ra-2ra-1SokratesDubois-ReymondVerwornSpencerSchwarz    
 
JOHANN UEBINGER
Der Begriff der "docta ignorantia"
[in seiner geschichtlichen Entwicklung]
[1/2]

"Wenn wir von GOtt sprechen, so ist es gar nicht auffallend, das Gesagte nicht zu begreifen. Begreift man dasselbe, so ist es nicht GOtt; ihn zu begreifen ist nämlich unmöglich, ihn mit dem Geist einigermaßen zu erfassen große Glückseligkeit. Unter diesen Umständen mag das gewissenhafte Geständnis des Nichtwissens mehr am Platz sein, als das unbesonnene Bekenntnis des Wissens."

"Damals nämlich, auf hoher See gelegentlich der Rückkehr aus Konstantinopel nach Italien, kam Nikolaus Cusanus durch Erleuchtung von oben, wie er selbst glaubt, vom Vater der Lichter, auf den weittragenden Gedanken, die Dinge, welche für uns unbegreiflich sind, eben als summarisch in einer docta ignorantia zusammenzufassen. Dieses Vorhaben wurde 1440 ausgeführt, die bezügliche Schrift am 12. Februar 1440 zu Cues a. d. Mosel vollendet."

"Darüber aber, wie die docta ignorantia in uns existiert, klärt uns Augustinus bei der Gelegenheit auf, wo er das Wort des heiligen Paulus im Brief an die Römer 8,26 erläutert. Da sagt er unter anderem: Zwar wissen wir, daß existiert, wonach wir suchen, aber wie es beschaffen ist, wissen wir nicht; diese, um es so auszudrücken, docta ignorantia ist durch den Geist, der unserer Schwachheit hilft, in uns."

"Dem dritten Buch des Nikolaus Cusanus nach ist alles Wissen sozusagen ein Nichtwissen. Das Wissen nämlich entsteht durch Vergleichen dessen, was mehr oder minder ungewiß, mit einem anderen, was absolut gewiß oder eben als gewiß vorausgesetzt wird. Vollkommen adäquate Vergleiche bei körperlichen Gegenständen und ein genaues Anpassen des Bekannten an das Unbekannte aber übersteigt den menschlichen Verstand."

Auf den ersten Blick wird wohl einem jeden der Ausdruck "docta ignorantia" recht seltsam erscheinen. Der Begriff, welcher dem Adjektiv "docta" zugrunde liegt, ist mit dem, was "ignorantia" nach Stamm und Form besagt, augenscheinlich nie und nimmer zu vereinen. Allerdings muß man bei näherem Zuschauen zugeben, daß "doctus" nicht bloß, wie selbstverständlich zu erwarten ist, von Personen, sondern auch, was schon ziemlich auffällig erscheint, von leblosen Dingen ausgesagt wird; so nennt z. B.  labor  [Aufgaben - wp] PHÄDRUS  doctus  [gelehrt - wp], carmina [Lieder - wp] TIBULLUS  docta, libri  [Bücher - wp] QUINTILLIAN  doctissimi,  des  voces  [Aussagen - wp] des PYTHAGORAS' selbst ein CICERO  doctissimae  und  sermones  [Wörter - wp] schließlich derselbe  doctissimi.  Aber all diese Verbindungen lassen sich ungezwungen sinnreich erklären; die geistige Arbeit des PHÄDRUS, die Gedichte des TIBULLUS, die Schriften des QUINTILLIAN, die Aussagen der Pythagoreer bei CICERO und schließlich dessen Reden: sie alle zeugen mehr oder minder von Unterweisung, von Gelehrsamkeit; und dies will offenbar der Beisatz besagen. Es liegt in all diesen Verbindungen also nichts weiter, als eine sehr geläufige Metapher vor, ein Übertragen des Begriffes "doctus" vom Urheber auf das, was er aufgrund seiner Gelehrsamkeit wirklich hervorgebracht hat. Indessen ist bei derjenigen Verbindung, welche uns hier beschäftigt, bei der Zusammenstellung von "docta" mit "ignorantia", diese so einfache und natürliche Erklärung, wie mir scheint, ganz und gar ausgeschlossen. Die "ignorantia" als solche kann nie und nimmer von der gelehrten Bildung dessen Zeugnis ablegen, welcher mit ihr zu kämpfen hat: das ist ganz gewiß nicht zu bezweifeln. Soll daher die Verbindung nach dem Gesagten noch irgendwie einen Sinn haben, so muß ein  Oxymoron  vorliegen, zu deutsch: ein  scharfsinniger Unsinn.  Ob dies wirklich der Fall ist, zeigt sich erst dann, wenn wir genau untersucht haben, was daruntern diejenigen Schriftsteller verstanden wissen wollten, welche den Ausdruck im Laufe von nachweislich dreizehn Jahrhunderten in ihren Schriften gebrauchten. Durch eine solche Untersuchung aber hoffe ich, gleichzeitig einen meines Erachtens lehrreichen Einblick in gewisse eigentümliche Gedankenbewegungen zu eröffnen, welche, in der Geschichte der Philosophie bemerkbar, anscheinend ganz unvermittelt aufeinander folgen.

Hiermit ist, wie ich glaube, hinlänglich der Standpunkt gekennzeichnet, von welchem aus diese kleine Abhandlung geschrieben wurde, und von dem sie gegebenen Falles auch beurteilt sein möchte. Sie soll ein  kleiner Beitrag zur Geschichte der philosophischen Kunstausdrücke  sein, zu deren Pflege in diesem  Archiv (1) RUDOLF EUCKEN die gelegentliche Mitarbeit der wissenschaftlichen Kreise so liebenswürdig und inständig aufforderte. Mir fiel in dieser Hinsicht bei den philosophischen Studien, die ich bislang machte, vor allem andern die an die Spitze dieser Abhandlung gestellt Verbindung "docta" mit "ignorantia" auf und, aufgefordert von Professor EUCKEN, verfolgte ich den Ausdruck von dort aus, wo ich ihn zuerst antraf, rückwärts und vorwärts, so gut ich konnte, durch dreizehn Jahrhunderte; ausdrücklich will ich indessen noch beifügen, daß ich mir nicht mit der Hoffnung schmeichle, nun auch wirklich alle Stellen, wo "docta ignorantia" in wissenschaftlichen Werken eine Verwendung gefunden hat, ausfindig gemacht zu haben; wer sollte so etwas auch von sich behaupten können? Belehrung als vorbehalten, gebe ich das, was ich bisher feststellen konnte; und nach diesen Feststellungen kommt der Begriff vor


I.
Im christlichen Altertum bei Augustine
und Pseudo-Dionysius

Die bezügliche Stelle, um sie hier gleich an die Spitze der notwendig erscheinenden näheren Erläuterungen zu stellen, lautet ins Deutsche übertragen so: "Es gibt in uns, um mich so auszudrücken, eine gewisse  docta ignorantia,  aber gelehrt durch den Geist GOttes, welcher unsere Schwachheit unterstützt.

Der Brief, in welchem sich jene Stelle findet, an die reiche Wittwe PROBA gerichtet, behandelt auf deren Ersuchen die Frage, wie man GOtt bitten soll. Die hierauf erteilte Antwort geht des näheren zuerst auf die Gesinnung, dann auf den Gegenstand, um den man beten soll, ein. Die Antwort auf die zweite Frage lautet kurz zusammengefaßt so: Um ein glückliches Leben bete man. Was freilich Glückseligkeit bedeutet, darüber haben viele Forscher vielerlei Untersuchungen angestellt. Gemäß der Heiligen Schrift besteht sie darin, daß wir dahin gelangen, wo wir GOtt schauen, mit ihm ohne Unterbrechung leben können. Dorthin gelangt der, welcher betet, d. h. wer glaubt, hofft, verlangt und beachtet, um was er den Herrn bittet im Gebet des Herrn.

