p-4ra-2 A. BolligerA. PfänderH. MünsterbergF. Boden    
 
GOTTLOB FRIEDRICH LIPPS
Der gute und der böse Wille

"Die göttliche Allmacht hat die Welt so erschaffen, wie es ihr gefiel. Sie hat, sagt Augustin, den Dingen, die sie aus nichts schuf, das Sein verliehen, aber nicht im höchsten Maße, wie sie es selbst hat: sondern sie gab den einen Dingen mehr Sein, den anderen weniger und ordnete, in gradweiser Abstufung, die Beschaffenheiten der Seinsarten. Demgemäß ist jedes Ding mit einem, seinem Sein entsprechenden Willen begabt, der dieses Sein zu erhalten strebt. Und eben bei diesem Streben, das Sein zu erhalten, besteht die Möglichkeit zu einem, im geschaffenen Ding selbst liegenden Anfang des Geschehens. Der geschaffene Wille ist nämlich keineswegs die unmittelbare Wirkung des göttlichen Willens, der ja überhaupt nicht als Ursache in natürlicher Weise wirkt. Er ist vielmehr in der Tat ein Wille, der seinem Wesen nach frei ist. Seine Freiheit besteht darin, daß er bei seinem Wirken ebensowohl im Zusammenhang mit dem göttlichen Willen beharren, wie auch sich vom göttlichen Willen loslösen kann. Löst er sich vom göttlichen Willen los, so wird er der Teilnahme am ewigen, göttlichen Licht beraubt. Er verliert das Gute, das er hatte; und der Mangel des Guten, der nun eintritt, heißt das Böse, das nichts Wesenhaftes, sondern ein bloßer Mangel, ein Versagen ist. Diese Abkehr ist die freie Tat der Geschöpfe, die ihnen zugerechnet wird."

Zu der Zeit als BOETHIUS (524 n. Chr.) seine Tröstungen der Philosophie schrieb, war in der Tat schon eine andersartige, auf die Einsicht tiefer begründende Auffassung vom Urgrund der Welt und vom Wesen des Menschen entwickelt worden. Sie wurde durch das Bedürfnis veranlaßt, die Lehren der christlichen Kirche gegen Angriffe zu verteidigen und zu einem in sich geschlossenen Bau zusammenzufügn. Sie fand ihre Begründung und ihre für die Folgezeit maßgebende Ausgestaltung durch den Kirchenvater AUGUSTIN in dem, in den Jahren 413 bis 426 verfaßten Werk vom Gottesstaat (de civitate dei).

AUGUSTIN (1) erblickt im Glauben die Quelle der Erkenntnis. Er nennt es etwas Großes und überaus Seltenes, über die ganze, vergängliche Schöpfung im Geist sich zu erheben und zu der unvergänglichen Wesenheit zu gelangen, umd dort von Gott selbst zu vernehmen, daß er die gesamte Welt, die nicht ist, was er selbst ist, geschaffen hat. Soll aber der Mensch, dessen natürliches Erkenntnisvermögen verdunkelt und geschwächt ist, imstande sein, das "unwandelbare Licht" der Wahrheit zu ertragen, so muß er "mit dem Glauben erfüllt und durch den Glauben gereinigt werden, bis er mehr und mehr erneuert und geheilt einer so großen Glückseligkeit fähig wird."

Was ist nun dieser Glaube? - Da er, wie AUGUSTIN sagt, es möglich macht, das "unwandelbare Licht" der Wahrheit zu schauen, so könnte es scheinen, daß er nichts anderes als der vollendete Zustand des Erkennens sei. PLATO hat ja auch den Prozeß des Erkennens, der von der trügerischen Sinnenwelt in das Reich des wesenhaften Seins führt, am Empordringen aus dem Dunkel einer unterirdischen Höhle zum hellen Licht der Sonne veranschaulicht. Er vergleicht den zur Erkenntnis gelangenden Menschen mit dem Höhlenbewohner, der anfänglich, an Händen und Füßen gefesselt, nur die Schatten sehen kann, die von einem hinter ihm brennenden Feuer herrühren und vor seinen Augen an der Wand der Höhle hingleiten, der aber sodann, von den Fesseln befreit und in das Licht der Sonne gebracht, allmählich die Dinge in der Helligkeit des Tages zu betrachten lernt und schließlich die Sonne selbst zu schauen vermag und in ihr den Urquell allen Lebens erkennt. Der Glaube ist jedoch im Sinne AUGUSTINs kein im sicheren Gang methodischer Forschung fortschreitendes Erkennen. Es ist vielmehr ein besonderer, eigenartiger Zustand, den man erst kennen lernt, wenn man ihn erlebt. Solange man ihn noch nicht erlebt hat, befindet man sich im Zustand des Unglaubens, der den natürlichen Zustand bedingt, in dem man zu der jedermann zugänglichen, auf die Sinneswahrnehmung und das Denken sich gründenden Erkenntnis gelangt. Der Glaube hingegen führt zur Erkenntnis der, dem Ungläubigen verschlossenen, übernatürlichen, von Gott in den heiligen Schriften geoffenbarten Wahrheit.

