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CARL STUMPF
Vom ethischen Skeptizismus

"Gewiß beeinflussen metaphysische Gedanken die Lebensstimmung, die Energie, mit der wir das Gute vollbringen, in hohem Maß und ich bin weit davon entfernt, den unvergleichlichen Wert der Überzeugungen über eine höhere Ordnung der Dinge, in die unser empirisches Dasein hineinragt, in Abrede zu stellen. Nur gerade, wo es sich um die wissenschaftliche Grundlegung der Ethik handelt, um eine Mauer gegen den Skeptizismus, da ist es weder ratsam noch möglich, sich darauf zu stützen. Ratsam nicht, weil hier mit aller Kraft das gemeinsame Minimum einer ganz unleugbar tatsächlichen Wahrheit an die Front gestellt werden muß. Aber auch nicht möglich, weil es immer zu Zirkelbeweisen führt, wenn man unmittelbar Gegebenes durch nicht unmittelbar Gegebenes begründen will."

"Alle Wortkünste Nietzsches wiegen den schlichten Satz nicht auf, der die wahre Grundformel auch für unsere Zeit und das Geheimnis aller Größe enthält: Nur wer seine Seele verliert, wird sie gewinnen."


Hochansehnliche Festversammlung!

Unsere Universität gedenkt heute, wie alljährlich zu dieser Stunde, ihrer Stiftung und ihres Königlichen Stifters. Sie gedenkt der schweren Zeiten, aus deren Not sie entsprang, und der tiefen Einsicht, die in der Erneuerung des geistig-sittlichen Lebens die Arznei für den erkrankten Körpter der Nation erkannte. Der kräftige Herzschlag aber, der diesem Körper über die Krisis hinweghalf, war unleugbar kein anderer als der kategorische Imperativ. Für die ältere Generation noch in seiner ursprünglichen Form, für die Jugend in der ungestüm energischen Weiterführung durch FICHTE oder in den Umbildungen, die SCHILLERs künstlerische, harmonisch ausgleichende Natur verlangt hatte. Niemals hat eine aus einsamer Denkarbeit und persönlichem Pflichtgefühl geborene philosophische Ethik in einem so kurzen Zeitraum so reiche praktische Früchte getragen.

Selbstbesinnung, Rückkehr zu den Wurzeln unserer ganzen höheren Existenz ist aber nicht bloß erforderlich in Zeiten der Bedrängnis. Sie ist noch notwendiger in einer Zeit, da eine große politische Machtstellung und industrielles Gedeihen scheinbar oder wirklich begleitet werden von einer zunehmenden Zerbröckelung der Fundamente unseres inneren Lebens. Weite Kreise sind heutzutage erfüllt von einem ethischen Skeptizismus, dem alle Überlieferung kraftlos, alle Vorschriften wandelbar und umbildungsbedürftig erscheinen. Ansich ist es kein schlechtes Zeichen, daß das Bedürfnis, die Fundamente zu erneuern, in einer solchen Stärke hervortritt. Aber die neuen Gesetzestafeln, die der und jener aufstellen, haben auch nur den Wert von Dogmen, für den Skeptiker also keinen. Wem eine geschichtliche Autorität nichts mehr ist, wer sachlich überzeugt sein will, für den gewinnen Ratschläge und Befehle, seien sie auch in Marmor gegraben und vergoldet, wie die blendenden Sprüche NIETZSCHEs, nur Kraft, wenn es gelingt, sie mit festen wissenschaftlichen Grundlagen, an denen nicht zu rütteln ist, in eine einleuchtende Verbindung zu setzen.

Warum nun soll es unmöglich sein, solche Grundlagen zu finden? Warum sollen wir von einer wiedererwachten, ernsten und gründlichen Philosophie nicht auch eine allmähliche Klärung dieser schweren praktischen Fragen erhoffen? Werden nicht die emporstrebenden Geisteswissenschaften, voran die Kulturgeschichte und die Völkerkunde, uns helfen. Licht in dieses Dunkel zu bringen und die leitenden Sterne zu entdecken?

Auf den ersten Blick scheint die vergleichende Völkerkunde die Wirrnis nur zu vermehren. Gab schon im Altertum die Verschiedenheit der Sitten unter den Völkern zu skeptischen Bedenken Anlaß, so ist seit dem Zeitalter der geographischen Entdeckungen der Glaube an allgemein menschliche, angeborene oder durch sich selbst einleuchtende, sittliche Grundsätze vollends erschüttert. Bereits LOCKE hat in seiner Polemik gegen angeborene Begriffe auf entsetzliche Gebräuche in anderen Erdteilen hingewiesen. Skeptische Folgerungen lagen ihm allerdings fern. Aber MONTAIGNE hatte bereits vor ihm aus den gleichen Tatsachen skeptische Schlüsse gezogen, und viele sind ihm seither darin gefolgt. Ist doch das Tatsachenmaterial in dieser Richtung immerfort gewachsen. Heute läßt sich fast zu jeder Handlung, die wir gut nennen, eine entgegengesetzte aufzeigen, die bei anderen Völkern gut genannt wird, während unsere sittlichen Ideale dort der Verachtung begegnen.