Auffallend aber ist drittens, weshalb der Weltapostel schreibt: Um was wir zweckdienlich beten, wissen wir nicht, denn es ist doch durchaus nicht anzunehmen, er selbst oder diejenigen, für welche er jene Worte schrieb, hätten das Gebet des Herrn nicht gekannt. Weshalb also schrieb er den Satz? Dieser ist so zu verstehen: Beschwerden und Trübsale des zeitlichen Lebens sind in den meisten Fällen nützlich, heilen einen von aufgeblasenem Stolz, erproben und üben in der Geduld oder strafen und tilgen die begangenen Sünden, und doch wissen wir nicht, wollen zumindest nicht wissen, wozu jene Leiden nützen sollen, wünschen darum von aller Trübsal befreit zu werden. Diesem Nichtwissen zeigte sich sogar der Weltapostel in seinem Denken nicht abgeneigt; um was er zweckdienlich bat, wußte er beispielsweise nicht, als ihm, damit er angesichts der ihm gewordenen hohen Offenbarungen sich nicht überhebt, der Stachel des Fleisches, der Bote Satans, beigesellt wurde, auf daß dieser ihn peinige. Dreimal bat er den Herrn, denselben von ihm zu nehmen, nicht wissend, um was er zweckdienlich bat. Schließlich erging die Aufklärung des Herrn darüber, weshalb nicht das geschah, was ein so großer Mann sich erbat, und der Herr ließ ihn wissen: Es genügt dir meine Gnade; denn die Stärke vollendet sich in der Schwachheit (II. Kor. 12, 7-9). Wer aber so, wie der Heiland am Ölberg getan hat (Math. 26,39), seinen eigenen dem göttlichen Willen unterwirft, der wird alles, was er wünscht, erlangen und in seiner Liebe zu GOtt nicht irgendetwas haben wollen, was ihm nicht zweckdienlich ist. In einer solchen Gesinnung und Denkweise liegt die Quelle des Lebens, der Friede, welcher allen Begriff übersteigt. Um diesen beten wir, wissen jedoch über das, um was wir bitten, nicht so genau Bescheid, wie dies zweckdienlich wäre. Einen Gedanken nämlich, welchen wir so, wie er wirklich ist, nicht genau zu fassen vermögen, den wissen wir schlechthin nicht; die Vorstellung, welche wir davon haben, lassen wir nicht als adäquat gelten, sie enthält nicht das, was wir suchen: dies zumindest wissen wir, wissen wir aber nicht genau, wie das erstrebte Ziel eigentlich beschaffen ist. Es gibt also, so schließt AUGUSTINUS, in uns, um mich so auszudrücken, ein gewisses gelehrtes Nichtwissen, gelehrt durch GOttesgeist, der unsere Schwachheit unterstützt.

Der Sinn dieser Folgerung ergibt sich klar aus den mit Absicht in ziemlicher Ausführlichkeit vorgestellten Unterlagen, insbesondere erhellt sich daraus auch die richtige Deutung des Ausdrucks und Begriffs "docta ignorantia". Zwar nicht der gleichlautende Ausdruck, aber wohl der demselben zugrunde liegende Begriff begegnet uns in der altchristlichen Literatur öfters; zunächst beim genannten Bischof von Hippo selbst, z. B. in der Rede über die drei ersten Verse des  Johannesevangeliums;  dortselbst heißt es nämlich unter anderem: Wenn wir von GOtt sprechen, so ist es gar nicht auffallend, das Gesagte nicht zu begreifen. Begreift man dasselbe, so ist es nicht GOtt; ihn zu begreifen ist nämlich unmöglich, ihn mit dem Geist einigermaßen zu erfassen große Glückseligkeit. Unter diesen Umständen mag das gewissenhafte Geständnis des Nichtwissens mehr am Platz sein, als das unbesonnene Bekenntnis des Wissens.

Eine weit wichtigere Rolle, wie bei AUGUSTINUS, spielt dieses Eingeständnis des Nichtwissens beim Vater der abendländischen Mystik, bei PSEUDO-DIONYSIUS. Dieser wird nie müde, das gänzlich Unzulängliche unserer GOtteserkenntnis in seinen Schriften mit allem Nachdruck zu betonen; wie er dies tut, mag der Eingang zur "mystischen Theologie" veranschaulichen. Die GOttheit wird hierselbst  über wesentlich,  über göttlich,  über gut genannt und inständigst gebeten, den Verfasser der Schrift schnurstracks zu einer Höhe mystischen Schauens zu führen, welches  über unerkannt,  über sichtbar,  überaus  hoch ist, wo die echten, makellosen, unveränderlichen Geheimnisse der Lehre von GOtt in der  über lichtreichen Finsternis verborgen sind; sie beleuchtet bei dichtestem Dunkel das  Über sichtbarste  über hell, macht beim gänzlich Unfaßbaren und unsichtbaren Wesen des  über schönen Strahlenglanz den augenlosen Geist  über voll. DIONYSIUS hat darum diesen sehnlichsten Wunsch: Der Leser seiner mystischen Theologie möge bei einer eifrigen Beschäftigung mit mystischen Anschauungen die sinnlichen Wahrnehmungen, die geistigen Tätigkeiten, sinnlich oder geistig wahrgenommene Gegenstände, kurzum alles, was da ist und nicht ist, beiseite lassen; zu der Einigung nämlich, soweit sie erreichbar ist, mit demjenigen Sein, welches über Sein und Wesen erhaben ist, muß man sich ohne Wissen erheben,  agnostos anatatheti  [ohne Wissen sich über sich selbst hinaus erheben - wp].

Dergleichen Lehrsätze, wie die soeben erwähnten, angeblich vom Areopagiten [Dionysus Areopagita - wp], dem unmittelbaren Schüler des Weltapostels, galten sehr viel, wie leicht begreiflich,


II.
Im Mittelalter bei Bonaventura
und geistesverwandten Mystikern

Jener hat den Weg, der den Menschen zu GOtt führt, in seinem "Iterinarium mentis in deum" ausführlich beschrieben. Der beschriebene Weg führt den Forscher durch die Spuren GOttes im All, durch die Spuren desselben in dieser sinnfälligen Welt, durch sein Abbild, ausgezeichnet durch natürliche Vermögen, wiederhergestellt durch erteilte Gnaden, führt weiter zunächst durch ursprünglichen Namen GOttes, der da kurzweg "das Sein" lautet, sodann durch den Namen "das Gute", und endet siebtens in der mystischen Erhebung des Geistes, in welcher der Vernunft dadurch Ruhe zuteil wird, daß der Affekt eben durch die Erhebung gänzlich in GOtt übergeht. Unser Geist erblickt somit GOtt außer sich, in sich und über sich, überdies in allen drei Fällen auf doppelte Art, demnach auf sechs verschiedene Weisen; auf der siebten Stufe aber läßt er nicht bloß diese sinnfällige Welt, sondern auch sich selbst, seine ganze geistige Tätigkeit beiseite, versenkt und gestaltet sich im höchsten Affekt gänzlich um in die GOttheit. Dies aber ist das mystische Geheimnis, welches nur der kennt, der es empfängt; nur der empfängt, der danach verlangt; wonach nur der verlangt, den das Feuer des heiligen Geistes entflammt; und darum sagt der Apostel, diese mystische Weisheit sei durch den heiligen Geist geoffenbart (I. Kor. 2,10f).

