens  mit jedem beliebigem Denken  und die Prinzipien der Konstruktion allen Wissens dasselbe  sind. Dagegen scheint zu sprechen, daß die ersten Regeln alle Menschen brauchen und gewissermaßen selbst haben.
Es gibt ein allmähliches Aufsteigen des Bewußtseins (a) von den verworrenen Wahrnehmungen des Kindes (b) durch die traditionelle Auffassung wissenschaftlicher Elemente (c) zur Philosophie oder der vollkommenen Entwicklung des Bewußtseins. - Die realen Wissenschaften scheinen zwar zwischen  b  und  c  zu liegen; allein Wissen ist doch jedes nur, inwiefern es von Philosophie durchdrungen ist.

Das Erkennen des Menschen fängt als ein verworrenes an. So ist es in der Kindheit. Je mehr sich der Mensch das aneignen, was andere vor ihm hervorgebracht haben, das Verworrene sondern, sich in seinen Vorstellungen zurechtfinden und sie in ein bestimmtes Verhältnis zu seinen übrigen Tätigkeiten setzen. Aber immer noch gehen seine Erkenntnisse nicht zu einem Ganzen zusammen, immer noch bleibt ihm das Gefühl, daß die verschiedenen Gebiete jedes für sich ihr Wesen treiben, und daß es bei Berührung derselben Streit gibt. Dadurch wird allmählich rege, was, wie im ganzen Menschengeschlecht, so immer auch in jedem einzelnen lange geschlummer hat, das Verlangen, diesen Widerstreit aufzuheben und einen allgemeinen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gebieten des Wissens zu suchen, um jedes für sich und alle gleichmäßig zu begründen, das Verlangen nach der Philosophie. Diesen Gemütszustand müssen wir in allen voraussetzen, in welchen ein wissenschaftliches Streben ist. Ist nun so alles Wissen von Philosophie abhängig, so entsteht die Frage nach dem Wie.

Die fragmentarische Verworrenheit des Anfangs hängt zusammen mit der Ungespanntheit des Gegensatzes zwischen Gewißheit und Ungewißheit.

Jedes einzelne Wissen hängt auf eine zweifache Weise vom philosophischen ab; inwiefern es sich auf ein früheres Wissen bezieht als Verknüpfung, und inwiefern es sich auf einen Gegenstand bezieht, als den innersten Gründen des Wissens und seines Zusammenhangs mit dem Sein unterworfen.
    a) Jedes einzelne Wissen steht im Zusammenhang mit einem andern und hat seine Wahrheit in der Wahrheit dieses bestimmten Zusammenhangs, d. h. es hängt ab vom Besitz allgemeiner Regeln der Verknüpfung des menschlichen Denkens, welche, für alle verschiedenen Gebiete des Wissens dieselben, nur der Philosophie angehören können. Das ist also das erste, wodurch jedes Gebiet des Wissens mit ihr zusammenhängt.

    b) Jedes Wissen hat doch einen Gegenstand, und ist nur wahr, insofern es zu diesem Teil des Seins dasselbe Verhältnis hat, welches im allgemeinen stattfindet zwischen Wissen und Sein. Und dieses Bewußtsein von einem allgemeinen Verhältnis zwischen Wissen und Sein ist eben so etwas über alle einzelnen Gebiete des Wissens Hinausliegendes, was aber in allen dasselbe ist, und kann also auch nur der Philosophie angehören. Diese soll uns also über das Verhältnis des Denkens zum Sein gewiß machen und die sicheren und untrüglichen Regeln der Verknüpfung des Denkens an die Hand geben. Wo wir in einem Teil des Wissens auf diese beiden Punkte ausgehen, da wollen wir das eigentliche Wissen produzieren, das reale Erkennen mit Philosophie durchdringen. Bei näherer Betrachtung aber werden wir sehen, sind beide Punkte nur ein und dasselbe, so daß das Wesen der Philosophie nicht in einer Duplizität, sondern in einem Einfachen wurzelt.
Die Regeln der Verknüpfung, wenn man sie wissenschaftlich besitzen will, sind nicht von den innersten Gründen des Wissens zu trennen. Denn um richtig zu verknüpfen, kann man nicht anders verknüpfen, als die Dinge verknüpft sind, wofür wir keine andere Bürgschaft haben, als den Zusammenhang unseres Wissens mit den Dingen.

