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JOHANN EDUARD ERDMANN
Malebranche

"Unterscheidet man gehörig, was die Meisten vermischen: die Bewegung und Konfiguration des affizierenden Körpers, die Erschütterung des Sinnesorgans der Nerven und ihrer Lebensgeister, endlich aber die Empfindung, die weder im Gegenstand, noch im Körper, sondern in unserer Seele liegt, so wird es leicht sein, die Sinne gehörig zu benutzen, also wo wir ein Brennen fühlen, die gebrannte Stelle vom Feuer zu entfernen, aber den Sinnen zu  mißtrauen,  wo sie uns verleiten wollen über das  Wesen  der Dinge ein Urteil zu fällen. Dieses ihr Wesen ist uns  nicht  durch die Sinne offenbart, sondern durch das  Denken,  welches uns sagt, daß das Wesen der Dinge in der Ausdehnung besteht, während die Meisten dieses Wesen in die Qualitäten  warm, gelb, weich, süß  usw. setzen, die doch nur in unserer Seele liegen. Versteht man, wie die Meisten, unter Materiellem die Summe dieser Qualitäten, so ist man völlig berechtigt, zu  bezweifeln,  daß es Materialität außer uns gibt."

1. NICOLAS MALEBRANCHE, am 6. August 1638 in Paris geboren, trat 1660 in die Kongregation des Oratoriums, die von Kardinal BERULLE gegründet war, und wurde dort dem, schon von Stifter der Kongegration begünstigten, Cartesianismus gewonnen. Im Jahre 1674 erschien sein Hauptwerk "De la recherche de la vérité" zuerst in zwei, in den späteren Ausgaben, deren er selbst sechs erlebt hat, in vier Bänden. Daran schließen sich die durch theologische Angriffe und durch Bitten des Herzogs von Chevreuil veranlaßten "Conversations chrétiennes 1677, die er aber in einem Brief an LEIBNIZ verleugnet und dem Abbé CATELAN zuschreibt, sowie die "Meditations Métaphysiques" dem Abbé de LANION. Seine Differenzen mit dem Cartesianer QUESNEL, der ihn sonst sehr verehrte, zogen ARNAULD in den Streit, mit dem MALEBRANCHE durch seinen  Traité de la nature et de la grâce  1680 ganz zerfiel. Die "Méditations chrétiennes et métaphysiques" 1683, erregten, namentlich weil darin das "Wort" oder die allgemeine Vernunft als Vermittler unter den Streitenden MALEBRANCHEs Lehren vertritt, manchen Anstoß. Der "Traité de morale" erschien 1684, die "Entretiens sur la métaphysique et sur la religion" 1688, der "Traité de l'amour de Dieu" 1697, die "Entretien d'un philosophe chrétien avec un philosophe chinois" 1708, die "Réflexions sur la prémotion physique" 1715. Außerdem hat er, da fast jede seiner Schriften eine Menge von Angriffen erfuhr, viele Streitschriften verfaßt, die sich teils in den späteren Auflagen seiner Werke, teils in einer von ihm veranstalteten vierbändigen Sammlung 1709, finden. Im Jahre 1715 erkrankt, wie man meint infolge einer wissenschaftlichen Unterhaltung mit BERKELEY, starb er am 15. Oktober desselben Jahres. Eine Gesamtausgabe seiner Werke erschien zu Paris (Oeuvres complétes etc. 1712).

