ra-2ra-2 J. KaftanF. KlinglerH. Rickert    
 
MAX SCHELER
Beiträge zur Feststellung der
Beziehungen zwischen den logischen
und ethischen Prinzipien

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"Platon gesteht den Regierenden das unbedingte Recht zu, den Regierten gegenüber sich der Unwahrhaftigkeit zu bedienen, wie sich der Arzt eines Heilmittels bedient. Und dies nicht etwa nur zum Schutz von Geheimnissen, sondern er rät, durch wohlerfundene Fabeln, an die sich die Regierenden mit der Zeit selbst gewöhnen könnten, die Vaterlandsliebe zu befördern. Bei Aeschylus heißt es einmal, gerechter Täuschung fehle nicht der Gottheit Schutz und von Demokrit ist das Wort bekannt  Man soll da die Wahrheit reden, wo es das Bessere ist.  Wer sich um eines höheren Interesses zur Unwahrheit entschloß, tat es ohne den Gedanken, damit ein göttliches oder menschliches Recht zu verletzen. Dieses Resultat steht mit dem griechischen Gesamtgeist auch in Übereinstimmung. Denn nichts war diesem Geist, der im Maß zugleich den vollendetsten Ausdruck für Schönheit und Tugend fand, fremder als ein auf die Spitze getriebenes Prinzip, sowie Rigorismus jeglicher Sorte."


I. Problem

Vorliegende Arbeit will ein Versuch sein, eine prinzipielle philosophische Frage, welche dem Verfasser von dem bisherigen Entwicklungsgang seines inneren und wissenschaftlichen Erlebnis gestellt wurde, von einer charakteristischen Seite zu beleuchten. Von diesem Gesichtspunkt allein bittet Verfasser, diese Arbeit zu betrachten. Nichts liegt ihm ferner, als die Meinung, eine "Lösung" des Problems gegeben zu haben. Sind solche Probleme überhaupt im strengen Sinne "lösbar", so sind sie es sicher nicht durch die viel zu schwachen und unentwickelten Kräfte des Verfassers. Lebt man aber der Überzeugung, daß der Fortschritt der Philosophie im Gegensatz zu den exakten Wissenschaften nicht so sehr in einer langsameren oder schnelleren Anhäufung unbestreitbarer Urteile besteht, als in einer steten Bereicherung des geistigen Lebens, wie eine solche durch fortgesetzte Neueinnahme charakteristischer Gesichtspunkte den Dingen und Problemen gegenüber erzeugt wird, so wird man auch diesen Blättern nicht alles Recht verweigern können. Vielleich ist es nicht zuviel gesagt, wenn man die Auffindung großer Gegensätze in unserem Leben und Denken als eines der wertvollsten Agentien zur Vertiefung der Probleme in der Geschichte der Philosophie betrachtet. Und kann das letzte Wort auch nicht der Widerspruch sein und bedarf es vielleicht auch nicht eines Gottes, in dem die  opposita  zur  coincidentia  gelangen, wie der große Cusaner lehrte, so sind doch auch die besten, denen eine endgültige rettende Synthese noch am ehesten gelungen scheint, wie z. B. der gewaltige KANT, durch ihre "Antinomien" hindurch gegangen.

So mag es denn auch uns, die wir nur aus den tiefsten Tiefen zu jenen Sternen menschlicher Gedankenarbeit ehrfürchtig hinaufsehen, nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn jede lösende und erlösende Kraft (und beides vermag nur die Synthese) unseren Überlegungen zu fehlen scheint, wenn wir zwischen Denken und Wollen, Wissen und Handeln, dem Guten und Wahren eine unschliessbare Kluft sehen.

Wir gehen bei dieser Arbeit von einem allgemeinen Grundgedanken über die Aufgabe der modernen Philosophie aus, den wir zur besseren Verständigung über unser Ziel nicht vorenthalten können. Die Zersetzung, welche die real gedachten Seelenvermögen "Verstand", "Vernunft", "Gefühl", "Wille" etc. durch HERBART und noch viel weiter durch die gesamte neuere Psychologie erfahren haben, war, so sicher sie für die psychologische Wissenschaft einen unendlichen Fortschritt bedeutete, für all jene Wissenschaften, die wir als normative bezeichnen, zumindest von großer Gefahr. Hierdruch kam der einzelne seelische Vorgang, ganz abgesehen davon, ob er (im älteren Sinne) "höheren" oder "niedrigeren" Seelenvermögen angehörte, zu einer Bedeutung, die er früher niemals gehabt hatte. Der gute und böse Wille, Verstand und Unverstand, Sinnlichkeit und Vernunft wurden in einzelne Vorgänge aufgelöst,, in gleicher Weise Objekte der psychologischen Wissenschaft. Die Folge war, daß sich die normativen Wissenschaften, welche sich früher mit der Psychologie wenig auseinanderzusetzen hatten, da ihr seelisches Organ gewissermaßen fertig und einheitlich in einem "Vermögen" gegeben war, in Psychologie aufzulösen drohten. Es war ein Vorgang, ganz ähnlich unserer sozialen Entwicklung. Wie sich hier die alten Korporationen, Stände und Zünfte durch den Fortschritt der Geldwirtschaft auflösten und eine mehr mechanisch aneinander gegliederte Summe von bloß erwerbsbeflissenen Individuen zurückließen, ohne daß zunächst neue Korporationen an deren Stelle traten, so fielen hier (freilich zeitlich später) die einheitlichen seelischen Vermögen auseinander und die Seele, früher ein scharf organisierter Bau, wurde eine Summe von Vorgängen, Ereignissen, die sich bei dem einen als ewige starre Gebilde förderten und hemmten, bei dem anderen mehr als fließende voluntaristische Gebilde gefaßt, aufeinander einwirkten und ganz von selbst, ohne daß sie in einem einheitlichen Seelenwesen den Punkt ihrer inneren Zusammengehörigkeit hätten finden können, auf erst mühsam zu deduzierende Weise eine Einheit bildeten. Man könnte dieses Gleichnis (denn mehr soll es nicht sein, wenngleich es vielleicht mehr ist) fortsetzen. Es scheint nämlich, als ob in der Gegenwart, wie in sozialer Hinsicht, so auch im Hinblick auf die philosophische Wissenschaft, ein neuer Geist sich anmeldete, als ob hier und dort neue Gruppenbildungen erfolgten, neue Einheiten und substanziellere Kräfte aus den mechanischen Summen zu einer organischen Gestaltung drängten.

