cr-4Gustav GerberFriedrich Max Müller    
 
GEORG RUNZE
(1852-1922)
Erkenntnistheoretische Überlegungen

Bedeutung der Sprache
"Denn Begriffe und Worte für sich allein bedeuten gar nichts; nur als Elemente der Urteilsbildung, des tätigen Erkennenwollens, haben sie Sinn und Zweck."

Mit einem relativ selbständigen Leben der Sprache muß der Geist rechnen, auch dann, wenn es um die Grundprinzipien alles Vernunfterkennens um die abstraktesten Kategorien - und sogar dann, wenn es um die allgemeinsten  Axiome  sich handelt. Auch an diesen ist ebenso die Phantasie wie der Verstand, die Bildform der Sprache wie das logische Schema des Begriffes beteiligt.

Findet aber diese Behauptung etwa auch auf das erkenntnistheoretische Grundproblem Anwendung? Es handelt sich bei diesem Problem um den wissenschaftlichen Kernpunkt der gesamten Philosophie und um die Grundfrage alles Wissens überhaupt: um das Verhältnis von Geist und Materie, Denken und Sein, - um "Idealismus oder Realismus". Die Wahrheit dieses Gegensatzes wir ein Axiom genannt, ohne welches kein wissenschaftliches Denken möglich sei. "Der höchste Gegensatz, unter dem uns alle anderen Begriffe vorschweben, ist der des dinglichen und des geistigen Seins." (SCHLEIERMACHER)

Ist also dieses Problem ebenfalls von wesentlich ästhetisch- dialektischer Art, sodaß es je nach der Handhabung des metaphorischen Elements der Sprache in beliebiger theoretischer Sprachform gelöst werden kann? Ist es nur ein sprachliches Problem, ob die Materie zuletzt als Schöpfung des Geistes oder ob der Geist - sei es bloß als "Sekretion", "Efflorescenz", "Effulguration" des Gehirns, sei es als wesenlose Abstraktion - aus den Summanden der sinnlichen Wahrnehmung aufzufassen sei, - oder ob endlich beide, Geist und Materie, absolut getrennten Sphären angehören, sodaß die dualistische Scheidewand zwischen beiden nur durch willkürliche Fiktionen einer metaphysisch dichtenden Einbildungskraft  scheinbar  durchbrochen werden kann?

Allerdings sind wir geneigt, auch diese Frage zu bejahen, soweit es sich bloß um theoretische Problemformulierungen und Lösungsversuche handelt. Der Grundgegensatz, welcher aller Wissenschaften so gut wie der Sprachwissenschaften Prinzip ist, zwischen "dinglichem und geistigem Sein" (SCHLEIERMACHER), "Nichtich und Ich" (FICHTE), "Objekt und Subjekt" (SCHOPENHAUER), zwischen Vorgestelltem und Vorstellendem, d.h. schießlich zwischen Welt und Wissenschaft, ist selbst nur ein abstrahiertes und deshalb möglichst farbloses Bild, ein Bild, dessen wir uns in irgend welcher Form allenthalben vorläufig bedienen müssen, um durch solche Unterscheidung Ordnung in die Vorstellungsmasse zu bringen.

Hierbei ist es zunächst gleichgültig, ob dieses Bedürfnis als eine Äußerung unseres Selbsterhaltungstriebes oder als irgend eine andere, ideale Funktion beurteilt wird. Da in jedem Falle die wissenschaftliche Form alles Vorstellens das Sprechen ist, so ist von vornherein wahrscheinlich, daß auch jenes prinzipielle Axiom alles wissenschaftlichen Urteilens nur als lautlich geprägtes Bild wissenschaftlich verwendbar sein werde.

Nun liegt gerade in den Ausdrücken, in welche der Begriff eines nicht subjektiven, sondern rein  wirklichen  Seins gekleidet wird, von Hause aus eine Zutat des  Einbildungsvermögens.  Etymologisch bedeutet Sein "wachsen", "atmen", "wohnen", "sitzen", "sich verschnaufen"; dialektisch wird unter der Ausdruck "Wirklichkeit" vorzugsweise angewendet, wenn man lebhafte Natureindrücke und individuelle Beziehungen zu dem gedachten Objekt wiedergeben will. Dieses Bestreben, das korrekt vorgestellte konkrete Objekt nun auch auch noch als ein wirklich reales "festzustellen", würde aus der bloßen Tätigkeit des Verstandes schwerlich hervorgehen und würde wohl überhaupt nicht in Wirksamkeit treten, wenn nicht der Wille im Bunde mit der Phantasie einen Einfluß übte auf die Konzeption der begrifflichen Kategorien.

