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PAUL NATORP
Zu den Vorfragen der Psychologie

   
"Im  Bewußtsein der Verbindung  aber, die alles mit allem im Erlebnis des Individuums hat, liegt noch ein Moment, das vom Vorstellen grundverschieden ist: ein gewisses Hinausgreifen des Bewußtseins über die von der isolierenden Vorstellung jeweils erreichte Stufe zur erst zu erreichenden, noch nicht erreichten; ein Bewußtsein mithin, für welches nicht bloß der jeweilig gegenwärtige Inhalt der Vorstellung in Betracht kommt, sondern der entschwundene noch nach-, und der noch nicht gegebene vorauswirkt. Auf solchem Nach- und Vorauswirken des in der bestimmten Form der Vorstellung nicht Gegenwärtigen beruht das Unsagbare, "Unendliche", das sich in keinem deutlicheren Ausdruck bezeichnen läßt, als in dem des  Strebens,  der  Tendenz." 

"Um Existenz zu setzen, reicht niemals der bloße Gedanke aus, sie muß gegeben sein, Sinnlichkeit aber gibt diese Existenz nicht, der Verstand, eine bloße Methode, die zu ihrer Ausübung erst einen gegebenen Stoff erfordert, erst recht nicht."

"Es gäbe an der sinnlichen Erscheinung gar nichts mehr zu  erkennen,  wenn sie den objektiven Vorgang unmittelbar darstellte, wenn nicht erst ein Weg von jener zu dieser zu beschreiben wäre. Das allein ist der verständliche Sinn der  Erklärung:  sie erhellt das ungewisse Dunkel der unmittelbaren Erscheinung, klärt ihre Verwirrung, bringt Grenze und Bestimmung hinein und gestaltet so daraus eine artikulierte  Welt.  Man hat solches  Erklären  bemängelt und der Physik Schwierigkeiten daraus bereiten wollen; sie hat sich dessen erwehrt, indem sie sagte: nun gut, wir  erklären  also nicht, da wir keine anderen Ursachen kennen und suchen, als die  in  den Erscheinungen selbst gegeben sind: die Gesetze; wir wollen also fortan nicht sagen: wir  erklären,  sondern: wir  beschreiben  die Naturvorgänge."
   

In meiner "Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode" (1) versuchte ich, die Vorfragen der Psychologie, welche deren Objekt und Methode betreffen, vom kritischen Standpunkt zu beantworten. JOHANNES VOLKELT hat nun kürzlich (2) diesen Versuch einer eingehenden Kritik unterzogen, welche von dessen Ergebnissen sozusagen nichts stehen läßt. Das ist nicht zu verwundern und gäbe an sich keinen Anlaß zur Entgegnung; VOLKELTs Beurteilung geht eben von Voraussetzungen aus, die den meinigen schnurstracks entgegenlaufen und die viel zu fundamentaler Art sind, als daß man hoffen könnte, sich leicht darüber zu verständigen; er erkennt dagegen an, daß ich von meinen eigenen Voraussetzungen aus ziemlich folgerecht weiterschließe. Indessen meine ich, daß aus jeder ehrlichen Kritik etwas zu gewinnen sei; verhilft sie nicht zur besseren Erkenntnis der Sache, so macht sie doch aufmerksam, wie Mißverständnisse, an die man nicht gedacht hat, vorzubeugen, Einwänden, die man nicht vorausgesehen, zu begegnen war. Übrigens will es mir scheinen, als ob über einige nicht unwichtige Punkte selbst so, wie wir gegeneinander stehen, eine Verständigung möglich sei.

Weit geringer ist der Dissens zwischen mir und THEOBALD ZIEGLER, der ebenfalls (3) dem genannten Buch eine eingehende Besprechung gewidmet hat. Da sich seine neben überwiegender Zustimmung in freundlichster Weise geäußerten Zweifel zum Teil auf dieselben Punkte beziehen, an denen auch VOLKELT Anstoß nahm, so läßt sich auf beide Kritiken zugleich antworten; doch liegt es in der Natur der Sache, daß ich mich mit VOLKELT vorzugsweise auseinanderzusetzen habe.

1. Gleich die erste hier zu behandelnde Frage gehört zu denen, über die wir meiner Meinung nach uns müßten vereinigen können. In der Absicht, möglichst genau zu bestimmen, was überhaupt Gegenstand der psychologischen Forschung ist, ging ich von dem kantischen Satz aus, daß sich das Ich, nämlich das reine, ursprüngliche Ich, überhaupt nicht als Gegenstand vorstellen oder erkennen lasse. Hier ist eine Distinktion [Unterscheidung - wp] am Platze. Geleugnet wird nicht die Tatsache, daß man das Ich zum Gegenstand  macht,  d. h. es als Gegenstand vorzustellen und zu erkennen  versucht;  wohl aber, daß man es wirklich, in sich selbst, vorstellen und erkennen, daß es, in seiner Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit, zugleich Gegenstand für es selbst, mithin  zugleich Vorstellendes und Vorgestelltes, Erkennendes und Erkanntes  sein könne; weil ein Akt wie Vorstellen oder Erkennen nicht so gedacht werden kann, daß Subjekt und Objekt dieses Aktes in jeder Hinsicht, inhaltlich und numerisch, identisch sind, so wenig, wie man vermittels seiner Netzhaut seine Netzhaut selbst sehen kann, sondern nur etwa ihr Abbild im Spiegel. Vorstellung, Erkenntnis ist eine Relation, die notwendig zwei Termini hat, nicht mit einem sich begnügen kann. Dieses Bedenken ist uralt (4) und wohl nicht so leichthin mit dem Vorwurf eines "formalistischen Folgerns" (5) abzutun. Ist gleichwohl, wie ich nicht leugne, eine Art Selbstvorstellung möglich, so ist das nur so denkbar, daß entweder das Subjekt oder das Objekt dieses Vorstellens nicht mehr das ursprüngliche Ich ist. Da nun das ursprüngliche Ich jedenfalls das Subjekt des Vorstellens ist, so folgt, daß das Objekt des Selbstvorstellens nicht das ursprüngliche Ich, sondern ein deriviertes [abgeleitetes - wp] ist. Ich muß mir selber gleichsam gegenübertreten, mich gleichsam außer mir selbst versetzen, um mich als Objekt anzuschauen; aber nicht das Subjekt ist dann ein fiktives;  ich  bin in jedem Fall der Anschauende; als das Objekt. Eben das drückt der Vergleich der Spiegelung richtig aus. Der Vergleich trifft auch darin zu, daß der Reflex mit dem Original nicht bloß nicht numerisch identisch, sondern auch dem Inhalt nach nicht eine genaue Wiedergabe, nicht eine bloße Wiederholung, eine einfache Versetzung desselben an eine andere Stelle ist. Das Ich läßt sich bildlich beschreiben, aber die geringste Prüfung lehrt, daß das Bild die Sache in bestimmten Beziehungen nicht deckt. Man beschreibt eben nicht mehr das ursprüngliche Ich, sondern seinen  Reflex  im  Inhalt;  Alles, wodurch man nur versuchen mag, es zu beschreiben, ist, näher zugesehen, vom Inhalt des Bewußtseins erborgt: Namentlich wird man die räumlichen Analogien niemals los, während das ursprüngliche Ich zugestandenermaßen mit räumlicher Vorstellung nichts gemein hat.

Da ich jedoch ein solches uneigentliches,  reflexives  Selbstvorstellen nicht leugne, so trifft mich der Einwand nicht, daß ich, meiner These zufolge, vom Ich gar nicht hätte reden dürfen. Ich durfte davon reden, mit dem Vorbehalt, daß es nicht anders bekannt sei, als durch seinen Reflex im Inhalt. Zu den wenigen präliminaren [vorläufigen - wp], fast bloß negativen Bestimmungen, die ich zu meinem Zweck, der genauen Definition des Objekts der psychologischen Untersuchung, nötig hatte, reicht diese Grundlage aus; freilich nicht zu einer förmlichen Ich-Wissenschaft, wie die idealistische Philosophie seit FICHTE sie wiederholt zu entwickeln versucht hat. Daß der Grundirrtum, der auf diesen Abweg geführt hat, sich von meiner Vorstellungsweise aus glatt und einfach auflöst, schien mir eine nicht zu verachtende Probe auf deren Richtigkeit. Das Ich, als Selbstvorstellung oder Selbsterkenntnis definiert, führt unfehlbar auf die unendliche Reihe: das Vorstellen des Vorstellens des Vorstellens usw., wobei das Ich, von dem man, als der allerursprünglichsten Setzung, ausgehen wollte, uns vielmehr ganz entschlüpft und zu etwas völlig Unfassbarem wird. Die Auflösung des Problems ist einfach. Gewiß, das Spiegelbild kann sich nochmals spiegeln in einem zweiten, dritten Spiegel und fort; allein das Abbild entfernt sich dann in demselben Maße weiter vom Urbild, der Reflex läßt vom ursprünglichen Objekt immer weniger, bald gar nichts mehr Deutliches erkennen. Der Anfangspunkt dagegen bleibt fest und unbeweglich, er verflüchtigt sich nicht in jene ebenso anfangs- wie endlose Reihe. So nach unserer Auffassung. Dagegen, wenn eine wahre, sei es numerische oder auch bloß inhaltliche Identität von Subjekt und Objekt zugelassen wird, so sehe ich nicht, wie man der Auflösung in die unendliche Reihe entgehen will. VOLKELT nimmt dem Problem gegenüber eine ganz unhaltbare Stellung ein: er darf es von seinem Standpunkt eigentlich nicht ablehnen, mag es aber, in richtigem Gefühl, auch nicht gelten lassen. "Es ist unleugbar", gesteht er (a.a.O. Seite 47), "daß in dem sich vorstellenden Ich als  formale Konsequenz  die unendliche Reihe ... enthalten ist"; aber er schilt sie leer, langweilig, nutzlos; man finde "kaum je Veranlassung", mit dieser formal richtigen Konsequenz tatsächlich Ernst zu machen und dgl. mehr. Es ist klar, was ein Metaphysiker echten Schlages darauf erwidern wird: seit wann, wird er sagen, ist es in der Philosophie erlaubt, eine als logisch richtig anerkannte Folgerung mit dem Vorwurf, daß sie langweile, abzuweisen? Was würde man von einem Mathematiker sagen, der eine sonst richtige Rechnung, welche auf eine unendliche Reihe führt, damit anfechten wollte: es sei doch nicht menschenmöglich die Reihe wirklich in infinitum fortzusetzen; man habe praktisch "kaum je Veranlassung" über die ersten Glieder hinauszugehen? Mit solcher eingestandenen Laxheit des Denkens macht man den Metaphysiker nicht irre, der aus dem einzigen Datum der reinen Ichheit am Faden strenger Logik eine Fülle tiefsinniger Einsichten hervorzuzaubern weiß. Ganz richtig bemerkt VOLKELT, daß jene Reihe, wenn man sie ernstlich fortzusetzen versucht, bald völlig sinnlos, zum "leeren Wortschwall" wird, aber darin ist nicht die mangelhafte psychische "Einrichtung" des Ich Schuld, sondern die Leerheit des ganzen Problems, das keinen mehr verführen kann, der sich einmal vergegenwärtigt hat, daß Vorstellung oder Erkenntnis eine Relation zwischen  zwei  Termini ist.