Wie dem nun auch sein mag (zunächst hat sich der Philosoph um solche in den Zeitpotenzen liegenden Möglichkeiten wenig zu kümmern), auf alle Fälle glauben wir fest, daß neben der psychologischen Arbeit, welche heute fast den größten Teil unseres philosophischen Deutschlands in Beschlag nimmt, eine gewaltige neue Aufgabe vor uns liegt, die man vielleicht als das Gesamtproblem einer "Wertkritik des Bewußtseins" bezeichnen könnte. Diese Aufgabe würde sich vom Unternehmen KANTs einer Vernunftkritik in verschiedener Hinsicht unterscheiden. Denn gerade, was letztere voraussetzt, nämlich die Konzepteion einer "Vernunft", dürfte die Wertkritik nicht voraussetzen. Sie müßte vielmehhr die Methode einschlagen, daß sie mit der Benutzung aller Ergebnise der modernen Psychologie einzelne, seelische Vorgänge zu neuen "Vermögen" zusammennähme und diese über das bloße seelische Sein als wertvolle seelische Organe erhöbe. Man könnte vielleicht meinen, daß diese Aufgabe bereits ihre Lösung, wenigstens teilweise, gefunden hat. Dies scheint uns nicht so. Betrachtet man z. B. ein Werk wie die Ethik WUNDTs, in dem doch ein glänzendes psychologisches Wissen mit dem Vorsatz, zu Normen zu gelangen, aufeinander trifft, so muß man doch sagen, daß die Art und Weise, wie WUNDT von seinem psychologischen und kulturhistorischen Teil auf die Aufstellung der Normen am Schluß des Werkes gelangt, keineswegs klar und einleuchtend ist. Dies bewies auch die Kritik, welche an diesem Werk geübt wurde. So ist andererseits der stark normative Geist im System des COMTE auf rein positivistischer Grundlage nicht recht verständlich und es scheint, daß diese zwei verschiedenen Kräfte mehr durch die historisch zufällige Individualität COMTEs (vor allem seiner katholischen Erziehung) als durch sachliche Affinität zusammengehalten werden. Der bezeichneten Aufgabe scheint aber noch ein ganz besonderes Hindernis entgegenzustehen, das wir nun näher betrachten wollen. Die drei Normwissenschaften, Logik, Ethik, und Ästhetik führen im heutigen Betrieb der philosophischen Wissenschaft ein eigentümlich getrenntes Leben und es scheint an Untersuchungen zu fehlen, welche die Beziehungen dieser Wissenschaften zueinander näher betrachten. Es kann nicht genügen, daß jede dieser einzelnen Normwissenschaften im Zusammenhang mit unseren psychologischen Erkenntnissen aufgebaut ist, wenngleich auch dies eine Notwendigkeit ist. Dieser Notwendigkeit wurde durch neuere Darstellungen dieser Disziplinen, bezüglich der Logik durch LOTZE, SIGWART und vor allem durch BENNO ERDMANN und WUNDT in glänzender Weise genügt, in der Ethik gleichfalls durch WUNDT, in der Ästhetik durch FECHNER, LOTZE und HELMHOLTZ. Dagegen fand die Aufgabe der Feststellung der Beziehungen zwischen den einzelnen Normwissenschaften eine arge Vernachlässigung, wenigstens soweit, als unser Wissen reicht. Man normierte hier, dort und da und stellte Forderungen auf für die menschliche Seele, ohne zu fragen, ob sich für die eine menschliche Seele diese Forderungen nicht am Ende widersprechen. Denn es könnte sehr wohl sein, daß die auf solche Weise getrennt erteilten Befehle nicht etwa an individueller Schwachheit, sondern an der Struktur der menschlichen Seele selbst einen unverhinderlichen Widerstand fänden. Es könnte sein, daß ein Mensch, der sich ernsthaft nach den Normen dieser drei Wissenschaften richten wollte, sich wie ein Diener vorkäme, dem drei Mitglieder seiner Herrschaft zu gleicher Zeit entgegengesetzte Weisungen gäben. Uns will es wenigstens so erscheinen, als ob der Optimismus, die gegebenen, ethischen, logischen und ästhetischen Normen, ständen untereinander in einer Art selbstverständlichen Harmonie, wenn nicht irrtümlich, so mindestens unbewiesen wäre. Wir werden später sehen, wie sich die Sache verhält. Die schwerste Gefahr für diesen getrennten Bebtrieb der Normwissenschaften liegt nun aber darin, daß sich zuletzt logische, ethische und ästhetische Weltanschauungen ergeben, daß drei gewaltige Wertsysteme  nebeneinander  stehen und eigentlich wenig voneinander wissen, sodaß es im Grunde noch eines anderen vierten Wertprinzips bedürfte, das die Aufgabe hätte, die Ansprüche dieser drei Wertsysteme gegeneinander abzuschätzen. Aber auch diese Aufgabe könnte erst begonnen werden, wenn die Beziehungen dieser drei Wertsysteme untereinander, die Art, wie sich die von ihnen erteilten Normen in der menschlichen Seele zusammenfinden und sich ausleben, festgestellt ist. Die Anweisung, welche die humanistische Erziehungsidee (wie sie durch HERBART, PESTALOZZI, ZILLER, in neuerer Zeit durch NATORP vertreten wird) gibt, daß ein harmonisches Verhältnis zwischen diesen drei Wertgrundtendenzen des menschlichen Geistes erzielt werden müsse, oder auch die Anweisung, daß die Religion