2. Man hat ein Recht, sich bei der Darstellung von MALEBRANCHEs Philosophie lediglich an sein Hauptwerk, die Wahrheitsforschung, zu halten. Was die anderen Werke enthalten, mit Ausnahme der "Entretiens sur la métaphysiques et sur la religion", betrifft faßt nur die Theologie, und wo er von seinem Hauptwerk abweicht, erscheint er oft als, aus Furcht vor jansenistischen und anderen Ketzereien, inkonsequent. Han nun gleich dieser Inkonsequenzen, wie seine Polemik gegen QUESNEL und ARNAULD, ihm momentan den Beifall der Jesuiten eingetragen, so sahen doch ihm sehr nahestehenden Männer, wie der Benediktiner DOM FRANCOIS LAMI, daß er gegen seine eigenen Voraussetzungen verstoße. Der Zweck, welchen sich MALEBRANCHE in seinem Hauptwerk gesetzt hat, ist, zuerst die Quellen aller Irrtümer aufzudecken (Buch 1- 5), dann zu zeigen, wie dieselben vermieden werden können (Buch 6). Dabei schließt sich MALEBRANCHE darin ganz DESCARTES an, daß er das Erkennen und Wollen einander gegenüberstellt, - er parallelisiert sie mit der Gestaltbarkeit und Beweglichkeit der ausgedehnten Wesen - und die Zustimmung, ohne welche es nie zu einem Irrtum käme, dem letzteren zuweist. Mit DESCARTES werden dann innerhalb des theoretischen Verhaltens Sinn, Imagination und Verstand, im praktischen Neigungen und Leidenschaften  (inclinations  und  passions)  unterschieden, so daß Verstand und Neigung dem Geist als solchem, die drei anderen nur dem mit einem Leib verbundenen Geist zukommen sollen. In der eben angeführten Reihenfolge, so daß immer jedem ein Buch gewidmet ist, wird nun untersucht, inwiefern diese fünf Veranlassung zu Irrtümern werden können.

3. Die zwanzig Kapitel der  ersten Buches,  welche die Sinne betrachten, gehen davon aus, daß dieselben uns gegeben sind zur Erhaltung unseres Körpers. Diesem Zweck entsprechen sie, wenn sie uns nicht sowohl über das Wesen der Dinge, als über ihr Verhältnis zu uns Auskunft geben. Unterscheidet man gehörig, was die Meisten vermischen: die Bewegung und Konfiguration des affizierenden Körpers, die Erschütterung des Sinnesorgans der Nerven und ihrer Lebensgeister, endlich aber die Empfindung, die weder im Gegenstand, noch im Körper, sondern in unserer Seele liegt, so wird es leicht sein, die Sinne gehörig zu benutzen, also wo wir ein Brennen fühlen, die gebrannte Stelle vom Feuer zu entfernen, aber den Sinnen zu mißtrauen, wo sie uns verleiten wollen über das Wesen der Dinge ein Urteil zu fällen. Dieses ihr Wesen ist uns nicht durch die Sinne offenbart, sondern durch das Denken, welches uns sagt, daß das Wesen der Dinge in der Ausdehnung besteht, während die Meisten dieses Wesen in die Qualitäten warm, gelb, weich, süß usw. setzen, die doch nur in unserer Seele liegen. Versteht man, wie die Meisten, unter Materiellem die Summe dieser Qualitäten, so ist man völlig berechtigt, zu bezweifeln, daß es Materialität außer uns gibt. Das  zweite Buch,  dessen zweiundzwanzig Kapitel auf drei Teile (zu acht, acht und sechs) verteilt sind, betrachtet die Imagination. Die Vorstellungen (Phantasmen) der Einbildungskraft, die sich von den Empfindungen so unterscheiden, daß die sie veranlassenden Erschütterungen der Lebensgeister nicht durch Affektion der Sinnesorgane hervorgerufen wurden, sondern, sei es nun willkürlich, sei es unwillkürlich, in den Zentralteilen des Körpers entstanden, sind gerade wie die Empfindungen nur Zustände der Seele. Was MALEBRANCHE weiter über sie sagt, ist zum Teil recht interessant, zeigt aber wenig Eigentümliches.