Indessen nur für sehr oberflächliche Geister ist damit alles erledigt. Andere finden sich zu einem anhaltenden Nachdenken veranlaßt: diese Nachdenken braucht aber nicht in einem skeptischen Zusammenbruch zu enden. Wenn der Naturmensch eine Handlung, die wir mißbilligen, lobt, wer sagt uns, daß sein Lob eine ethische Billigung im heutigen Sinn bedeutet? Vielleicht gibt es diesen Standpunkt für ihn noch nicht, vielleicht hat er nicht ein anderes, sondern überhaupt noch kein Gewissen. Ein so ausgezeichneter Forscher wie JOHN LUBBOCK (Lord AVEBURY) hat den Naturvölkern fast jede ethische Regung abgesprochen. Geht seine Zuversicht vielleicht zu weit, so kann man doch die Berechtigung der Frage nicht leugnen. In künstlerischen Dingen hat schon FECHNER betont, daß die Verschiedenheiten des Geschmacks nicht notwendig so groß sind, wie sie anfänglich erscheinen. Denn natürlicherweise sind bei der Gestaltung von Bauwerken oder Gerätschaften zuerst nicht Geschmacksrücksichten, sondern praktische Beweggründe maßgebend. Ähnlich kann es bei den Handlungen sein, die wir jetzt und von unserem Standpunkt als ethische betrachten.

Aber nehmen wir einmal an, daß die Herzen der Menschen uns offen ständen, daß wir darin ohne Gefahr des Mißverständnisses lesen könnten, und daß wir tatsächlich die verschiedensten Handlungen von ethischer Billigung im gegenwärtigen Sinn des Wortes begleitet fänden: so würde auch dann nur folgen, daß unter verschiedenen Lebensumständen verschiedene Handlungsweisen wahrhaft gut sein können; ein Lehrsatz, für den die Völkerpsychologie zwar die eindruckvollsten Belege liefert, der aber auch unabhängig von ihr bewiesen werden kann. Denn die Handlungen gehen, wie schon ARISTOTELES sagt, auf das Einzelne, das Einzelne ist aber unendlich verschieden, daher können gleichförmige Regeln nur innerhalb bestimmter Lebensverhältnisse und selbst da nur durchschnittlich gelten.

Inwiefern die Lebensumstände verschiedene sittliche Ideale bedingen können, ist im allgemeinen nicht schwer verständlich. Die reiche und feine Gliederung der Gesellschaft, die Fülle des Wissens, der Kunst, des Verkehrs, alles, was wir Kultur nennen, muß auch die ethische Beschaffenheit einer Handlungsweise und den ethischen Wert einer Einrichtung für uns in einem anderen Licht erscheinen lassen wie für die Naturvölker. Es ist mit den ethischen Forderungen wie mit den Vorstellungen vom Himmel. Der Himmel des Indianers hat keinen Wert für den Türken, der des Türken wie der des Indianers keinen für den Christen. Auch wenn wir allgemein-menschliche Ideale anerkennen, muß doch immer sozusagen die Mischung und die Dosierung, das Rezept für eine bestimmte Bildungsstufe, dieser Stufe angepaßt sein. Es gibt eine temporale, eine lokale, eine nationale Ethik. Und so wird auch ohne Zweifel die Ethik der kommenden Zeiten nicht ganz dieselbe sein wie die der vergangenen. Dies kann aber, richtig verstanden, nicht zum Skeptizismus führen, sondern nur von ihm erlösen. Es muß uns mit dem Zutrauen erfüllen, daß die künftige Ethik der vergangenen nicht einfach entgegengesetzt, sondern nur ihre konsequente und stetige Fortentwicklung sein wird, ebenso wie die Lebensbedingungen selbst sich im allgemeinen stetig entwickeln.

Dem Primitiven mag es beispielsweise, soweit er ein ethisches Gefühl besitzt, verwerflich genug erscheinen, daß das Leben in tausend Paragraphen eingeschnürt wird, wie sie zu einer modernen gesellschaftlichen Orndung nun einmal erforderlich sind, und wie sie selbst im sozialdemokratischen Zukunftsstaat erforderlich sein würden. Dafür genießt aber der Mensch der Kulturstaaten eine Freiheit, um die ihn die farbigen Jäger wohl beneiden dürften, seine Geistesfreiheit. Ich kann dies nicht besser als mit den Worten OSCAR PESCHELs ausführen, dem schon der letzte Satz angehört:
    "Die Herrschaft des Unglaubwürdigen ist nirgends stärker als im Gemüt des sogenannten Wilden, und er zittert durch das ganze Leben von den Gebilden seiner eigenen Imagination. So war unser Geschlecht vor die Wahl gestellt: Sklaven zu werden innerhalb der bürgerlichen Ordnung, aber frei zu sein von den Bedrängnissen der Einbildungskraft, oder aller geselligen Fesseln ledig als einzige Freiherren Jagdreviere zu durchstreifen, aber dafür eingeschüchtert zu werden von jedem fratzenhaften Traum und der kindischen Gespensterfurcht eine Beute zu bleiben."
Und wie das Freiheitsideal verschiedene Formen annimmt, so geht es auch mit anderen, etwa den sexuellen Idealen. Daß das Schamgefühl dem Naturmenschen völlig fremd ist, daß dann bei der Verhüllung einzelner Teile ganz andere als ethische Motive wirkten, daß erst allmählich die europäischen Schambegriffe entstanden sind: dies ändert nichts an der Tatsache, daß das so entwickelte Schamgefühl nun einmal in unseren Verhältnissen, wenn man von unvernünftigen Übertreibungen absieht, ganz unentbehrlich ist. Wer möchte auch nur vom ästhetischen Standpunkt aus die Rückkehr zu den Sitten der Botokuden ertragen, und würde nicht eine solche ästhetische Abstumpfung allein schon auch einen unendlichen moralischen Verlust bedeuten?