als Öl gegen die Reibung der drei Ideale gelten müsse, eine Ansicht, welche SABATIER in seiner "Religionsphilosophie" durchzuführen versucht hat, scheint mir so lange ungenügend, als nicht die Art und Weise angegeben ist, wie dies eigentlich geschehen könne. Und auch, um dies festzusetzen, ist eine Untersuchung, wie wir sie fordern, allererst Voraussetzung. Denn ohne dies besagt die Forderung nach einem "harmonischen Verhältnis" sehr wenig, da ja noch gar nicht gezeigt ist, ob ein solches "harmonisches Verhältnis" bei den genannten Wertsystemen überhaupt möglich ist. Die andere Anweisung, welche als das verlangte vierte Wertprinzip die Religion setzt, scheint uns deswegen unannehmbar, weil die Religion, weitentfernt hier den Streit der Ideale schlichten zu können, vom Ablauf dieses Streits in ihrem Bestand abhängig ist. - Wären nun diese Aufgaben gelöst, die Beziehungen der drei Normwissenschaften genügend nach allen Seiten hin festgeleget, so würde sich auf alle Fälle zeigen, wie man in der Lösung der Gesamtaufgabe einer "Wertkritik des Bewußtseins" weiterfahren müsse. Es könnte dann sehr wohl sein, daß bei einem völligen Auseinanderfallen der drei Ideale des Wahren, Guten, Schönen auf der bisherigen Grundlage der drei Normwissenschaften Logik, Ethik und Ästhetik, obige Begriffe eine neue Prägung erleiden müßten, (wie eine solche z. B. der Wahrheitsbegriff in EUCKENs Werk "Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt" gefunden hat); es könnte auch sein, daß eines der drei Ideale über die anderen gestellt werden müßte, z. B. das Schöne und Gut als ein gemeinsamer Ausfluß des Wahren begriffen werden müsse; es könnte endlich sein, daß hier endgültige Zwiespältigkeiten der menschlichen Seele (vergleichbar den Kantischen Antinomien, nur tiefer gehend) vorlägen, die man, ohne sie überwinden zu können, einfach konstatieren müßte. Bevor man aber letztere verzweifelte Annahme machte, müßte man auf alle Fälle probieren, ob sich nicht durch die Zusammenlegung gewisser seelischer Akte Vermögen konstruieren und der menschlichen Seele durch Erziehung auch wirklich einbilden ließen, welche solche schweren Gegensätze überwinden könnten. Wie nun dem auch sein mag, wir können und wollen dieses Problem in unserer Untersuchung nicht lösen. Dagegen wollen wir einen Versuch machen, ein Kleines zur Vorarbeit für diese Aufgabe beizutragen, indem wir die Beziehung eines ethischen und logischen Wertsystems näher betrachten wollen. Die anderen Teil jener Vorarbeit, die Untersuchung des ästhetischen, wollen wir hier also ausschließen und für spätere Arbeiten vorbehalten. Der Schwierigkeit unseres Vorhabens und der Unzulänglichkeit unseres Denkens gegenüber diesem Vorhaben, sind wir uns völlig bewußt, umsomehr die philosophische Literatur uns hier verhältnismäßig wenig zu bieten vermochte. Möge man daher dies, was hier ein Anfänger mit bestem Wollen bietet, nicht an allzustrengen Maßen messen.

Im Folgenden wollen wir zuerst das Problem durch die Geschichte der Philosophie in Kürze verfolgen. Wir sind weit entfernt, hier Vollständigkeit bieten zu wollen. Nur die typischen Lösungsversuche wollen wir kurz charakterisieren. Sodann wollen wir  salvo errore  [unter Irrtumsvorbehalt - wp] zu einer selbständigen Behandlung des Problems schreiten.



II. Einleitung:
Das Problem in der Geschichte der Philosophie

Im griechischen Geistesleben, das verhältnismäßig wenig Gegensätze auszugleichen hatte, finden wir unser Problem noch schlummernd. Der griechische Geist ist der Geist der noch wenig differenzierten Begriffe. Hier scheinen die drei großen Ideale der Menschheit, das Wahre, Schöne und Gute wie in ein Ziel geschlossen. Wie im griechischen  en  und  kalos  (kalokagathia), die Qualitäten des Guten und Schönen zugleich inbegriffen sind, so bedeutet das Wort  to pseudos  Lüge, poetische Ausschmückung, Irrtum (logischer Natur) zugleich. Ein eigenes Wort für "Lüge" als einer sittlich verwerflichen Unwahrheit besitzt der Grieche nicht (1). In der Theogonie werden die Erfindungen der Musen, in der Odyssee die Fiktionen des ODYSSEUS in gleicher Weise mit  pseudos  bezeichnet (2). Die Wirklichkeit bedarf keiner bewußten Idealisierung. Die Welt ist  pseudos,  Tatsächlichkeit und harmonische Schönheit in einem. Man irrt vielleicht, wenn man, wie vielfach geschieht, im griechischen Geist ein Überwiegen ästhetischer Tendenzen annimmt. Man entmännlicht vielleicht hierdurch zu sehr diesen Geist und verkennt seine rein intellektuelle Freude. Das Charakteristische ist weniger das Überwiegen ästhetischer Faktoren, als eine Gebundenheit und Undifferenziertheit der drei Kräfte die nicht erst durch besonderes Bemühen zusammengeschlossen werden müssen, vielmehr ihre Einigkeit in sich selbst bereits besitzen. Die Idee des