Dies sind nach dem heiligen BONAVENTURA die sieben Stufen des Weges für den menschlichen Geist hinauf zu GOtt, welche ich zum leichteren Verständnis des Folgenden zunächst glaubte kurz kennzeichnen zu sollen. Der höchsten Stufe nämlich, der mystischen, gehört gerade der Begriff an, um welchen es sich hier handelt, die "docta ignorantia". An zwei Stellen, so viel ich weiß, kommt der Ausdruck bei BONAVENTURA vor, zunächst einmal in dem großen Kommentar zu den Sentenzbüchern des PETRUS LOMBARDUS. Es handelt sich daselbst um das Erkennen der Stammeltern vor dem Fall, genauer um die Frage, ob  Adam  im Stand der Unschuld GOtt so erkannte, wie derselbe im Stand der zukünftigen Verherrlichung erkannt wird. Der sechste Einwurf möchte diese Frage bejaht wissen und begründet die gewünschte Bejahung so: Nichts steht GOtt so nahe, wie der menschliche Geist, wenn er frei von jeder Sünde ist.  Adams  Geist vor dem Fall war frei von der Sünde, sein Geistesblick nicht gehemmt durch irgendeine dunkle Wolke. Er konnte, so scheint es demnach, denselben auf GOtt unmittelbar richten; und dies ist das Schauen, welches wir in der ewigen Herrlichkeit erwarten.

Dieser Ansicht ist der  doctor seraphicus  deshalb nicht, weil der Mensch zu einem noch höheren Stand, wie er vor dem Sündenfall war, im künftigen Leben gelangen, nicht bloß GOttes Werke, sondern dessen Antlitz schauen soll; aber trotz dieser Abweisung ist derselbe doch einzuräumen geneigt, daß der Mensch seinen Blick unmittelbar auf GOtt richten kann, wobei er aber dann freilich das göttliche Licht nicht in seiner Klarheit schaut, sondern vielmehr in ein Dunkel und Finsternis fällt, und hierzu gelangt er durch die Verneinung aller Vorstellungen. Dies sagt, fügt der Autor hinzu, DIONYSIUS in seinem Buch über die mystische Theologie und nennt solches Erkennen "docta ignorantia".

Der letzte Satz enthält unseres Wissens ein starkes Versehen. Ist der lateinische Text richtig, so behauptet BONAVENTURA, in der mystischen Theologie des DIONYSUS kommt der Ausdruck "docta ignorantia" oder ein gleichwertiger griechischer vor; dies aber ist, soweit ich sehe, nicht so. Inst nun vielleicht der lateinische Text fehlerhaft? Irgendeine Variante führt zu der Stelle, wie sonst üblich, die vortreffliche neueste Ausgabe von 1885 nicht an. "Vocat" kann nicht richtig sein; beim Plural "vocant" wäre an die Zeitgenossen BONAVENTURAs, bzw. an die Denker bis auf seine Zeit zu denken, derselbe würde indessen ohne Zweifel viel zu viel besagen; bei "voces" wäre das unbestimmte "man", bei "voco" BONAVENTURA selbst derjenige, der die Behauptung aufstellt, und die letztgenannte Lesart dürfte als die einfachste und natürlichste allen übrigen vorzuziehen sein. Wie dem auch sei, es mag hier genügen, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß sich BONAVENTURA zum Beweis für "docta ignorantia" auf die oben bereits erwähnte Stelle aus der mystischen Theologie beruft, und sodann noch die nähere Deutung mitzuteilen, die er dem Ausdruck gibt. Danach ist unter "docta ignorantia" jenes Erkennen zu verstehen, in welchem zugleich die Liebe wunderbar entflammt wird. Dies wissen die am besten, welche sich zuweilen zu mystischen Anschauungen zu erheben pflegen. Auf eine solche Art zu erkennen, glaubt der Autor, müsse ein jeder rechtschaffene Mensch erstreben. Tut GOtt etwas darüber hinaus, so ist dies für einen jeden ein besonderer Vorzug und nicht nach dem gewöhnlichen Lauf.

Die zweite Stelle, welche den Ausdruck "docta ignorantia" enthält, steht, worauf schon von anderer Seite aufmerksam gemacht wurde (2), im  Breviloquium,  im fünften Teil, sechsten Kapitel, welches von der Verzweigung der Gnade in die Verhältnisse der "sieben" Seligkeiten, der "zwölf" Früchte und der "fünf" Sinne des Geistes handelt. Diese geistigen Sinne,  sensus spirituales,  vermitteln das Forschen, erheben den Forscher schließlich zum mystischen Schauen GOttes. Danach verlangen die heiligen Seelen, wie der Hirsch nach den Wasserquellen. Dieses so glühende Verlangen nach Art des Feuers macht unseren Geist nicht bloß behende zur mystischen Erhebung, sondern reißt ihn sogar durch eine gewisse "ignorantia docta" über sich selbst hinaus in Dunkelheit und Verzückung. Eine solche köstliche Erleuchung kennt nur, wer sie billigt; es billigt sie aber nur, wer dazu von GOtt die Gnade erhielt; diese aber erhält nur, wer sich dafür empfänglich macht.

Zwar nicht den Ausdruck "docta ignorantia", aber den diesem Ausdruck zugrunde liegenden Gedanken findet man bei BONAVENTURA selbst sowie bei den geistesverwandten Mystikern vor ihm und nach ihm häufig. Die besagte "ignorantia" steht, wie sich aus der zuletzt mitgeteilten Stelle deutlich erhellt, in engster Beziehung zu einer Erhebung in das mystische Dunkel, bezeichnet, wie schon von anderer Seite treffend hervorgehoben wurde (3), jenes höchste und letzte Erfassen GOttes, welches alles vernunftmäßige Wissen übersteigt, ja sogar ausschließt. Es lag das Bedürfnis sehr nahe, die hier gemeinte "ignorantia" von der gewöhnlichen "ignorantia", dem geraden Gegenteil derselben, auch äußerlich durch einen passenden Zusatz abzusondern, und man wählte das Adjektiv "docta", einen Zusatz, der mir sehr passend erscheint. Einmal sondert dieser die in Rede stehende von der gewöhnlichen "ignorantia" sehr scharf, deutet weiterhin darauf, daß sich in derselben die höchste Gelehrsamkeit mit dem Bewußtsein des Nichtwissens aufs innigste verbindet, und gibt schließlich zu verstehen, daß jene höchste Weisheit nicht das Werk der Menschen, sondern das Werk der göttlichen Gnade ist, die nur ganz besonders erwählten und dafür empfänglichen Seelen verliehen wird, daß jene Weisheit also recht eigentlich von GOtt selbst gelehrt wird. Mit Nachdruck betonen diesen Ursprung der "docta ignorantia" alle Mystiker, insbesondere BONAVENTURA und der PSEUDO-DIONYSIUS, nicht minder auch, wie wir sahen, AUGUSTINUS. Auf ihn ist der Ausdruck zurückzuführen; den zugrunde liegenden Gedanken aber führte das Mittelalter noch viel weiter zurück, auf den Aeropagiten nämlich, den unmittelbaren Schüler des Weltapostels.

Bei den bisher erwähnten Schriftstellern hat "docta ignorantia" einen spezifisch theologischen Sinn, kommt bei ihnen, soweit sich bis jetzt nachweisen läßt, verhältnismäßig auch recht selten vor. In beiden Beziehungen tritt eine wesentliche Änderung ein.


III.
In der Neuzeit bei Nikolaus Cusanus

Durch diesen Denker des 15. Jahrhunderts ist der Ausdruck zu einer gewissen Berühmtheit gelangt; trägt doch die in weiteren Kreisen bekannteste Schrift desselben eben diesen Ausdruck geradezu als Titel.

Auf die Idee einer Schrift mit diesem seltsamen Titel aber kam derselbe zu Anfang des Jahres 1438. Damals nämlich, auf hoher See gelegentlich der Rückkehr aus Konstantinopel nach Italien, kam er durch Erleuchtung von oben, wie er selbst glaubt, vom Vater der Lichter, auf den weittragenden Gedanken, die Dinge, welche für uns unbegreiflich sind, eben als summarisch in einer "docta ignorantia" zusammenzufassen. Dieses Vorhaben wurde 1440 ausgeführt, die bezügliche Schrift am 12. Februar 1440 zu Cues a. d. Mosel vollendet.