Auch unsere monogamische Ehe, so lästig sie von manchem empfunden wird, gehört zu den Bedingungen für die Verwirklichung der höheren Menschheitsziele. Sie ist eine Fessel, aber eine, durch die unzählige segensvolle Kräfte frei werden, die sonst gebunden bleiben würden. Der Entwicklungsprozeß schreitet auch in sexueller Hinsicht nicht im Sinne von Lockerung, sondern der Festigung freiwillig geschlossener Bande voran, indem er nur die Freiwilligkeit selbst und damit das Verantwortlichkeitsgefühl, die Kraft der Überlegung und der Durchführung einmal gefaßter Willensentschlüsse steigert.

Immer also und in allen Beziehungen werden unbestreitbare Vorzüge des alten Zustandes preisgegeben, um größere, tiefer liegende zu erkaufen. Für das ungezügelte Spiel physischer Kräfte sind die ins Unendliche steigerungsfähigen Güter eingetauscht, die den Menschen vom Tier und den Kulturmenschen vom Naturmenschen scheiden.

Selbstverständlich darf nicht behauptet werden (obgleich es behauptet worden ist), daß  alle  Verschiedenheiten der Sitten und Gesetze, die wir in der Geschichte und in der gegenwärtigen Menschheit vorfinden, sich für die betreffende Zeit und Örtlichkeit aus den Lebensumständen ethisch rechtfertigen lassen. Vielmehr treffen wir, je unzivilisierteren Zuständen sich die Betrachtung zuwendet, umso mehr öffentlich anerkannte Gebräuche an, die nur auf Vorurteilen oder finsterem Aberglauben ruhen, wie die Hexenprozesse, wie die Selbstquälereien der Büßer, wie die weitverbreiteten Bestrafungen von Tieren, die Blutrache, die Menschenopfer. Auch die übermäßige Strenge der Strafbestimmungen hängt nicht immer mit stärkeren Nerven oder der Notwendigkeit einer kräftigeren Abschreckung, sondern viel häufiger mit religiösem Aberglauben oder despotischer Willkürherrschaft zusammen. Die Sonderung solcher außerethischer Motive von den ethischen ist begreiflicherweise schwer, umso schwerer wiederum, je weiter wir zurückgehen, weil dann eben das Vorkommen eigentlich ethischer Motive überhaupt immer zweifelfhafter wird. Aber soweit jene Sonderung möglich ist, können Betrachtungen, wie die vorher erwähnten, über die notwendige Verschiebung der ethischen Ideale mit dem allgemeinen Kulturzustand gewiß Überzeugungskraft in Anspruch nehmen. Die völkerpsychologischen Verschiedenheiten in ethischer Hinsicht rechtfertigen also nicht einen skeptischen Verzicht, sondern lehren uns nur, die ethischen Erscheinungen im Zusammenhang mit allen übrigen zu betrachten. Ändert sich das Gewissen, so ist es doch als tatsächlicher Faktor des Seelenlebens im allgemeinen immer nur stärker und zugleich differenzierter geworden.

Wenn wir den Wortvorrat der gegenwärtigen europäischen Sprachen auf die ethischen Prädikate hin untersuchen, namentlich auf die mißbilligenden, vom bloß Unschönen, Schmählichen, Niederträchtigen, so findet darin eine Reihe scharf charakterisierter Gefühle ihren Ausdruck, die sich innerhalb einer jeden Grundrichtung, der billigenden wie der mißbilligenden, untereinander nach Stärke und nach Färbung unterscheiden, gleich den Farben des Regenbogens. Nun erscheint zwar auch unter uns dieselbe Handlungsweise dem einen schon niederträchtig, die der andere nur als unfair oder als "contra bonos mores" [wider die guten Sitten - wp] bezeichnet. Aber es pflegt doch wenigstens die Richtung des Gefühls, ob positiv oder negativ, insoweit die nämliche zu sein, als der Radikalste wie der Konservativste auf zahlreiche Handlungsweisen mit billigenden, auf andere mit mißbilligenden Wertgefühlen reagieren. Die Existenz dieser vielfarbigen, aber im allgemeinen gleichgerichteten Wertgefühle, deren Gesamtheit das Gewissen in eine populären Wortsinn ausmacht, kann also, abgesehen von den Fällen einer extremen  moral insanity nicht in Frage gestellt werden. Sie darf in der Zeit der Tatsachenverehrung beanspruchen, als eine Tatsache ersten Rangs und als eine wirkungsgewaltige reale Kraft anerkannt zu werden. Woher "der Götter ungeschriebenes, unerschütterliches Gesetz" in unsere Brust gekommen ist, wissen wir vielleicht besser als  Antigone,  vielleicht auch nicht: sicherlich ist es nicht weniger da als zu ihrer Zeit und behauptet sich unabhängig von Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Der Ehrenhafte meidet Unehrenhaftes, schon um den  Erinnyen  der Selbstverachtung zu entgehen.