Maßes ist der reinste Ausdruck für eine solche Kulturlage. Jeder Trieb, und sei es der edelste, wird durch das Leben selbst gleichsam zurückgezogen, wenn er sich überspannend mit anderen in Widerspruch tritt. Und dieses Zurückziehen erfolgt in einer unvergleichlichen Naivität und Fraglosigkeit. So ist die Idee des Maßes (3)  metron ariston, meden agan  in der griechischen Kultur nicht eine Sehnsucht, ein Ideal, sondern ein Ausdruck. Diese Idee des Maßes zeigt sich auch in der Behandlung eines Problems, soweit es für den Griechen überhaupt ein Problem sein konnte, soweit das Leben nicht selber eine ungeforderte Lösung gab. PLATO bezeichnet es als die Ansicht der Meisten, daß im rechten Augenblick Lüge und Täuschung in der Ordnung sei. Diese Bemerkung ist umso interessanter, als sie nicht eine individuelle Lehrmeinung, sondern eine Charakterisierung des griechischen Volkscharakters zum Inhalt hat. Aber auch PLATO selbst ist dieser Ansicht. Denn er gesteht (4) den Regierenden das unbedingte Recht zu, den Regierten gegenüber sich der Unwahrhaftigkeit zu bedienen, wie sich der Arzt eines Heilmittels bedient. Und dies nicht etwa nur zum Schutz von Geheimnissen, sondern er rät (5), durch wohlerfundene Fabeln, an die sich die Regierenden mit der Zeit selbst gewöhnen könnten, die Vaterlandsliebe zu befördern (eine Ansicht, welche unsere linksrheinischen Nachbarn in den Schulbüchern für Geschichtskunde heute noch betätigen). Bei AESCHYLUS heißt es einmal, gerechter Täuschung fehle nicht der Gottheit Schutz und von DEMOKRIT ist das Wort bekannt "Man soll da die Wahrheit reden, wo es das Bessere sei." (6) Hierdurch bewahrheitet sich also die Anschauung SCHMIDTs (7): "Wer sich um eines höheren Interesses zur Unwahrheit entschloß, tat es ohne den Gedanken, damit ein göttliches oder menschliches Recht zu verletzen." Dieses Resultat steht mit dem griechischen Gesamtgeist auch in Übereinstimmung. Denn nichts war diesem Geist, der im Maß zugleich den vollendetsten Ausdruck für Schönheit und Tugend fand, fremder als ein auf die Spitze getriebenes Prinzip, sowie Rigorismus jeglicher Sorte. Dabei kam es auch keineswegs darauf an, ob sich hieraus Inkonsequenzen ergaben. Wir finden nämlich bei der Betrachtung der Entwicklung unseres Problem in der griechischen Philosophie und Literatur eine eigenartige Paradoxie, der wir übrigens noch öfter begegnen werden: von HOMER bis zu den Perserkriegen finden wir, wie SCHMIDT bemerkt, eine weit höhere Schätzung der Wahrhaftigkeit als später. Diese Zeit war aber zugleich die Zeit der Starrheit des Geschlechterstandes und der gebundenen Lebensformen. In ihr war (8) die Ansicht vom Angeborensein der Tugend im Gegensatz zu der späteren durch SOKRATES bewirkten Aufklärung, welche die Tugend in die Einsicht setzte und sie erlernbar sein ließ, noch fest verbreitet. PINDAR z. B. ist in der Wahrhaftigkeitsfrage streng rigoristisch und zugleich unbedingter Anhänger der aristokratischen Ansicht vom Angeborensein der Tugend (9). Mit dem Aufsteig der intellektuellen Kultur und mit der allmählich durch SOKRATES und PLATO immer weiter verbreiteten Überzeugung, daß die Einsicht zur Tugend führt, weicht dieser Rigorismus immer mehr der oben bezeichneten Ansicht. Dies ist, wie gesagt, zunächst paradox. Denn man sollte meinen, daß eine Ethik, auf die Instinkte gestellt, viel leichter die Unwahrhaftigkeit gestatten dürfe, als eine Ethik, welche gerade auf jenen Trieb gestellt ist, der immer Wahrheit sucht, auf den Erkenntnistrieb. Die Ansicht SCHMIDTs, diese Entwicklung habe sich durch eine fortschreitenden Emanzipation des griechischen Volksgeistes vom Einfluß des delphischen Orakels vollzogen, scheint wohl nicht genügend. Denn sie läßt die Frage offen, wodurch denn diese Emanzipation erfolgt ist. Die Erscheinung scheint mir besser aus dem Wesen aller Aufklärung heraus erklärbar zu sein. Dieselben Sätze nämlich, die vor der Aufklärung in gutem Glauben gesagt werden, müssen nach der Aufklärung, sofern diese ihre Unrichtigkeit erwiesen hat, sofern sie überhaupt gesagt werden, nun als Lügen geäußert werden. Wir werden in unserem systematischen Teil diese Psychologie der Aufklärung noch weiter verfolgen. Andererseits hatte das Fortschreiten der intellektuellen Kultur in Griechenland den Wahrheitssinn offenbar sehr geschärft und gerade dadurch feinere Augen für die Lüge erzeugt. Bei alledem bleibt es logisch genommen ein Widerspruch, auf der einen Seite die Einsicht als Fundament der Tugend hinzustellen, auf der anderen Seite die Äußerung von Unwahrheiten zu gestatten. Ganz besonders tritt dies bei PLATO hervor, dessen in der Republik empfohlenen Laxismus wir bereits hervorgehoben haben. Denn für ihn ist das Gute als die höchste der Ideen, in der die übrigen ihre Einigung finden, Objekt