cr-2V. NorströmM. Nemovon HartmannW. TatarkiewiczA. Messer     
 
GOTTLOB FRIEDRICH LIPPS
Mythenbildung und Erkenntnis
[3/3]

"Wenn wir von einer notwendigen Verknüpfung zwischen Gegenständen sprechen und dabei annehmen, diese Verknüpfung sei durch eine Wirksamkeit oder treibende Energie, mit denen diese Gegenstände ausgestattet sind, bedingt, so verbinden wir mit allen diesen Ausdrücken in Wirklichkeit gar keinen bestimmten Sinn; wir wenden nur gangbare Worte an, ohne klare und bestimmte Vorstellungen."

"Das Gegebene ist von Anfang an in doppelter Weise mit Bestimmungen behaftet; mit den a posteriori gegebenen Qualitäten der Empfindung, wie Härte, Farbe, Geschmack und dgl. und mit den a priori gegebenen reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit. Aber dieses vorhandene Etwas ist kein für sich existierendes Ding, sondern bloß eine Erscheinung, die lediglich in den subjektiven Formen des Raumes und der Zeit eine Realität gewinnt und ohne diese Formen gar nicht bestehen kann."

"Das Ding ist zunächst lediglich das Zusammen der Eigenschaften, d. h. einzelner, voneinander unterschiedener, gleichgültig nebeneinander stehender Bestimmungen. Es ist beispielsweise als Salz einfaches Hier und zugleich vielfach; es ist weiß und auch scharf; auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere, usw. Zur Einheit wird das Ding erst im wahrnehmenden Subjekt durch den Ausschluß anderweitiger Eigenschaften, die anderen Dingen zugehören, von denen das vorliegende unterschieden wird."


12. Die Zurückführung der Bewußtseinsinhalte
auf ursprüngliche Unterscheidungen

Der Aufgabe, das Gebiet der Bewußtseinserscheinungen zum Gegenstand empirischer Nachforschungen zu machen, unterziehen sich die von der Erfahrung ausgehenden Philosophen. Sie glauben in den Tatsachen des Bewußtseins etwas unmittelbar Gegebenes vorzufinden, das die zweifelsfreie Grundlage für das Erkennen der Welt und des Menschen bildet. Darum betrachten sie die Untersuchung des Bewußtseins, wie es sich erfahrungsgemäß der unmittelbaren Selbstbetrachtung darbietet, als den selbstverständlichen Ausgangspunkt der Philosophie.

In diesem Sinn will LOCKE (An essay concerning human understanding) "den Ursprung, die Sicherheit und die Ausdehnung des menschlichen Wissens" untersuchen, indem er feststellt, woher die Vorstellungen der Ideen kommen, und wie der Verstand durch die Ideen zur Erkenntnis gelangt. Er ist der Ansicht, daß alle Ideen aus der Erfahrung stammen. Das einem weißen Blatt Papier vergleichbare Bewußtsein wird mit ihnen gewissermaßen beschrieben, indem der Geist die Eindrücke auffaßt,
    "die entweder von äußeren Objekten durch die Sinne auf ihn gemacht werden oder durch seine eigenen Tätigkeiten, wenn er auf diese reflektiert."
So gewinnt der Mensch die Grundlage für alle Erkenntnis. In seinen erhabensten Gedanken und in seinen weitestgehenden Spekulationen "kommt er auch nicht ein Jota über die Ideen hinaus, die seiner Betrachtung durch die Sinneswahrnehmung oder die Selbstbeobachtung dargeboten sind." Dabei ist der fundamentale Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Ideen zu beachten. Die einfachen Ideen bilden den "Rohstoff all unseres Wissens." Sie entstehen ausschließlich durch Sinneswahrnehmung und Selbstbeobachtung. Sind sie einmal ins Bewußtsein gelangt, so hat der Verstand
    "die Kraft, sie zu wiederholen, zu vergleichen und in fast endloser Mannigfaltigkeit zu verbinden und so nach Belieben neue zusammengesetzte Ideen zu bilden."
Er kann jedoch nicht eine einzige einfache Idee neu erfinden oder, wenn sie vorhanden ist, zerstören. Die einfachen Ideen werden so bei LOCKE zu elementaren Substanzen, die wie die Elemente der materiellen Substanzen zusammengesetzt und wieder voneinander getrennt werden können, nur mit dem Unterschied, daß im Bewußtsein das Zusammensetzen und Trennen nicht durch natürliche Kräfte, sondern durch die geistigen Vermögen des Wahrnehmens, Erinnerns, Unterscheidens, Vergleichens, Zusammensetzens, Benennens und Abstrahierens erfolgt.