Gerade an diesem Punkt aber setzt der ethische Skeptizismus aufs Neue mit einem furchtbaren Angriff ein.
    "Ein solches Verhalten, das als höchste Blüte der Moral gepriesen wird, ist es nicht schließlich doch nur ein verfeinerter Epirkureismus? Wenn ich das Schlechte meide, um der Selbstverachtung zu entgehen, ist dies etwas wesentlich anderes, als wenn ich die Trunkenheit meide um des leidigen Katzenjammers willen? Gewissensbisse sind von Übel, und wer sie sich nicht abgewöhnen kann, der muß eben die Veranlassungen dazu umgehen. Ein kategorischer Imperativ liegt hier nicht vor, nur ein hypothetischer, eine Klugheitsregel."
So könnte der Skeptiker sprechen, und noch folgendes kann er hinzufügen:
    "Alle diese Gefühle haben einen illegitimen Ursprung. Wir hören von Psychologen der empiristischen Schule in England, am klarsten und trockensten von ALEXANDER BAIN, daß ursprünglich nur die Furcht vor einer Strafe die Befolgung gewisser von den Herrschern oder der Gesellschaft um der Nützlichkeit willen aufgestellten Vorschriften erzwang, daß diese Vorschriften Tradition wurden, daß die Erinnerung an das ursprüngliche Motiv allmählich schwand, und so zuletzt die Vorschriften um ihrer selbst willen, als Gebote eines sogenannten Gewissens, ausgeführt wurden, ganz ebenso wie zahlreiche rein zeremonielle, jetzt vielleicht ganz zwecklose, Handlungen Sitte geworden sind, und ihre Unterlassung von der Gesellschaft übel vermerkt wird. Sittlichkeit ist nichts anderes als die Befolgung der Sitte ohne Rücksicht auf ihren Ursprung. Ist dies aber wirklich der Weg, auf dem der Götter ungeschriebenes Gesetz in unsere Brust gekommen ist, dann muß für einen, der sich den Ursprung der Gebote vergegenwärtigt, ihre Verbindlichkeit aufhören. Bloß überlieferten und anerzogenen Gefühlen ohne wahrhafte rationale Grundlage fehlt die letzte Sanktion, die der denkende Mensch verlangt."
Aus solchen Erwägungen heraus hat in der Tat PAUL RÉE gefolgert, daß für den Einsichtigen und nicht von der Gewohnheit Beherrschten das Gewissen wegfällt. Meines Erachtens ist der darin konsequenter gewesen, als die gewöhnlichen, sehr zahlreichen Anhänger derselben Erklärungsweise. Liegt es so, daß eine edle Gesinnung diese ihre Eigenschaft nur durch ein Zusammenwirken von egoistischer Furcht mit Vergeßlichkeit erhält, dann ist das einzig Vernünftige die Besinnung auf diese Wurzeln und die Befreiung von jenem historisch-pädagogischen Betrug, der uns einen inneren selbständigen Wert uneigennütziger Regungen vorspiegelt. Dann fällt die Rücksicht auf Gebote und Verbote zumindest in solchen Fällen weg, wo tatsächlich keine staatliche oder gesellschaftliche Strafe zu erwarten ist, wo wir Entdeckungen sicher nicht zu fürchten haben.

Man hat zwar darauf hingewiesen, daß selbst der aufgeklärteste Naturforscher, obgleich er nicht an Gespenster glaubt, sich doch bei der Nacht des Gruselns nicht erwehren kann. Aber das ist eine starke Übertreibung und dazu ein schlechter Trost. Denn wenn wirklich die ernsten Aussprüche des Gewissens nichts anderes wären, als ein solches törichtes Gruseln, ein Überrest geistiger Unkultur, so müßten wir sie sicherlich loszuwerden versuchen. Daher führt ein solcher Rettungsversuch nur tiefer in den Skeptizismus hinein.

BAIN selbst hat den schwachen Punkt seiner Deduktion nicht übersehen. Er nimmt darum von vornherein die sympathischen Gefühle, die sozialen Instinkte, mit zu Hilfe, die er mit DARWIN als eine ursprüngliche Mitgift der menschlichen Natur vom Tierreich her betrachtet. Auch RÉE, der BAIN gelesen hat, benutzt dasselbe Hilfsprinzip. Diese sympathischen Gefühle sind nach BAIN zwar individuell verschieden, aber wo immer wir einen Menschen treffen, der das Glück anderer als ein selbständiges Ziel betrachtet, da muß man ihn sorgsam diesen seinen Impulsen überlassen. Also sagt ihm ja nichts von ethischer Wissenschaft, laßt ihn nicht nachdenken über die letzten Gründe der moralischen Vorschriften, sonst wird er selbstsüchtig!

Wir sehen, daß auch diese Ausflucht gleichbedeutend ist mit der Vernichtung aller rationalen Ethik. Die für Sympathie Begabten dürfte man nicht in ihrer Gedankenlosigkeit stören, die nicht dafür Begabten aber erst recht nicht, da ihre natürliche selbstsüchtige Anlage durch die theoretischen Kenntnisse nur verstärkt werden müßte.

Noch ein anderes Bedenken richtet sich gegen die Herleitung der Sittlichkeit aus der Macht der Überlieferung und dem Wegfall egoistischer Reflexionen. Wäre es so, dann wäre unser moralisches Handeln nur ein mechanisches Tun nach bestimmten gleichförmigen Schablonen, während doch wahre Sittlichkeit, wie KANT mit Recht sagt,  niemals  zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll." Sie ist stets der Natur des einzelnen Falls gemäß und keineswegs immer in Übereinstimmung mit der Überlieferung. Was sollten wir zu den größen Kämpfern sagen, wie GIORDANO BRUNO, wie LUTHER, was zu den Tausenden, die einer geheiligten Überlieferung zum Trotz allein dem folgten, was sie als gut und recht erkannten, obwohl es ihren persönlichen Interessen zuwiderlief und den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit, dazu noch oft genug den Christen eine Todsünde war? Gerade in Konflikten mit der Überlieferung tritt die Übergewalt ethischer Gesinnung am reinsten zutage. Was soll uns hier die Macht stumpfer Gewohnheit, was auch die angeborene Gutmütigkeit zur Erklärung helfen!