der Erkenntnis und die größere oder geringere Sittlichkeit eines Menschen ist von dem Grad abhängig, mit dem er die Idee des Guten erkannt hat. So enthält die Wahrheit das Gute als einen Teil, und zwar als den edelsten Teil in sich. Andererseits ließe sich freilich gerade hieraus eine Rechtfertigung der in der Republik geäußerten Ansichten suchen. Denn indem das Gute als ein Teil der Wahrheit auftritt, ist zugestanden, daß vielleicht andere Teile der Wahrheit nicht zugleich gut sind. Wäre es umgekehrt, wäre die Wahrheit ein Teil des Guten, wie wir dieses Verhältnis bei anderen Philosophen späterer Zeit finden werden, so wäre ein absoluter ethischer Rigorismus zur Konsequenz unbedingt nötig. So sehen wir auch hier PLATO eine Synthese zwischen dem älteren griechischen aristokratischen Geist und dem sokratischen Rationalismus vollziehen. Im übrigen fällt PLATO an eigenen Stellen auch vom sokratischen Dogma des Wertes der Einsicht für das sittliche Leben ab. Er sagt sowohl (Republik III, 401) als auch Symposion 202 A), die sittliche Übung müsse der sittlichen Einsicht vorangehen. Andererseits darf auch nicht übersehen werden, daß wenn PLATO von der Lehrbarkeit der Tugend redet, er nicht gerade eine Lehren von Mund zu Mund im Auge hat, sondern ebenso die Einflüsse von Umgebung und Erziehung. Lehrbarkeit steht, wie mir scheint, hier immer nur im Gegensatz zum Angeborensein, gegen welche Lehre sich ja der Kampf zumeist richtet. Vor allem aber darf man nie vergessen, wenn man dieses die ganze antike Philosophie tief bewegende Problem vom Angeborensein bzw. der Erlernbarkeit der Tugend überschaut, daß Denken und Wollen in der griechischen Seele überhaupt viel weniger differenziert sind, als etwa in der christlichen Periode. Dies beweist auch die Sprache. So heißt bei HOMER  eiderai  zugleich "wissen" und "gesinntsein",  gnome  zugleich "Meinung" und "Gesinnung";  boulesthai, boulenesthai, boulesis, boule  sind Worte, welche zugleich Wollen und Überlegung ausdrücken;  en phronein, ta arista phronein  zugleich wohlgesinnt und wohlverständig sein (10). (Diese Worte ergänzen auch unsere frühere Bemerkung über das Wort  pseudos,  das intellektueller Irrtum und gewollte Lüge zugleich bedeutet.) Demgemäß bedeutet Lehrer zugleich Erzieher. Die eigentliche Bedeutung des Willens in seinem Unterschied von der Einsicht hat aber mit voller Schärfe erst ARISTOTELES geltend gemacht (11), wie er auch andererseits in einem bemerkenswerten Kapitel der Metaphysik (B 4, K 29) die Unbestimmtheit zwischen Irrtum und Lüge, welche im Wort  pseudos  liegt, beseitigte und verlangte, daß man die unwahre Sache und den unwahren Menschen auseinanderhalte und unter Letzterem nur den absichtlich Lügenden verstehe (12). Er war es auch, der zuerst klar und deutlich lehrte, daß mit dem bloßen theoretischen Wissen des Guten noch nichts erreicht sei. Das Handeln kann, wenn auch das Wissen vorhanden ist, immer noch seine eigenen Wege gehen. Für ihn ist die Übung im sittlichen Handeln eine erste Bedingung zum Verständnis der Sittenlehre. So stellt er sich der sokratischen Lehre von der Lehrbarkeit der Tugend bewußt gegenüber und man wird wohl sagen dürfen, daß die Entwicklungsrichtung des Problems seit SOKRATES zu diesem Resultat hin gegeben war. PLATO hatte die Lehre des SOKRATES nur halb, ARISTOTELES hat sie ganz überwunden. So sagt er, Ethica magna 1,5 ausdrücklich, daß die Tugenden  hen alogon morio tes psyches  [in den irrationalen Teilen der Seele -wp] und nicht in  logon echonti  [den rationalen - wp] ihren Sitz haben. Diese ganze Entwicklung wird wohl daraus erklärt werden können, daß SOKRATES und PLATO dadurch, daß sie mit dem Intellektualismus der Sophisten im Kampf lagen, zu einem Eingehen auf die intellektualistische Methode gewissermaßen gezwungen waren und so vielleicht (PLATO war wohl sicher) gegen ihre Natur zu ethischen Intellektualisten wurden. Andererseits aber ist für ARISTOTELES das Sittliche ein Produkt der entwickelten Vernunft, so daß hier ein Zirkel vorzuliegen scheint, ein Zirkel übrigens, den wir späterhin auch bei einem großen modernen Denker antreffen werden. Diesen Zirkel hat auch HARTENSTEIN (Historische Philosophische Abhandlungen, Seite 279, Anm. 91) bemerkt. TRENDELENBURG suchte ihn (Historische Beiträge II, Seite 385) so zu lösen, daß er sagte: Das Verhältnis in der wirklichen Geschichte der ethischen Entwicklung gestalte sich so, daß die werdenden Tugenden des jüngeren Geschlechts die Einsichten des älteren zur Voraussetzung haben und es Aufgabe der Erziehung ist, die Kinder von früh an dahin zu bringen, daß sie darüber Lust und Unlust empfinden, worüber sie Lust und Unlust empfinden sollen. Er ist (JODL I, Seite 17) recht zu geben, wenn er diese Erklärung "geistreich" nennt. Trotzdem