4. Desto mehr das  dritte Buch,  das in fünfzehn Kapiteln, von vier auf den ersten, elf auf den zweiten Teil fallen, vom Verstand oder dem reinen Geist, im Gegensatz zum mit dem Körper verbundenen, handelt. Das Wesen des Geistes besteht im Denken, das gerade wie die Ausdehung vom Körper, vom Geist untrennbar ist, so daß er immer und daß er nie in einem Augenblick mehr denkt als ein einem anderen. Das Denken fällt ihm dabei so mit dem Bewußtsein zusammen, daß dazwischen anstatt Geist oder Seele auch gesagt wird: dieses  Ich  (ce moi). Alles Übrige kann vom Geist fortgedacht werden, so das Fühlen und Vorstellen, welche Modifikationen, ja sogar das Wollen, welches ein Begleiter des Denkens ist, nur das Denken selbst nicht. Das erste Objekt des Denkens ist Gott, das unendliche Wesen oder was dasselbe heißt: das Wesen überhaupt, das Sein ohne alle Beschränkung, das eben deswegen nicht ein besonderes Wesen ist. Dieses unendliche Sein, das als nichtseiend zu denken ein Widersinn wäre, ist das erste und absolut Intelligible. Um es richtig zu denken, darf man nicht bei einer Seite desselben stehen bleiben, wie diejenigen tun, welche Gott einen Geist nennen. Die ist insofern richtig als er kein Körper ist, ebensowenig aber ist er ein Geist in dem Sinne, in welchem der Mensch es ist. Man hüte sich, Gott zu vermenschlichen. In Gott sind alle Vollkommenheiten, auch die, deren Partizipationen und Modifikationen die Körper sind, die Ausdehnung, deren Unendlichkeit ein Beweis ist, daß sie nicht Prädikat nur endlicher Wesen sein kann. In ihrer Ganzheit und Unendlichkeit ist sie was MALEBRANCHE intelligible Ausdehnung nennt. Als Inbegriff aller Vollkommenheiten ist Gott sein eigener Gegenstand und sein eigener Zweck; im Ersteren zeigt er sich als Weisheit, im Zweiten als Liebe zu sich selbst. Beide sind von seinem Wesen untrennbar und daher weiß und liebt Gott sich ewig, notwendig und unveränderlich. Da alles was ist, nur ist durch Partizipation am Sein überhaupt, so ist in der Weisheit Gottes oder seinem Sich-wissen in intelligibler (idealer) Weise alles enthalten, und die intelligible Existenz oder Idee eines Dings ist nichts anderes, als eine Partizipation oder Modifikation einer der göttlichen Vollkommenheiten. Die Ideen der Dinge, d. h. das Wesen der Dinge, wie Gott es in sich schaut, zeigen darum eine Stufenfolge, in der z. B. die Idee des Körpers weniger Vollkommenheit enthält als die des Geistes. Wie die Ideen oder Wesenheiten, so sieht Gott in sich auch alle Verhältnisse derselben, d. h. alle Wahrheiten. Beide, als Inbegriff der göttlichen Weisheit, sind natürlich ebensowenig vom Belieben Gottes abhängig, wie sein eigenes Sein, sie sind notwendig und ewig. Sie mit DESCARTES zu etwas ganz Arbiträrem [Willkürlichem - wp] machen, heißt alle Wissenschaft für unmöglich erklären. Die Ideen der Dinge sind nun auch Gegenstand des menschlichen Denkens, wo es ein wirkliches Wissen ist. Die Menschen verwechseln sehr oft Ideen mit Eindrücken oder auch den durch dieselben hervorgebrachten Gehirnbildern, mit denen diese ewigen Urbilder der Dinge doch gar keine Ähnlichkeit haben. Oder aber, weil wir durch unseren Willen uns die Ideen vergegenwärtigen, meinen sie, dieselben seien von uns produziert. Vielmehr verhält es sich so, daß unser Wollen nur die Veranlassung für ihre Präsenz ist. Sie sind nämlich nicht eigentlich in uns, sondern wir sind im Inbegriff der Ideen, der Weisheit Gottes oder Ihm selbst, die oder der die Geister so umfaßt, wie der Raum die Körper. Die Ideen der Dinge sind uns daher immer präsent, wir merken es nur nicht, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf das Vergängliche richten. Stehen wir von diesem letzteren ab, wollen wir uns nicht mehr durch das Sinnliche zerstreuen lassen, dann treten die Ideen wieder in unser Bewußtsein. Die