Dieser Einfluß wird vermittelt durch die Wechselwirkung zwischen Sprechen und Denken, d.i. zwischen Lautbild und Vorstellungsbild, denn in der Mathematik, wo die  in Bildern sprechende  Phantasie keine Rolle spielt, ist auch der Begriff der Realität völlig entbehrlich. Gäbe es nun, abgesehen von der Mathematik, ein "objektives" und doch "reines Erkennen  ohne  weitere psychologische Grundlage, so dürfte man richtig schließen, daß,  erkenntnistheoretisch  angesehen, der Begriff der "Objektivität" oder des "realen" Seins als "Wirklichkeit der Welt" ebenfalls entbehrlich sei.

Wenn er trotzdem nicht entbehrlich ist und die Bedeutung einer axiomatischen Wahrheit behauptet, so scheint es unumgänglich, ihn als eine  notgedrungene  Schöpfung des vernünftigen Geistes anzusehen; denn allerdings, ohne diesen objektiven Korrelatbegriff zu dem unmittelbaren subjektiven Bewußtsein würde alles theoretische Erkennen haltlos und unbestimmt bleiben; für die "Wirklichkeitsphilosophie" würden alle Grenzmarken zerfließen; es gäbe keinen Unterschied "zwischen Wissen und Wähnen", zwischen "Wahrheit und Traum".

Nun ist aber die erkenntnistheoretische Betrachtung selbst keine wahre, wenn sie nicht auf psychologischer und historischer Grundlage ruht. Nur eine psychologisch- empirisch begründete Erkenntnistheorie rechnet mit dem wirklichen, nicht mit einem erträumten Erkennen. Psychologisch angesehen kommt nun auch der Seinbegriff sogut wie alle anderen nicht- mathematischen Vorstellungsformen ebenso auf freie, zufällige Weise wie auf  notwendigem  Wege zu Stande. Denn der materielle Inhalt des Geistes ist die sinnliche Anschauung und das sinnlich vernommene Wort; der denkende Verstand  ordnet  nur diesen Inhalt und sucht ihn auf Grund der sinnlichen Organisation nach außen zu projizieren, oder - was psychologisch ganz dasselbe besagt - er imaginiert ein "Außen".

Während die sensible Nervenfunktion alle Eindrücke von der Oberfläche des Körpers in das Zentralorgan leitet, so macht die verstandesmäßige Schlußfolgerung den umgekehrten Weg und erfindet in freier Produktivität eine Welt, die außerhalb des Körpers liege und die dann mit dem Attribut der "wirklichen Außenwelt" ausgestattet wird. Diese Produktion ist nur mit Hilfe der Einbildungskraft möglich. Der Verstand verhält sich also in seiner eigentümlichen Tätigkeit, nämlich der Funktion, den Vorstellungsmassen ihren Platz anzuweisen, wesentlich imaginierend, d.h. er betätigt sich als freie, bildende Phantasie.

Daß hiermit beiläufig die  Realität  dieser beiden Geistesvermögen, ihre reale Unterschiedenheit und das Recht ihrer begrifflichen Entgegensetzung in Frage gestellt wird, darüber spricht sich von anderem Gesichtspunkte auch MAX MÜLLER in seinem neuesten Werke aus. Und das hauptsächlichste Agens, durch welches die Phantasie angeregt wird, um jenes Verstandesproblem, d.i. das abstrakte Bild eines "objektiven Seins" schöpferisch hervorzubringen, ist  die Sprache. 

So gewiß die bestimmten realen Farben, Töne, Gerüche, die Temperatur-, Druck-, Tastempfindungen, und nicht minder die psychischen Gefühle und die Erinnerungsbilder, welche wir  für Auge und Ohr geistig  reproduzieren, nur durch unsere subjektive Mitwirkung zu dem werden, als was sie uns erscheinen, so gewiß ist ein Ding, soweit es für uns ist, d.h. soweit wir sagen dürfen, /was/ es wirklich ist und /daß/ es wirklich /ist/, - durch dasjenige Geistesorgan bedingt, welches noch maßgebender wirkt als Auge und Ohr, - durch die Sprache.