Es ist also beides ein und dasselbe. In der Anwendung aber kann es geschieden sein. Da kann ich die eine Form vorziehen und die andere fahren lassen, aber nur im Einzelnen. Im Ganzen müssen wir immer beides für dasselbe erkennen. Dennoch beruth auf der Trennung beider Fragen über den Grund der Zusammenstimmung des Denkens und des Seins und über den Grund der Verknüpfung des Denkens die Hauptgestaltung, die man seit langer Zeit der Philosophie gegeben hat. Nämlich die Kenntnis des Grundes von der Verknüpfung des Denkens für sich betrachtet, ist die sogenannte Logik, und die Einsicht von der Bewährung des Zusammenhangs zwischen Denken und Sein überhaupt ist die sogenannte Metaphysik.

Die Einsicht in die Natur des Wissens, als auf die Gegenstände sich beziehend, kann sich in nichts anderem aussprechen und verkörpern, als in den Regeln der Verknüpfung. Denn Sein und Wissen kommen nur vor in einer Reihe von verknüpften Erscheinungen.

Aus dem allgemeinen Zusammenhang aber folgt, daß man nichts weiß, bis man alles weiß, ja daß man auch die Prinzipien des Wissens nicht eher hat. Das erste ist für sich klar, weil sich ein Wissen von seinem Zusammenhang mit anderem nicht getrennt haben läßt. Das andere erhellt sich so: Wenn wir annehmen, man könnte beides ohneinander, so ist klar: wer Zusammenhang sucht ohne Prinzipien, der sucht  Erfahrung welche an sich kein Wissen ist. Wer Prinzipien sucht ohne den Zusammenhang des Wissens, der sucht nur  Formeln.  Aber diese hat er dann nicht als ein Wirksames, also auch nicht als ein Gewußtes. Wo also beides getrennt ist, ist überall das Nichtwissen, also auch die Prinzipien unvollkommen. Solange wir aber noch nichts wissen, können wir auch unsere Kunst selbst nicht wissen, d. h. wir haben sie nicht eher, bis wir sie nicht mehr brauchen können. Deshalb aber dürfen wir unser Unternehmen nicht aufgeben; denn es heißt nicht mehr, als daß alles noch unvollkommen ist, und daß wir nur des Punktes bewußt werden können, auf dem die Sache steht und sie etwas weiter fördern.

Dies ist weniger, als wir erwartet haben, vielleicht aber ist doch das Ganze mehr. Denn Prinzipien und Zusammenhang ist dasjenige, was wir Philosophie nennen, und so bekommen wir mit unserer Kunst auch die ganze Philosophie. Es ist die Frage, ob wir das wollen. Aber keiner, der sich überhaupt mit einem Gebiet des Wissens beschäftigt, kann den Einfluß der Philosophie auf dasselbe entbehren. Denn er kann sonst nur Materialien sammeln; denn jede Vorstellung, worin weder Prinzipien noch ein Zusammenhang angedeutet sind, ist nur ein Material. Wenn man aber den Einfluß einer Philosophie mit verarbeitet, ohne selbst zu philosophieren, so ist man nur das Organ eines anderen. Es scheint zwar so, daß man die Kunst der Gesprächsführung auf jedem wissenschaftlichen Gebiet gebrauchen könnte, auch abgesehen von ihrem spekulativen Gehalt; allein dann könnte man sie auch nur auf das Material als solches anwenden.


3. Dialektik als Theorie dem
praktischen (empirischen) Wissen gegenüber.

Dessenungeachtet muß jeder Wissenschaftler philosophieren, weil sonst sein Wissen nur ein traditionelles sein kann; aber keiner soll bloß philosophieren, weil er sonst in einem toten Formelwesen (Scholastik) oder in unreifen Grübeleien (Mystik) vergehen muß.

Interesse an einzelnen Zweigen ist, wenn nur auf Liebhaberei begründet, eigentlich Praxis; wenn aber als Berufsart in Beziehung auf eine allgemeine Organisation, dann aus Wissensinteresse.

Wie aber mit denen, für welche die wissenschaftliche Laufbahn überhaupt nur ein Durchgang ist ins höhere tätige Leben? Über die doppelte Klage, welche in dieser Hinsicht immer die Praktiker und die Philosophen geführt haben. Beide Unrecht, und gut, so wie es ist, daß sie alle eine Zeit lang philosophieren, um hernach den Gang der Wissenschaft in ihrem Wirkungskreis immer begleiten und benutzen zu können.