Der Glaube und ebenso der Unglaube ist somit ein Zustand, der nicht im Erkennen besteht, sondern das Erkennen bedingt und herbeiführt.

Das Erkennen kann daher nicht mehr, wie die Lehre vom Vernunftwirken annimmt, als die ursprüngliche Betätigung des geistigen Lebens gelten. Das Ursprüngliche muß vielmehr in dem Zustand gesucht werden, der sich im Glauben oder im Unglauben äußert.

Welcher Art dieser Zustand ist, wird uns deutlich, wenn wir darauf achten, daß nicht nur das Erkennen und das - wie auch Augustin annimmt - aus dem Erkennen hervorgehende, mit Bewußtsein ausgeführte, auf Ziele gerichtete Handeln, sondern überdies die ganze Beschaffenheit des seelischen Lebens, die sich in den Stimmungen und Bewegungen des Gemüts bekundet, durch den Glauben oder Unglauben unmittelbar bedingt ist. Auch das Wünschen und Hoffen, das Frohsein und Traurigsein ist beim Gläubigen anders als beim Ungläubigen, eben weil das ganze Leben anders ist. Und da der Glaube oder Unglaube nicht im Erkennen wurzelt, so können ebensowenig jene Stimmungen und Bewegungen des Gemüts, die unmittelbar an den Glauben ode Unglauben geknüpft sind, im Erkennen ihren Grund haben. Die aus der Lehre von Vernunftwirken sich ergebende Auffassungsweise, daß die Gemütsbewegungen entweder in einem Wahrnehmen und Wissen bestehen oder daraus hervorgehen, kann demnach nicht festgehalten werden. Hält beispielsweise ARISTOTELES die Luft für einen zur Tätigkeit und zum, die Tätigkeit herbeiführenden Wahrnehmen und Wissen hinzutretenden Folgezustand, so haben nunf für AUGUSTIN zugleich mit dem Glauben oder Unglauben auch die an ihn geknüpften Stimmungen und Bewegungen des Gemüts als ursprüngliche Lebensäußerungen zu gelten. Es muß daher dem Menschen ein ursprüngliches, als Glaube oder Unglaube sich äußerndes eigenartiges Leben zuerkannt werden, aus dem ebenso die Stimmungen und Bewegungen des Gemüts wie auch die natürlichen und übernatürlichen Betätigungen des Erkennens hervorgehen. Dieses ursprüngliche, eigenartige Leben findet AUGUSTIN im  Willen.  Die Seele des Menschen wird, wie er sagt (2), "durch sich selbst" in ihren Regungen und Bewegungen, in ihrem Wünschen und Hoffen, in ihrem Frohsein und Traurigsein hin und her getrieben. "Dabei kommt es auf die Beschaffenheit des Willens an: ist er verkehrt, so sind auch die Gemütsbewegungen verkehrt; ist er aber richtig beschaffen, so sind auch jene nicht nur schuldlos, sondern sogar lobenswert. Der Wille ist nämlich in allen vorhanden, vielmehr sind alle nichts anderes als Willensregungen."

Daß wir den Kern oder das Wesen des Menschen tatsächlich im Willen zu suchen haben, bestätigen, wie AUGUSTIN (3) hervorhebt, die Menschen selbst, indem sie den Willen zu sein und zu leben als den Grundzug ihres Wesens bekunden. "Selbst die Elenden wollen nicht untergehen; und wenn sie sich elend fühlen, so möchten sie doch nicht ihr eigenes Sein, sondern nur ihr Elend verlieren." Dies bezeugt die allgemein bekannte Sinnesart der Menschen. "Warum nämlich fürchten sie den Tod und wollen lieber in Trübsal leben, statt ihr durch den Tod ein Ende zu machen, wenn nicht deshalb, wie vollkommen klar ist, weil ihre Natur vor dem Nichtsein zurückschreckt? Darum empfinden sie, wenn sie das Herannahen des Todes merken, es als eine große Wohltat, wenn man mitleidig für sie sorgt, damit sie nocht etwas länger in ihrem Elend leben und langsamer sterben."

Zur Bestätigung dient auch, daß man im Verhalten aller Dinge, der belebten und der unbelebten, ein entsprechendes Streben nach Erhaltung des Seins als Grundzug bemerken kann.