2. Nachdem ich also das reine ursprüngliche Ich aus dem Untersuchungsgebiet der Psychologie ganz ausgeschieden, folglich diese allein auf den "Inhalt" konzentriert hatte, war es nur folgerecht, weiter zu schließen, daß auch alle Unterschieden des Bewußtseins als Unterschiede des Inhalts, nicht noch außerdem als solche der Bewußtheit oder des Verhaltens des Ich zum Inhalt in der Psychologie zu behandeln seien. Die Bewußtheit ist immer eine und dieselbe, an ihr will sich gar keine Mannigfaltigkeit erkennen lassen, wohl aber am Inhalt des Bewußtseins.

Ich gestand dabei selbst als einen schwer zu überwindenden Schein zu, daß wenigstens Gefühl und Streben Weisen der Bewußtheit seien, "die, im Unterschied von allen anderen, nicht durch die Besonderheit des Inhalts, sondern ausschließlich durch die eigentümliche Beteiligung des Subjekts, also durch ein gewisses eigentümliches Verhalten desselben zu seinem Inhalt ausgezeichnet seien." Ich deutete auf eine "tiefere Analyse" dieser Bewußtseinsgestalten hin, die nötig wäre, um die Sache vollends ins Klare zu stellen, beschränkte mich indessen für diesmal auf die kurze Ausführung: daß das, was uns im Gefühl und Streben bewußt oder von uns erlebt wird, mit dem reinen Ich, dem "letzten Beziehungszentrum" allen Bewußtseins, nicht mehr zu tun hat, als aller andere Inhalt des Bewußtseins. Jenes ist das Abstrakteste und Leerste, was es nur gibt, während, was uns im Gefühl und Streben als unser eigenstes Selbst zu Bewußtsein kommt, etwas sehr Konkretes, das heißt doch, Inhaltvolles ist (Einleitung usw. Seite 21). Trifft diese Unterscheidung zu, so ist damit die Frage wesentlich in meinem Sinn entschieden.

VOLKELT will nun meine Folgerung ablehnen, erkennt dagegen Folgendes an (Seite 51): "Die qualitativen Unterschiede des Bewußtseins sind  nicht  so vorzustellen, als ob das Bewußtsein sich in  vielerlei Arten  spaltete ... Vielmehr werden wir uns das Verhältnis der Bewußtheit zu ihren qualitativen Unterschieden so zu denken haben, daß jene in ihren qualitativen Besonderungen doch zugleich als  ungeteilt  erhalten bleibt. Mein Bewußtsein verliert sich nicht an seine qualitativ verschiedenen Äußerungen, sondern es bleibt in ihnen als  in sich gleiche Einheit  gegenwärtig. Von  demselben Mittelpunkt  gehen gleichsam qualitativ verschiedene Äußerungen aus, doch bleibt jener Mittelpunkt überall in ihnen in  ungeteilter Einheit". 

Hier finde ich in den gesperrt gedruckten Worten das reine, ursprüngliche Ich fast in meinen Worten, jedenfalls genau in meinem Sinne anerkannt. Ganz so beschrieb ich (Seite 13) die Bewußtheit als "die in jedem Augenblick des tatsächlichen Bewußtsein stattfindende und zwar  immer die gleiche und selbige, eine und einzigartige  Beziehung des jedesmaligen Bewußtseinsinhaltes wie  auf ein Zentrum".  Ich brachte es nur nicht fertig, daneben doch wieder von qualitativen Unterschieden  der Bewußtheit selbst  zu reden. Aber VOLKELT verbessert sich stillschweigen, wenn er dann daür einsetzt: qualitativ verschiedene  Äußerungen.  Die verschiedenen Äußerungen der Bewußtheit, das sind doch wohl die verschiedenen Gestaltungen des  Inhalts:  das Äußere, gleichsam Peripherische am Bewußtsein, dem schlechthin innerlich verbleibenden, darum ungeteilt einem Bewußtseinszentrum gegenüber, genau das  ist  der Inhalt. - "Es mag daher auch", fährt VOLKELT fort, "jener Schein, als ob die Bewußtheit qualitativ unterschiedslos sei, mit daraus entspringen, daß sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf diese ungeteilte Einheit richtet." Wie doch? Durch nichts anderes, als eben diese ungeteilte Einheit hatte ich die Bewußthein  definiert:  mit Fug und Recht also blieb, wenn ich fortan von der Bewußtheit sprach, meine Aufmerksamkeit darauf ausschließlich gerichtet; alsdann aber ist es doch nicht ein Schein, sondern die unabweisbarste logische Konsequenz, daß die Bewußtheit selbst der qualitativen Unterschiede entbehrt. Das  Bewußtsein  soll sie darum nicht entbehren; ich  nenne  nur alles am Bewußtsein, wasn nicht die Bewußtheit ist, im weitesten Sinn Inhalt, kann daher qualitative Unterschiede nur am Inhalt anerkennen. Vielleicht findet man die Bezeichnung "Inhalt" für Erscheinungen wie Gefühl und Streben nicht recht passend. Ich fand sie selbst nicht so, ich nahm sie ausdrücklich nur in Ermangelung einer besseren an, mit Hinweis auf den einmal eingeführten Sprachgebrauch der Psychologen, denen es ganz geläufig ist, auch ein Gefühl oder Streben einen "Inhalt" des Bewußtseins zu nennen. (Einleitung usw. Seite 12)

3. Doch fordert die Eigentümlichkeit gerade dieser Bewußtseinsgestalten allerdings, wie ich anerkannt habe, eine besondere Aufmerksamkeit; und da VOLKELT auch sonst aus meinem Buch eine "völlige Verkennung" ihrer Eigenart "herausgelesen" (so Anmerkung Seite 69), da ebenfalls ZIEGLER hauptsächlich hier Anstoß genommen hat, so will ich nicht unterlassen, mit wenigem darauf einzugehen.

Was dem Fühlen und Streben eine so besondere Stellung unter den Gestaltungen des Bewußtseins gibt, scheint mir Folgendes zu sein. In der Vorstellung "stellt" sich das Objekt vor das Bewußtsein; sie sucht das fliehende festzuhalten, es im Blick des Bewußtseins zu fixieren. Die Vorstellung erscheint daher, mitten im Strom des inneren Geschehens, soweit sie allemal reicht, ruhend, fertig, abgeschlossen. Darin liegt ihre Stärke: der Vorzug der Bestimmtheit, relativen Festigkeit und Gewißheit, in der sie das Objekt faßt. Aber ebendarin liegt auch ihre Grenze: sie vermag ihr Objekt nur in solcher Bestimmtheit zu fassen, indem sie es sich willkürlich begrenzt, es aus der Unendlichkeit der Verbindungen, in denen es auftrat, löst und für sich stellt. Sie geht gleichsam anatomisch zu Werke; sie hofft durch Teilung ihrer Aufgabe Herr zu werden; dabei entgeht ihr leicht der Zusammenhalt des Ganzen; Seele und Bewegung scheint ihr entflohen, der unendlich flutende Strom des inneren Lebens gewaltsam aufgehalten, verengt, erstarrt. Aber er läßt sich nicht aufhalten: es gibt doch dieses rastlose Hinausstreben von Stufe zu Stufe, wodurch alles mit allem Zusammenhang hat; und dieser Zusammenhang wird in jedem Moment des wirklichen Erlebens auch irgendwie mitempfunden, er gehört mit zum Erlebnis eines jeden Moments, ja er charakterisiert es, mehr als alles, in seiner individuellsten Eigentümlichkeit. Im  Bewußtsein der Verbindung  aber, die alles mit allem im Erlebnis des Individuums hat, liegt noch ein Moment, das vom Vorstellen grundverschieden ist: ein gewisses Hinausgreifen des Bewußtseins über die von der isolierenden Vorstellung jeweils erreichte Stufe zur erst zu erreichenden, noch nicht erreichten; ein Bewußtsein mithin, für welches nicht bloß der jeweilig gegenwärtige Inhalt der Vorstellung in Betracht kommt, sondern der entschwundene noch nach-, der noch nicht gegebene vorauswirkt. Auf solchem Nach- und Vorauswirken des in der bestimmten Form der Vorstellung nicht Gegenwärtigen beruht das Unsagbare, "Unendliche", das sich in keinem deutlicheren Ausdruck bezeichnen läßt, als in dem des  Strebens,  der  Tendenz.  Und zwar beobachten wir jederzeit ein doppeltes Verhalten: ein annehmendes oder ablehnendes, gleichsam anziehendes oder abstoßendes; eine Tendenz der Vereinigung oder der Trennung. In Verbindung nun, nämlich der Verbindung im jeweiligen individuellen Bewußtsein, die allemal beziehungsweise auch Scheidung ist, besteht überhaupt alles individuelle Bewußtsein; also haftet das Streben, mit seiner Doppelrichtung des Für und Wider, des Annehmens oder Abweisens, allem bewußten Leben unaufheblich an und bezeichnet es, gerade nach seiner subjektiven und individuellen Seite, so wesentlich und ursprünglich wie nichts anderes. Dennoch ist es ein  Etwas, das uns bewußt,  nicht eine bloße  Art wie etwas andere,  die Vorstellung,  uns bewußt ist;  es ist somit "Inhalt"; ein Inhalt, der mit dem Vorstellungsinhalt in genauester Beziehung steht, obwohl immer von ihm deutlich verschieden bleibt.