Als er die Idee zu derselben von oben empfing, hatte er, wie er bei einer späteren Gelegenheit nachdrücklich versichert, noch nicht den DIONYSIUS oder sonst irgendeinen der alten Gottesgelehrten gesehen; aber alsdann wandte er sich aus Neugierde eilends zu den Schriften dieser Gelehrten und fand daselbst zu seinem nicht geringen Erstaunen nichts, was dasjenige, was ihm geoffenbart worden war, nur verschieden darstellt. DIONYSIUS nämlich schreibe beispielsweise an GAJUS, das vollkommenste Nichtwissen sei Wissen, und rede vom Wissen um das Nichtwissen an vielen Stellen. Unter vielen anderen führt CUSANUS zum Beleg auch die Stelle an, welche oben bereits aus der mystischen Theologie mitgeteilt wurde. Des weiteren beruft er sich auf AUGUSTINUS, der da behauptet, man erfaßt GOtt durch Nichtwissen viel besser, als durch Wissen. Das Nichtwissen nämlich, fügt jener seinerseits noch zur Erklärung der Stelle hinzu räumt mit den Vorstellungen auf, das Wissenwollen hingegen trägt solche zusammen, die "docta ignorantia" aber verbindet alle Arten, wodurch man sich der Wahrheit nähern kann, miteinander. Darüber aber, wie dieselbe in uns existiert, klärt uns derselbe AUGUSTINUS bei der Gelegenheit auf, wo er das Wort des heiligen PAULUS im Brief an die Römer 8,26 erläutert. Da nämlich sagt er unter anderem: Zwar wissen wir, daß existiert, wonach wir suchen, aber wie es beschaffen ist, wissen wir nicht; diese, um es so auszudrücken, "docta ignorantia" ist durch den Geist, der unserer Schwachheit hilft, in uns.

Hiernach zu schließen, weiß CUSANUS sehr genau, daß bei AUGUSTINUS bereits der fragliche Ausdruck vorkommt; fraglich bleibt nur, seit wann er dies wußte; möglicherweise schon vor 1438. Allerdings versichert, wie bereits vorhin erwähnt, derselbe nachdrücklich, vor dem angegebenen Jahr nicht irgendeinen der alten Gottesgelehrten gesehen zu haben; indessen, will man nicht in unlösbare Schwierigkeiten geraten, so darf man darauf nicht allzu großen Nachdruck legen; denn tatsächlich hat er in der 1433, also fünf Jahr früher vollendeten Schrift "de concordantia catholica" die Schriften der alten Gottesgelehrten, insbesondereauch den Bischof von Hippo und von diesem die Briefe, in denen, wie bekannt, der Ausdruck vorkommt, wiederholt erwähnt. Leicht möglich ist es daher, daß er schon 1433 den Brief an die PROBA und in diesem die Stelle, welche den Ausdruck "docta ignorantia" enthält, gelesen und den seltsamen Ausdruck eben deshalb gleich behalten. Mag es nun sein, wie es will,  entlehnt  hat er denselben dem mit kindlicher Pietät verehrten AUGUSTINUS.

Aber nicht in dem nämlichen Sinn, wie dieser, verwertet. Die Denker früherer Zeiten nämlich, die Mystiker namentlich reden, soweit ich sehe, von der "docta ignorantia" nur dort, wo es sich um die höchste Erkenntnis GOttes handelt. Auch unser Autor redet von ihr zwar in einem solchen Zusammenhang, bleibt hierbei jedoch nicht stehen, sondern gibt derselben eine  viel größere Tragweite. 

Die drei Bücher der "docta ignorantia" nämlich umfassen in drei Gruppen alle Gegenstände menschlichen Forschens, bezüglich einer jeden wird die "docta ignorantia" eingehend begründet. Zunächst denken wir und danach GOtt als dasjenige Sein, das wir zu begreifen nicht imstande sind; er ist das schlechthin und absolut Größte, gehört nicht in den Bereich der Dinge, welche Abstufungen aufweisen, steht somit hoch erhaben über all dem, was wir begreifen, ist mit einem Wort die unendliche Wahrheit. Offenbar besteht zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen keine Proportion; zu groß ist daher das absolut Größte dafür, daß wir dasselbe begreifen könnten.

Von ihm wendet sich der zum Voraus prüfende Blick im zweiten Buch den Dingen zu, welche das, was sie sind, jenem verdanken, d. h. von der absoluten Ursache zu deren Wirkung. Eine solche aber ist durchaus von jener abhängig, richtet sich nach ihr, wodurch sie, was sie ist, so sehr und so genau, wie sie kann. Schwierig ist es daher, nachdem, wie gezeigt, das absolute Urbild unerkannt bleibt, die Beschaffenheit des beschränkten Seins zu erfassen. Es schickt sich also für uns, über unser Begreifen hinaus in einer Art "ignorantia" bewandert zu sein; ohne die Wahrheit genau, wie sie ist, zu erfassen, gelangen wir dann zumindest zu der Höhe, sie existieren zu sehen. Zwar wissen wir fest und bestimmt, daß zwischen Schöpfer und Geschöpf ein ursächliches Verhältnis besteht, dasselbe vollständig zu begreifen vermögen wir jedoch nicht. Denken wir uns dieses Verhältnis als ein ideales Enthalten und Entfalten, so müssen wir abermals zugestehen, daß wir diesen Vorgang nicht völlig durchschauen.

Das dritte Buch schließlich handelt vom Größten, das absolut und endlich zugleich ist, von CHRISTUS; daß hier die "docta ignorantia" Geltung hat, mag an dieser Stelle durch den Hinweis als erledigt betrachtet werden, daß der Autor einiges in der "ignorantia" bewandert zu durchforschen beabsichtigt.

Demnach wäre alles Wissen sozusagen ein Nichtwissen. Das Wissen nämlich entsteht durch Vergleichen dessen, was mehr oder minder ungewiß, mit einem anderen, was absolut gewiß oder eben als gewiß vorausgesetzt wird. Vollkommen adäquate Vergleiche bei körperlichen Gegenständen und ein genaues Anpassen des Bekannten an das Unbekannte aber übersteigt den menschlichen Verstand. Zum Beweis für diesen weittragenden Satz beruft sich der Autor, merkwürdig genug, nicht etwa wie bei der Frage nach der Erkennbarkeit GOttes, auf den Aeorpagiten und die Mystiker des Mittelalters, sondern, von dem so weisen König SALOMON abgesehen, auf zwei klassische Philosophen, zunächst auf SOKRATES, welcher geglaubt hat, er wisse nur, daß er nichts weiß, sodann auf den so scharfsinnigen ARISTOTELES, welcher in seiner ersten Philosophie unter anderem versichert, es treten uns selbst bei Gegenständen, die mit den Händen sich greifen lassen, solche Schwierigkeiten beim Erkennen entgegen, wie der Eule, wenn sie die Sonne zu sehen versucht. Ist dem so, und kann uns andererseits der Wissenstrieb nicht zwecklos innewohnen, so verlangen wir in der Tat zu wissen, daß wir nicht wissen. Falls wir dies vollständig zu erreichen vermögen, so werden wir die "docta ignorantia" erreichen. Die höchste Vollendung nämlich, zu welcher ein Denker, und sei es auch der strebsamste, in einem Fach gelangen wird, besteht einzig eben in diesem Nichtwissen, was ihm eigentümlich ist, am bewandertsten erfunden zu werden; und je mehr einer von sich weiß, daß er nicht weiß, desto gelehrter wird er sein.