"Zeigen denn nicht", sagt AUGUSTIN (4), "alle vernünftigen Tiere, die nicht zu denken vermögen, von den ungeheuren Drachen bis zu den kleinen Würmchen, daß sie sein wollen und deswegen durch alle ihnen möglichen Bewegungen dem Untergang zu entrinnen suchen? Treiben nicht die Bäume und alle Sträucher, die keine Sinne zur Vermeidung des Verderbens durch offenkundige Bewegungen besitzen, um den Sproß des Wipfels gesichert in die Lüfte strecken zu können, so tief wie möglich ihre Wurzeln in die Erde, damit sie Nahrung gewinnen und so ihr Sein erhalten? Ja selbst die Körper, die nicht nur keine Sinne, sondern nicht einmal ein zur Fortpflanzung führendes Leben haben, streben doch so in die Höhe oder steigen so in die Tiefe oder schweben so in der Mitte, daß sie da, wo sie ihrer Beschaffenheit entsprechend weilen können, ihr Sein erhalten."

Diese aus dem Willen als der ursprünglichen Lebenskraft hervorgehenden Betätigungen aller Dinge gelten jedoch in der Auffassungsweise AUGUSTINs ebenso wie bei der Annahme eines ursprünglichen Vernunftwirkens nur dann als begreiflich, wenn sie im Zustand des Bewußtseins oder in einem dem Bewußtsein ähnlichen Zustand erfolgen. Darum muß dem in allen Dingen wirksamen Willen die Fähigkeit zuerkannt werden, das Sein der Dinge, das er begründet, soweit es möglich ist, bewußterweise zu erfassen. Dieses Bewußtsein bleibt für die unbelebten Dinge ein unausgebildeter Keim. Auch in den Pflanzen liegt es noch wie im Schlaf den unbewußt zweckmäßigen Vorgängen der Ernährung und Samenbildung zugrunde. In den Tieren erwacht es jedoch aufgrund der hervorgehenden Sinnestätigkeit und leitet die zur Erhaltung des Lebens dienenden Bewegungen. Und im Menschen entfaltet es sich schließlich im Denken und Erkennen zum vollen Reichtum des geistigen Lebens.

Das Bewußtsein ist in seiner unentwickelten und in seiner entwickelten Form die Voraussetzung für die Betätigung des Willens. Es begründet den Zustand des Verlangens und Sehnens, der den Willen zur Tat führt. Darum ist jedes Ding, das im Streben nach Selbsterhaltung sein eigenes Sein erfaßt, mit Liebe zu diesem Sein erfüllt.

Nicht bloß der Mensch liebt sein leibliches und geistiges Sein; überall, wo sich der Wille zu bewußter Tätigkeit emporringt, ist diese Liebe zu finden. "Wären wir Tiere, so würden wir" - sagt AUGUSTIN (5) - "das fleischliche Leben und, was nach seiner Sinnesart ist, lieben. Dies wäre dann das uns befriedigende Gut, über das hinaus wir nichts erstreben würden, da uns wohl wäre. Ebenso könnten wir, wenn wir Bäume wären, zwar nichts mit Gefühl und Bewegung lieben, wir würden aber gewissermaßen nach dem zu streben scheinen, was uns fruchtbarer machen und einen reicheren Ernteertrag herbeiführn würde. Wären wir Steine oder Wasserwogen oder Winde oder Feuerflammen oder etwas der Art, ohne jedes Empfinden und Leben, so würde uns doch nicht ein gewisses Streben nach der uns zukommenden Stelle und Ordnung im Raum fehlen. Denn die Gewichtsmomente beseelen die Körper gleichsam mit Liebe, mögen sie durch die Schwere abwärts oder durch die Leichtigkeit aufwärts streben. Es wird nämlich der Körper durch sein Gewicht, wie der Geist durch seine Liebe dahin getragen, wohin auch immer er sich bewegt."

Es tritt so die Willenskraft, als der letzte Grund allen Seins und Werdens, für die Auffassung der ganzen Welt und jeglichen Geschehens an die Stelle der von den antiken Philosophen vorausgesetzten Vernunftkraft. Sie zeigt auch ihrerseits drei Momente in ihrem Wirken, indem sie das Dasein der Dinge begründet, das begründete Sein erfaßt und in der Erhaltung des begründeten und erfaßten Seins sich betätigt.