Demnach ist die volle Lösung des ethischen Rätsels sicherlich nicht bloß in der beliebten Formel zu finden, Sittlichkeit sei die Tochter der Sitte. Die Erforschung des Ländlich-Sittlichen und seiner Entwicklungsgeschichte ist  Völkerpsychologie,  aber sie ist noch keine Ethik.

Was ihr dazu fehlt, geht aus den letzten Betrachtungen hervor. Gerade das, was nach jener falschen Auffassung im Laufe der Zeiten weggefallen wäre, muß heute noch, und mehr denn je, das Wesentliche sein, wenn überhaupt eine wahrhaft ethische Entwicklung existieren soll: die  Einsicht.  Diese Einsicht kann aber nicht bloß darin bestehen, daß man Gutes tut, Schlechtes unterläßt, weil altüberkommene Gefühle das Tun und Lassen begleiten (obgleich auch eine solche Reflexion, wenn sie bewußt und ausdrücklich angestellt wird, das Handeln schon über die Stufe bloßer Instinkttätigkeiten hinaushebt). Vielmehr müssen die Gefühle selbst auf Erkenntnis ruhen, von Erkenntnis durchdrungen sein, und nur insofern werden sie ethische heißen dürfen. Es muß Handlungen oder, richtiger gesagt, Gesinnungen geben, deren innerer Wert unabhängig von allen äußeren Geboten und Gewalten jedem, der sehen kann und nicht die Augen schließt, entgegenstrahlt.

Und so ist es auch. Mit KANT und mit Sokrates teilen wir die Überzeugung, daß das moralische Handeln sich als ein im höchsten Sinn einsichtiges von allem bloß instinktiven oder gewohnheitsmäßigen Handeln unterscheidet. Nur darin können wir KANT heute nicht mehr beistimmen, daß er dem obersten Prinzip, auf das er alle ethischen Einsichten zurückführt, eine rein formalistische Fassung gibt. Darüber sind wohl die Akten geschlossen. Aus dem kategorischen Imperativ, so wie ihn KANT selbst verstanden hat und seinem ganzen Standpunkt nach verstehen mußte, ist nicht ein einziger Fall ethischer Entscheidung wirklich herzuleiten, und seine eigenen Herleitungen kommen nur durch ein verdecktes Hineinspielen anderer Erwägungen zustande. Nicht in der bloßen Form, sondern in der Materie des Wollens müssen die Wurzeln der ethischen Einsicht gesucht werden, in idealen Gütern oder Werten.

Wahrheit in all ihren Formen, von der elementarsten, wie sie durch jede richtig verstandene Sinneswahrnehmung gegeben wird, bis zu den höchsten wissenschaftlichen Erkenntnissen, Schönheit in allen ihren Erscheinungsweisen, reine Daseinsfreude, Liebe und Treue, Vielseitigkeit, Freiheit, Tüchtigkeit in aller Hinsicht, Macht, reife Persönlichkeit - wer möchte leugnen, daß hierin wahre Güter liegen? Man kann eine solche Gütertafel, wie sie schon PLATO vorschwebte, in verschiedener Anordnung entwerfen. Man wird nicht alle hier schlicht aufgezählten Werte einfach koordinieren, sondern einige davon als ganz unmittelbare, andere dagegen als abgeleitete, die einen gleichsam als selbstleuchtende, die anderen als bloß reflektierende Sterne betrachten. Aber daß sie leuchten, daß sie allen leuchten, die sie sehen können und nicht die Augen schließen, steht außer Frage. Die Meinungsverschiedenheiten unter den heutigen Moralphilosophen gelten zumeist nur der Frage, die wir hier beiseite lassen können, ob eines von diesen Gütern als das allein unmittelbare zu gelten hat, und welches. Selbst die Umwerter aller Werte können nichts weiter tun, als daß sie einige davon mehr, andere weniger betonen oder eines als den Urquell aller anderen betrachten. Sie malen zuletzt mit den selben Farben und kochen mit denselben Stoffen.

Wohl ist nun von den Sternen zur Erde ein weiter Weg, und ehe wir aus den allgemeinen abstrakten Wertbegriffen Wertmaßstäbe für den einzelnen Fall des Handelns gewinnen, bedarf es vieler Zwischenglieder. Im einzelnen Fall kann infolge der konkreten Umstände eines der Güter außer Betracht fallen. Wir müssen vielleicht die Freiheit, die Gesundheit opfern oder Mitleid und weiche Herzensregungen unterdrücken. Es treten sozusagen Koeffizienten auf, durch die augenblicklich einer der Werte alle übrigen überragt, ein anderer annulliert wird, indem eben der Koeffizient Null wird; und daraus muß sich jene wohlberechtigte Relativität begreifen lassen, die dem absoluten Wert der abstrakt gedachten Güter keinen Eintrag tut, ihn aber je nach den Umständen der Zeit, des Volkes, des Einzelnen und des Augenblicks modifiziert.