Dinge erkennen heißt also ihre Ideen, d. h. sie in Gott sehen, der sie ewig in sich sieht und uns an diesem seinem Sehen partizipieren läßt oder uns erleuchtet. Außer dem unendlichen Wesen, von dem wir eine, freilich nicht vollständige aber klare und deutliche, Idee haben, hat unser Wissen zu seinem Gegenstand die Körperwelt. Schreibt man nicht konfuserweise den Körpern so etwas zu, was nicht ihr, sondern unser Zustand, so bleibt für sie nur, daß sie verschiedene Begrenzungen der unendlichen Ausdehnung sind. Sie so ansehn, heißt sie in ihren Ideen erkennen oder, was ja dasselbe heißt, in Gott sehen, da ja alle unsere Ideen nur Limitationen der Idee Gottes sind. Darum gibt es von den Körpern eine wissenschaftliche reine Vernunft-Erkenntnis, und MALEBRANCHE zweifelt nicht, daß die Physik einmal dieselbe Evidenz haben werde, wie die Geometrie. Hier werden nun am Passendsten die Sätze eingeschoben, in denen MALEBRANCHE seine  Physik  darlegt. Sie finden sich im zweiten Teil seines sechsten Buches: In dem, was das Wesen der Körper ausmacht, dem Ausgedehntsein, sind sie natürlich alle gleich. Die Ungleichheit kommt in sie durch die hinzutretende Bewegung, welche allein sogar den Unterschied zwischen dem Toten und Lebendigen konstituiert. Da die Bewegung nicht im Wesen der Materie liegt, so wird sie ihr von Gott mitgeteilt, und dauert so lange, als Gott sie mitteilt oder will. Weil Gott selbst aber Einer ist und unveränderlich, eben deswegen ist Unveränderlichkeit und Einfachheit ein notwendiges Prädiekat der Natur-, d. h. der Bewegungsgesetze. Daß Gott überall die einfachsten Mittel braucht, ist bei MALEBRANCHE ein feststehendes Axiom, worauf er stets zurückkommt; so namentlich in seiner Lehre vom Übel und in der von der Vorsehung. Nur auf sehr kompliziertem Weg hätte Gott die Zahl der Übel verringern können, darin besteht der Optimismus oder die Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp] MALEBRANCHEs, welche die Freude über LEIBNIZ' Theologie erklärt, die seine von COUSIN herausgegebenen Briefe an LEIBNIZ aussprechen. Ebenso glaubt er die Vorsehung auf das Allgemeine beschränken zu müssen, auf das nämlich, wo die einfachen Wege ausreichen. Beides hat ihm viele Angriffe zugezogen. Weil den Körpern die Bewegung von außen mitgeteilt wird, deswegen urgiert er, daß nicht ein Körper dem anderen seine Bewegung mitteilt, sondern daß Gott sie dem einen nehme und dem anderen gibt. Das war auch der Grund, warum er in seiner Physik, die ebenso mechanisch ist wie die Cartesianische, und in der er die Wirbeltheorie noch weiter, bis auf die Teilchen des ersten Elements, ausdehnt, doch in einem wesentlichen Punkt von jener abwich. Die Fehler in den von DESCARTES aufgestellten Bewegungsgesetzen, und die Unhaltbarkeit seines Grundsatzes, daß die Quantität der Bewegungen stets dieselbe bleibt, soll, so meint MALEBRANCHE in einem, dreißig Jahre nach der Recherche geschriebenen Werk, darin ihren Grund haben, daß der Meister auch die Ruhe des Körpers als eine Kraft, nicht nur als Privation [Mangel - wp] gefaßt habe. Es liegt darin der Tadel, daß den Körpern eine eigentümliche Kraft beigelegt, die ausschließliche Kausalität Gottes geleugnet, wird. Diese wird von MALEBRANCHE wie von DESCARTES gern in der augustinischen Formel, daß Erhaltung fortwährende Schöpfung ist, betont. Die gleichzeitige Übereinstimmung mit dem Kirchenvater und dem epochemachenden Philosophen ist ihm ein stets neuer Beweis für die Übereinstimmung der Philosophie mit der Religion, die er in vielen seiner Schriften zu beweisen sucht. Bei einer Annäherung des Augustinismus an den Pantheismus fühlt MALEBRANCHE, als später SPINOZA bekannt wird, das Bedürfnis, den Unterschied ihrer Lehren zu formulieren: Nach ihm sei das Universum in Gott, nach SPINOZA Gott im Universum, sagt er in den  Entretiens. 