Die präzise Wahrheit aber läßt sich in letzter Linie deshalb nicht erfassen, weil sie in einer unteilbaren Einheit besteht, gerade dies, nicht mehr und auch nicht weniger ist. Ist etwas nicht das Wahre selbst, so kann es dieselbe nicht völlig genau umfangen; so z. B. einen Kreis, dessen Wesen in einer unteilbaren Einheit besteht, nicht eine Figur, welche kein Kreis ist. Eine Vernunft, welche nicht die Wahrheit ist, begreift demnach die Wahrheit niemals in dem Grad genau, daß dieselbe nicht unendlich genauer begreifen könnte; sie verhält sich zur Wahrheit wie das Vieleck zum Kreis. Je mehr Winkel das eingeschriebene Vieleck hat, desto ähnlicher wird es dem Kreis sein. Niemals jedoch, selbst wenn man die Winkel ins Unendeliche vervielfältigt, wird es ihm gleich, es sei denn, daß es in die Identität des Kreises übergeht. Offenbar also wissen wir vom Wahren nur, daß es genau so, wie es ist, sich nicht begreifen läßt. Die Wahrheit verhält sich, wie die gänzlich absolute Notwendigkeit, welche nicht mehr und auch nicht weniger, als sie ist, sein kann, und unsere Vernunft, wie die Möglichkeit. Je gründlicher wir in dieser "ignorantia" bewandert sind, desto mehr werden wir an die Wahrheit herankommen.

Dieser so begründeten und gefaßten "docta ignorantia der gleichnamigen Schrift hat der Autor dann, vermutlich noch im nämlichen Jahr 1440, eine etwas andere Fassung geben zu müssen geglaubt. Weil es, so beginnt die Schrift  "De Coniecturis",  richtig ist, daß die völlig genaue Wahrheit, wie in den Büchern der "docta ignorantia" nachgewiesen, sich nicht erfassen läßt, so folgt daraus, daß menschlicherseits jede beinahe Aussage bezüglich des Wahren eine (bloße)  Annahme  ist. Es ist die Möglichkeit nämlich, das Erkennen des Wahren zu erweitern, nicht unerschöpflich. Zum größten, menschlicherseits eben unerreichbaren Wissen steht demnach unser wirkliches in keinem Verhältnis, und der unsichere Abfall unseres schwachen Erfassens von der lauteren Wahrheit macht somit unsere Behauptungen bezüglich des Wahren zu (bloßen) Annahmen. Es wird also die unfaßliche Einheit der Wahrheit durch mutmaßliche Andersheit erkannt (Cognoscitur igitur inattingibilis veritatis unitas alteritate coniecturali).

Ein Unterschied zwischen dem  jetzt hier  und dem  früher  in der "docta ignorantia" vertretenen Standpunkt ist nicht zu verkennen. Wurde früher die negative, so wird jetzt die positive Seite an unserem Erkennen besonders stark betont, an die Stelle der "docta ignorantia" tritt die "coniectura", das früher so nachdrücklich betonte "Wissen um das Nichtwissen" wird jetzt durch die an die nach wie vor freilich unerreichbare Wahrheit doch immerhin mehr oder minder heranreichende Annahme sozusagen verdrängt.

Verbessert, wie man wohl ebenso gut sagen könnte, und zweitens auch deutlicher, wie früher, begrenzt. Irrig allerdings wäre es, unserem Autor die Absicht zu unterschieben, als habe er ursprünglich, d. h. im Jahr 1438, unser gesamtes Wissen für ein bloßes Wissen um unser Nichtwissen erklären wollen; indessen die gegenteilige Absicht findet sich, soweit ich sehe, in der "docta ignorantia" nur an einer einzigen Stelle ganz versteckt angedeutet. In jenem denkwürdigen Augenblick nämlich, wo er, um zu einer allseitig befriedigenden Welterklärung zu gelangen, den Entschluß faßte, die Dinge, welche für uns unbegreiflich sind, summarisch in einer "docta ignorantia" zusammenzufassen, da stellte er jenen unbegreiflichen Dingen unvergängliche Wahrheiten, welche der Mensch wissen kann, gegenüber und beschloß über diese in der geplanten Schrift einfach hinwegzugehen.

Unter diesen "unvergänglichen Wahrheiten" aber sind, nach anderweitigen Andeutungen der "docta ignorantia" zu schließen, zweifelsohne die Sätze der Mathematik zu verstehen. Während anderswo adäquate Vergleich und eine genaue Anpassung des Bekannten an das Unbekannte den Menschenverstand übersteigt, sind nämlich in dieser Wissenschaft die obersten Prinzipien ganz geläufig, und lassen sich auf diese die näher liegenden Lehrsätze mit großer Leichtigkeit zurückführen.
    "Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge", so lesen wir an einer anderen Stelle, sind wegen der möglichen Veränderungen an der in ihnen vorherrschenden Materie in stetiger Unbeständigkeit, daher für uns schwer zu erkennen; daneben oder vielmehr über ihnen sehen wir ganz fest bestimmte und für uns ganz zuverlässig gewisse Dinge, und dies sind die Gegenstände der Mathematik."
Deutlicher, wie diese vereinzelten Stellen der "docta ignorantia", sprechen sich über die selbst für den Menschen nicht zu hoch liegenden Wahrheiten die "coniecturae" [Vermutungen, Annahmen - wp] aus. Danach wird der Kreis, da er ein Verstandesding ist, in dem ihm eigentümlichen Sein durch den Verstand genau so, wie er ist, erfaßt. Denkt man sich nämlich eine Figur, in welcher alle vom Mittelpunkt nach der Peripherie gezogenen Linien einander gleich sind, so hat man in dieser Verstandesvorstellung den Kreis als Verstandesding. Auch das ist noch eine nur gelegentliche Äußerung, getan zu dem Zweck, um den hochwichtigen Satz nach der einen Seite hin zu veranschaulichen, daß ein jedes Ding bloß in dem ihm eigentümlichen Sein genau so ist, wie es ist, dagegen in einem anderen auch sofort anders. Selbständig zum ersten Mal, wenn ich mich nicht irre, tritt die bezügliche Ansicht in  "De Beryllo"  1458 auf. Der Mensch ist, wie HERMES TRISMEGISTOS behauptet, was man wohl beachte, ein zweiter GOtt. Wie nämlich GOtt Schöpfer der wirklichen Dinge und Naturformen, so der Mensch der Verstandesdinge und Kunstformen. Diese sind nichts, als Bilder seiner Vernunft, gleichwie die Geschöpfe Bilder der göttlichen Vernunft. Am deutlichsten schließlich wird der Sachverhalt in  "De Possest"  1460 dargelegt. Wahr sind und bleiben, hebt einer der Mitunterredner zur teilweisen Berichtigung eines anderen mit Nachdruck hervor, die Sätze: Zweimal zwei ist vier, und jedes Dreieck hat drei Winkel, welche zwei rechten gleich sind. Unser menschliches Wissen erfaßt somit auch die völlig genaue Wahrheit. Ganz gewiß, bemerkt hierzu der Autor, in der Mathematik, welche unserem Verstand entstammt und in uns, gleichwie in ihrem Prinzip, unserer Erfahrug zufolge sich vorfindet. Die Sätze dieser Wissenschaft, weil unser Eigen als Verstandesdinge, kennen wir ganz genau. Dahingegen bleiben die göttlichen Werke, welche aus der göttlichen Vernunft hervorgehen, uns so, wie sie eigentlich genau ansich sind, unerkannt; wenn wir davon etwas kennen lernen, so geschieht dies durch (bloße) Annahmen. Nach dieser bündigen Erklärung sind ohne Zweifel im Sinne des CUSANUS die Annahmen auf das Gebiet der realen Dinge und Naturformen einzuschränken. Hiermit lehrt derselbe übrigens nichts Neues, sondern nur solches, was lange vor ihm schon AUGUSTINUS nachdrücklich betont hatte.