Es treten ferner eigentümliche erkenntnistheoretische Fragen auf, so die Frage nach dem Wesen jener Gefühlsevidenz, jener Durchdringung von Fühlen und Erkennen, auf die alles hier zurückläuft. Auf dieses Problem hat unter den Philosophen FRANZ BRENTANO die Aufmerksamkeit gelenkt und es durch die Parallele mit der theoretischen Evidenz erläutert. Es ist auch durch meinen Amtsvorgänger vor Jahresfrist an dieser Stelle behandelt worden. Aber die Schwierigkeiten, die darin liegen, können nicht die Tatsache der ethischen Gefühlsevidenz selbst verdunkeln.

Weiterhin muß man verlangen, daß diese Tatsache, deren Aufzeigung zunächst eine rein deskriptive Angelegenheit ist, mit den kausalen Bedürfnissen und zumal mit der Entwicklungsidee in ihrem ganzen Umfang in Beziehung gesetzt wird. Die besonderen Probleme, die hier entstehen, können, wie ich glaube, nur durch die Vorstellung gelöst werden, daß auf geistigem Gebiet an gewissen Punkten Neubildungen eintreten; eine Vorstellung, zu der man von vielen Seiten her, nicht bloß von der Ethik aus, gedrängt wird. Als eine solche Neubildung würden wir das Auftauchen einsichtiger Wertgefühle in ihren ersten Spuren betrachten, da sie qualitativ von allem bloß instinktmäßigen Fühlen, auch den sozialen Instinkten, verschieden sind. Man könnte sagen, daß darin die Richtung der gesamten Weltentwicklung, die ja ohne Zweifel eine ganz bestimmte, nicht umkehrbare ist, in einzelnen Individuen Gegenstand des Bewußtseins wird. Aber damit streifen wir schon die Beziehungen der Ethik zur Metaphysik, von der sie zunächst besser gesondert wird.

In anderer Richtung strebt die Wertlehre der Jung-Fichteaner, wie sie kürzlich von MÜNSTERBERG entwickelt wurde, nach einem metaphysischen Ausdruck der Tatsachen, indem sie in der unbedingten Anerkennung der Werte die Betätigung eines in uns lebendigen überindividuellen Willens erblickt, analog wie der Religiöse im Gewissen die Stimme Gottes vernimmt, und wie KANT seine Postulate der praktischen Vernunft an die Aufstellung des Sittengesetzes angeknüpft hat. Gewiß müssen solche metaphysische Gedanken die Lebensstimmung, die Energie, mit der wir das Gute vollbringen, in hohem Maß beeinflussen, und ich bin weit davon entfernt, den unvergleichlichen Wert der Überzeugungen über eine höhere Ordnung der Dinge, in die unser empirisches Dasein hineinragt, in Abrede zu stellen. Nur gerade, wo es sich um die wissenschaftliche Grundlegung der Ethik handelt, ume eine Mauer gegen den Skeptizismus, da ist es weder ratsam noch möglich, sich darauf zu stützen. Ratsam nicht, weil hier mit aller Kraft das gemeinsame Minimum ganz unleugbar tatsächlicher Wahrheit an die Front gestellt werden muß. Aber auch nicht möglich, weil es immer zu Zirkelbeweisen führt, wenn man unmittelbar Gegebenes durch nicht unmittelbar Gegebenes begründen will. Der Begriff Gottes, wenn man darunter das Urgute versteht, setzt den Begriff des Guten offenbar schon voraus. Daher ist die theologische Begründung der Moral ein innerer Widerspruch, und aus demselben Grund würe es auch nicht angehen (und ist auch wohl nicht beabsichtigt), aus einem überindividuellen Wollen die Güte des Guten herzuleiten, sondern diese muß in sich feststehen und dann erst gefragt werden, ob und welche metaphysische Gedanken sich daran knüpfen lassen oder notwendig daraus folgen.

Von der Güterlehre, die den Anfang der Ethik bilden muß, führt nun zur Pflichtenlehre vornehmlich der Gedanke und die Erkenntnis, daß die Verwirklichung jener Güter in irgendeinem erheblichen Grad nur innerhalb der menschlichen Gemeinschaften, und zwar nur durch ein Aufgehen des Individuums in den gemeinschaftlichen Zielen möglich ist. Nicht eine Vorschrift liegt hierin, sondern in erster Linie ein psychologisches Naturgesetz, aus dem dann erst die Regel folgt, daß, wer individuelle Vollkommenheit erreichen soll, sich selbst vergessen muß.

Schwung und Zug kommt nur in ein Leben, das von großen objektiven Zielen erfüllt ist. Die Rose, die sich selber schmückend auch den Garten schmückt, ist doch für den Menschen nicht das richtige Gleichnis. Und wenn NIETZSCHE, der Sprößling ein ungleichen Ehe zwischen Romantik und Darwinismus, von Herrenmenschen träumt, die hoch über der profanen Menge wie die Häupter der Alpen ihre einsame Größe genießen, so ist dies auch mehr poetisch als psychologisch gedacht. Durch die Verlegung aller Willensziele in das Subjekt können Herrenmenschen nur im Sinne von CESARE BORGIA, Karikaturen wahrer Menschengröße, erwachsen. Alle Wortkünste NIETZSCHEs wiegen den schlichten Satz nicht auf, der die wahre Grundformel auch für unsere Zeit und das Geheimnis aller Größe enthält: "Nur wer seine Seele verliert, wird sie gewinnen."