5. Der höhere Rang, welchen MALEBRANCHE den Geistern vor den Körpern einräumt, hat die Folge, daß seine Geisteslehre nicht, wie bei DESCARTES, ein ganz entsprechendes Korrelat zur Physik wird. Gott, sagt er, und vielleicht auch wir selbst nach diesem Leben, können die Geister in Gott, oder durch Ideen, d. h. als Beschränkungen des unendlichen Denkens fassen, und dann eine ganz klare und deutliche Erkenntnis von ihnen haben. Jetzt aber ist es nicht so; wir wissen vom eigenen Sein nur durch ein inneres, noch dazu sehr konfuses, Gefühl, so daß gerade das Gegenteil von dem wahr ist, was die Cartesianer sagen, daß die Geister uns bekannter sind als die Körper. Nicht einmal der eigene Geist ist es, geschweige denn die der anderen, auf deren Existenz und Beschaffenheit wir nur durch Vermutung schließen können. Es mag wohl das Wertbewußtsein des erlösten Christenmenschen gewesen sein, welches ihn später in so strenger Weise den SPINOZA verdammen läßt, in dessen Panteismus die Geister gerade so zu Modifikationen des unendlichen Denkens werden, wie bei MALEBRANCHE die Körper zu Limitation der Ausdehnung wurden. Und doch streift er selbst nicht nur, wie ihm das MAIRAN in den interessanten von COUSIN herausgegebenen Briefen nachweist, in seiner intelligiblen Materie, sondern auch sonst sehr nahe an das heran, was ihn in dessen "misérable" Schriften so empört. So besonders im  vierten Buch,  in dessen dreizehn Kapiteln die praktische Seite des reinen Geistes, oder seine natürlichen Bewegungen, die Neigungen betrachtet werden. Ganz wie unser Wissen darin besteht, daß wir an den Ideen und ewigen Wahrheiten partizipieren, so ist auch unser Wollen nur ein Mitgezogenwerden von der Liebe, mit der Gott liebt. Da diese Liebe zu ihrem Objekt nur Gott selbst hat, indem Gott die Dinge nur liebt, sofern er sich selber liebt,, so ist all unser Wollen eigentlich Liebe zu Gott. Es gibt gar kein Wollen, in dem nicht die Liebe zu diesem  bien en général  [allgemeinen Gut - wp], zur Glückseligkeit, enthalten wäre. Da aber Gott, wie das Sein überhaupt, so auch das Gut überhaupt ist, und Glückseligkeit nur in ihm liegt, so ist auch das allerverkehrteste Wollen immer, wenn auch mißverstandene, Liebe zu Gott. Woher nun diese Mißverständnisse entstehen, wie sie sich an die Liebe zum Guten überhaupt, wie an die zu eigenen Wohl, wie endlich an die zu anderen anheften können, das wird in diesem Buch sehr ausführlich erörtert, in einer Weise, die nicht besonders berührt zu werden braucht, da auch hier stets die Weisung wiederkehrt, nur dem ganz klar Erkannten beizustimmen.