Es entsteht jetzt die Frage, wer soll philosophieren? Jeder, der auf ein Wissen im höheren Sinne des Wortes Anspruch macht; sonst ist er mit seinem Wissen nur Durchgangspunkt traditionell erworbener Massen, die sich durch ihn fortpflanzen sollen. Für wen? für den, der ebenso philosophiert. Wird aber die Frage so gestellt: Sollen wir alle Philosophen sein? so möchte ich doch erst fragen, was man darunter versteht. Philosophen von Profession können nicht alle sein. Denn wie es überall eine Differenz gibt zwischen solchen, die etwas als Hauptgeschäft treiben, und solchen, denen es nur Nebengeschäft ist, so auch auf dem Gebiet der Philosophie. Aber die Differenz ist nicht groß, denn
    a) kann das Philosophieren der letzteren kein anderes sein, als das der ersteren. Jede Wissenschaft kann von einem einzelnen Punkt anfangen, die verschiedenen Wissenschaften gehen dann aber nicht zusammen, sondern sind in Streit miteinander, sofern sie von der Philosophie getrennt sind. Die Philosophie soll diesem Mangel begegnen, soll den durchgängigen Zusammenhang hervorbringen, und die gemeinsame Begründung des Ganzen und jedes einzelnen für sich. Die Philosophie ist also die innerste Tiefe der menschlichen Erkenntnis, weil sie die gemeinsame Begründung und den gemeinsamen Zusammenhang alles anderen ergibt, und wer philosophier, sucht diesen Zusammenhang und diese Begründung. Demnach gibt es auch nur dieses eine in der Philosophie und nicht auch noch ein anderes, und wenn es Zeiten gegeben hat, wo man (im sogenannten populären Philosophieren) diesen Zusammenhang und diese Begründung jeder von einem anderen Punkt aus gesucht hat, ohne gerade ein System zu wollen, so war damit nur der Fortschritt des eigentlichen Philosophierens gehemmt, das immer entweder von einem schon gefundenen oder auf ein noch zu findendes System ausgehen muß. Steht es aber so, daß jeder, der sich über das bloß traditionelle Auffassen erheben will, sich dieser Operation des Philosophierens, d. h. des Suchens nach einem allgemeinen Zusammenhang, nicht entheben kann, so wird auch kein wesentlicher Teil der Philosophie gedacht werden können, den nicht jeder umfassen müßte. Ebenso aber ist

    b) deutlich, daß sich niemand bloß mit dem Philosophieren beschäftigen darf. Wie sollte es doch auch zugehen, daß jemand bloß philosophierte? Entweder wäre er ein Schwergebärender, der schlechthin nur im Suchen bliebe. Einem solchen könnten wir aber nur von seinem Streben abraten und ihm sagen, er habe nicht mit dem guten Willen seiner Natur diesen Beruf erwählt. Oder ein Vielgebärender, der aber eins seiner Kinder nach dem andern aussetzt. Die neuere Zeit hat uns auch solche Männer gezeigt, aber wir könnten ihnen nichts anderes sagen, als jenem, nur in einem anderen Sinne. Ist nun aber der rechte Philosophe weder das eine noch das andere, so muß es doch wohl nur Schein sein mit seinem Immerphilosophieren, und in der Tat sind Männer solcher Art zu gleicher Zeit immer Künstler gewesen in fortdauernden Darstellungen  der  Art, wie sich ihnen der Zusammenhang allen Wissens gebildet hatte. War das aber so, dann waren sie nicht im Philosophieren begriffen, sondern in seiner bestimmteren oder allgemeineren Bearbeitung der menschlichen Seele, also ebenso gut in einer Praxis, wie irgendein anderer. Wenn wir denn nun sagen können, daß der Philosoph von Profession zugleich ein praktischer Mann sein muß, wenn er auch nur Philosoph sein will, wo bleibt dann der große Unterschied zwischen ihm und einem solchen, der nur nebenher philosophiert, wenn dieser wirklich philosophier und jener wirklich ein Gebiet des Lebens bearbeitet? Sie rücken einander sehr nahe.
Es findet sich stets Feindschaft des empirischen Wissens gegen die Philosophie. Verblendung. Es hat auch immer eine Feindschaft des praktischen Interesses gegen die Philosophie gegeben, und von diesem Standpunkt aus ist gesagt worden, es solle schon philosophiert werden, aber mit Maß. In Namen der Staatsmänner hat dies schon KALLIKLES im  Gorgias  vorgetragen. Zu unserer Zeit ist auch auf dem religiösen Gebiet Feindschaft gegen die Philosophie eingewurzelt, und auch hier sagt man, es dürfe nur in einem gewissen Maß philosophiert werden, wenn nicht die übrigen Elemente des menschlichen Daseins im einzelnen Menschen verstimmt werden sollten. Dagegen haben die Philosophen immer das Motto gestellt, man solle einen tüchtigen Zug aus dem Becher nehmen, oder gar nicht kosten. Daß keine dieser Maximen geradezu falsch ist, jede aber doch auch nur eine sehr relative Wahrheit hat, ergibt sich aus dem vorigen.