Mit obigen Angaben aber dürfte so ziemlich der Entwicklungsprozeß dargestellt sein, welchem der Begriff "docta ignorantia" im Denken des CUSANUS unterworfen war. Fraglich bleibt, wie derselbe am Besten zu verdeutschen ist. Das Beste scheint am nächsten zu liegen:  "gelehrtes Nichtwissen".  Ebenso wie das lateinische Original, enthält diese Verdeutschung ein Oxymoron; solches durch mehr oder minder umschreibende, mehr oder minder glücklich gewählte Ausdrücke zu ersetzen, scheint weniger ratsam, wie dasselbe nach bestem Können zu erklären; und danach dürfte "gelehrtes Nichtwissen" ein  Nichtwissen  bezeichnen,  welches, über sich selbst belehrt, Gelehrsamkeit leugnet. 

Im engsten Anschluß an CUSANUS sind jetzt ganz kurz zwei Zeitgenossen und Landsleute desselben zu erwähnen; zuerst JOHANNES WENCK, Professor der Theologie zu Heidelberg.

Das "gelehrte Nichtwissen" wird, so lesen wir in der Apologie derselben, unter anderem nicht müde, in Übereinstimmung mit den größten Mystikern der Vorzeit immer und immer wieder zu betonen, die hl. Schriften erforschen heißt das auffinden, was gefunden sich wieder verbirgt, für alle Zeiten verborgen und unerreichbar bleibt. Das gerade Gegenteil hiervon verspricht WENCK gleich zu Anfang der Schrift, welcher er den auf den ersten Blick recht sonderbaren, aber dann sehr bezeichnenden Titel  "De ignota litteratura"  gab. Daselbst nämlich verspricht er gleich im Eingang eine vollständige Aufklärung über die ewige Weisheit, greift demzufolge auch in erster Linie den Standpunkt an, auf welchem sich das "gelehrte Nichtwissen" stellt. Er will nichts davon wissen, daß man, um zu den für uns unbegreiflichen Wahrheiten zu gelangen, über die Wahrheiten hinausgeht, welche der Mensch wissen kann, und dann, wie der Autor des "gelehrten Nichtwissens" getan hat, dieselbe, ohne die Absicht sie begreifen zu wollen, summarisch zusammenfaßt. Einem solchen Verfahren und der ihm zugrund liegenden Anschauung widerspricht der Weltapostel im ersten Brief an die Korinther, wo dieser versichert, das Begreifen findet sich in einem Spiegel und im Gleichnis.

Gegen diesen Einwurf verwahrt sich CUSANUS sehr entschieden. Er macht darauf aufmerksam, wie sofort eine Veränderung der Begriffe entsteht, sobald sich der Gesichtspunkt ändert. Es sah dieser gute Mann auf die Worte  Spiegel  und  Gleichnis,  als ob sich durch sie  GOtt  so, wie er ist, begreifen läßt. Indessen wer da sieht, wie das Bild des Urbildes Abbild ist, der geht über das Abbild hinaus und wendet sich auf diese Weise zu der unbegreiflichen Wahrheit, ohne darum zu glauben, diese begreifen zu können. Wer da ein Geschöpf für ein Bild des einen Schöpfers ansieht, sieht ein, daß eine jede Vollkommenheit von dem herrührt, dessen Abbild dasselbe ist. Es erscheint somit GOtt in Geschöpfen, wie die Wahrheit in einem Bild. Wer also einsieht, daß die so großartige Mannigfaltigkeit ein Bild des einen GOttes ist, der dringt, indem er die ganze Mannigfaltigkeit der Abbilder insgesamt beiseite läßt, zu einem unbegreiflichen Urbild vor, ohne die Absicht, dasselbe ergreifen zu wollen. In Erstaunen nämlich wird der versetzt, wenn er dieses unendliche Sein bewundert, welches sich in allen begreiflichen Dingen findet, wie in einem Spiegel und Gleichnis, und treffend sagt er sich, jene Form, dessen Bild ein jedes Geschöpf ist, läßt sich durch kein Geschöpf begreifen. Kein Bild nämlich kann das adäquat genaue Maß der Wahrheit sein; denn eben in dem Umstand, daß es ein Bild ist, liegt zugleich der Mangel. Es läßt sich daher die absolute Wahrheit niemals begreifen. GOtt, der die Wahrheit selbst ist, ist als Gegenstand des Erkennens am meisten erkennbar und bloß wegen seiner übergroßen Erkennbarkeit ähnlich, wie die Sonne wegen ihrer so hervorragenden Sichtbarkeit unsichtbar, in seiner Weise unerkennbar ist. Daher bleibt einzig das "gelehrte Nichtwissen" oder die Möglichkeit, die Unbegreiflichkeit zu begreifen, der ziemlich richtige Weg, um über die geschaffenen Dinge hinaus zu GOtt, der schöpferischen Ursache, emporzusteigen.

In naher Beziehung zum Begriff der "docta ignorantia" steht noch ein zweiter Vorwurf, den WENCK in seiner Gegenschrift  "De ignota litteratura"  glaubt erheben zu sollen. Er sagt, es sei nicht richtig zu behaupten, daß das  Wissen  ein  Nichtwissen  ist, denn Haben und Nichthaben pflegt man auch zu unterscheiden.

Ganz verwundert erwidert hierauf CUSANUS, wie ein Mann, der von sich glaubte, etwas Bedeutendes zu sein, behaupten kann, so etwas stehe in den Büchern des "gelehrten Nichtwissens" geschrieben. Allerdings lautet die Überschrift des ersten Kapitels fragend, weil eine Untersuchung eben der Frage beabsichtigt gewesen, dahin: "Inwiefern ist das Wissen ein Nichtwissen?" Aber darum behauptet dieselb doch nicht schlechthin, das Wissen sei Nichtwissen. Jenes sei dies nur in dem Sinne, wie eben daselbst erklärt wird, d. h. das Wissen sei gewissermaßen ein Nichtwissen, insofern man bloß weiß, daß man nichtwissend ist. Über dieses  Wissen um das Nichtwissen  gibt das fragliche Kapitel einen sehr klaren Aufschluß.

Der also gleich von vornherein gegebene "so klare Aufschluß" indessen war, wie soeben mitgeteilt, für WENCK nicht klar genug, und auch die weiteren Aufschlüsse, welche darüber "die Verteidigung des gelehrten Nichtwissens" in großer Fülle noch nachträglich beibringt, werden, wie dies erfahrungsgemäß gewöhnlich zutrifft, ihn schwerlich eines Besseren belehrt haben. Für den Verfasser der  "Ignota litteratura"  war der Urheber der  "Docta ignorantia"  ein falscher Apostel und dessen Schrift, wenn ich den höhnischen Titel der Gegenschrift richtig beziehe, eben das, was dieser Titel anscheinend besagt, eine "gemeine Schmiererei"; dies wäre dann weiterhin eine Deutung des Ausdrucks, um den sich unsere Untersuchung dreht, welche gar nicht stimmen würde zur oben versuchten.

Indessen war WENCK für uns in seinem blinden Übereifer für althergebrachte vorgefaßte Meinungen für uns bei der versuchten Deutung naturgemäß weniger maßgebend, wie die authentischen Erklärungen des CUSANUS. Auch den zweiten Zeitgenossen und Landsmann desselben erwähne ich jetzt nicht als maßgebende Autorität, sondern hauptsächlich um des Gegensatzes willen, in welchem er sich mit seiner Deutung bewußt zu WENCK stellt; gemeint ist hiermit BERNHARD von Wagingen, Prior im Benediktinerkloster Tegernsee.