6. Den Übergang zum  fünften Buch,  das in zwölf Kapiteln von den Leidenschaften handelt, macht die Bemerkung, daß der Geist außer seiner Verbindung mit Got, durch welche er am Wissen Gottes und an  seiner  Liebe zu sich selbst partizipiert, in einer ebenso wesentlichen und notwendigen zu seinem Leib steht. Zwar wissen wir von dieser Verbindung nicht, wie von der mit Gott, durch klare Vernunft-Erkenntnis, sondern nur durch einen  instinct de sentiment,  dennoch besteht sie, ist auch nicht als eine Folge des Sündenfalls anzusehen, obgleich man zugestehen muß, daß seitdem die Neigung, sich ganz dem Sinnlichen hinzugeben, größer geworden ist, so daß zwar Gott den Geist an den Leib gebunden, der Geist selbst aber sich ihm untertänig gemacht hat. Diese Verbindung ist von Gott geordnet, nicht so, wie viele meinen, daß infolge derselben der Leib auf die Seele einwirkt und umgekehrt, denn dies ist eine völlige Unmöglichkeit, sondern so, daß bei Gelegenheit unseres Wollens Gott unseren Arm bewegt. Dies zu tun, dazu hat er sich selber verpflichtet, und hebt jetzt unseren Arm auch wo wir es gegen seine Gebote wollen.  Semel jussit semper paret.  [Gott hat die Gesetze einmal befohlen und befolgt sie dann des weiteren. - wp] (Die Gründe für den Okkasionalismus [Lehre der zufälligen Ursachen - wp], die MALEBRANCHE anführt, zeigen oft eine fast wörtliche Übereinstimmung mit GEULINCX; weil er zur Ausbreitung desselben so viel beigetragen hat, deswegen gilt er bis heute so manchem als Urheber dieser Lehre.) Wie durch diese Verbindung mit dem Leib ein Unterschied stattfindet zwischen den reinen Ideen und den mit Empfindungen und Einbildungen gemischten, so entspricht demselben der zwischen den rein geistigen Neigungen und der, durch die Bewegung der Lebensgeister vermittelten, Steigerung derselben zu Leidenschaften. Nicht nur in dieser Definition, sondern auch in der Systematik der Leidenschaften stimmt MALEBRANCHE ganz mit DESCARTES überein; die Verwunderung, bei der nach beiden die Erschütterung der Lebensgeist nicht bis zu den peripherischen Teilen des Körpers fortgeht, wird von MALEBRANCHE unvollkommene, die fünf anderen werden wirkliche Leidenschaften genannt. Alle werden auf Liebe und Abneigung als auf die  passions méres  [Mutter der Leidenschaften - wp], ja, da Abneigung ohne Liebe undenkbar ist, eigentlich alle auf die Liebe zurückgeführt. Mit ausdrücklicher Rückweisung auf das über die Sinne Gesagte wird auch die Bestimmung der Leidenschaften darin gesetzt, der Ökonomie des Leibes zu dienen, wobei sie der Seele die Sorge dafür abnehmen und also Zeit gewähren, sich mit Besserem zu beschäftigen. Wie dort, so gerät auch hier die Seele, wo sie ohne klare Einsicht ihre Zustimmung gibt, und keinen Unterschied macht zwischen dem was bekannt  (familier)  und dem was erkannt  (clair)  ist, in Irrtümer. Es gibt daher nach MALEBRANCHE ebensowenig wie nach DESCARTES einen unverschuldeten Irrtum, nur daß MALEBRANCHE bei der religiösen Tendenz seiner Lehre viel mehr die Folgerung hervorhebt, daß die Befreiung vom Irrtum mit einer Erlösung von der Sünde zusammenfällt, also Erleuchtung sei. Eine solche anzunehmen konnte, da ja Gott "der Ort aller Geister" war, keine Schwierigkeit machen.