Galt das Gesagte zunächst vom  Streben,  so gilt es ebendamit auch vom  Gefühl.  Denn was man Gefühl (Lust und Unlust) nennt, ist wohl gar nicht ein zweiter, dem Streben nebengeordneter Zustand, sondern es ist  derselbe  psychische Tatbestand, bloß von einer bestimmten Seite betrachtet. Gefühl und Streben sind in der Wurzel völlig eins: Lust ist Gefühl überwiegend ungehemmten, als siegreich vordringenden Strebens, Unlust ist Hemmungsgefühl, insbesondere das Gefühl sich steigernder Hemmung, erfolgloseren Widerstands; das Gefühl des Strebens, das allemal zugleich auch Widerstreben ist und das Gefühl seines Erfolgs oder Nichterfolgs läßt sich gar nicht scheiden: das Streben fühlt sich selbst nur im Gefühl seines Erfolgs oder Nichterfolgs und andes als in diesem Gefühl ist es überhaupt nicht bewußt. Andererseits ist das Gefühl und Streben auch von der Vorstellung nicht überhaupt losgerissen oder anders als durch psychologische Abstraktion zu scheiden: es hat sein Leben mitten im Getriebe und Gedränge der Vorstellungen, es erscheint geradezu als der Mutterboden, aus dem auch die Vorstellung und selbst der Begriff, sich im Leben der Seele immer neu erzeugt; es ist der Ausdruck für eben jenes Regen und Bewegen, jene lebendige Triebkraft des Bewußtseins, durch die auch die Vorstellung ins Dasein trat, durch die allein sie ihr Leben hat und deren unausgesetztes Wirken es nicht duldet, sie völlig gleichsam zum festen Körper erstarren zu lassen, sondern sie in den Strom des Werdens immer wieder hineinzieht, um sie aufzulösen, umzuschmelzen, bereichert wiedererstehen zu lassen.

Ist das die Natur des Gefühls und Strebens, so ist es ja selbstverständlich, daß man darin nicht einen bloßen "Inhalt", sondern ein bestimmtes Verhalten zum Inhalt, richtiger zum Stoff des Bewußtseins, demselben, der auch den Stoff zur Vorstellung gibt, zu finden glaubt; nämlich eben jenes annehmende oder ablehnende, aneignende oder von sich weisende, gleichsam bejahende oder verneinende Verhalten, das soeben beschrieben wurde. Ich frage indessen: ist das wirklich eine eigene Art der  Bewußtheit,  ein eigenes Verhalten des ursprünglichen und reinen, "ungeteilten einen, in sich gleichen"  Ich  zum Inhalt? Offenbar nein; was sich so, annehmend oder abweisend, zum Inhalt verhält, ist vielmehr etwas sehr Konkretes, Abgeleitetes, "Unreines", Geteiltes, fast von Augenblick zu Augenblick Wechselndes. Es ist, um es einmal in der skrupellosen Weise der heutigen Psychologie auszudrücken, die mit  Vorstellungen als Kräften  ungescheut operiert, die Gesamtmasse, gleichsam Schwerkraft, des in jedem Augenblick im Bewußtsein, obwohl vielleicht unbewußt, gegenwärtigen und wirksamen  Inhalts.  Ohne einen schon vorhandenen und wirksamen Inhalt fände das Ich gar keinen Grund sich annehmend oder ablehnend zu einem neugegebenen Inhalt zu verhalten, sondern stände ihm so indifferent gegenüber, wie der bekannte Esen den beiden Heubündeln. Daß wir uns tatsächlich nie in dieser Indifferenz finden, hat seinen einfachen Grund darin, daß wir eben niemals jenes reine und leere Ich sind, sondern ein gar sehr bestimmtes, bestimmt durch die Gesamtheit unserer Erlebnisse, durch die dunkle aber mächtige Nachwirkung eben im Gefühl und Streben uns, doch auf dunkle Art, bloß als allgemeine Tendenz, Richtung oder Neigung bewußt wird. Nennt man etwa ebendieses eine eigene Art der Bewußtheit, nun, so nennt man so etwas anderes, als was ich so nannte; ob dieses Andere damit nicht gar zu bequem und obenhin bezeichnet oder wie es etwa triftiger zu bezeichnen ist, kann für jetzt ununtersucht bleiben; genug, es ist nicht mehr mein Begriff. So wie ich den Begriff einmal aufgestellt hatte und auch jetzt festzuhalten nützlich finde, ist es nur folgerichtig, die Eigenart des Fühlens und Strebens hier auf die Seite zu stellen und beide, auf gleicher Linie mit der Vorstellung, zum "Inhalt" zu rechnen.

4. Sehr klar wird VOLKELTs Mißverständnis an seinem Gebrauch des Terminus "Inhalt". Er sagt (Seite 53), bei mir sei "die  Bewußtseinsform  aus dem Gegenstand der Psychologie ausgeschieden"; und er stellt sich (Seite 52)  Inhalt  und  Form  des Bewußtseins gegenüber; d. h., er versteht unter Inhalt schlechtweg  Stoff.  Daß das nicht meine Meinung ist, war aus § 6 meiner Einleitung zu ersehen, wo ich als zweiten psychologischen Grundbegriff nächst der Bewußtheit - vielmehr, da diese, über die ersten präliminaren Festsetzungen hinaus, für die positive Bestimmung der Aufgabe der Psychologie nichts leistet, eigentlich als ersten und Fundamentalbegriff - den Begriff der  Verbindung  aufstellte. Darin ist, was irgend als Form des Bewußtseins im Unterschied vom Stoff in der Psychologie triftig zu bezeichnen wäre, vollständig geborgen. So nannte ich als Beispiele der Verbindung die Verbindung im Nacheinander, die Simultanverbindung, den Begriff, das Allgemeine, das Gesetz; ich bezeichnete solche Verbindungen zugleich als Ordnungen und Beziehungen; was ist denn wohl "Form", wenn nicht das alles? Ich unterließ auch nicht, den Begriff der Verbindung zu dem der Bewußtheit in Beziehung zu setzen; ich nannte die Verbindung geradezu den konkreten Ausdruck der Bewußtheit. Durch das oben angedeutete Verhältnis des Gefühls und Strebens zur Bewußtheit überhaupt würde es sich sogar rechtfertigen lassen, die "Bewußtheit" vorzugsweise im Gefühl und Streben zu finden; nach dieser Seite scheint ZIEGLER zu neigen, mit dem ich mich daher hier, nach gehöriger Erklärung, wohl vereinigen könnte. Auch habe ich das Moment an der Verbindung, auf das VOLKELT mit Recht großen Nachdruck legt: die  Bewußtseinseinheit  z. B. im Bewußtsein der Koexistenz und Sukzessioni, gleichfalls hervorgehoben. Ich finde hier, namentlich wenn ich VOLKELTs frühere Darlegungen über diesen Punkt (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 92) mit meinen bezüglichen Sätzen vergleiche, eine solche Übereinstimmung, daß ich mich nur wundere, wie VOLKELT zwischen meinen und seinen Anschauungen eine so große Kluft finden kann. Fasse ich meine Behauptung so: daß alle Mannigfaltigkeit des Bewußtseins sich auf die Mannigfaltigkeit des Stoffes einerseits, der Verbindungsweise andererseits reduziert und nicht zu diesen beiden Arten von Mannigfaltigkeit noch als dritte eine Mannigfaltigkeit der Bewußtheit, d. i. des Verhaltens des ursprünglichen, reinen Ich zu seinem (Stoff und verbindungsweise zusammenbegreifenden) "Inhalt" hinzutritt, so wüßte ich eigentlich nicht, was VOLKELT von seinem Standpunkt ernstlich dagegen einwenden könnte.

Ich kann jedenfalls nicht einsehen, daß es klarer, unmißverständlicher wäre, als Gegenstand der Psychologie, wie VOLKELT vorschlägt, die "Bewußtseinsvorgänge"  zu bezeichnen. Es ist nicht selbstverständlich, alles Bewußtsein als Vorgang in der Zeit, als Prozeß, als sukzessives Geschehen zu fassen. Ich habe Bedenken dagegen in § 6 der Einleitung vorgebracht; und ich meine, nach seinen eigenen früheren Darlegungen müßte VOLKELT diese Bedenken würdigen, da auch er nicht sowohl das Bewußtsein aus zeitlich aneinandergereihten Einzelakten zusammensetzt, als vielmehr umgekehrt die Sukzession als eine eigentümliche Gestaltung des Bewußtseins, als eine besondere Art jener "Einheit des Mannigfaltigen" darstellt, in der das Bewußtsein in jedem Fall besteht.

5. Sollten wir uns also über die Data der Psychologie eigentlich wohl verständigen können, so ist die Differenz ernster, was das  Ziel  und also den  Weg  der psychologischen Forschung betrifft. Zwar beginnt VOLKELT auch hier mit einer Einräumung, die, wenn er nur darauf beharren wollte, für unsere Einigung sehr wertvoll sein würde: es gibt, wie er anerkennt, nicht zwei Reihen von Erscheinungen, als getrennte Ausgangspunkte zweier verschiedener Wissenschaften, Naturwissenschaft und Psychologie, sondern nur eine einzige: "die Inhalte, die dem Bewußtsein erscheinen". Aber er meint, es sei ganz wohl denkbar, von diesem einzigen Ausgangspunkt zu zwei von einander verschiedenen und unabhängigen Systemen wissenschaftlicher Erklärung zu gelangen.

Ich verwechsle, sagt er, den "Ausgangspunkt" mit dem "Gegenstand" der Psychologie. - Von einer Verwechslung kann keine Rede sein; ich ließ keinen Zweifel darüber, daß ich "Gegenstand" der psychologischen Untersuchung nichts anderes nenne, als eben das,  was  Psychologie zu untersuchen hat, also die Data oder die  Phänomene  des Bewußtseins. Insofern ist für mich zwischen "Ausgangspunkt" und "Gegenstand" der Psychologie kein Unterschied. Nun kann man an einem und demselben Gegebenen sehr Verschiedenes erklärt haben wollen, man kann seine Frage auf ganz verschiedene Momente an einem und demselben Datum richten. Man müßte also das Zweierlei am Phänomen des Bewußtseins angeben, welches die grundverschiedenen Fragen der Naturwissenschaft einerseits, der Psychologie andererseits veranlaßt. Ältere Psychologen fanden hier keine besondere Schwierigkeit; sie unterschieden etwa so, daß der "Inhalt" der Naturwissenschaft, der "Akt" der Psychologie zufalle. Das lehnte ich ab und auch VOLKELT müßte es ablehnen, da er doch ganz bestimmt ausspricht, den "Ausgangspunkt"  aller  ursachlichen Forschung (Psychologie aber rechnet er zu ursachlichen Forschung) bilde der Inhalt; "etwas Anderes findet die erklärende Wissenschaft nicht zur Bearbeitung vor" (Seite 53). Dem steht jedoch eine Anzahl von Stellen gegenüber, wonach es wiederum scheint, als ob es gänzlich verschiedene Dinge seien,  welche  (und nicht bloß  durch  welche) die Psychologie zu erklären hat. Seite 54: "Faßt die kausale Betrachtung den  Inhalt unserer Sinneswahrnehmung  (6) ins Auge, so ergibt sich, daß sich in ihn kausaler Zusammenhang nur durch die Annahme einer gesetzmäßig bewegten Körperwelt bringen läßt. Wollen wir uns die  Abfolge (7) der Wahrnehmungsinhalte  verständlich machen, so werden wir genötigt, auf eine gesetzmäßig bewegte Körperwelt zu schließen." Das also ist die Aufgabe der Naturwissenschaft. Aber, wenn diese auch noch so vollständig erledigt wäre, so bliebe noch die Frage übrig, "ob nicht auch  die Bewußtseinsvorgänge als solche  der kausalen Bearbeitung zu unterwerfen seien"; ob nicht  "außerdem noch eine besondere Kausalität  und Gesetzmäßigkeit der  Bewußtseinsvorgänge selber  angenommen werden müsse." - Da nach Seite 52 der "Bewußtseinsvorgang" Inhalt und Form des Bewußtseins zusammenbegreift, so ergibt sich also Folgendes:
    1. Den gemeinsamen Ausgangspunkt für Naturwissenschaft und Psychologie bilden die Inhalte des Bewußtseins, nichts anderes; also nicht die Form, sollte man denken.