Für ihn ist das, was WENCK allem Anschein nach eine "gemeine Schmiererei" zu nennen beliebt, ein  "heiliges  gelehrtes Nichtwissen". In demselben Jahr nämlich, wo CUSANUS als päpstlicher Legat die deutschen Gauen reformierend durchzog, d. h. im Jahre 1451, wurde der genannte wißbegierige und entschieden zur Mystik hinneigende Prior auf die Bücher über das gelehrte Nichtwissen aufmerksam und las, wie er selbst später gelegentlich mitteilt, dieselben ziemlich wißbegierig wiederholt durch, wurde durch die in derselben mitgeteilten neuen Aufschlüsse in Staunen versetzt, von Liebe für dieselben entflammt und schrieb schließlich, um auch andere dafür zu begeistern, sein  "Laudatorium sacrae doctae ignorantiae".  Gelehrtes Nichtwissen, heilige mystische Weisheit, heißt es unter anderem da, Kunst der Künste, Wissenschaft der Wissenschaft, nein: nicht Kunst, nicht Wissenschaft, sondern unendlich mehr, wie diese! Kurzum: keine Wissenschaft ist so hoch erhaben, so göttlich, aber auch keine zu suchen so schwierig und zu finden so köstlich, wie dieses heilige Nichtwissen.

Die mitgeteilten kleinen Proben mögen genügen, um deutlich zu zeigen, wie deren Verfasser die "docta ignorantia" des CUSANUS vorzugsweise auffaßte. Beiden Zeitgenossen, dem Prior BERNHARD sowohl wie dem Professor WENCK, wollen wir es zugute halten, daß sie den wichtigen Begriff nicht richtig zu deuten vermochten; WENCK erfaßte nicht richtig dessen Inhalt und BERNHARD nicht richtig dessen Umfang. Indessen auch das Irrtümliche zu kennen kann unter Umständen lehrreich sein; denn dies bewahrt einen selbst vor Irrtum, und unter diesem Gesichtspunkt mag man jenen Auffassungen hier eine, wenn auch ganz bescheidene Stelle verstatten.

Etwas über ein halbes Jahrhundert lassen wir jetzt vorübereilen, wenden uns inzwischen nach einem Nachbarland, um den Spuren der "docta ignorantiae" nachzuforschen.


IV.
In Frankreich bei Bovillus, Sanchez,
und Gassendi.

In Frankreich ist man um die angegebene Zeit, etwa seit 1505, eifrig bemüht, für die Verbreitung der Schriften des CUSANUS Sorge zu tragen. Um diese Zeit nämlich, spätestens 1507, faßte JAKOB FABER den Plan, die Werke dieses "ohne irgendwelchen Zweifel in jeder Gattung von Wissenschaften so ausgezeichneten Mannes und so hervorragenden Gelehrten" in Paris neu drucken zu lassen; im Mai 1508 hat man die Werke bis auf einige wenige bereits beisammen, erschienen aber sind sie erst im Jahre 1514. Diese genauen Zeitangaben waren hier deshalb zu machen, um dem Nachweis, welcher jetzt folgen soll, eine zuverlässige Grundlage zu geben.

Ein begeisterter Schüler des genannten Herausgebers nämlich war KARL BOVILLUS. Dieser schrieb bis zum Jahr 1509 zwölf kleinere Arbeiten, welche, in einem Folioband mit 196 Blättern vereinigt, am 1. Februar 1510 bei HEINRICH STEPHANUS zu Paris erschienen. Von diesen zwölf interessiert uns hier nur diejenige, welche am 26. November 1509 vollendet wurde und den seltsamen Titel  "Liber de nichilo"  führt.

Nichts, so hören wir hier, ist nichts, aus nichts wird nichts, in nichts vergeht nichts, nichts entsteht neu, nichts vergeht. Nichts ist ewig, wie GOtt, und ungeschaffen, GOtt schuf in der ersten Zeit nichts, das nichts Schaffen hat niemals begonnen, das nichts Schaffen hörte einmal auf: also lauten die hauptsächlichsten Thesen der drei ersten Kapitel, welche eher paradox als geistreich zu nennen sind. Eher hören schon lassen sich aus den nächsten vier Kapiteln folgende Sätze. GOtt schuf aus nichts alle Dinge, sie alle sind im Vergleich zu ihm nichts; und ebenso, wie sie ingesamt von Gott aus nichts geschaffen wurden, sind sie auch in nichts gefestigt, gewogen und gesetzt; ganz anders aber, wie in nichts, sind sie in GOtt aufgenommen und gesetzt. Wichtiger noch sind die beiden folgenden Kapitel, das achte und neunte, über die Beziehungen zwischen GOtt und nichts, am wichtigsten das zehnte und elfte über das Wesen der Bejahung und Verneinung in Bezug auf eine  bejahende und verneinende Theologie. 

Theologie, lesen wir in dem zuletzt genannten 11. Kapitel, heißt GOtt genau kennen lernen; sie wird entweder in sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen gesucht, oder durch innerliches Nachdenken empfangen, oder durch Engel geoffenbart und durch den göttlichen Geist frommen Seelen eingeflößt. Auf diese drei Arten nämlich werden wir des so hoch erhabenen Wissens um GOtt teilhaftig, mit anderen Worten: es offenbart sich uns jener höchste GOtt, unzugänglich für die leiblichen Augen, im Dunkeln; ein Fünkchen von ihm leuchtet für das innere Auge unseres Geistes auf. Die erste Art der Theologie und göttlichen Wissenschaft erscheint, mit den zwei übrigen verglichen, ziemlich untergeordnet und niedrig. Auf diese Art nämlich ist der menschliche Geist bestrebt, nach Philosophen Sitte und der Sinne Beistand aus der sinnlichen in die übersinnliche, geistige Welt hinüberzugelangen; auf die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen aufmerksam, entnimmt er aus diesen seine  Annahmen, coniecturas  über die geistig wahrnehmbaren und göttlichen Dinge. Die zweite Art aber ist weniger bedingt, wie die erste, und um einen Grad mehr ausgezeichnet. Suchte der Geist vorher aus der Welt und den sinnlichen Dingen Vorstellungen zu gewinnen, so tritt er jetzt, seiner selbst bereits mächtig und in sich selbst zurückgezogen, als der Schöpfer seiner eigenen Begriffe auf. Und diese zweite Theologie nennt man transzendente Philosophie oder Metaphysik. Die dritte Art unseres Wissens um das göttliche Licht und dessen Einstrahlung kommt durche ine gewisse göttliche Verzückung und Ekstase in uns zustande; und diese Art ist bei weitem vortrefflicher, als die übrigen; dieselbe nennen wir die prophetische, heiliger Seelen glücklichste Vereinigung mit GOtt, das geheimnisvolle Schauen GOttes. Die ausschließlich durch göttliches Erbarmen erleuchteten Geister gewisser Menschen werden auf diese dritte Art urplötzlich vom hl. Geist alle Wahrheit gelehrt.

In der oben zuerst genannten Erkenntnisweise GOttes aber treten Bejahung und Verneinung ein; sie teilt sich danach in eine bejahende und in eine verneinende Theologie. GOtt nämlich wird sowohl durch die Setzung, als auch durch die Beseitigung aller sinnlichen Erscheinungen und selbst das Nichts kenntlich gemacht, bald mit allen umkleidet, bald aber von sämtlichen entblößt. Die bejahende Theologie steigt von GOtt herab, dringt durch alle Mittelglieder bis zum Nichts vor, umgekehrt steigt die verneinende Theologie vom Nichts durch die Materie und die sämtlichen Mittelglieder zu GOtt hinauf; alle Behauptungen, welche die bejahende Theologie über GOtt aufstellt, räumt die verneinende wiederum weg; die verneinenden Aussagen über ihn sind zu unserer Belehrung dienlicher, als die bejahenden, sie führen uns mehr zu GOtt selbst hin. Daher kommt es, daß die wahrste und höchste Theologie ein Nichtwissen GOttes ist, welches man  gelehrtes Nichtwissen  nennt.