Der in GALILEI und NEWTON verkörperte Geist der modernen Naturforschung ist, wie wir hieraus sehen, so übermächtig geworden, daß er ohne weiteres auch die Erforschung des Bewußtseins beherrscht und dazu führt, sogar in den Bewußtseinserscheinungen ein objektives Geschehen zu erblicken.

Sollte dies als berechtigt erscheinen, so mußte das im Bewußtsein Erlebte als das allein Wirkliche hingestellt werden, neben dem die Welt des Naturforschers zu einem bloßen Traumbild verblaßt. Von einer solchen folgerichtigen Auffassung war jedoch LOCKE weit entfernt. Er glaubte neben den Ideen noch den Geist, der mit Vermögen ausgerüstet ist, sowie Körper, die mittels der Sinne die Ideen im Geist hervorbringen, annehmen zu dürfen. Und auch bei der Bestimmung des Besitzstandes an Ideen verhielt er sich nicht hinreichend kritisch, indem er die Ergebnisse des abstrahierenden Denkens als allgemeine oder abstrakte Ideen ansah, die als solche im Bewußtsein vorhanden sind.

Demnach zeigt sich BERKELEY (Treatise on the principles of human knowledge) kritischer, indem er die abstrakten Ideen, die es in Wahrheit nicht gibt, verwirft und auch die körperlichen Substanzen, die vorhanden sein sollen, auch wenn sie nicht wahrgenommen oder perzipiert werden, als Jllusionen bezeichnet. Er erblickt das Sein der Dinge in ihrem Perzipiertwerden. Er läßt aber den menschlichen und göttlichen Geist als substanzielle Ursache der Ideen bestehen und betrachtet ihn als
    "einfaches, unteilbares, tätiges Wesen, welches, sofern es Ideen perzipiert, Verstand und, sofern es sie hervorbringt oder anderweitig in Bezug auf sie tätig ist, Wille heißt".
Darum gelangt erst HUME durch die Beseitigung des substanziellen, die Ideen verursachenden Geistes zu einer in einem wahrhaft kritischen Sinn geführten empirischen Erforschung des Bewußtseins.

Er findet (Treatise on human nature) die Grundtatsachen der Erfahrung in den "Perzeptionen des menschlichen Geistes", die in stark und lebhaft auftretende Impressionen oder Eindrücke und in ihre schwachen Abbilder, die Ideen oder Vorstellungen, geschieden werden und einfach oder zusammengesetzt sind. Die Eindrücke bestehen aus Sinnesempfindungen und Selbstwahrnehmungen. Die letzte Ursache der von den Sinnen herrührenden Eindrücke ist nach der Ansicht HUMEs durch menschliche Vernunft nicht zu erkennen.
    "Es wird stets unmöglich sein, mit Gewißheit zu entscheiden, ob sie unmittelbar durch den Gegenstand veranlaßt oder durch die schöpferische Kraft des Geistes hervorgebracht werden, oder schließlich vom Urheber unseres Seins herstammen."
Die Affekte, Begierden und Gefühle oder die Eindrücke der sogenannten Selbstwahrnehmung hingegen werden durch Vorstellungen der Sinneswahrnehmung hervorgerufen. Die Vorstellungen beruhen entweder auf der Erinnerung oder auf der Einbildungskraft. Im ersteren Fall haben sie eine größere Energie und Lebhaftigkeit als im letzteren Fall. Die Einbildungskraft hat überdies die Freiheit, "ihre Vorstellungen umzustellen und zu ändern." Sie wird aber doch auch zugleich von der Assoziation der Vorstellungen, die durch Ähnlichkeit, unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, sowie durch Ursache und Wirkung bedingt ist, wie durch "eine sanfte Macht" geleitet. Auf diese Weise entstehen zusammengesetzte Vorstellungen, die in Relationen, Modi und Substanzen eingeteilt werden.

Unter den Relationen, die HUME in sieben Klassen zusammenfaßt, werden diejenigen der Ähnlichkeit, des Widerstreits, der Gradabstufungen einer Qualität und der Quantitäts- oder Zahlenverhältnisse durch die Natur der Vorstellungen veranlaßt, so daß sie ein sicheres Wissen darbieten. Die Beziehungen des räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs und der Identität der Gegenstände bei wiederholter Wahrnehmung bestehen in unmittelbaren Wahrnehmungen, die nicht über den vorhandenen Inhalt des Bewußtseins hinausführen.
    "Nur die Ursächlichkeit schließt eine Verknüpfung in sich, die so beschaffen ist, daß wir aus der Existenz oder Tätigkeit eines Gegenstandes die Gewißheit schöpfen können, es sei ihr eine andere Existenz oder Tätigkeit gefolgt oder vorangegangen."
Sie ist keine Eigenschaft der miteinander verknüpften Gegenstände, da jeder Gegenstand die Rolle einer Ursache oder einer Wirkung übernehmen kann. Und für die unmittelbare Wahrnehmung ist bloß ein räumlich-zeitlicher Zusammenhang vorhanden, in welchem nichts von der Notwendigkeit liegt, die der Ursächlichkeit anhaftet.