    2. Aufgabe der Naturwissenschaft ist, den Wahrnehmungsinhalt, genauer die Abfolge der Wahrnehmungsinhalte, ja, wie es scheint, bloß der räumlichen Wahrnehmungsinhalte, auf ihre Ursachen zurückzuführen; das heißt doch: die Bedingungen ihres Auftretens im Bewußtsein nachzuweisen.

    3. Aufgabe der Psychologie ist, die "Bewußtseinsvorgänge als solche", d. h. nach der Definition: Form  plus  Inhalt, auf ihre Ursachen zurückzuführen; also die Bedingungen dafür nachzuweisen, daß diese Bewußtseinsvorgänge sich ereignen, daß dieser und dieser Bewußtseinsinhalt in dieser und dieser Bewußtseinsform dann und dann auftritt.
Ich gestehe, daß ich nicht ahne, was VOLKELT sagen will.

Nach den oben zitierten Stellen (Anmerkung 6 und 7) ist die annehmbarste Deutung vielleicht die, daß genau nur die Folge der Wahrnehmungen, ja der räumlichen Wahrnehmungen naturwissenschaftlich, dagegen Vorstellungen, Gedanken, vollends Gefühle und Strebungen, nach Stoff und Verbindungsweise, ausschließlich psychologisch erklärt werden sollen; die Wahrnehmung aber zugleich, als "Bewußtseinsvorgang" (d. h. etwa der "Form" nach),  auch  unter die psychologische Untersuchung fällt. Das anfängliche Zugeständnis, daß beiderseits  nur  der Inhalt in Frage komme, ist damit natürlich wieder zurückgenommen. Auch könnte man fragen, ob nicht gerade die Zeitfolge zur "Form" gehört oder die Wahrnehmung als "Bewußtseinsvorgang" betrifft, als psychisch ist, sodaß für die Physiologie eigentlich überhaupt nichts mehr zu erklären übrigt bliebe. Doch auch davon abgesehen würde die Physiologie eine solche Abgrenzung der beiderseitigen Aufgaben schlechterdings verwerfen müssen. Daß die Reproduktion der Vorstellungen von der ursprünglichen Produktion der Wahrnehmungen in nichts wesentlich, sagen wir qualitativ, verschieden ist, daß auch HUMEs graduelle Unterscheidung von  impression  und  idea,  als ursprüngliche verstanden, unhaltbar ist, darauf scheinen nachgerade auch die Psychologen sich zu besinnen; die Physiologen wissen es längst. Auf jeden Fall ragt die Reproduktion mit einem so ungeheuren Anteil in die vermeintlich ursprüngliche Produktion der Wahrnehmungen hinein, daß es tatsächlich unausführbar wird, die letztere mit Ausschließung der ersteren der Naturwissenschaft zuzuweisen. Am allerwenigsten ist gerade die räumliche Gestaltung unserer Wahrnehmungen ohne Mitwirkung von Reproduktionen, ja von Prozessen, die dem Denken und Schließen zum Verwechseln ähnlich sehen, zu erklären; und daß es mit der zeitlichen Auffassung nicht anders ist, darüber pflegen zwar die Psychologen mit erstaunlicher Leichtigkeit hinwegzugehen, aber es ist darum nicht weniger gewiß. Somit will sich die gesetzte Grenzlinie auf keine Weise festhalten lassen. - Doch iest es nutzlos, diesen Gedankengang weiter zu verfolgen, da, wie gesagt, VOLKELTs eigene Angaben nicht klar erkennen lassen, ob es eigentlich so gemeint ist oder vielleicht ganz anders.

6. Deutlich dagegen ist ein Anderes, woran offenbar für VOLKELT das ganze Interesse der Frage hängt: die  erklärenden Ursachen  sollen das eine Mal außerhalb des Bewußtseins, das andere Mal in ihm selbst liegen. Die erstere Art Ursachen wird "erschlossen": in der Naturwissenschaft dienen die Bewußtseinsinhalte "zur Erschließung eines davon unabhängigen Gegenstandsbereiches", "eines transsubjektiven Landes: der  niemals erfahrbaren,  transsubjektiven Körperwelt"; für die Psychologie dagegen liegen die Ursachen unmittelbar im Bewußtsein selbst; sie erforscht die Bewußtseinsvorgänge "in ihren immanenten (psychischen) Zusammenhängen" (Seite 55). Das ist für VOLKELT die "einfache Sachlage"; die von mir verkannt zu sehen ihn höchst verwundert.

Und doch finde ich mich mit meiner abweichenden Auffassung in ziemlich guter Gesellschaft. Die Naturwissenschaft behauptet und sieht die Gewähr ihrer Wissenschaftlichkeit darin,  nur in der Erfahrung gegebene  Ursachen anzuerkennen; gegen die Annahme eigentümlich psychischer Ursachen hegt sie gerade darum Verdacht, weil sie auf das, was ihr "Erfahrung" heißt, sich offenbar nicht stützen läßt. Wir haben, wie es scheint, äußerst verschiedene Erfahrungen, die Naturwissenschaft und ich auf der einen, VOLKELT mit noch einigen "empirischen" Psychologen auf der anderen Seite. Was für die Einen das allein Erfahrbare, ist für die andern schlechthin unerfahrbar, was den Einen ein undurchdringliches Mysterium, ist den andern das unmittelbarste, unübersehbarste Datum. Es ist schwer abzusehen, wie wir uns da überhaupt verständigen sollen.

7. Am schroffsten zeigt sich der Gegensatz in der Behandlung der  räumlichen Wahrnehmung,  an der ich meine Auffassung vorzugsweise erläutert hatte. "Der räumliche Wahrnehmungsinhalt", erklärt VOLKELT (Seite 61), "ist nur als Vorstellung des unräumlichen Bewußtseins vorhanden"; ja "die zugrunde liegende, wirkliche, unmittelbare  Daseinsweise  des räumlichen Wahrnehmungsinhalts ist  unräumlicher Natur.  Oder kürzer ausgedrückt: der Wahrnehmungsinhalt hat räumliche  Beschaffenheit,  aber sein  Dasein  ist unräumlich." Der Raum unserer Wahrnehmungen kann unmöglich identisch sein mit dem Raum des Naturgeschehens (Seite 62); wie sollte das möglich sein, "da doch der Wahrnehmungsraum in Millionen von Exemplaren, der Raum des Naturgeschehens dagegen nur in einem Exemplar vorhanden ist"; da überdiese unsere Wahrnehmungen ganz anders aussehen, als die Vorgänge, mit denen die Physik den objektiven Raum bevölkert; da sie namentlich durch die sinnlichen Qualitäten charakterisiert sind, welche die Physik verwirft (ebenda).

Also der Naturforscher beobachtet und experimentiert nicht etwa im wirklichen Raum, wo die Naturvorgänge sich ereignen; kein Forscher hat je einen Naturvorgang beobachtet, sondern nur seine subjektiven Wahrnehmungen, von zwar räumlicher "Beschaffenheit", aber unräumlichem "Dasein"; die Naturvorgänge selbst gehören einem "transsubjektiven Land" an, das wir nie geschaut haben und nie schauen werden, sondern nur "erschließen"; das unräumliche Dasein der Wahrnehmungen im Subjekt ist für VOLKELT dagegen nicht etwa erschlossen, sondern das unmittelbarste Datum. Und daß es sich so verhält, ist ihm die selbstverständlichste Sache, es ist ihm geradezu "peinlich", mich darauf aufmerksam machen zu müssen, da es doch "auch für ein weniger feines Auge" sichtbar sei. (Seite 61)

Ich muß indessen wiederholen, daß meine "weniger feine" Auffassung von recht Vielen geteilt wird. Jeder metaphysisch nicht befangene Naturforscher wird sich hier vermutlich auf meine Seite stellen. Hat er von unseren philosophischen Skrupeln etwas abbekommen, so wird er vielleicht den Zweifel zulässig finden, ob der Raum,  dann aber auch diese ganze "Natur", das Objekt der "Erfahrung",  bloß Erscheinung oder letztgültige Wirklichkeit sei; aber daß die physikalischen Vorgänge überhaupt nicht Gegenstand der Erfahrung seien, daß er seine ganze Erforschung der Naturvorgänge nicht in ebendemselben Raum wahrnehmend, beobachtend, experimentierend anstelle, wo die Naturvorgänge selbst sich abspielen, sondern in einem davon ganz verschiedenen subjektiven Vorstellungsraum, wird ihm höchst paradox erscheinen. Unter dem unräumlichen "Dasein" von Wahrnehmungsinhalten räumlicher "Beschaffenheit" aber wird er sich so wenig etwas denken können wie ich. Er wird unschuldigerweise meinen, räumliche Beschaffenheit  heiße  räumliches Dasein, da Räumlichkeit überhaupt nur eine Daseinsweise, eben das Dasein im Raum, das Nebeneinander-dasein bedeute. Zugegeben, daß sich ein unräumliches Dasein denken läßt, wie am Ende auch ein unzeitliches, wird er doch behaupten, daß es ebendamit unerfahrbar wird, da Erfahrung an Wahrnehmung, Wahrnehmung aber an den Raum wie an die Zeit gebunden ist.