7. Im  sechsten Buch,  das in zwei Teilen von fünf und neun Kapiteln die  Methode  der Wahrheitsforschung behandelt, wird von Neuem eingeprägt, daß es keine andere eigentliche Ursache gibt als Gott, daß wir etwas wissen, nur weil Er uns erleuchtet, empfinden nur wo Er unser Denken modifiziert, und dann darauf hingewiesen, daß es nur auf das  eine  ankommt: dem allein zuzustimmen, dem man nicht ohne innere Vorwürfe der Vernunft die Zustimmung versagen kann. Darum sind Unaufmerksamkeit und Beschränktheit des Geistes die größten Feinde der Wahrheit; wie beiden zu begegnen, dazu werden Regeln angegeben, und wiederholt nachgewiesen wie dieselben von DESCARTES befolgt, von ARISTOTELES vernachlässigt worden seien. Auch in diesem Buch kehrt der Gedanke öfter wieder, daß, weil es für Gott nur  einen  Zweck gebe, Ihn selbst, auch unsere Bestimmung nur sein könne, Ihn zu erkennen und zu lieben. Erkenntnis der Wahrheit, wie sie in Mathematik und Metaphysik erlangt wird, und Wollen der Tugend führt deswegen zum höchsten Ziel, zur Vereinigung mit Gott. Damit  alle,  auch die geistig Rohen und Groben, denen die Sinne die höchste Autorität, zu einem solchen Ziel gelangen können, hat Gott es nicht verschmäht, sich sogar den Sinnen ergreifbar zu machen. Für die Thoren ist Er gewissermaßen selbst töricht geworden um sie weise zu machen.

8. Wenn auch nicht in Scharen wie dem Okkasionalismus, so doch auch nicht spärlich, fielen die Cartesianer dem MALEBRANCHE zu. THOMASSIN (1619 - 1695) in Bern, LAMI (1645 - 1715), schließlich LEVASSOR, der Schriften von ihm ins Englische übersetzte, sind zuerst zu nennen. Freilich hat der Letzte derselben, weil er vom Katholizismus abfiel, den Feinden MALEBRANCHEs Stoff zu Verunglimpfungen gegeben. Zu ihnen gesellt sich der Benedektiner DOM FRANCOIS LAMI (1636 - 1711) und sogar ein Jesuit P. ANDRÉ (1675 - 1764). Beide erklären sich freilich bei seiner semipelagionischen Schwenkung gegen ihn. Außerhalb Frankreichs ist besonders der Engländer JOHN NORRIS zu nennen. An Gegnern hat es, auch wenn man die theologischen übergeht, nicht gefehlt. Die den Cartesianismus von einem früheren Standpunkt aus bekämpft hatten, mußten natürlich auch MALEBRANCHE bestreiten. Hier sticht FOUCHER, Kanonikus von Dijon (1644 - 1696), mit seinen an MONTAIGNE erinnernden Skeptizismus hervor. Weniger der durch seinen plötzlichen Abfall von MALEBRANCHE etwas verdächtige Jesuit DETERTRE. Noch weniger der als "Zoilus" [hämischer Tadler - wp] MALEBRANCHEs berüchtigte FAYDIT. Aber auch vom Standpunkt des Cartesianismus wurde er bekämpft, namentlich durch REGIS, gegen den er sich in einem gedruckten Brief verteidigte. Kaum war MALEBRANCHE gestorben, als der, an LOCKE anknüpfende Sensualismus in Frankreich zu herrschen anfing. Der Kampf, welchen die Malebranchisten LELEVEL, RENÉ FÉDÉ, LANION (als Psedonym WANDER), CLAUDE LEFORT de MORINIÉRE und MIRON gegen denselben führten, war der vergebliche Kampf der Reaktion gegen ein neues Prinzip, das seine Berechtigung hat.
LITERATUR - Johann Eduard Erdmann, Malebranche [Grundriss der Geschichte der Philosophie] Bd. 2, Berlin 1878