Betrachten wir den gegebenen Zustand des Wissens, wie es nur wenige gibt, die die rein formale Richtung auf das Wissen zu ihrem Beruf machen, so werden entweder bei der allgemeinen Verbreitung des Wissens die meisten nur die Nachbeter jener wenigen sein, oder die einzelnen können nur untereinander in Streit sein. Denn jeder hat einen besonderen Ausgangspunkt als ursprünglichen Einfall. So ist auch die geschichtliche Erscheinung. Je lebendiger der Trieb der Philosophie und also je schneller die verschiedenen Systeme aufeinander folgen, desto zufälliger erscheinen die Anfangspunkte; je mehr aber  ein  System dominiert, desto mehr erstirbt der philosophische Trieb.

Unsere Unternehmung ist nicht nur für die wenigen, welche mit der Vernachlässigung sowohl des einzelnen Wissens als der anderen Interessen sich der allgemeinen formalen Konstruktion befleissigen. Je mehr solche gleichzeitig sind, desto willkürlicher ist die Darstellung; je mehr sich einer alle aneignet, desto mehr tritt das spekulative Talent zurück.

Wie verhalten sich nun die Spekulierenden zu denen, welche nicht dazu gelangen?  Wenn die meisten nur im praktischen versieren, so nehmen sie auch die Grundlage nur traditionell auf, und das ist nicht als ein Denkakt zu rechnen. Die ursprüngliche Entstehung der Grundlage geht aber auch vom  Wissenwollen  aus. Dasselbe gilt von der ästhetischen Seite. Der Unterschied zwischen bewußtloser Kraftäußerung und entwickeltem Bewußtsein an anderen Beispielen auseinandergesetzt. Der Übergang aus jener in dieses ist also der Anfang der Spekulation.

Allem Denken, das nicht bloß traditionell ist, liegt das  Wissenwollen  zugrunde. Wenn viele nur die Resultate des Denkens anderer ihrem Bewußtsein einpflanzen wollen, so ist das keine ursprüngliche Denktätigkeit; wo eine solche ist, auf welchem Gebiet auch immer, also auch auf dem Gebiet des praktischen Lebens und der Kunst, da geht sie vom Wissenwollen aus, und das Maximum der Differenz zwischen den Spekulierenden und denen, die von der Spekulation abstrahieren, ist nur dieses, daß in letzteren eben dasselbe ist als lebendige Kraft auf bewußtlose Weise, was in jenen zu einem bestimmten Bewußtsein entwickelt ist.

Der erste Moment ist der der  Ungewißheit,  der zweite der der  Gewißheit.  Die Aufgabe, zum zweiten zu gelangen aus dem ersten, entsteht einigen um eines bestimmten Zwecks willen, anderen lediglich um des Denkens selbst willen. Nur die letzteren haben die Richtung auf das  Wissen  überhaupt. Ihre Lebensweise ist nach den ältesten griechischen Philosophen die beschauliche, wogegen die anderen entweder der genießenden oder der praktischen zugetan sind und also das Denken nur als Mittel brauchen zum Genießen und Handeln.

Wir suchen eine  Kunstlehre,  eine Methode, aus streitigem Denken identisches zu bilden, und  Prinzipien,  feste sichere Anfänge, auf die zurückgeführt werden muß, um verschiedene Gedanken, die mit gleichen Ansprüchen auftreten, richtig zu würdigen. Wie verhält sich dieses Unternehmen zu jenen drei Lebensweisen? Dem Genießenden ist es offenbar ganz fremd. Der Handelnde bedarf seiner, aber nur soweit er der Verständigung mit anderen benötigt ist. Daher ansich nichtige Bezeichnungen und Einteilungen, wie Kraut und Unkraut, zahme und wilde Tiere. Es ist also nur aus dem Standpunkt des Beschaulichen zu rechtfertigen, dessen Interesse kein anderes ist, als das Wissen selbst, und der nicht eher zur Ruhe kommt, als bis über alle Gegenstände ein gemeinsames Denken erzeugt und allgemein anerkannt ist, also bis die Totalität aller menschlichen Sprachen erschöpft ist und alle Differenzen erledigt sind.