Einige naheliegende Reflexionen scheinen auf ebendieses Ergebnis zu führen. Für VOLKELT empfängt jeder seine Wahrnehmungen in einem besonderen, nur ihm eigenen Wahrnehmungsraum, es gibt folglich so viel verschiedene Wahrnehmungsräume wie Wahrnehmende. Warum zieht er nicht die Konsequenz auch für die Zeitwahrnehmung? Wir nehmen in der Zeit wahr so gut wie im Raum, wir nehmen die Zeit selbst wahr; mithin jeder seine eigene, welche "Millionen Exemplare" verschiedener Zeiten mit der  einen  allgemeinen Weltzeit unmöglich sein können, wenn einmal Natur und Bewußtseinswelt zwei verschiedene, voneinander unabhängige, nur am losen Faden der Schlüsse zusammenhängende Welten sind. Diese Folgerung zieht VOLKELT nicht, wundert sich vielmehr, daß ich behaupte, wer einmal zwei Welten annimmt (bei VOLKELT sind es vielmehr unbestimmt viele, eine transsubjektive und unzählige subjektive), der müsse folgerecht auch zwei (also entsprechend unzählige) Zeiten annehmen. Darauf entgegnet VOLKELT (Seite 60): "Der Zeitverlauf ist an den subjektiven Erlebnissen genau ebenso vorhanden, wie an den Vorgängen der äußeren Natur;  dieselbe eine Zeit  Druchdringt sozusagen beiden Reihen als dasselbe ideelle Element. Ich finde nicht den mindesten Grund zwei Zeiten zu unterscheiden" (ebenda). Warum denn im anderen, ganz gleichartigen Fall zwei Räume?

Ich hatte betont, daß die subjektive Folge unserer Wahrnehmungen, um eine eindeutige Zeitbestimmung zu ermöglichen, exakter Zeitmaße bedürfte, die nur mit Hilfe räumlicher Bestimmungen zu gewinnen sind. Auf dieses, von mehreren Kritikern hervorgehobene Argument antwortet VOLKELT (Seite 60): "In der psychischen Zeit  ist  alles, was darin geschieht, genau ebenso eindeutig nach Zugleich- und Nacheinandersein bestimmt, wie in der objektiven;  nur unser Bewußtsein  ist so gestellt, daß es dort nur ungefähr schätzen, hier allein exakt messen kann." VOLKELT unterscheidet also noch das "psychische" Geschehen selbst und was unser Bewußtsein davon erfährt, als die Erscheinung jenes,  an sich also unbewußten,  psychischen Daseins vor dem Bewußtsein; mit anderen Worten: er nimmt drei, nicht zwei Reihen an: die Reihe des Naturgeschehens, die der wahren psychischen oder subjektiven Vorgänge und die der erscheinenden psychischen Vorgänge oder unmittelbaren Data des Bewußtseins. Er merkt nicht, daß damit auch das (wahre) subjektive "Land" zum  unerfahrbaren  wird; und vollends ist der frühere Satz (Seite 55) damit preisgegeben, daß für die Psychologie die Bewußtseinsinhalte nicht bloß Ausgangspunkt, sondern "zugleich der unmittelbare Gegenstand" seien.

Daß "erst infolge der Kausalität sich sagen lasse, welche Veränderungen vorangehen und nachfolgen, daß erst die Kausalität dem Zeitverfluß eindeutige Bestimmtheit gebe", nennt VOLKELT (Seite 59) ein "Kantisches Vorurteil". Möchte er doch die Astronomen die Kunst lehren, ohne Rückgang auf Bewegungsgesetze, z. B. ohne das Beharrungsaxiom, "eindeutig zu bestimmen", welche Veränderungen in der gegenseitigen Lage der Himmelskörper vorhergehen oder nachfolgen! - Ich scheine ihm, indem ich auf jenem kantischen Satz fuße, "die Zeit unter dem Bild eines Bandes" zu denken, "das die äußeren Naturvorgänge in ihrer kausalen Aufeinanderfolge flechten". Es handelt sich, für mich wie für KANT in den Beweisen der "Analogien", einfach darum,  wie unserer Erkenntnis,  nicht absoluter Dinge, sondern der Phänomene,  die "objektive" Zeit entsteht,  d. i., wie eine eindeutige  Bestimmung  von Zeit möglich ist angesichts des ewigen Flusses der Bewegung und der Grenzenlosigkeit der Relationen, die den Charakter der "Erscheinung" ausmacht.

8. Doch es fördert wenig, einzelne Mißverständnisse aufzudecken oder besondere Einwände zu entkräften; ich will, um die Verständigung zu erleichtern, vielmehr versuchen, meine Meinung nochmals positiv, aus möglichst wenig Voraussetzungen, mit möglichst wenig Berufung auf Sätze, die als anderweitig bewiesen angenommen werden, zu entwickeln.

Die Wahrnehmung ist subjektiv bedingt, ohne Zweifel. Gerade die Naturwissenschaft hat das tausendfältig bewiesen. Daher wird auch der Physiker sich nicht blindlings auf seine Wahrnehmung verlassen, weniger vielleicht als irgendein anderer; sondern er wird die  Theorie  der Wahrnehmungen befragen, natürlich die physiologische Theorie, z. B. die physiologische Optik.

Die subjektive Wahrnehmung bietet uns nicht den absoluten mathematischen Raum NEWTONs, so wenig, wie die absolute mathematische Zeit; diese erhalten wir nur durch fortwährende Korrektur unserer unmittelbaren Wahrnehmungen; vielmehr wir erhalten sie auch so nicht, sondern  nähern  uns ihr nur, ohne sie je zu erreichen. Denn zur absoluten Raum- und Zeitbestimmung würden absolut feste Standorte gehören; ob aber auch nur zwei gegeneinander feste Orte im Universum nachzuweisen sind, das fragte schon NEWTON; heute wird wohl kein Naturforscher behaupten, diese zwei festen Punkte zu haben. Also erreichen wir mit keiner unserer Korrekturen je den absoluten Raum, die absolute Zeit der Objekte.

Aber fällt darum die Wahrnehmung überhaupt aus dem Raum und so aus der Zeit der Objekte heraus? Keineswegs. Denn wie geschieht jene Korrektur unserer Wahrnehmungen? Einzig durch Vergleichung mit anderen Wahrnehmungen, unter der Leitung des Gedanken des  Gesetzes:  des Grundgesetzes, daß gleichen Bedingungen gleiche Folgen entsprechen müssen, d. h. des Kausalgesetzes und der ferneren bestimmteren Gesetze, welche dieses allgemeine Gesetz auf die Erscheinungen anwendbar machen, z. B. der Grundgesetze der Mechanik. Wie wäre aber solche Vergleichung der Wahrnehmungen überhaupt möglich, wenn diese nicht auf einen und denselben Raum, auf eine und dieselbe Zeit  bezogen  würden? Also kommen wir mit unseren Wahrnehmungen ewig nicht aus dem einzigen Raum, der einzigen Zeit hinaus, obgleich unsere räumlich-zeitlichen Bestimmungen, so genau sie immer werden mögen, die absoluten niemals erreichen.

Das versteht sich leicht nach den Grundvoraussetzungen der Erkenntnistkritik KANTs. Danach ist Raumvorstellen nichts anderes, als ein gesetzmäßiges Verfahren unserer Erkenntnis, welches auf deren Einheit zielt und sie hervorbringen hilft; und zwar ein  unendliches,  nie abgeschlossenes Verfahren; ganz so das Zeitvorstellen. Die Einordnung in die eine, allbefassende Gesetzesordnung aber ist es, welche den einigen Raum, die einige Zeit für unsere Erkenntnis erst entstehen läßt; denn die Verfahrungsweisen der Erkenntnis, die zusammen die "Möglichkeit", d. h. die konstitutiven Bestandstücke der "Erfahrung" darstellen, müssen ein  System  bilden, wo eins ins andere greift, das Funktionieren jedes einzelnen Bestandstücks bedingt ist, durch ein bezügliches Funktionieren aller übrigen.

Man beachte nun, daß bei solcher fortschreitender Korrektur unserer Wahrnehmungen wir uns keineswegs bloß der eigenen, sondern ebenso der Wahrnehmungen anderer, oft vieler Generationen, die vor uns waren, bedienen. Das ist aber nur möglich, indem die Wahrnehmungen sämtlicher Beobachtenden auf einen und denselben Raum, eine und dieselbe Zeit der  Objekte  bezogen werden, sonst würden sie sich gar nicht zu einem Resultat vereinigen, nicht gegeneinander verrechnet werden und sich wechselseitig zur Kontrolle dienen können.

Zwar ist meine Wahrnehmung schlechterdings meine, ich kann von keinerm anderen Belehrung darüber annehmen, was ich in meiner Wahrnehmung habe; er kann es gar nicht wissen, wenn ich es ihm nicht mitteile. Allein ich  kann  es ihm mitteilen, wir können uns miteinander über unsere Wahrnehmungen verständigen und die eine durch die andere berichtigen, ganz so, wie eine eigene Wahrnehmung durch eine neue eigene Wahrnehmung. Diese Möglichkeit der Verständigung mit dem Anderen aber ist, ganz so, wie die der Verständigung mit sich selbst, z. B. über eine heutige und gestrige Wahrnehmung desselben Objekts, bedingt durch die Möglichkeit, die verglichenen Wahrnehmungen, sei es desselben oder verschiedener Subjekte auf einen und denselben Raum, eine und dieselbe Zeit, in der wir alle wahrnehmen, zu beziehen. Wollte man diese Möglichkeit im einen Fall leugnen, so müßte man sie auch im anderen Fall leugnen, also behaupten, daß sich auch meine gestrige und heutige Wahrnehmung nicht auf einen und denselben Raum, sondern jede auf einen eigenen beziehen. Es hätte dann jedes wahrnehmende Subjekt nicht bloß  einen  eigenen Wahrnehmungsraum, sondern deren unzählige, so viele, als es von einander isolierbare räumliche Wahrnehmungen hätte. Und dasselbe gälte von der Zeit. Ist es tatsächlich nicht so, baut sich uns vielmehr aus der ganzen Folge unserer Wahrnehmungen der einige Raum, die einige Zeit in unserer Vorstellung auf, in die wir diese sämtlichen Wahrnehmungen hineinordnen und indem wir sie hineinordnen, so ist es wiederum dieser selbe einige Raum, diese selbe einige Zeit, in der wir die anderen Wahrnehmenden, so gut wie uns selbst, existierend denken und in die wir auch deren Wahrnehmungen, soviel uns irgend davon bekannt wird, mit gleicher Sicherheit hineinordnen. Sind uns doch unsere eigenen früheren Wahrnehmungen auch nicht unmittelbar gegenwärtig, sondern durch Erinnerung bloß vergegenwärtigt, also auch nur durch eine Art Mitteilung bekannt.