Diese Formel ist es, die unausgesprochen in der gewaltigen Bewegung nach einer sozialen, objektiv gerichteten Ethik zum Ausdruck kommt, einer Bewegung, die wie die Sturmflut über allen noch so genial formulierten Subjektivismus hinwegschreitet, weil sie ungleich tiefer in der menschlichen Natur begründet ist. Wer nich in objektiven Interessen lebt, hat seinen Lohn dahin, indem er verurteilt ist, zeitlebens nur die Gesellschaft seines elenden Selbst zu teilen, dem er allen Inhalt genommen hat, das er nur künstlich aufzuputen vermag. Wie anders, wer in einem Kunstwerk, in Problemen der Wissenschaft, der Technik, der nationalen Wohlfahrt aufgeht: welchen Reichtum an Leben, an wahrer Wirklichkeit saugt er, ohne es zu wollen, in sich ein!

Sogar von der Selbstachtung gilt es, daß sie nicht Ziel und nicht Motiv unseres Handelns sein soll. Sie muß von selbst, ungesucht als Folge des Handelns in der Seele entstehen. Sonst möchte es in der Tat zu jenem Epikureismus der Selbstachtung kommen, der in eitler Selbstbespiegelung enden muß. Selbstachtung muß aus der klaren Erkenntnis resultieren, daß unsere Handlungsweise die Summe des objektiven Guten zu vermehren, die des Schlechten zu verringern geeignet war. Haben wir in dieser Hinsicht falsch gerechnet, so sind wir nicht ohne weiteres entschuldigt. Nur dann dürfen wir uns freisprechen, wenn ein übler Erfolg auch durch rechtzeitiges Aufbieten unserer Erkenntniskräfte nicht hätte verhindert werden können. Dann freilich wird Selbstachtung immer der Trost dessen sein, dem für ein edles Wollen nur Mißerfolg, Undank und Verachtung zuteil wurde.

In jeder Weise also zeigt sich ethische Gesinnung identisch mit  sachlicher  Gesinnung. Die Quintessenz der Pflichtenlehre liegt hierin beschlossen.

Zwei Hauptforderungen stellt eine solche objektiv gerichtete Güterethik, wenn sie das Leben umfassen und durchdringen will, an ihre Adepten. Die eine heißt: eine möglichst umfassende Bekanntschaft mit den Verhältnissen der Wirklichkeit. Für eine formalistische, individualistische, asketische oder sonstwie weltfremde Ethik mag alles gleichgültig sein, was nicht direkt dem Seelenfrieden dient oder sich unter die abstrakte Formel ordnet. Für eine Güterethik dagegen muß die Anatomie des sozialen Körpers, die Technik des Lebens von Bedeutung werden. So wahr es immer bleiben wird, daß nichts in der Welt gut ist als allein der gute Wille, d. h. daß nicht erst der Erfolg entscheidet, ebenso wahr ist es doch, daß der beste Wille das Schlimmste bewirken kann, wenn er nicht von Kenntnissen über die realen Bedingungen für den Eintritt des Guten in diese Welt begleitet ist. Eine Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft, wäre noch weniger willkommen als die von umgekehrter Beschaffenheit.

Die andere Forderung heißt: unersättliches, nimmerruhendes Nachdenken über das Wesen und die Wurzeln der Sittlichkeit. Über ethische Probleme grübeln ist selbst schon eine ethischen Betätigung, und niemals sollte sie stillstehen. Dadurch allein gewinnen auch reale Kenntnisse erst wahre Fruchtbarkeit. Wir legen, um auf Beispiele hinzuweisen, mit Recht ein großes Gewicht auf die Kenntnis der Gefahren, die aus dem Mißbrauch des Alkohols oder aus geschlechtlichen Verfehlungen für den Einzelnen und für die Gesellschaft entspringen können. Wie aber, wenn einer, im vollen Besitz aller Kenntnisse von Ursachen und Wirkungen in diesen Dingen, uns erklärt: "Für meine Person bin ich bereit, die Folgen zu riskieren, am Wohlergehen der anderen aber ist mir nichts gelegen?" - Dann stehen wir sofort vor dem Abgrund, dem himmelweiten Unterschied zwischen Klugheitslehre und Sittenlehre, vor der Schwierigkeit, ethische Überzeugungen in einem Gemüt zu begründen, das sich von Autorität und Tradition losgesagt und  sein' Sach'  auf die eigene Überlegung gestellt hat. Dann mögen wir nach den Resten jener überkommenen Gefühle von Billigung und Mißbilligung suchen, die auch dem Skeptiker geblieben zu sein pflegen. Aber die Aufgabe der ethischen Aufklärung beginnt erst mit der Weckung des Selbstdenkens über diese Probleme. Wir müssen unter Zerstörung jener unzulänglichen Erklärungen des Gewissens aus blinder Gewöhnung in einem Zweifler das Bewußtsein zu wecken versuchen, daß es  Werte ansich  gibt, deren Anerkennung er sich nicht entziehen kann, und daß sie auch für ihn selbst nur durch ein Aufgehen in den objektiven Zielen erreicht werden können. Wir müssen ihn dann zu der Einsicht führen, daß in den anerzogenen Wertgefühlen vieles doch auch rational zu verstehen und zu rechtfertigen ist, und daß im übrigen schon das Bestehen gegebener Ordnungen des Lebens und fester Institutionen, auch wenn sie nicht tadellos sind, eines der größten und unentbehrlichsten allgemeinen Güter ist; daß er sich selbst auf Schritt und Tritt in solchen Formen bewegt und sie im Kleinen und Großen keinen Augenblick missen könnte; daß jede Abweichung, die in egoistischen Motiven wurzelt, die Kraft der Institution untergräbt und, wenn sie niemand zur Kenntnis nimmt, doch im Handelnden selbst unweigerlich eine Disposition hinterläßt, die sein Fühlen und Wollen für alle Zukunft schwächt. Wir müssen so die Achtung vor dem Gesetz und den "erhabenen großen Namen der Pflicht", dessen Glanz unserem Skeptiker verdunkelt ist, von den umher gelagerten Nebeln befreien, sei es mit Aufbietung des ganzen wissenschaftlichen Apparates oder ohne einen solchen, je nach dem Stand seiner Bildung. Überall aber handelt es sich hier darum, die eigene Erkenntnis anzuregen, nicht, wie bei der Belehrung über reale Verhältnisse, fertige Kenntnisse, Errungenschaften anderer bloß zu überliefern.