aber erscheint sie mir nicht befriedigend. Denn irgendwann einmal muß doch die Einsicht in der Geschichte und zwar nicht nur bei eine aus Zufall (denn was hätte dieser eine erwirken können), sondern bei vielen mit angeborener Tugen zusammen gegeben worden sein; und erst dann hätten diese im Sinne TRENDELENBURGs die Erziehung vornehmen können. Wenn aber dieses zugegeben wird, so ist nicht einzusehen, warum dies, wenn es sich an der einen Stelle in der Geschichte ereignen kann, sich nicht auch später ereignen könne. Ähnlich HARTENSTEIN am oben bezeichneten Ort. So wird es doch beim Zirkel bleiben müssen. Eine interessante Bemerkung aber macht zu diesem Punkt noch WEHRENPFENNIG in seinem Buch "Die Verschiedenheit der ethischen Prinzipien bei den Hellenen", Seite 60. Er meint dieser Zirkel fließe notwendig aus der zu scharfen Trennung von Vernunft und Willenstätigkeit bei ARISTOTELES, wobei ihr Zusammensein die "einsichtsvolle Gesinnung" unerklärt bleibt. Die Bemerkung ist sicherlich richtig: es frägt sich nur, welche Konsequenz man daraus zieht. Mauß man den Gedanken der Vernunft als ethisches Fundament aufgeben und es bei jener "scharfen Trennung" belassen, oder muß man diesen Gedanken beibehalten und Vernunft und Willenstätigkeit etwa im Sinne der deutschen idealistischen Philosophie (vor allem FICHTEs) näher aneinanderrücken. WEHRENPFENNIG schließt auf letztere, wir auf erstere Weise. Jedenfalls legen wir auf diesen Zirkel viel Gewicht, zumal er immer wieder auftreten wird und durch ihn eine gewisse Richtung in der Moralphilosophie am kräftigsten widerlegt wird. Zum Problem der Wahrhaftigkeit stellt sich ARISTOTELES weit rigoroser als PLATO. [...] Ebenso hat er seinen Charaktertypus des "Hochherzigen" mit der Eigenschaft völliger Wahrhaftigkeit ausgestattet. Andererseits freilich finden wir keine Stelle, wo die Wahrhaftigkeit speziell unter jenen Bedingungen noch direkt geboten wäre, wo andere griechische Philosophen die Unwahrheit erlaubt hatten, also z. B. wenn es gilt, dem Vaterland, dem Freund zu nützen etc. Man denke im Gegensatz hierzu an KANT (siehe den Aufsatz: Über ein vermeintliches Recht etc., Seite 1), der an einem Beispiel die Bedingungen besonders verschärft, um ja seinen absoluten Rigorismus in das rechte Licht zu rücken. Erheblicher als dies für unser Problem ist der Begriff des  nous praktikos  (De anima III, 10 und Politeia VII c. 14. [...] SCHOPENHAUER meint in der "Kritik der kantischen Philosophie" (Anhang zu "Die Welt als Wille"), ARISTOTELES gebrauche den Begriff (gemeinsam mit den Scholastikern) nur im technischen Sinne (im Gegensatz zu KANT). Ob dies richtig ist, ist eine sehr schwer philologische Frage, die wir hier nicht weiter verfolgen können. Auf alle Fälle wurde dieser Begriff in der neueren deutschen Philosophie in ganz anderen Sinn gebraucht (vor allem durch KANT) und wir wollen später erörtern, ob dies rechtmäßig geschah. Soweit ich Kenntnis habe, spricht die Stelle, wo ARISTOTELES den Sitz der Tugenden in den irrationalen Teilen der Seele setzt, für die technische Anwendung des Wortes  nous praktikos;  andererseits sprechen jene Stellen, wo der  nous  als jene Geisteskraft hingestellt wird, welche die Leidenschaften überwinden und die rechte Mittel des Handelns erzeugen soll, für die normative Anwendung des Wortes. Auf alle Fälle ist die Frage einer der dunkelsten Punkte in der Ethik des ARISTOTELES und hängt mit dem oben besprochenen Zirkel unmittelbar zusammen. - Eine ganz besondere ethische Wichtigkeit scheint für die Griechen die Wahrheit gehabt zu haben, soweit sie Selbsterkenntnis ist. Als ein ehernes Gesetz scheint die Aufschrift des delphischen Tempels  gnothi seauton  [Erkenne dich selbst! - wp] über die griechische Geschichte zu leuchten. Aber auch hier müssen wir die schwerwiegende Frage stellen: War diese Norm, die im übrigen in der griechischen Philosophie und Literatur stetig wiederkehhrt, mehr als ein Abdruck? (13) oder eine Not des griechischen Geistes? Fast, dünkt mich, hier das letztere. Der Blick der Griehen war im allgemeinen mehr nach Außen gerichtet als der Blick späterer Generationen, welche die ungeheure Verinnerlichung des Seelenlebens durch das Christentum erfahren hatten. Ehre, Ruhm, Schönheit sind Dinge, welche der griechischen Seele äußerst hochstanden und doch auch Dinge, die der Mensch nicht erlebt, wenn er in sich blickt. Sollte diese Norm nicht ein Gegengewicht gegen diese stark angelegten Tendenzen im griechischen Geist gewesen sein? Und daß die Selbsterkenntnis (auch) bei den Griechen als etwas ganz besonders Schwieriges galt, dies bezeugen die Verse des Tragikers JON (14) (Fr. 55), die SCHMIDT so übersetzt:
    "Dich selbst erkenne, kurz ist dieses Wort,
    Ausführen kann es von den Göttern Zeus allein."