Es wird jetzt schon einleuchten, daß auch die Differenz der auf dasselbe Objekt bezogenen Wahrnehmungen verschiedener Subjekte hieran nichts ändert, so wenig wie die Differenz der Wahrnehmungen eines und desselben Subjekts. So wenig ich, wenn ich dasselbe Objekt einmal mit bloßem Auge, ein ander Mal durch eine die Dimension des Objekts durchgängig verändernde Linse betrachte, in zwei verschiedene Welten zu blicken glaube, vielmehr mit ganz geringen optischen Kenntnissen imstande bin, die eine Wahrnehmung mit der anderen zu verständigen, die eine durch die andere zu bewähren oder zu berichtigen, so wenig beziehen sich meine und eines anderen Wahrnehmung darum auf verschiedene Räume, weil beide in irgendeinem Punkt nicht kongruieren [sich nicht decken - wp].

9. Als besonders schlagenden Beweis für die Verschiedenheit des subjektiven Wahrnehmungsraumes vom Raum, in dem sich die Naturvorgänge ereignen, führt VOLKELT die  sinnlichen Qualitäten  an. Es ist wohl LOTZE gewesen, der zuerst aus den "konfusen" sinnlichen Qualitäten besondere Zeugen für die selbständige Bedeutung der seelischen Innerlichkeit gemacht hat; eine ehedem unbekannte sinnliche Abart des Spiritualismus. Im gleichen Sinn wird dann vielfach, so auch von VOLKELT, die  Unräumlichkeit  der Sinnesqualitäten betont. Zwar läßt VOLKELT auch hier die Konsequenz vermissen, wenn er unumwunden anerkennt, was sonst von jenem Standpunkt immer geleugnet wird: "Gesichts- und Tastwahrnehmungen sind an sich selbst räumlich"; aber wenigstens Töne, Gerüche usw. (was steckt eigentlich unter diesen usw.?) sind nach seiner Ansicht an sich nicht räumlich, sondern werden, "nur auf ganz bestimmte Räume als ihre Herkunftsorte  bezogen"  (Seite 61). Also doch bezogen? Möchte VOLKELT sich durch eine nochmalige Prüfung meines § 10 überzeugen, daß ich (besonders Seite 71) genau nur behauptet habe: erstens, daß auch Töne und Gerüche auf den Raum "bezogen" werden und zweitens, daß diese Beziehung ihnen wesentlich ist, daß es nicht in unserem Belieben steht, sie etwa zu unterlassen. (8) Wie sollen wir sie wohl unterlassen können, wenn schon Tiere und Säuglinge sich durch Schall und Geruch so gut, ja ursprünglicher als durch Gesichts- und Tastwahrnehmungen im Raum zurechtfinden, der Mutter Nähe erkennen, die Brust zu finden wissen und dgl.

Also die wesentlich räumliche Beziehung sämtlicher Sinneswahrnehmungen ist nicht wohl zu leugnen. Auch hat die Subjektivität der Sinnesqualitäten nicht ihre ursprünglich unräumliche Existenz oder irgendeine besonders nahe Beziehung zum reinen, unräumlichen Ich besagen wollen; sie bedeutete zunächst nur ihre  Unbrauchbarkeit zu einer eindeutigen Bestimmung  des Objekts. Die sinnliche Qualität ist "subjektiv" zunächst in keinem anderen Sinn, als in dem auch die Empfindungsschätzung der räumlichen Verhältnisse subjektiv ist, d. h. erst der Korrektur bedarf, um die objektive Stimmung zu ergeben. Ließe die Farbenwahrnehmung im gleichen Sinn eine fortschreitende Berichtigung zu. gäbe es überhaupt einen Begriff exakter Farbenwahrnehmung, gäbe es eine Mathematik der Farbe als solcher, wie es eine Mathematik der Größe und Lage im Raum gibt, so würde die Farbe so "objektiv" sein, wie die Raumbestimmungen; weil sie vielmehr, wie LEIBNIZ sagte, konfus, d. h. exakter Bestimmungen unfähig ist (vgl. Einleitung usw. Seite 84), darum ist sie "subjektiv". Diesen Unterschied des mathematischen vom sinnlichen Sein hat schon DEMOKRIT erkannt un in seinen Sätzen von der echten und unechten Erkenntnis formuliert; der im Schwellengesetz definierte Tatverhalt ist es, der ihn dabei bestimmte:  die Wahrnehmung hat ein Minimum, die Mathematik kennt kein Minimum;  daher gibt die Mathematik die Möglichkeit exakter, mithin objektiver Bestimmungen, wo die Wahrnehmung nur eine subjektive Erkenntnis, aber nicht einer anderen Objektivität, sondern dieser selben, liefert; denn zum wahrhaften "Sein" gehört Einheit, Identität, die von Gegenständen der Sinne nur auf Grundlage der Mathematik möglich ist. Von einer Eigenwelt, in der das "Subjekt" sich eingeschlossen fände und aus der es sich nun durch "Schlüsse" in das unerfahrbare transsubjektive Reicht gleichsam die Brücke schlüge, ist nicht die Rede. Was für Schlüsse doch? Wer liefert die Bausteine zur Gedankenbrücke, die zum Objekt hinüberführt? "Erfahrung" muß sie liefern; Erfahrung, d. h. die Verknüpfung der Wahrnehmungen, denn  pollai aisthesis empeiria mia,  [viel Wahrnehmung in meiner Erfahrung - wp] sagt ARISTOTELES. Dann kann aber der Schluß auf ein transsubjektive, d. i. unerfahrbares Sein gar nicht führen. - Allein der Verstand hat Recht, entgegnet man, nicht die Erfahrung. - Die Disjunktion [Trennung, Entgegensetzung - wp] ist falsch; der Verstand hat Recht, nicht die vom Verstand belehrte Sinneswahrnehmung; aber der Verstand hat sein Recht eben  in  der Erfahrung, nicht ohne, geschweige gegen sie. Wenn er nicht die Aussage der Wahrnehmung je unter ihren bestimmten Bedinungen gelten ließe und sich an sie bände, so könnte er auch nicht aus ihren vereinten Aussagen die verläßliche Erkenntnis herausarbeiten. Er muß sie wiederum beglaubigen; sonst fände er selbst keinen Glauben. So spricht der Entdecker der Sinnesqualitäten, DEMOKRIT, so seine modernen Wiederentdecker und ebendies war die Auffassung, von der ich ausging.

10. Während VOLKELT im übrigen die "Geschlossenheit" meiner Auffassungsweise anerkennt, findet er einen "immanenten Widerspruch" darin, daß ich auf der einen Seite behaupte, die ursächliche Erklärung der Bewußtseinserscheinungen sei rein in der Naturwissenschaft zu suchen, während ich andererseits selber eine Kluft zwischen der sinnlichen Erscheinung und ihrem objektiven Korrelat darin behaupte, daß jener ein Charakter des Fließenden, Bestimmungslosen beiwohne; was doch beweise, daß "in den Bewußtseinsinhalten ein für die Naturgesetze unerklärbares Etwas stecke", etwas, das in die Bewegungsgesetze nicht aufgehe. (Seite 65)

Daß dem Sinnlichen dieser Charakter innewohnt, ist ja wohl Tatsache. Im Gegensatz des Bestimmungslosen und dessen Bestimmung, wodurch der "Erscheinung" ihr "Gegenstand" gesetzt wird, bewegt sich unsere gesamte Erkenntnis; er ist es, der diese Erkenntnis, die "Erfahrung", zu einem unendlichen Prozeß macht. Darin sehe ich den Kerngedanken der kritischen Erfahrungstheorie. Alle Bestimmung ist erst Leistung der Erkenntnis; sie vollzieht sie gemäß ihrem Grundgesetz der Einheit, der Identität, aus dem die "Kategorien" abzuleiten und in Bezug auf welches Raum und Zeit als Formen, d. i. gesetzmäßige Grundbedingungen unserer Sinnlichkeit zu definieren sind. (9) Alle Bestimmung des Gegenstands in der Erfahrung aber bleibt, zufolge jenes Unendlichkeitscharakters, der dem Sinnlichen unaufheblich anhaftet, bloß relativ, verbesserlich; die "Wahrheit" der Erfahrung besteht allein im unbeschränkten Fortschritt zur wahreren, aber niemals absolut wahren, d. h. einheitlicheren, aber die absolute Einheit nie erreichenden Bestimmung. Die absolute Einheit der Bestimmung gibt den bloßen Grenzbegriff des schlechthin bestimmten Gegenstandes, der zwar, als bloß gedachter Zielpunkt der Erkenntnis, die Richtung des Erkenntnisweges bestimmt, nicht aber darum, einen besonderen, jenseitigen "Gegenstand", eine, bloß nicht empirische, sondern überempirische  Existenz  setzt; denn um Existenz zu setzen, reicht niemals der bloße Gedanke aus, sie muß gegeben sein, Sinnlichkeit aber gibt, ihrem eben beschriebenen Charakter nach, diese Existenz nicht, der Verstand, eine bloße Methode, die zu ihrer Ausübung erst einen gegebenen Stoff erfordert, erst recht nicht. Das wirksamste Instrument jener fortschreitenden Bestimmung des in der Erscheinung Erscheinenden, d. i. des Gegenstandes, ist die Mathematik. Ihre Exaktheit besteht nicht etwa darin,  den gegebenen Gegenstand  in absoluter Genauigkeit zu erfassen, sondern, durch geeignete Gestaltung des  Verfahrens  der Bestimmung, ohne Grenzen genauere Bestimmungen  möglich  zu machen; natürlich je nachdem Data dazu vorhanden sind. Zum Beispiel stellt die sinnliche Gerade den Begriff der Geometrie seiner Strenge nach niemals dar; genauere Wahrnehmung könnte immer eine Abweichung von der absoluten Einheit der Richtung erkennen lassen und diese Möglichkeit läßt sich,  so lange wir uns an die gegebene Wahrnehmung überhaupt binden  - das aber heißt "sinnlich" oder "empirische" auffassen - niemals ausschließen; hingegen läßt sich im reinen, d. h. an  keine gegebene  Wahrnehmung sich bindenden,  weil  bloß methodischen Begriffe der Fall  setzen,  daß die Einheit der Richtung sich auch bei ohne Grenzen gesteigerter Genauigkeit der Wahrnehmung fort und fort bewähren  würde.  Also repräsentiert ein solcher reiner mathematischer Begriff niemals einen gegebenen Gegenstand der Sinne, noch wird er umgekehrt durch einen solchen je adäquat dargestellt; dagegen liefert er ein methodisches Mittel, aus den Erscheinungen den Gegenstand zu erkennen, d. i. zu  gestalten  oder die Erscheinung zu objektivieren. Er ist in diesem Sinne a priori, denn im Gesetz ihrer Methode ist die Erkenntnis des Gegenstandes begründet, dieses Begründende aber ist, ebendamit, das  proteron physei  [das von Natur aus Ursprünglichere - wp] der Erkenntnis, von einer psychologischen Hypothese ist, wie man sieht, gar nicht die Rede.