Aber nicht nur das Wesen der geschaffenen Dinge läßt sich auf das Wirken von Willenskräften zurückführen. Auch der göttliche Urgrund alles Seins und Werdens ist als Wille denkbar: er ist die in sich beruhende Allmacht, die sich selbst als vollkommene Weisheit erfaßt und sich durch die Vermittlung der Weisheit in lauter Güte betätigt. So bekunden sich in den drei Momenten, die im Wirken des Willens als Begründung des Seins, als bewußtes Erfassen des Seins und als Streben nach Betätigung des Seins, unterschieden werden, die drei Personen der Gottheit: Gott der Vater im ewigen, allmächtigen Sein; Gott der Sohn in der Weisheit oder im Wort, durch das die Welt erschaffen wurde; Gott der heilige Geist in der Güte oder Liebe, mit der sich der Wille in der Schöpfung betätigt.

Wir finden somit in der Lehre vom Willenswirken eine neue Auffassung vom Wesen des Menschen, die ebensowohl auf die Gesamtheit der geschaffenen Dinge wie auch auf den schaffenden Urgrund selbst übertragbar ist und demgemäß eine in sich abgeschlossene Welt- und Lebensanschauung begründet. Wir haben daher wie für die Lehre vom Vernunftwirken, so auch für die Lehre vom Willenswirken festzustellen, inwieweit der Mensch als frei und wieweit er als gebunden gelten muß und ob nunmehr die Verwebung von Freiheit und Gebundenheit beim Vollzug einer und derselben Handlung begriffen werden kann.

Um hierüber Klarheit zu gewinnen, bedürfen wir der Einsicht in die Beschaffenheit des Willens und insbesondere in die Eigenart des schaffenden göttlichen und des geschaffenen menschlichen Willens.

Wollte man am Willenswirken nur das eine Merkmal festhalten, das auch das Vernunftwirken auszeichnet, daß es nämlich den unmittelbaren Grund des menschlichen Handelns und des gesamten Weltgeschehens darbietet, so müßte in entsprechender Weise wie hinsichtlich des Vernunftwirkens der, den ganzen Lauf der Welt bestimmende Gesamtwille seinen Ausgestaltungen, die er in jedem Menschen und schließlich in jedem Ding gewinnt, gegenübergestellt werden. Und man könnte nur den Gesamtwillen als frei ansehen, während jeder Einzelwille als durchaus unfrei bezeichnet werden müßte. Denn die Handlungen der Menschen und die sonstigen Geschehnisse in der Welt bilden ein in sich zusammenhängendes Gewebe, das nirgends einen selbständigen Anfang erkennen läßt, sondern jeden Teil in seiner Abhängigkeit vom Ganzen zeigt. Der im einzelnen Menschen und in den einzelnen Dingen sich betätigende Wille dürfte daher nur als ein Ausfluß des Gesamtwillens anerkannt werden: er könnte nur das vollziehen, was der Gesamtwille beschließt.

Der göttliche Wille ist indessen keineswegs ein solcher, im Denken erfaßbarer, den ganzen Verlauf des natürlichen Geschehens umspannender der Gesamtwille. Und demzufolge ist auch der menschliche Wille und jeglicher sonst noch hervortretende Einzelwille keineswegs ein bloßer Ausfluß des göttlichen Willens, dem keine selbständige Bedeutung zuerkannt werden könnte.

Dies wird uns deutlich, wenn wir beachten, daß es der Glaube ist, der hier die Einsicht im Ursprung allen Seins und Werdens, alles Entstehen und Vergehens vermittelt. Der Glaube ist aber nicht ein von der sinnlichen Wahrnehmung zur Begriffsbildung fortschreitendes Erkennen, sondern eine eigenartie Lebensäußerung, der Sinneswahrnehmung insofern vergleichbar, als der Gläubige gewissermaßen mit einem neuen Sinn begabt zu sein scheint, so daß sich ihm der Inhalt des Glaubens wie eine unmittelbar erlebte Wirklichkeit darbietet, die ebensowenig wie die mit den Sinnen wahrgenommene Wirklichkeit in Zweifel gezogen wird.