Auf eine andere Weise, so leitet BOVILLUS die Erläuterung des zuletzt ausgesprochenen Gedankes ein, begreifen wir das Endliche, auf eine andere das Unendliche. Das Endliche nämlich kennen wir, erkennen sein Wesen, seine Größe; dagegen vom Unendlichen wissen wir bloß, daß es unendlich ist, d. h. daß es nicht endlich ist, nicht durch unseren Geist sich begreifen läßt, daß es von ihm keinen Begriff, keine Definition, kein Wissen gibt. Daher ist das wahrste und das höchste Wissen, welches wir vom aktuell Unendlichen d. h. von GOtt erlangen, eine gewisse Verneinung und ein Nichtwissen, wodurch wir wissen, daß wir jenes Unendliche nicht wissen können, daß es uns stets verborgen bleibt, stets über unseren Geist hoch hinaus ist und unendlichmal seine Fassungskraft übersteigt. Wenn wir nämlich glauben, wir wüßten dasselbe, so täuschen wir uns augenblicklich; wenn wir dagegen dafür halten, daß wir im Vergleich zu ihm allzu schwach sind, dasselbe überschreitet den kurzsichtigen und schwächlichen Blick unseres Geistes, dann sind wir jenem durch diese Verneinung und dieses Nichtwissen ziemlich nahe, verleiben uns ihm ein und vereinen uns ihm immermehr. Die wahrste, die höchste und vollendetste Theologie ist also diejenige zu wissen, daß man GOtt nicht wissen kann, zu wissen, daß er unerkennbar, unerforschlich, für die leiblichen und für die geistigen Augen unzugänglich, daß er alles übersteigt, im Dunkeln und in der Finsternis eines unermeßlichen Lichts verborgen wohnt, unaussprechlich, unbegreiflich, einzig und allein schließlich sich selbst so, wie er ist, gegenwärtig, bekannt und durchschaubar ist. Und  dieses Nichtwissen um GOtt und göttliche Dinge nennen sehr viele ein gelehrtes Nichtwissen  und vorzügliches Wissen.

Hiermit wäre der Ausdruck  docta ignorantia,  bzw. "docta ignoratio" auch bei dem französischen Denker KARL BOVILLUS, dem Schüler des JAKOB FABER, nachgewiesen. Durch den Hinweis auf dieses Verhältnis des BOVILLUS zu FABER ist mittelbar auch die Annahme nahe gelegt, daß jener ebenso, wie dieser, den CUSANUS kannte, seine Lehren, wie dieser, auch hoch schätzte; mehr noch, daß es sie schon kannte und schätzte, als er im Jahre 1509 das "Buch über das Nichts" schrieb. Diese Vermutung wird durch die im Eingang zu Nr. IV beigebrachten genauen Zeitangaben sehr wahrscheinlich. Ist dieselbe richtig, so ist keinen Augenblick daran zu zweifeln, daß BOVILLUS die Ausdrücke "docta ignorantia" und "coniectura" dem CUSANUS entlehnte.

Läge indessen eine solche Entlehung nicht vor, so wäre auf der anderen Seite die sachliche Übereinstimmung zwischen den beiden Denkern höchst verwunderlich. BOVILLUS kennt die Lehren der Mystik, erwähnt den Vater derselben, den DIONYSIUS, sehr oft; trotzdem reiht er die "docta ignorantia" nicht dort ein, wo dies die oben erwähnten Mystiker taten, sondern dort, wo es CUSANUS tut; denn wollte er jenen in diesem Punkt folgen, so müßte er die "docta ignorantia" zu der von ihm sogenannten dritten Art der Gotteserkenntnis, der prophetischen, oder zu einem geheimnisvollen Schauen GOttes stellen, dieses mit dem  gelehrten Nichtwissen  für identisch erklären. Dies tut er aber, wie wir oben sahen, durchaus nicht, sondern stellt die "docta ignorantia" zur untersten Art der Theologie, zur "ersten Theologie", wonach der Strahl göttlichen Lichts, mit mannigfaltigen sinnlichen und körperlichen Hüllen umkleidet, für uns aufleuchtet, und schließt sich dadurch gegen die Mystiker dem CUSANUS an, für welchen der Begriff, wie bekannt, nicht den letzten, den höchsten Abschluß der Gotteslehre bildet, sondern diese in ihrem ganzen Umfang beherrscht, ihr bei ihm, wie früher nachgewiesen, ein so eigentümliches Gepräge verleiht; und genau so, wie bei CUSANUS, verhält es sich mit der "docta ignorantia" in dieser Hinsicht auch bei unserem BOVILLUS. Daran läßt sich nach den früher aus dem "Buch über das Nichts" mitgeteilten Stellen gar nicht zweifeln.

Indessen trotz der Übereinstimmung in dem hier soeben berührten Punkt obwaltet in der Lehre von der "docta ignorantia" aund auch der  coniectura  ein sehr beachtenswerter Unterschied zwischen den beiden doch noch. Bei CUSANUS umfassen, wie bekannt, die beiden Begriffe, und zwar jeder für sich, das ganze Gebiet dessen, was unabhängig von unserem Geist entsteht und besteht, kürzer gesagt: das große Gebiet der wirklich existierenden Dinge; nicht so bei BOVILLUS. Er betont vielmehr an sehr vielen Stellen und so auch im Eingang der oben erwähnten, daß wir das Endliche, sein Wesen und seine Größe kennen, nur nicht das aktuell Unendliche d. h. GOtt. Nur in Bezug auf ihn gelten daher für den BOVILLUS die Begriffe  docta ignorantia  und "coniectura". Für die Richtigkeit dieser Lehre von der Unbegreiflichkeit GOttes für uns konnte sich BOVILLUS, wie er auch zu tun pflegt, mit Fug und Recht zwar auf die angeblichen Schriften des Aeropagiten berufen, aber nicht, wie mir scheinen will, und wie er trotzdem doch tut, auf den bekannten Ausspruch des SOKRATES vom bloßen Wissen um das Nichtwissen; denn dieser Ausspruch geht viel weiter, als BOVILLUS nach dem Obigen zugeben würde. Daß er trotzdem den SOKRATES anführt, erklärt sich vielleicht daraus, daß dies, wie oben erwähnt, CUSANUS tut. So viel steht fest, daß "docta ignorantia" und "coniectura" bei BOVILLUS den selben Inhalt, aber nicht denselben Umfang, wie bei CUSANUS, haben. Ob jener in diesem letzten Punkt bewußt und absichtlich von diesem abgewichen ist, möchte ich eher verneinen, als bejahen, und annehmen, daß er die Lehre des CUSANUS so, wie er sie als die seinige vorträgt, allerdings irrtümlich, aufgefaßt hat. Eine derartige, unseres Erachtens irrige Auffassung der Lehre des CUSANUS seitens des BOVILLUS braucht uns nicht Wunder nehmen; noch jüngstens habt man geglaubt, den Begriff "docta ignorantia" im Sinne jenes ähnlich, wie dieser, auf "das Bewußtsein von der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkennens zur Erfassung der  unendlichen  Wahrheit" einschränken zu sollen.

LITERATUR Johann Uebinger - Der Begriff der docta ignorantia in seiner geschichtlichen Entwicklung, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. VIII, Neue Folge, Bd. 1, Würzburg 1895
    Anmerkungen
    1) Diese Zeitschrift, Bd. 1, Seite 309f.
    2) zum Beispiel von EUCKEN; Beiträge zur Geschichte der neueren Philosophie, Seite 17
    3) von EUCKEN, Neue Schriften über Nikolaus von Kues, Philosophische Monatshefte, Bd. 17, 1881, Seite 109