So möge man es verstehen, daß das Sinnliche vom Mathematischen unterschieden ist durch jenen Charakter des Fließenden, Bestimmungslosen, den das Gesetz der Schwelle in wissenschaftlicher Strenge definiert und daß darum doch die sinnliche Erscheinung und das mathematisch bestimmte Objekt nicht in zwei verschiedene Welten auseinanderfallen. Es gäbe an der sinnlichen Erscheinung gar nichts mehr zu "erkennen", wenn sie den objektiven Vorgang unmittelbar darstellte, wenn nicht erst ein Weg von jener zu dieser zu beschreiben wäre. Das allein ist der verständliche Sinn der "Erklärung": sie erhellt das ungewisse Dunkel der unmittelbaren Erscheinung, klärt ihre Verwirrung, bringt Grenze und Bestimmung hinein und gestaltet so daraus eine artikulierte "Welt". Man hat solches "Erklären" bemängelt und der Physik Schwierigkeiten daraus bereiten wollen; sie hat sich dessen erwehrt, indem sie sagte: nun gut, wir "erklären" also nicht, da wir keine anderen Ursachen kennen und suchen, als die  in  den Erscheinungen selbst gegeben sind: die Gesetze; wir wollen also fortan nicht sagen: wir "erklären", sondern: wir "beschreiben" die Naturvorgänge. Das heißt aber nicht: wir lesen sie aus den Erscheinungen wie aus dem aufgeschlagenen Buch ab; sondern das Beschreiben ist ein mathematisches, es ist ein  Entwerfen  der wahren Gestalt des Naturvorgangs, ein rechtschaffenes  Konstruieren,  nicht aus dem Blauen des Gedankens wieder ins Blaue hinein, sondern aus Datis der Erfahrung in Hypothesen, die an Erfahrung wiederumg zu erproben sind, immer aber nach den Methoden des Bewußtseins, als den Hypothesen aller Hypothesen, deren Erprobung darin liegt, nicht daß sie mögliche Erfahrungen, sondern daß sie die Möglichkeit der Erfahrung selber, als des gesetzmäßigen Verfahrens der Erkenntnis, begründen.

Solche "Erklärung" des Prozesses der Erfahrung ist freilich selbst wiederum nur "Beschreibung" dessen, was die Erfahrung, in den Wissenschaften, fortwährend  wirklich leistet.  Auch kann eine "Kritik" der Erkenntnis, die auf festen Füßen stehen und nicht, während sie aller Annahme Grund und Recht erst entscheiden soll, selber mit grund- und rechtlosen Annahmen beginnen und fort und fort operieren will, gar nicht anders vorgehen; mehr und anderes kann sie nicht leisten, als den tatsächlichen Prozeß der Erfahrung in den Wissenschaften, nach seiner in diesen selbst aufzeigbaren, nicht von außen ihm zudiktierten Gesetzmäßigkeit darstellen.

Sie kann also gar nicht fragen: was ist Anteil des "Subjekts", was des "Objekts" an der Erkenntnis; ihr ist gar kein Subjekt und kein Objekt gegeben  vor  der Erkenntnis, sondern allein  in  ihr und auch in ihr nicht als zwei absolut feste Punkte, zwischen denen das Netz der Erkenntnis gleichsam ausgespannt wäre oder als zwei Agentien, aus deren Wechselwirkung sie als Produkt herauszurechnen wäre, sondern als die zwei einander korrespondierenden  Richtungen des Erkenntnisweges,  deren "unendlich ferne" Endpunkte sich man höchstens festliegend denken mag - mit denen nur leider die Erkenntnis selber niemals zu tun hat. Dieser Weg der Forschung nach den Gesetzen der Erkenntnis ist der einzige, den ich offen finde. Alle Erzählungen vom Subjekt und vom Transsubjektiven prallen an dieser Auffassung der erkenntnistheoretischen Aufgabe ab; ich kann dabei nichts verstehen, ich höre dabei wohl, wie man sagt, die Mühle klappern, aber sehe kein Mehl.

11. Das ist der letzte Grund unserer Differenz: VOLKELT mißkennt völlig den Sinn der  kritischen Methode.  Er bringe es nicht über sich, unter "Idealismus" etwas anderes zu verstehen, als die abenteuerliche Behauptung, daß die  Existenz der Objekte  unserer Erkenntnis vom Subjekt und dessen jeweiligem Bewußtsein abhänge; er will nicht verstehen, daß es sich allein um die  Erkennbarkeit  des Objekts handelt, daß vom Objekt, abseits dessen, was es für, ja durch unsere Erkenntnis ist und sein kann, in der These des "kritischen" Idealismus, nach der ganzen Art, wie er sich sein Problem begrenzt hat, nicht die Rede sein kann. Wenn um Erkenntnis, so handelt es sich freilich um Bewußtsein: Bewußtsein ist jenes Unmittelbare, "Subjektive", erst zu Erkennende, Bewußtsein die Konstruktion des "Objekts" aus diesem, gemäß den gesetzmäßigen Verfahrensweisen, welche die Erkenntniskritik definiert und in einem System ordnet. Was ist dabei zu verwundern, da einmal Erkenntnis ein Bewußtsein ist?

Wer aber von der Voraussetzung einer absoluten Existenz, "Subjekt" genannt und einer zweiten "Objekt" genannt, von vornherein ausgeht, dem wird sich der einfache, ja selbstverständliche Satz, daß alles, was uns in der Erkenntnis je vorkommen kann, Bewußtsein ist, Bewußtseinssubjekt und Bewußtseinsobjekt, in die Ungeheuerlichkeit verwandeln, daß die Welt der "Objekte" im "Subjekt" eingeschlossen liege und mit dem Zufall seines Da- und Bewußtseins aus dem Nichts entstehe und wieder ins Nichts sinke; während andererseits doch ein wahres "transsubjektives" Objekt existieren müsse, zu dem die Brücke zu schlagen nun die große, auf diesem Standpunkt leider unauflösbare Schwierigkeit sei.

Die Folgen sind klar. Sagt der kritische Idealist: das Subjektive der Erscheinung sei dennoch auf das Objekt und zwar notwendig bezogen, sei selbst Grundlage seiner Erkenntnis, so wird jener ihm vorwerfen, er löse die sinnliche Erscheinung oder den Wahrnehmungsinhalt unberechtigterweise vom Subjekt, dem er doch angehöre, los und dränge ihn in die objektive Sphäre hinüber, er "presse" auf unerträgliche Weise die Bewußtseinserscheinungen "in das Naturgeschehen hinein", nehme ihnen ihre Eigenart, während sich ihm doch zugleich ihr "Eigendasein" gegenüber dem Mechanismus der Bewegung "in widerspenstiger Weise geltend mache" (VOLKELT Seite 65f) und dgl. mehr. Sagt der Kritizist wiederum, das Objekt der Naturwissenschaft sei nur der Ausdruck der Erscheinungen selbst in ihrer Gesetzmäßigkeit, sei nur Bestimmung des Bestimmungslosen, nur Befestigung dessen, was "in schwankender Erscheinung schwebt", im "dauernden Gedanken", so wird ihm die Antwort: er ziehe nun wieder umgekehrt das "transsubjektive", "unerfahrbare" Objekt in das Subjekt und die Erfahrung hinein, "Objektivität" sei bei ihm nichts als ein "täuschender Name" (Seite 72) Entgegnet jener: nicht doch, denn Subjekti und Objekt, Subjektivität und Objektivität sind nur in der Erkenntnis als zwei verschiedene Seiten, als die zwei einander entgegengesetzten Richtungen des dennoch in sich einen Erkenntnisweges, der "Erfahrung", zu unterscheiden, so muß er sich sagen lassen, darin enthülle sich vollends der extreme Subjektivismus seiner Denkweise, in dieser "Korrelativitäts- und Gesichtspunktlehre", die uns "vor lauter ruhelosen Beziehungen und relativen Betrachtungsweisen über die Beschaffenheit des  Seinden selber  im Ratlosen läßt" (Seite 72). Das ist nun besonders merkwürdig. Wie denn, wenn die Beschaffenheit unserer Erkenntnis tatsächlich diese ist? Kann es etwas helfen, sie unserer Bequemlichkeit zuliebe anders zu denken, als sie ist? Der Physiker würde es wohl auch bequem finden, wenn ihm der absolute Raum, die absolute Zeit, die er so notwendig braucht, in der Erfahrung gegeben wären; trifft ihn die Schuld, daß es in der Tat nicht so ist, daß tatsächlich alle unsere Raum- und Zeitbestimmungen, mithin auch alle Bestimmungen der Naturvorgänge, über Korrelativitäten und Gesichtspunkte, ruhelose Beziehungen und relative Betrachtungsweisen nicht hinauskommt? Erkenntniskritik kann doch nichts mehr tun, als daß sie diesen klärlich vorliegenden, von den tieferblickenden unter den Alten schon geahnten, in der neueren Naturwissenschaft und Philosophie immer unwidersprechlicher bewiesenen Charakter der "Erfahrung" definiert und aus deren Grundgesetz entwickelt. Zum Vorwurf, daß sie dabei nicht den metaphysischen Drang zum Absoluten stillt, kann sie nur die Achseln zucken; sie hat sich das auch gar nicht zur Aufgabe gestellt; sie wollte die Prozesse der "Erfahrung" und deren Gesetzmäßigkeit erkennen, wie sie sind und nicht, wie man sie gerne hätte, um ich weiß nicht welches metaphysische Gelüste zu befriedigen.