Eine solche im Zustand des Glaubens erlebte Wirklichkeit liegt vor, wenn sich der Mensch, wie AUGUSTIN sagt, im Geiste über die ganze vergängliche Schöpfung erhebt und sich mit Gott vereinigt. Da wird ihm das Dasein Gottes unmittelbar gewiß und es wird ihm klar, daß Gott die ganze Welt, die nicht ist, was er selbst ist, geschaffen hat. Es ist somit Gott als Schöpfer der Welt der unbedingte, keinem Einfluß unterliegende, absolute Anfang allen Geschehens und außer ihm kann es nicht nochmals einen Anfang schöpferischer Tätigkeit geben. Nun wird zwar der Schöpfungsakt, aus dem die Welt hervorging, insofern begreiflich macht, als er auf den göttlichen Willen zurückgeführt und durch die Weisheit und durch die Güte oder Liebe Gottes vermittelt gedacht wird. Er bleibt aber trotzdem ein durchaus unbegreifliches und unvermitteltes, außerhalb des Raumes und der Zeit sich vollziehendes Entstehen, das der denkenden Betrachtung keinen Übergang vom Schöpfer zu den Geschöpfen ermöglicht. Die geschaffene Welt ist nicht, was Gott selbst ist, sagt darum AUGUSTIN. Deshalb kann das Wirken des Willens nicht wie das Wirken einer natürlichen Ursache aufgefaßt und dem Wirken der Weltvernunft, das die antike Philosophie zur Erklärung des Geschehens voraussetzt, gleichgesetzt werden. Die im Glauben erlebte Gewißheit, daß Gott die Welt erschaffen hat, bedarf keiner Einsicht in den Vollzug des Schöpfungsaktes, während die Bedeutung des Vernunftwirkens gerade darin liegt, daß es anstelle des unbegreiflichen, den Lauf der Welt lenkenden Scheicksals einen begreiflichen, im Denken erfaßbaren Grund des Geschehens setzt.

So kommt es, daß nun, bei der bloß im Glauben erfaßbaren Abhängigkeit der geschaffenen Welt von ihrem Schöpfer, auch für eine gleichfalls bloß im Glauben erfaßbare Unabhängigkeit der Geschöpfe Raum bleibe. Diese Unabhängigkeit zeigt sich darin, daß auch die geschaffenen Dinge mit einem Willen begabt sind. Die göttliche Allmacht hat die Welt so erschaffen, wie es ihr gefiel. "Sie hat", sagt AUGUSTIN (6), "den Dingen, die sie aus nichts schuf, das Sein verliehen, aber nicht im höchsten Maße, wie sie selbst es hat: sondern sie gab den einen Dingen mehr Sein, den anderen weniger und ordnete, in gradweiser Abstufung, die Beschaffenheiten der Seinsarten." Demgemäß ist jedes Ding mit einem, seinem Sein entsprechenden Willen begabt, der dieses Sein zu erhalten strebt. Und eben bei diesem Streben, das Sein zu erhalten, besteht die Möglichkeit zu einem, im geschaffenen Ding selbst liegenden Anfang des Geschehens. Der geschaffene Wille ist nämlich keineswegs die unmittelbare Wirkung des göttlichen Willens, der ja überhaupt nicht als Ursache in natürlicher Weise wirkt. Er ist vielmehr in der Tat ein Wille, der seinem Wesen nach frei ist. Seine Freiheit besteht darin, daß er bei seinem Wirken ebensowohl im Zusammenhang mit dem göttlichen Willen beharren, wie auch sich vom göttlichen Willen loslösen kann. Löst er sich vom göttlichen Willen los, so wird er der Teilnahme am ewigen, göttlichen Licht berauht. er verliert das Gute, das er hatte; und der Mangel des Guten, der nun eintritt, heißt das Böse, das nichts Wesenhaftes, sondern ein bloßer Mangel, ein Versagen ist. Diese Abkehr ist die freie Tat der Geschöpfe, die ihnen zugerechnet wird. AUGUSTIN sagt (7): "In demjenigen, in dem ein böser Wille entsteht, geschieht etwas, was nicht geschehen würde, wenn er nicht gewollt hätte und darum folgt dem keineswegs notwendigen, sondern gewollten Abfall die gerechte Strafe."

In dieser Betätigung des geschaffenen Willens liegt somit in der Tat ein Anfang des Geschehens vor. Es ist der Anfang des Bösen, das durchaus nicht zu Gott in Beziehung gebracht werden kann und doch in überaus wirksamer Weise die ganze Weltentwicklung beeinflußt. Es besteht ja der ganze Inhalt der Weltgeschichte in der Überwindung des Bösen, das so zur Entfaltung und Verherrlichung des Guten führt. Der Abfall von Gott erzeugt nämlich Feindschaft wider Gott, die jedoch nicht Gott, sondern nur die gefallenen Geschöpfe schädigt. Denn - so sagt AUGUSTIN (8) - "wie Gott der beste Schöpfer guter Naturen ist, so ist er auch der gerechteste Ordner böser Willensrichtungen, so daß zwar diese guten Naturen zum Bösen mißbrauchen, er selbst aber auch den bösen Willen zum Guten gebraucht". Gott wußte, daß Böses entstehen würde, er wußte zugleich aber auch, wie er es in den Dienst des Guten stellen könne, "um so die Anordnung der Weltzeiten wie ein prächtiges Gedicht gewissermaßen mit Antithesen zu schmücken." Das Böse ist somit die freie Tat der Geschöpfe - das Gute ist das von Gott selbst gewirkte Tun. Darum hat das Gute in Gott seinen Ursprung; das Böse aber hat in den Geschöpfen seinen Ursprung. Es geht aus dem Willen der Geschöpfe hervor.