Auch GOETHE, der doch den griechischen Geist so gut kannte, daß man oft als von "dem Griechen" über ihn spricht nicht ohne den Nebensinn, daß sein Charakter dem griechischen Nationalcharakter vielfach nahe verwandt war, bezeichnet die Forderung nach Selbsterkenntnis in den Gesprächen mit ECKERMANN als eine "seltsame, der bis jetzt niemand genügt hat". Wir Heutigen, die wir in der Zeit einer reichen und tiefgehenden empirischen Psychologie (nicht nur in der Wissenschaft, weit mehr in Kunst und Literatur) leben, haben vielleicht ein besonderes Recht zur Stellung der obigen Frage und zu ihrem Entscheid dahingehend, daß die Norm für die Griechen eine Not gewesen ist und nicht ein selbstverständlicher Ausdruck ihrer geistigen Natur. Nun wäre, soweit es sich um die Griechen handelt, noch eine Frage zu stellen. Wir sagten bereits, daß an vielen Orten der griechischen Philosophie die Wahrhaftigkeit verlangt wird. Aber wir sprachen noch nicht davon, aufgrund welcher Motive das Reden der Wahrheit erfolgen soll. Die Frage ist, wie wir in unserem systematischen Teil sehen werden, von großer Wichtigkeit. Nun unterscheidet sich der griechische Geist an dieser Stelle streng vom christlichen. Hier ist es ein mehr individualistisches, dort ein mehr soziales Motiv. Die Lüge (15) gilt dem Griechen vor allem als ein Symptom der Feigheit und Kleinmütigkeit; sie gilt ihm (durch viele andere Literaturstellen belegt) als etwas ästhetisch Widerliches. Auch scheint sie sein Gefühl persönlicher Würde herabzusetzen. Aber gerade deswegen vermag er eine Unwahrheit, die aus Mut, Tapferkeit hervorght, oder zur ästhetischen Färbung der Wirklichkeit geäußert ist, leichter zu verzeihen. Im Christentum dagegen sind die Motive, welche die Wahrhaftigkeit bewirken sollen, mehr sozialer Art. Vor allem wird hier auf die antisoziale Natur der Lüge hingewiesen, auf die Schädigung, welche die allgemeine Glaubwürdigkeit der Menschen durch sie erfährt, wie wir später noch besser sehen werden. Soweit die Griechen.

Die Römer waren wie überhaupt in der Philosophie, so auch bezüglich unseres Problems wenig fruchtbar. CICERO, der in den Schriften "de finibus bonorum et malorum" und "de officiis" über einen schwächlichen Ekklektizismus nicht hinauskommt, und überhaupt mehr als Vermittler, denn als produktiver Kopf zu schätzen ist, hat eine weitere Stufe in der Stellung und Lösung des Problems nicht erreicht. Eine einzige Stelle (De nat. Deor. III, c 26 - 31) wäre, soweit unser Wissen reicht, für unser Problem interessant: Hier wird nämlich gezeigt, inwiefern die Vernunft das notwendige Mittel und Werkzeug zu allen Verbrechen und Schlechtigkeiten ist und wie Wahrheitskenntnis ansich keineswegs die Garantie für sittliches Handeln erteilen kann. Trotzdem wird dieses scheinbar sehr starke Abgehen vom Rationalismus in der Ethik für die prinzipielle Stellung nicht nutzbar gemacht. Die stoische Anschauung von der Weltmacht der Vernunft, die CICERO zweifellos sehr stark beeinflußt, konnte solche Einsichten nicht hochkommen lassen. Im übrigen mochte auch die lateinische Sprache, die zwischen  prudentia  [Klugheit - wp] [von providentia, CICERO (de natura Deor. II, 22)] und  ratio  streng unterschied, ein solches Unterfangen hemmen. Denn mit dieser Unterscheidung war ein so scharfer Unterschied zwischen rein theoretischem Denken zum Zweck der Erkenntnis und dem Denken zu kleinen praktischen Zwecken gemacht (ein weit schärferer Unterschied als beim  nous praktikos  und  theoretikos  des ARISTOTELES), daß  jeder  Versuch, die Vernunft als unsittlich oder doch außermoralisch hinzustellen, sofort als ein Verwechseln der Begriffe  prudentia  und  ratio  hätte gedeutet werden müssen, so daß die "böse Vernunft" unter dem Begriff der  prudentia  sogleich ihr Unterkommen gefunden hätte und die ratio sich in aller sittlichen Reinheit die  prudentia  unter sich lassend erhoben hätte. Die stoische Philosophie, welche auf die römische Welt zweifellos den stärksten Einfluß geübt hat, ist für unser Problem in machen Punkten interessant. Hier tritt uns nämlich zum erstenmal in der Geschichte ein Phänomen entgegen, dem uns ein sehr hoher Grad von Fragwürdigkeit anzuhaften scheint. Man kann es vielleicht gut das Phänomen der "Gelehrtenmoral" nennen. Starre Abschließung des Individuums, asketisches Leben, Nichthandeln, Kontemplation zur Erreichung der Erkenntnis und vor allem  nil admirari  [nichts bewundern - wp]. Mit diesen Forderungen beginnt durch den Stoizismus die  Unterwühlung  des frischen, naiven Werturteils über Welt und Leben, "er (der stoische Held) bleibt auf seinen eigenen Gedankenkreis angewiesen und empfindet keinen Antrieb, die Wirklichkeit zu ergreifen und zur Vernunft zu bilden" (EUCKEN, Lebensanschauungen II, Seite 107). Das Leben, dessen tiefster Sieg und tiefste Niederlagen das menschliche Handeln ist, wird ein Mittel zur Erkenntnis. Das  tout comprendre, c'est tout pardonner  [Alles verstehen heißt alles verzeihen. - wp], vielleicht das unsittlichste Wort, das je gesprochen wurde und doch zugleich das Wort, das heute in aller Munde lebt, wird hier antizipiert. Die Hervorhebung des Unterschieds zwischen Wollen und Denken, diese tiefste Erkenntnis des ARISTOTELES auf dem Gebiet der Ethik, hat nichts erwirkt. Die Stoiker lassen das kaum Getrennte wieder zusammenfließen, und so wird ihnen die Logik zur Ethik, das