Freilich wirkt die ethische Einsicht so wenig unmittelbar auf den Willen wie die theoretische. Das Licht des Verstandes muß zuerst zum Herzen dringen, wenn es wirken soll. Aber intellektuelle Naturen - und um solche handelt es sich bei den Modernsten der Modernen und bei allen, die ihre Zweifel schwer nehmen - solche Naturen haben sich gewöhnt, ihr Fühlen der Führung des Denkens anzuvertrauen. Und die Nichtintellektuellen werden zuletzt, da sie sich durch Umgebung und Tradition bestimmen lassen, von den Intellektuellen geleitet, je mehr diese die Gestaltung und Umgestaltung des Lebens an sich reißen. In dieser Hinsicht nähern sich die viel verlachten Hoffnungen PLATONs doch langsam ihrer Erfüllung.

Hier nun, Ihr Kommilitonen, liegt die höchste und heiligste Aufgabe Eures Lebens. Unser Vaterland ist größer geworden, als unsere Väter hoffen konnten. Wer in den weiten Gauen des Deutschen Reiches herumwandert, dem kann wohl das Herz aufgehen, wenn er die Stätten mannigfachster und intensivster Arbeit, die Fabriken, die Seehäfen und Werften, die Wohlfahrtsanstalten, die Kunst- und Gewerbemuseen, die Blüte so vieler Städte gewahrt, und wenn er nun gar das Luftschiff des Siebzigjährigen, eines wahren Herrenmenschen, seiner Lenkung gehorsam durch den freien Himmelsraum fliegen sieht. Und doch: wäre es so, wie leise und laute Stimmen sagen, daß den äußeren Aufschwung ein innerer Niedergang begleitet, dann möchte man alles ungeschehen wünschen, dann lieber weg mit den Schiffen und Fabriken, den Untergang könnten sie keinesfalls verhüten. Aber so ist es nicht, liebe Kommilitonen,  wenn Ihr nicht wollt!  Alles ist Euer. Bei Euch, bei der jungen Intelligenz steht Glück und Unglück unserer Nation. Und wir glauben aus vielen Zeichen zu entnehmen, daß Ihr selbst die Gefahr erkannt und aus eigener Kraft zu bekämpfen entschlossen habt. Das Dichterwort: "Wir, wir leben, unser sind die Stunden, und der Lebende hat recht!" - Ihr wollt es in einem höheren Sinn, als er wohl dem Dichter selbst vorschwebte, verwirklichen. Das erste muß sein, die skeptische Geistesträgheit zu überwinden, unter deren Gifthauch alles Leben erstirbt. Dann gilt es, zu bauen, und da werdet Ihr bald genug erkennen, daß man die Steine und die Konstruktionsgesetze nicht beliebig erfinden oder verändern kann, daß nur Luftschlösser von einem Einzigen in einer einzigen begeisterten Stunde geschaffen werden, und daß es sich nicht darum handeln kann, die ethischen Errungenschaften von Jahrtausenden rückgängig zu machen, sondern nur darum, das bereits hochentwickelte soziale Denken und Fühlen noch weiter zu verfeinern, es veränderten Zeitumständen anzupassen, dann aber wieder das Leben dieser Erkenntnis und diesen vervollkommneten Gefühlen anzupassen.

So sehen wir dann auch Bewegungen unter Euch im Gang, die der erkannten Pflicht ihren Einfluß auf den Willen zu sichern streben, die Selbstbeherrschung, Willenskräftigung bezwecken, die auch an körperlicher Stählung nach althellenischer wie altdeutscher Sitte die Willenskraft erproben und die Lust zu gemeinschaftlicher Betätigung wecken, die durch Freude an Natur- und Kunstschönheit, durch Interesse für die öffentlichen Angelegeheiten die Dämonen eines krankhaften Subjektivismus und Egoismus verscheuchen wollen. Die Alma Mater beglückwünscht Euch zu dieser Selbsterziehung. Sie erblickt darin ein Wiederaufleben von Bestrebungen aus den ersten Dezennien ihrer eigenen Geschichte und ein Unterpfand für die Zukunft unseres Volkes in möglichen schweren Stürmen. Und sie ruft Euch zu:
    Steht fest und werdet Männer, die das Leben kennen und schätzen, die Pflicht aber höher schätzen als das Leben! 

LITERATUR: Carl Stumpf, Vom ethischen Skeptizismus [Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III. am 3. August 1908] Berlin 1908