Wie der böse Wille wirkt, bleibt in dessen nicht minder unbegreiflich wie das Wirken des guten Willens. Ist nämlich der gute Wille in seiner Schöpfertätigkeit der für das natürliche Denken und Erkennen unfaßbare Anfang der aus dem Nichts hervorgehenden Wirklichkeit, so ist der böse Wille der Geschöpfe gleichfalls ein unbegreiflicher Anfang für das Aufhören und Versagen des ursprünglich guten, durch Gott erschaffenen Zustandes. In diesem Aufhören und Versagen besteht der sündhafte Abfall von Gott, der keinen wirksamen, im Denken faßbaren Grund hat. Wollte man einen wirksamen Grund für das Böse suchen, so wäre dies, sagt AUGUSTIN, ebenso wie wenn man die Finsternis sehen und die Stille hören wollte. Und er fügt hinzu (9): "Niemand verlange daher von mir zu wissen, von dem ich weiß, daß ich es nicht weiß; wenn nicht etwa, um zu lernen, daß er das nicht wisse, von dem man wissen muß, daß man es nicht wissen kann."

Der Mensch ist demnach, soweit er Gutes tut, lediglich der Vollstrecker des göttlichen Willens und nur soweit er Böses tut, handelt er aus eigenem Ermessen. Er ist frei oder gebunden, je nachdem das Böse oder das Gute in ihm herrscht. Die Herrschaft des Guten kann aber mit der Herrschaft des Bösen nicht zusammen bestehen; denn das Gute kann nur von Gott im Menschen bewirkt werden. Es setzt die Vereinigung mit Gott, die Hingabe des eigenen Willens voraus. Und das schließt das Wirksamwerden des eigenen Willens, der Böses tut, aus. Somit ist der Wille des Menschen entweder böse und zugleich frei oder gut und zugleich gebunden; es gibt keine Verwebung von Freiheit und Gebundenheit beim Vollzug einer und derselben Handlung.

Wir dürfen daher den Kern oder das Wesen des Menschen nicht im Willen, der gut oder böse sein kann, suchen, wenn wir die Verwebung von Freiheit und Gebundenheit, die das Handeln des Menschen charakterisiert, uns begreiflich machen wollen.

Die Lehre vom Wirken des Willens zeigt uns nur die Möglichkeit des Schwankens zwischen Gut und Böse, zwischen Gebundenheit und Freiheit, indem der Mensch zu der beseligenden Vereinigung mit Gott gelangt, in der er sich vor dem Bösen geborgen fühlt und dann wieder in der Entfremdung von Gott seine eigenen Wege geht, die ihn in die Sünde verstricken, bis ihn die göttliche Gnade wieder erlöst. Und dieses Schwanken zwischen Gut und Böse, zwischen Gebundenheit und Freiheit kann überdies nur dann als möglich gelten, wenn auf ein Begreifen der Wirksamkeit des guten Willens und des bösen Willens Verzicht geleistet wird. Denn nur die, dem natürlichen Denken und Erkennen unüberbrückbare Kluft zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen macht es möglich, neben dem lediglich im göttlichen Schöpferwillen begründeten Anfang des Guten einen im geschaffenen menschlichen Willen begründeten Anfang des Bösen anzuerkennen.

Dazu kommt, daß die Annahme einer freien Betätigung des Willens im Menschen augenscheinlich nur dem Bedürfnis entspringt, das Vorhandensein des ösen, das in der Erfahrung des Lebens wie eine feindselige Macht empfunden wird, auf den Willen des Menschen als seine Ursache zurückzuführen. Das Böse verflüchtigt sich jedoch dem Schöpferwillen Gottes gegenüber zu einem bloßen Versagen, zu einem bloßen Mangel, der nur dazu dient, das Gute umso wirkungsvoller hervortreten zu lassen. Und mit dem Bösen tritt auch die Betätigung des Willens im Menschen in den Dienst des Guten. Es bedarf daher nur einer noch stärkeren Betonung der Abhängigkeit des Menschen von der Allmacht Gottes, um auch im Wollen und Handeln, das böse zu sein scheint, das Wirken des göttlichen Willens zu finden. Dann kann aber der Wille des Menschen in keiner Weise als frei gelten.