4. Dialektik als Einheit
von Logik und Metaphysik

Philosophieren = Feststellung des Wissens in Beziehung auf das Sein, und Feststellung der Verknüpfung allen Wissens; worin alles Wissen, was nicht schon auf ein reales Gebiet des Wissens übergegangen ist, aufgehen muß.

Die Metaphysik vor KANT dehnt sich in viele Disziplinen aus und scheint mehr zu enthalten, als jenes erste Element unserer Philosophie. Aber genaugenommen doch nicht. Ihr Gegenstand war der Begriff des Dings, des Geistes, der Gottheit. Der Begriff des Dings ist aber eben der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Begriff und Sein, der Begriff des Geistes das Subjekt des Wissens, dasjenige, worin der Komplex des Denkens und der Übergang des einen zum anderen Denken als solchem gesetzt ist; von allem Wissen, das einen bestimmten Inhalt hat, wurde doch immer abstrahiert. Und die Idee der Gottheit ist doch nur der letzte Grund für das Wesen des Geistes und des Dings und der Grund des Zusammenhangs beider. Die Logik dagegen war das andere Element unserer Philosophie. KANT polemisierte wohl gegen die Metaphysik, ging aber doch davon aus, das eigentliche Wissen sei die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein, und zeigte nur, daß jene Art, dies klar zu machen, nämlich das Wesen des Geistes als Subjekt und das Wesen des Dings als Objekt in ein organisiertes Wissen auseinanderzulegen, nichts tauge, denn das letzte Wissen sei nicht hinter, sondern nur im realen Wissen. Seine Polemik richtet sich also nur gegen jene Form und ist eine Annäherung an die unsrige.

Also Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transzendentale Philosophie, ist keine Wissenschaft, und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkürliche und phantastische.

Man kann also auch nicht die Logik den anderen Wissenschaften voranschicken und die Metaphysik hinterher.

Geschichtlich, wie vor PLATON beides getrennt gewesen wäre, das  eine  mehr rethorisch und politisch, das andere mehr poetisch-produktiv; von PLATON vereinigt, von ARISTOTELES wieder getrennt, dessen Logik als Antisophistik endigt. Die aristotelische Teilung hat fortgedauert bis KANT, welcher fand, daß die metaphysischen Prinzipien für sich nicht begründet wären. Dies hat dann allmählich die Rückkehr bewirkt; aber darum habe ich auch zweckmäßig gefunden, ohne mich an Mißverständnisse zu kehren, zum alten Namen zurückkehren.

Die Trennung hat angefangen, ich will nicht sagen bei ARISTOTELES, wohl aber durch den mißverstandenen Gebrauch des ARISTOTELES, und endet damit, daß man das Streben nach einer organisierten Philosophie aufgegeben und das Philosophieren zu einem Raisonnieren über einzelne Gegenstände gemacht hat, wobei man sich zuletzt auf das Gefühl berief, also das alles andere Wissen Begründende selbst auf einem Nichtwissen beruhen ließ.

Wie verhält sich denn dem Inhalt und der Form nach die Dialektik der alten zur bisherigen Logik und Metaphysik? Die Logik ist ihr der Form nach ähnlich, denn sie will eine Kunstlehre sein. Allein sie enthält nicht das andere philosophische Element, das ursprüngliche, gemeinsame Bewußtsein. Die Metaphysik dagegen enthält dieses andere Element, aber als ein Wissen, wogegen die Dialektik bloß auf dem Gebiet des realen Wissens ein Wissen konstruieren will. Allerdings ist also Dialektik ihrem Inhalt nach Logik und Metaphysik, aber nicht Aggregat von beiden, sondern beides in der Form der Logik. Dagegen sind neuerdings Versuche gemacht worden, beides zu vereinigen in der Form der Metaphysik, d. h. als ein Wissen, worin zugleich die Regeln des Verfahrens enthalten und woraus sie abzuleiten seien.