Denn in der Sprache ist mehr als in allen Tätigkeiten der sensiblen Organe neben der bildenden Kraft der Phantasie die hervorbringende Tat des Willens wirksam. In der Sprache kommt somit die schöpferische Macht der Subjektivität extensiv und intensiv am vollkommensten zum Ausdruck.


Erkenntniskritische Voraussetzung

Über eine, gerade für metaphysische Fragen wichtige, erkenntnistheoretische Voraussetzung, die Abhängigkeit alles Urteilens von der Sprache, sei es gestattet, im möglichster Kürze zu orientieren, indem wir auf frühere Ausführungen verweisen.

Schon in meinem 1884 in der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrage "Die Bedeutung der Sprache für das wissenschaftliche Erkennen" hatte ich ausgeführt, daß die Hauptschwierigkeit in jedem Erkenntnisprozeß auf dem sprachpsychologischen Gesetz beruht, daß unsere Urteilsbildung "infolge der durchgängigen Bildersprache sich in dem Dilemma bewegt, entweder durch Farblosigkeit unwirklich oder durch Bilderfülle ungenau zu sein".

Und schon 1883 hatte ich in meinem ersten Entwurf einer Religionsphilosophie das Gesetz der dreifachen Relativität formuliert, daß jedes theoretische Erkennen, welches über die wortlos beschreibende Wiedergabe von Sinneseindrücken hinausgeht und sich der Sprache bedient, in der wechselseitigen Bedingtheit der drei variablen Elemente versiert:
  1. Auswahl innerhalb der unendlichen Möglichkeiten von Tatsachenfeststellungen,
  2. Auswahl innerhalb der unendlichen Möglichkeiten von Anlehnungen an gegebenen und beliebig kombinierten Sprachgebrauch,
  3. unerläßliche und berechtigte Auswahl innerhalb der möglichen Entschließungen des individuellen Willens, nach eigenem Geschmack oder in Anlehnung an sympathische Autoritäten und deren Willensideale die Tatsachen und Sprachausdruck zu wählen.
Diese wechselseitige Bedingtheit zwischen Tatsachenfeststellung, Sprachgebrauch, Willensmotiven führt zunächst zur Skepsis. Ich nannte diesen Standpunkt später (1889 in "Sprache und Religio") den glottologischen (sprachdialektischen), im Unterschiede von jenem MAX MÜLLERs, den ich als Glottopsychik (Sprachpsychologie) mbezeichnete, weil nach ihm das unwillkürliche Werden der Begriffe aus der sprachlichen Metapher überwiegend ein psychologischer Vorgang ist.

Mir schien, daß nicht bloß der Mythos die Spuren der sprachbildnerischen "Kinderkrankheit" aufweist, sondern daß bis in das abstrakteste Denken des Philosophen hinein, soweit es nicht rein mathematisch verfährt, sich eine Nachwirkung jener Abhängigkeit von der Bildform geltend macht, indem in die einzelnen Wörter und deren Verbindung neben und über der ursprünglichen Etymologie, die auch der sprachvergleichende Forscher nur teilweise zu ergründen vermag, oft eine mehr oder weniger mannigfache, unklare sprachliche Nebenvorstellung, ("Konnotation") einließt, die sich im Laufe der Zeit gewohnheitsmäßig einbürgert und als traditionelles Formelbild fixiert hat. Auch solche nicht ursprünglichen, sondern neu beigemischten Konnotationen, wenn z.B. in Hypostase [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], Substanz (das Unten-stehende) das Bild des "inneren Wesens" hinzutritt und allmählich die Oberhand gewinnt.

In dem "Katechismus der Religionsphilosophie" habe ich dann gezeigt, wie solche metaphorische Beimischungen, die den Sinn der einzelnen Wörter bestimmen und ihrer Anwendung die Richtung geben, auf einfache Sprachgesetze, in denen wiederum wohlverständlich psychische Instinkte sich äußern, zurückgeführt werden können: nicht nur in der unbegrenzten Bildung synonymer Namen sowie der Homonymien, wie dies schon KUHN und MÜLLER dargetan haben, sondern auch in der Unentbehrlichkeit der elliptischen, in der Geneigtheit zur hyperbolischen Ausdrucksweise offenbart sich der Trieb, durch bildliche Färbung der sprachlichen Ausdrucksmittel sich anderen verständlich zu machen und die eigene Begriffswelt zu klären.