Zu dieser Einsicht führte in der Tat die Weiterbildung und Vertiefung des Glaubenslebens, die sich im wesentlichen in der Mystik des Mittelalters vollzog und schließlich in den Bestrebungen der Reformation zur Geltung kam. Unter den Reformatoren ist es aber insbesondere LUTHER, der in so entschiedener Weise den Glauben als die im Fühlen und Wollen sich kundgebende Grundstimmung des menschlichen Herzens hervorhebt, daß er geradezu als der Vollender der von AUGUSTIN begründeten Auffassungsweise bezeichnet werden muß. Ist doch für LUTHER (10), wie er selbst (in der Vorrede zum Römerbrief) sagt, der Glaube "ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und uns gebiert aus Gott"; ein "lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding", das ohne Unterlaß Gutes wirkt; eine "Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade", die "fröhlich, trotzig und lustig macht gegen Gott und alle Kreaturen". Je stärker aber das Wirken der göttlichen Gnade empfunden wird, umso lebendiger wird das Gefühl der Gebundenheit, umso deutlicher wird die Erkenntnis, daß - wie LUTHER in der Schrift "de servo arbitrio" (vom unfreien Willen) sagt - "Gottes Gnade alles tue und unser Wille nichts wirke, sondern nur dulde", daß Gott "mit unveränderlichem, ewigem, unfehlbarem Willen alles vorhersieht und sicht vorsetzt und tut", woraus unverbrüchlich folgt, "daß alles, was wir tun und alles, was geschieht, wenn es auch nicht unabänderlich, sondern zufällig zu geschehen scheint, doch notwendig und unabänderlich geschieht, sobald wir auf den Willen Gottes achten". "Denn der Wille Gottes ist wirksam; er kann nicht gehindert werden, da er die Macht Gottes selbst ist. Er ist auch weise, so daß er nicht getäuscht werden kann." Dies fordert der Glaube. "Denn wir glauben, daß Gott alles vorher weiß und vorher bestimmt, so kann Gott in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimung nicht getäusch und auch nicht gehindert werden. Daher geschieht nichts ohne Gottes Willen." Dies einzuräumen zwingt uns die Vernunft, "so daß nach dem Zeugnis unserer Vernunft weder in einem Menschen, noch in einem Engel, noch sonst einem geschaffenen Wesen ein freier Wille sein kann."

Der Mensch insbesondere erweist seine Unfreiheit durch sein Unvermögen, von sich aus, ohne die Kraft des göttlichen Geistes, die Fesseln zu lösen, in die ihn die Sünde verstrickt hat. Er vermag nichts aus eigener Kraft. Er muß auf das Wirken der göttlichen Gnade hoffen. Darum fügt er sich in den unerforschlichen Ratschluß Gottes, der seine Gnade walten läßt, wie es ihm gefällt. Diese gottergebene Gesinnung findet in dem Spruch ihren Ausdruck, der uns aus dem 13. Jahrhundert in der "Bescheidenheit des Freidank" überliefert ist:
    Warum  ein  Mensch sei verloren,
    der  andre  sei zur Gnad erkoren,
    Wer dies fragt, der tut zu viel.
    Gott mag uns soll tun, was er will.
    Was Gott mit seinen Geschöpfen tut,
    Das soll uns alles dünken gut.
Wir unsererseits müssen uns aber fragen, ob sich überhaupt mit dieser, so entschieden zutage tretenden Unfreiheit die Annahme verträgt, daß es der Wille ist, der das Tun und Lassen des Menschen und alles Geschehen in den Dingen hervorbringt.

Ursprünglich war nämlich, wie wir oben gesehen haben, die Ansicht maßgebend, daß die Seele des Menschen "durch sich selbst" in allen ihren Regungen und Bewegungen hin und her getrieben werde. Und diese in der Seele des Menschen entstehenden Regungen und Bewegungen wurden als Äußerungen des Willens aufgefaßt, der somit einen Anfang des Geschehens begründet und als frei gelten muß.

Ein ähnlicher Anfang des Geschehens durch die freie Bestätigung des Willens wurde sodann in allen Geschöpfen vorausgesetzt, obwohl kein zwingender Grund bestand, die Zustandsänderungen, die wir an den Dingen wahrnehmen, ebenso wie die menschlichen Handlungen dem Willen zur Last zu legen. Wir erhielten auch - was wir als einen Mangel empfinden müssen - keine Aufklärung darüber, wie wir uns die Abstufung in der Willenstätigkeit zu denken haben, die in Anbetracht der Verschiedenartigkeit der Dinge vorauszusetzen ist. Als jedoch schließlich der Wille auch für das Schaffen der Gottheit in Anspruch genommen wude, mußte der schöpferisch tätige Wille für das Vorhandensein und ebenso für die Betätigung des geschaffenen Willen in den Geschöpfen verantwortlich gemacht werden.