Die Logik ist nur eine kritische Disziplin. Man wendet sie nicht an zum Komponieren, sondern, wenn eine Gedankenreihe gegeben ist, diese zu beurteilen. Sie gibt Regeln, nach welchen erkannt werden kann, ob ein Begriff den gehörigen Grad der Klarheit, ein Urteil den des Umfangs, ein Schluß den seiner Bündigkeit habe; sie ist, wie man sich auszudrücken pflegte, Kanon des Denkens. Das ist für die Dialektik, die alle willkürlichen Kombinationen vernichten und die Konstruktion des Wissens selbst sein will, nur eine große Nebensache.

Die Metaphysik jener Zeit, in der man die Philosophie teilte in Logik und Metaphysik, stellt das höhere Wissen, worauf sich das reale stützen soll, als eigentliche Wissenschaft auf. Wenn ich aber etwas weiß, was einer Begründung bedarf, und ich weiß den Grund des zu Begründenden bedarf, und ich weiß den Grund des zu Begründenden, so ist jenes erste Wissen nur eine Folge dieses Wissens des Grundes. Leiten wir also unser Wissen des endlichen Seins ab von einem Wissen des Unendlichen als seines Grundes, so können wir nicht weiter sagen, daß unser Wissen des einen ein anderes sei als das des andern; denn das Wissen des Endlichen ist nur dann eine Fortsetzung des Wissens um das Ursprüngliche. Und eben diese Aufgabe, das Reale vom Transzendenten abzuleiten, haben sich die meisten neueren Systeme gestellt. Aber diese Aufgabe der regenerierten Metaphysik ist auch nicht die unsrige. Damit soll nicht gesagt sein, daß die gewöhnliche Logik keinen Wert habe, auch nicht, daß jene Ableitung unmöglich sei, sondern wir lassen dies nur dahingestellt sein, und müssen also von Anfang an die Art, wie wir das Transzendente in uns tragen, unterscheiden von der Art, wie wir das Gegebene in uns tragen. Wir wollen die letzten Gründe allen Wissens nur als die Gesetze, wie wir überhaupt zu einem Wissen auf realem Gebiet gelangen; auf dem Gebiet des Gegebenen allein wollen wir ein wirkliches Wissen konstruieren im Gegensatz gegen das bloße Meinen.

Daß logische und metaphysische Prinzipien eins sind, würde ganz klar zu machen sein, wenn man auch umkehren und sagen könnte: während wir den Zusammenhang allen Wissens bilden, müssen uns auch die logischen Regeln entstehen. Aber das können wir nicht, da wir mit jenem nicht anfangen können, indem wir metaphysische Prinzipien auch nur in der Form von Sätzen aussprechen können, welche auch in der Gesprächsführung entstehen. Wir gehen also apagogisch [indirekter Beweis aus der Falschheit des Gegensatzes - wp] zu Werke und Fragen: gesetzt die metaphysischen Prinzipien entständen anders, so hingen sie also auch mit allem, woran wir die logischen Regeln suchen, gar nicht zusammen.

Versuch mit metaphysischen Prinzipien allein.  Erläuterung an SPINOZAs erster Proposition. Sie erscheinen als Tatsache in einem einzelnen Bewußtsein nur willkürlich, bis sie mit dem allgemeinen Denken in eine sichere Übereinkunft gebracht sind. Die Bewährung kann dann am Ende durch sich selbst kommen. Aber dann müssen auch die Regeln gefunden sein, wenn man nicht zwei völlig getrennte Gebiete annehmen will. Auf solche Weise wird auch philosophiert. Dies gibt aber eine gänzliche Trennung zwischen allem praktischen und dem spekulativen Gebiet, wobei das eine vertrocknet und das andere sich entgeistigt.

Versuch allein mit logischen Regeln.  Dann auf diesem Gebiet beständiger Wechsel der Ansichten, der nur weiter führen kann, wenn doch im spekulativen Geist gehandelt wird. Am Ende aber muß doch beides wieder zusammen.

Von unserer Voraussetzung aus entsteht aber wieder eine untergeordnete Duplizität. Die Metaphysik ist  Wissenschaft,  die Logik ist  Kunstlehre.  Man kann die Wissenschaft finden wollen, indem man die Kunstlehre macht; man kann die Kunstlehre finden wollen, indem man die Wissenschaft macht.

finito
LITERATUR - F. D. E. Schleiermacher, Dialektik, Berlin 1903