Denn Begriffe und Worte für sich bedeuten gar nichts; nur als Elemente der Urteilsbildung, des tätigen Erkennenwollens, haben sie Sinn und Zweck. Demgemäß bergen selbst so abstrakte Terminologien wie  Kraft, Schwere, Anziehung, Substanz, Materie, Geist, Vernunft, Ursache, Wirklichkeit, Idee, Prinzip, logos, mythos, Element, Qualität,  derartige Rudimente oder survivals der Mythologie, die man wohl durch scheinbar farblosere ersetzen, aber nie ganz eliminieren kann, solange man mittels sprachlicher Tauschmünze den Gedankenverkehr regelt und die Urteile formuliert.

Das scheint zu äußersten Skepsis zu führen. Und so ist es auch bei den wenigen, welche auf ähnliche Fährte geraten sind, wie GUSTAV THEODOR FECHNER in seiner "Physikalischen und philosophischen Atomenlehre" (1864), der anderer Orten von den philosophischen Begriffen das Gleichnis braucht, wir legen zuerst die rohen Äpfel in die Bratgans hinein, um sie hernach als Bratäpfel ihr wieder zu entnehmen. "Alles kommt auf Wortstreit hinaus". Die ärgste Skepsis aber vertritt neuerdings FRITZ MAUTHNER in seinen "Beiträgen zu einer Kritik der Sprache"; alles Reden und Philosophieren ist nichts als Substituieren von metaphorischen Anschauungsbildern; Erkenntnis mittels Begriffe unmöglich.

Meine glottologische Philosophie kommt zu anderem Ergebnis. Einerseits hatte ich schon 1883 ausgesprochen, daß das Wesen der Dinge allerdings oft weniger durch zerpflückende Definitionen und das mechanische Gerüst der Logik ergründet wird als durch zweckmäßig geordneten Wechsel von Bildern, die dem frischen Leben, in seinen reichsten Gestaltungen, entnommen sind und deshalb, obzwar für sich individuell gefärbt, durch Kombinierung den Irrtum und die Verwechslung sicherer ausschließen, als die meist noch unvollständiger bleibende logische Definition es vermag.

Immerhin ist die abstrakte Redeweise, in ihrem "Ringen nach dem wortlosen Wort", die wissenschaftlichere. Anererseits aber habe ich wiederholt geltend gemacht, daß ja schon die Formulierung der Probleme bildlich gefärbt ist, daß also, falls im Ernst ein Problem mit den jeweiligen Mitteln sprachlicher Schärfe und Klarheit erkenntnismäßig formuliert wird, die Mittel der Sprache auch ebensoweit reichen werden wie diese Formulierung selbst, sobald wir, nachdem das sinnliche Beobachtungsmaterial gesammelt und experimentell ergänzt ist, nunmehr um die begriffliche  Lösung  des Problems uns bemühen.
    "Das problemformulierende Leistungsvermögen der Sprache reicht nicht wesentlich weiter als ihre Fähigkeit zur Lösung der Probleme beizutragen."
Diese Einsicht macht bescheiden, aber sie belebt das Vertrauen in unsere jeweilige Erkenntnisfähigkeit. Drittens habe ich der Glottopsychik (Sprachpsychologie) nicht nur die Glottologik, sondern auch eine Glottoethik beigeordnet: auch auf das sittliche Wollen und Handeln übt die Sprache einen bestimmenden Einfluß (diese Tatsache hat auch WUNDT richtig erkannt).

Und darum darf auch umgekehrt der Wille mit Bewußtsein einwirken auf eine derartige Handhabung der Sprache, daß ihre Leistungskraft möglichst reich ausgebeutet werde, aber ihre gerade dann gefährlichen, irreleitenden, zu Mißdeutungen reizenden Motive, das Schillernde und dabei Dogmatische, Idolhafte ihrer Bilder, das Faszinieren durch Schlagworte, die feile, gleissende Rhetorik, dieses Gaukelspiel und Blendwerk für den Ungeübten, der den Rattenkönig des Phrasentums nicht durchschaut, nicht zum Mißbrauch der Sprache, auch der wissenschaftlichen, verführen.

Um da auf der Hut zu sein, muß man selbst Philosoph, ja Metaphysiker sein; und die Glottoethik empfiehlt daher jedem, zumal dem Pädagogen, die Zöglinge, die seiner Hut anvertraut sind, möglichst zu dieser metaphysischen Einsicht zu leiten.
andiamo ragazza
LITERATUR - Siegfried J. Schmidt, Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl Band II, Stuttgart-Bad Cannstadt 1971