12. Sozusagen die ganze VOLKELTsche Kritik beruth auf diesem Grund und es ist kaum nötig, das noch mehr im Einzelnen zu beweisen. Nur eine Behauptung verlangt noch eine Zurückweisung. VOLKELT sagt (Seite 70) von KANT: es gelinge ihm nicht, seine Objektivität "über die  abgerissenen, fetzenartigen Vorstellungsinhalte der Einzelsubjekte  und über die ordnenden Hilfsbegriffe (Kategorien), die aber selbst wieder dem unterbrochenen, zusammenhanglosen Vorstellungsleben der Einzelsubjekte völlig preisgegeben sind, hinauszubringen"; und der sagt (Seite 72) von mir: nirgends werde von mir "ein transsubjektives, d. h. außerhalb der  menschlichen und überhaupt endlichen Bewußtseinssphären  bestehendes Dasein anerkannt". Das Letztere ist richtig, sofern es besagt: ich erkenne nicht an, daß ein absolutes, nicht bloß relativ, also endlich bestimmtes Dasein uns, sei es in der Erfahrung, was ein direkter  Widerspruch  wäre oder durch eine besondere, die Erfahrung übersteigende Erkenntnisart,  gegeben  sei. Auch VOLKELT ist es jedenfalls in der Erfahrung nicht gegeben, da er transsubjektiv = unerfahrbar setzt. Ist ihm dafür ein Verstand gegebeb, der die Kraft hat, Existenzen, an die keine Erfahrung reicht, zu erdenken, so bin ich, wie es scheint, um dieses edle Organ zu kurz gekommen; ich tröste mich darüber mit der Wahrnehmung, daß es vielen anderen, z. B. den Physikern und KANT, auch so ergeht. Will dagegen jener Satz sagen: ich behaupte, was mir oder sonst einem menschlichen oder endlichen Bewußtsein nicht gegeben ist,  existiere  darum nicht, so bin ich genötigt, zu entgegnen, daß das ein gröbliche Verwechslung ist. Die Behauptung vollends, daß bei KANT "die abgerissenen, fetzenartigen Vorstellungen der Einzelsubjekte" die Objektivität darstellen sollen oder die Kategorien dem "zusammenhanglosen Vorstellungsleben der Einzelsubjekte preisgegeben" seien, ist mir fast unverständlich. KANT spricht, wenn er seine Kategorien und Grundsätze entwickelt, erklärtermaßen von den gesetzmäßigen Grundlagen der Mathematik und Physik. Nun mögen sich diese Wissenschaften ja, am idealen Maß einer absoluten Erkenntnis gemessen, abgerissen und fetzenartig genug ausnehmen; es ist eben "Erfahrung", d. h. nicht absolute Erkenntnis, sondern eine solche, die einen grenzenlosen Fortschritt vor sich sieht. Sie stellt immerhin, vermöge ihres gesetzmäßigen Charakters, den nachzuweisen eben KANT sich zur Aufgabe gestellt hatte, einen Zusammenhang der Vorstellungen und nicht bloß des einzelnen Subjektis, tatsächlich her. Übrigens aber, wenn Erfahrung den Anspruch einer absoluten Erkenntnis nicht erhebt noch erheben kann, so fällt es ihr andererseits nicht ein, die Schranke unserer Erkenntnis zur Schranke des absoluten Daseins der Dinge zu machen; von dem ist in ihr gar nicht, weder positiv noch negativ, die Rede. VOLKELT ist nur in sein Absolutes so verliebt, daß er sich gar nicht vorstellen kann, man spreche von etwas anderem, wenn man von Erkenntnis spricht. Ich versichere ihm aber, daß es wirklich nur das Bewußtsein unserer menschlichen Schwäche ist, wenn wir vom Absoluten gar nicht reden, sondern allein von dem, was für eine endliche Erkenntnis, wie unsere Erfahrung es auch in der denkbar höchsten Erweiterung immer bleibt, der "Gegenstand" bedeuten kann; wir lassen also das Absolute ganz unangetastet; zumal wir, für diese unsere endliche Erkenntnis, auch gar nichts damit anzufangen wüßten. (10) Nicht wir sind es, die "das Transsubjektive immer in subjektivistischer Verhüllung und Abschwächung" darstellen (Seite 57), es selbst ist so boshaft, sich uns zu verhüllen oder so freundlich, sich, mit Rücksicht auf unsere Schwachheit als endlicher Wesen, zur Erscheinung "abzuschwächen". -

Ich hatte (Einleitung usw. Seite 108) die Besorgnis ausgesprochen, daß mit Philosophen, die sich gegen den Grundgedanken des kritischen Idealismus immer noch verschließen, wohl jede weitere Diskussion unfruchtbar bleiben werde. VOLKELTs Kritik zeigt nur zu deutlich, wie sehr diese Besorgnis begründet war. Für ihn hat meine "Einleitung" nur das Interesse, zu lehren,  "wohin es mit der Psychologie kommen würde,  wenn man sie konsequent nach den Grundsätzen der Kantischen Philosophie bearbeiten wollte" (Seite 72f). Wohin es kommen würde? Zu sorglicher, methodisch fortschreitender, durch kein metaphysisches Vorurteil beirrter  physiologischer Untersuchung.  Denn darüber hatte ich keinen Zweifel gelassen, daß ich dieses für die Hauptaufgabe halte. Was ich im Unterschied davon - da es doch am Ende das Ratsamste ist, Physiologie auch Physiologie zu nennen - mit dem Namen Psychologie bezeichne, ist etwas vergleichsweise Nebensächliches; es hat seine begrenzte Bedeutung allein in Rücksicht auf die Erkenntniskritik und verhält sich auch zu dieser nicht als Grundlage, sondern als, übrigens, lehrreiche,  Folge.  Ich erwarte davon keine großen positigen Enthüllungen, sondern nur die Lösung selbstgeschaffener metaphysischer Verwicklungen; Verwicklungen, die den Physiologen bei seiner Arbeit wenig zu kümmern brauchen, durch die aber der Philosoph sich auf Schritt und Tritt aufgehalten findet, deren Entwirrung daher allerdings gefordert ist. Das eigentümliche Arbeitsfeld des Philosophen aber ist und bleibt - die  Erkenntniskritik. 
LITERATUR - Paul Natorp, Zu den Vorfragen der Psychologie, Philosophische Monatshefte 29, Berlin 1893
    Anmerkungen
    1) PAUL NATORP, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, Freiburg 1888
    2) JOHANNES VOLKELT, Psychologische Streitfragen III, Paul Natorps Einleitung in die Psychologie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik Bd. 102, Seite 44-74
    3) THEOBALD ZIEGLER, Göttingische gelehrte Anzeigen 1889, Seite 439 - 458
    4) Aus einer kürzlich erschienenen Dissertation von G. BIEDENKAPP (Beiträge zu den Problemen des Selbstbewußtseins, der Willensfreiheit etc., Halle 1893) ersehe ich, daß sich über den Widerspruch der Identität von Subjekti und Objekt der Erkenntnis schon die altindischen Philosophen klar waren. Unter den abendländischen Parallelen, die der Verfasser zusammenträgt, vermißt man  Platon im Charmides;  vgl. weiter J. BERGMANN, Vorlesungen über Metaphysik (11. Vorlesung nebst Anmerkungen).
    5) VOLKELT, a. a. O, Seite 48. Ähnliches wirft mir ZIEGLER, Seite 442, vor. Die jetzige Fassung macht vielleicht deutlicher, daß das Argument von "direkt sachlicher", nicht bloß "sprachlicher" Bedeutung ist.
    6) Warum bloß der Sinneswahrnehmung? Woher diese Einschränkung, nachdem eben noch schlechtweg "die Inhalte, die dem Bewußtsein erscheinen", den Ausgangspunkt sowohl der Naturwissenschaft als auch der Psychologie bilden sollten? Geht etwa die Halluzination, die Traumvorstellung, die gemeine Sinnestäuschung die Naturwissenschaft nichts an? - Noch mehr scheint sich das Gebiet der Naturwissenschaft zu verengen, wenn Seite 57 sich gegenüberstehen: "die vom Bewußtsein fast abgelösten  räumlichen Wahrnehmungsinhalte"  und andererseits "das Geschehen im Bewußtsein selber" oder "die Vorgänge des Vorstellens, Fühlens, Strebens usw."
    7) Bloß die Abfolge? Also nicht die Qualität, die Intensität, die örtliche Bestimmtheit des Wahrnehmungsinhaltes? Da müßte wiederum die Physiologie Einspruch erheben. - Andererseits werden (Seite 58) die Gesetze der Vorstellungsfolge,  des Gedanken ablaufs  als "eigentümlich  psychische"  in Anspruch genommen.
    8) Freigiebiger als VOLKELT gesteht ZIEGLER (449) die "ganz unerläßliche Beziehung"  aller  sinnlichen Wahrnehmungen auf den Raum zu; aber, fragt er, "wie steht es mit Liebe und Hass, mit Ehrgeiz und Reue, mit dem Eindruck einer BEETHOVENschen Symphonie oder den Gedanken über das Wesen des Bösen? Soll auch solchen Bewußtseinstatsachen die Beziehung auf den Raum ebenso wesentlich sein, wie auf die Zeit?" Die Frage ist unbedenklich zu bejahen; keine dieser Bewußtseinstatsachen ist ohne Beziehung auf unsere Sinnlichkeit, also auf den Raum. Die Beziehung ist weniger direkt, aber darum nicht weniger wesentlich. Vom sinnlichen Lust- und Unlustgefühl wird doch anerkannt, daß es, als bloßer "Gefühlston", von der Empfindung untrennbar ist; sollte es höher hinauf wesentlich anders sein? Ist z. B. der Gefühlseindruck der Musik trennbar von der bestimmten Auffassung der Tongebilde selbst? So sind wir überhaupt im Gefühl und Streben keineswegs von dieser Welt, vom Hier und Jetzt losgerissen, sondern gar sehr darin. Aber auch der abstrakteste Gedanke bedarf, gerade je mehr er es ist, desto mehr, der Anlehnung an sinnliche Merkzeichen. Das alles ist doch aber  Beziehung  auf das Sinnliche, also auf den Raum und zwar wesentliche, unerläßliche Beziehung. Die Probe ist, daß alle diese Phänomene ohne Ausnahme auch naturwissenschaftliche, sagen wir, gehirnphysiologische Behandlung fordern; wie ZIEGLER ebenfalls (Seite 450) unumwunden anerkennt.
    9) Einen Versuch solcher Ableitung habe ich "Philosophische Monatshefte 27, Heft 1, Seite 129ff vorgelegt; vgl. besonders Seite 142f
    10) Hiernach wird vielleicht auch ZIEGLER darüber beruhigt sein, ob ich nicht "der Scylla [Meeresungeheuer - wp] des Platonismus verfalle", um "der Charybdis [noch ein Meeresungeheuer - wp] des Fichteanismus zu entgehen." (Seite 456).