Es führt demnach in der Tat die Annahme des göttlichen Schöpferwillens zur Aufhebung der freien Betätigung des Willens in den Geschöpfen. Ohne eine freie Betätigung kann aber der Wille, der sich seinem Wesen nach "durch sich selbst" sich bewegt, nicht bestehen; ein abhängiger Wille ist ein offenkundiger Widerspruch. Dem göttlichen Schöpferwillen gegenüber kann sich der Wille daher in den geschaffenen Dingen nicht behaupten: es muß ein  willenloses  Geschehen, dessen Eigenart erst noch klarzustellen ist, vorausgesetzt werden.

Es ist bei der Annahme des Willenswirkens ebenso wie bei der Annahme des Vernunftwirkens seitens der antiken Philosophen: die im Menschen selbst der ursprünglichen Vorstellung gemäß von sich aus, in vollkommener Freiheit tätige Vernunft wurde in allen Dingen vorausgesetzt und zuletzt als der Urgrund allen Geschehens erkannt. Demzufolge mußte das Wirken der Vernunft im Menschen und in den sonstigen Dingen als ein unselbständiger, in das gesamte Geschehen eingegliederter Ausfluß der Weltvernunft anerkannt werden, der nicht mehr als ein freies Vernunftwirken gelten konnte.

Hiernach vermag weder die Annahme des Vernunftwirkens noch die Annahme des Willenswirkens die beim menschlichen Handeln zutage tretende Verwebung von Freiheit und Gebundenheit begreiflich zu machen. Wir sehen uns vielmehr in beiden Fällen vor einen unlösbaren Widerspruch gestellt. Aber dieser Widerspruch ist unvermeidlich. Es muß nämlich überhaupt jede Bestimmung des menschlichen Wesens, die dem Menschen eine freie, in ihm selbst ihren Anfang nehmende Betätigung zuerkennt, zur Aufhebung der menschlichen Freiheit führen, sobald dieselbe Bestimmung zugleich für das Geschehen insgesamt als gültig angesehen wird Denn zur Gesamtheit aller Geschehnisse der Welt gehören auch die Handlungen des Menschen, die innerhalb der Gesamtheit nur noch im Zusammenhang mit dem Ganzen zur Geltung komen und somit keien für sich bestehenden, von jenem Zusammenhang losgelösten Anfang bilden können. Es kann sich daher die ursprünglich als selbstverständlich angenommene Freiheit des menschlichen Willens ebensowenig wie die nicht minder als selbstverständlich betrachtete Freiheit der menschlichen Vernunft behaupten, sobald der Wille ebenso wie die Vernunft bei allem, was geschieht, als wirksam vorausgesetzt und schließlich für den Urgrund alles Seins und Werdens gehalten wird.

Es hindert hingegen nichts, als Grund der menschlichen Freiheit die willensstarke Vernunft oder den vernunftbegabten Willen festzuhalten, wenn wir darauf verzichten, als Grund des gesamten Weltgeschehens, zu dem auch das menschliche Handeln gehört, wiederum die Wirksamkeit der Vernunft oder des Willens in Anspruch zu nehmen. Denn der Grund der Freiheit kann nicht zugleich der Grund der Gebundenheit sein. Wir werden jedoch verlangen müssen, daß die Auffassung von der Welt und dem Menschen, die uns das menschliche Handeln in das gesamte Weltgeschehen eingegliedert zeigt, es zugleich begreiflich macht, daß der Mensch mit Notwendigkeit dazu kommt, sich nicht nur als ein Glied des Weltganzen aufzufassen, sondern auch in sich einen, vom übrigen Geschehen sich lösenden und in seiner Selbständigkeit sich behauptenden Anfang des Handelns zu erblicken, den er auf das Wirken der Vernunft oder des Willens oder der Vernunft und des Willens, in unlösbarer Verknüpfung miteinander, zurückzuführen geneigt ist.
LITERATUR - Gottlob Friedrich Lipps, Das Problem der Willensfreiheit, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) Augustini de civitate dei libri XXII; 1. XI. c. 2
    2) de civitate dei; 1. XIV, c. 6
    3) de civitate dei; 1. XI, c. 27
    4) de civitate dei; 1. XI, c. 27
    5) de civitate dei; 1. XI, c. 28
    6) de civitate dei; 1. XII, c. 2
    7) de civitate dei; 1. XII, c. 8
    8) de civitate dei; 1. XII, c. 18
    9) de civitate dei; 1. XII, c. 7
    10) Nach ADOLF HARNACK, Dogmengeschichte, Bd. 3, Seite 703