Naturgesetz zum ethischen Gesetz, so wird das  secundum naturam vivere  [der Natur gemäß leben - wp] zum Prinzip der Ethik; dies heißt aber nicht etwa Benützung der Natur zum Zweck des Menschen, die als solche gegen die Blindheit kausalen Naturgeschehens ankämpfen, sondern Unterwerfung unter die Natur, wobei freilich ein Naturbegriff vorherrscht, der gänzlich unrealistisch ist, und das wenige Ethos, das gelehrte Leute, die in der Erkenntnis das letzte und eigentliche Ziel des Menschen sehen, zum Leben brauchen, bereits in sich enthält. Diese Vereinigung von Natur und Sittengesetz und der daraus folgende Monismus der Weltanschauung, läßt nämlich eine realistische Naturbetrachtung so wenig aufkommen, wie eine kräftige Sittlichkeit, fälscht vielmehr beides in gleicher Weise, wie wir später bei SPINOZA (16), der hier die letzten Konsequenzen aus dem Stoizismus gezogen hat, noch besser sehen werden. Und mit Recht sagt JODL (17), daß ihr Sittlichkeitsbegriff "der gehaltloseste und leerste des ganzen Altertums gewesen ist". Ja vielleicht kann man mit einigem Recht sagen, daß eine Weltanschauung, die sich prinzipiell gegen das tätige, handelnde Element im Menschen richtet, sich damit gegen die ganze Materie sittlicher Schätzung richtet, welche menschliches Handeln ist, und somit weniger eine besondere Ethik vertritt als vielmehr darauf ausgeht, alle Ethik überflüssig zu machen. Wie also die Logik hier zur Ethik wird, so wird die Wahrheit identifiziert mit dem Guten, und die Naturgesetze, welche das Denken erkennt, werden zu Sittengesetzen (18). Auch die Scheidung der menschlichen Angelegenheiten in  diaphora  [Verschiedenheit - wp] und  adiaphora  [nicht Unterschiedenes - wp] ist für die ethische Seite der stoischen Wirksamkeit bezeichnend. Denn diese Scheidung beweist wohl am besten die öde Dürftigkeit in der Aufstellung von Werten. Alle Nuancen der sittlichen Wertschätzung werden hierdurch verwischt. Der Reichtum sittlichen Lebens und überhaupt der Wertschätzung der Dinge, muß sich zwei Kategorien beugen und sich in sie einzwängen lassen. Ein ganzes Reich des Lebens, dem der fühlende und tätige Mensch unterscheidend und seinen Inhalt nach Werten ordnend gegenüber tritt, wird hier von nur erkennenwollenden Geistern mit dem Wort  adiaphora  abgefertigt. Gefühlsleben und Leidenschaft, der Mutterschoß menschlichen Handelns, wird asketisch unterdrückt und jegliche Begeisterung ansich (nicht nur die für das Schlechte, auch die für das Gute) in einem  nil admirari  verdammt. Auch diese beiden Elemente, Dürftigkeit und Wertbegriffe und Krieg gegen die Begeisterung als solche, ganz gleich wofür, werden wir später bei jeglicher Art von Gelehrtenethik aufs Neue erscheinen sehen. So scheint also das Problem seit PLATO folgende Entwicklung durchgemacht zu haben. Bei PLATO erscheint das Gute als ein Teil der Wahrheit, sodaß es auch eine "nicht gute" Wahrheit geben kann (welche deswegen noch nicht böse zu sein braucht, vielmehr auch außermoralisch sein kann). Bei ARISTOTELES finden wir zwei entgegengesetzte Tendenzen, ein klares Bewußtsein in die Ohnmacht der Einsicht auf die Charakterbildung nach der einen Seite hin (eine Ansicht, die ihm aufgrund einer empirischen Betrachtung erwachsen sein mag), die Behauptung der Vernunft als Grundmotiv des Sittlichen (welche sich mehr aufgrund der philosophischen Tradition wird ergeben haben). Bei den Stoikern endlich, in denen der Rationalismus die letzten Banden an das Leben abgestreift hat, finden wir die Identifikation von Wahr und Gut. Nur noch eine Stelle aus der römischen Literatur wollen wir hervorheben, da sie sich scharf im Gegensatz zur ganzen Einsichtstheorie befindet. Wir meinen das Wort aus OVID, Metamorphosen VII, 20, 21:  Scio meliora proboque, deteriora sequor  [Ich sehe und bestätige das Bessere, aber folge dem Schlechteren - wp], (das, wie SCHOPENHAUER, Kritik der kantischen Philosophie, 14. Abschnitt bemerkt, Ähnliches ausdrückt wie das französische  le matin je fais des projets, et le soir je fais des sottises  [Morgen mache ich Pläne, und am Abend mache ich Unsinn. - wp]). Hier ist die zwischen Wissen und Handeln gähnende Kluft in feiner und dichterisch schöner Art zugestanden.
LITERATUR: Max Scheler, Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien, Jena 1899
    Anmerkungen
    1) LEOPOLD SCHMIDT, Ethik der alten Griechen, Bd. 2, Berlin 1882, Seite 411
    2) LEOPOLD SCHMIDT, a. a. O., Seite 411
    3) Vgl. SCHMIDT, a. a. O., Seite 415
    4) PLATO, Republik 2, 389b, 5, 459c
    5) PLATO, Republik 3, 414b - 415d
    6) SCHMIDT, a. a. O. Seite 406
    7) SCHMIDT, a. a. O. Seite 411
    8) SCHMIDT, a. a. O. Bd. 1, Seite 101
    9) Vgl. SCHMIDT II, Seite 160 und 410
    10) SCHMIDT I, Seite 157
    11) SCHMIDT I, Seite 163
    12) SCHMIDT II, Seite 412
    13) Wie z. B. offenbar die Tugend des rechten Maßes.
    14) SCHMIDT II, a. a. O. Seite 396
    15) Mit Benutzung SCHMIDTs.
    16) Vgl. hierzu JODL, Geschichte der Ethik I, Seite 29
    17) JODL, a. a. O.
    18) Die Folge dieser Verlegung menschlichen Wirkungskreises in das Innenleben ist hier (wie auch später) ein dramatischer Charakter des Denkprozesses selbst. Die Energie, die nach außen keinen Abschluß findet, wendet sich nach innen. So wird ein "tatkräftiges Denken, eine Denkhandlung zum Kern des Geisteslebens" (siehe EUCKEN, Lebensanschauungen II, Seite 206).