Worin besteht nun aber "die Kraft und Wirksamkeit der Ursachen?" Wir haben ja keinen "Eindruck, der irgendetwas von Kraft oder Wirksamkeit in sich schließen würde." Wir haben auch keine Vorstellung der Kraft, da alle Vorstellungen Eindrücken nachgebildet sind.
    "Wenn wir von einem beliebigen Wesen, ob höherer oder niederer Art, so reden, als ob es mit einer Kraft oder Macht ausgestattet wäre, die irgendeiner bestimmten Wirkung entspricht, wenn wir von einer notwendigen Verknüpfung zwischen Gegenständen sprechen und dabei annehmen, diese Verknüpfung sei durch eine Wirksamkeit oder treibende Energie, mit denen diese Gegenstände ausgestattet sind, bedingt, so verbinden wir mit allen diesen Ausdrücken in Wirklichkeit gar keinen bestimmten Sinn; wir wenden nur gangbare Worte an, ohne klare und bestimmte Vorstellungen."
Erst dann, wenn wir eine Verbindung zu wiederholten Malen erleben, sehen wir uns genötigt, unsere Gedanken von dem einen Gegenstand auf den anderen übergehen zu lassen. Somit ist die Wirksamkeit der Ursachen
    "nur dem Geist eigen, der sich die Verbindung von zwei oder mehr Gegenständen in allen früheren Fällen vergegenwärtigt."
Sie beruth auf der Gewöhnung, von der Vorstellung des einen Gegenstandes zur Vorstellung eines anderen überzugehen.

Gibt es demgemäß keine objektiv existierenden Kräfte oder Ursachen, so sind auch keine körperlichen oder geistigen Substänzen möglich. Bloß Perzeptionen und ihre Verknüpfungen sind vorhanden. Wie sehr man sich bemühen mag,
    "man gelangt doch niemals einen Schritt weit über sich selbst hinaus, nie vermag man mit seiner Vorstellung eine Art der Existenz zu erfassen, die hinausginge über das Dasein der Perzeptionen. So ist der Mensch in seinem geistigen Sein nichts als ein Bündel verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegrenzter Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind."
Und der Glaube an die Existenz der Körperwelt gründet sich lediglich auf die Kohärenz und Beständigkeit gewisser Eindrücke.

Indem HUME die Welt und den Menschen als ein System von Perzeptionen aufzufassen lehrt, erreicht er die höchste Stufe des kritischen Verhaltens, zu der die Annahme von ursprünglich im Bewußtsein vorhandenen Eindrücken überhaupt führen kann. Denn er entwickelt aus dieser einzigen Annahme, ohne Erschleichungen, streng und folgerichtigt sein ganzes System des Erkennens. Er stützt sich lediglich auf die Beschaffenheit der Perzeptionen, wenn er zunächst Eindrücke und Vorstellungen, sodann Vorstellungen des Gedächtnisses und der Einbildungskraft unterscheidet. Er läßt nur die aus der Natur der Vorstellungen sich ergebenden Relationen als wahres Wissen gelten und führt die über vorhandene Perzeptionen [appzep] scheinbar hinausreichende Kausalität auf den zur Gewohnheit und hierdurch zum Gesetz gewordenen Ablauf der Perzeptionen zurück.

Dabei ist er sich der Voraussetzungen, auf denen seine Philosophie ruht, klar bewußt. Er stellt ausdrücklich die beiden Grundsätze auf, daß alles, was verschieden ist, unterscheidbar und durch die Einbildungskraft trennbar und mithin in bestimmter Weise deutlich vorstellbar ist, und daß ferner das in bestimmter Weise deutlich Vorgestellte in eben dieser Weise existieren kann. Darum folgt aus der subjektiven Verschiedenheit der Perzeptionen ihre objektive, keines Trägers bedürftige Existenz.

Hierdurch wird jedoch nicht nur die Möglichkeit, im subjektiven Zustand des Bewußtseins eine Unterscheidung zu vollziehen, zum Kriterium objektiver Verschiedenheit gemacht. Es werden auch die Bewußtsein vollzogenen Unterscheidungen und somit die Verschiedenheiten der Bewußtseinsinhalte nicht als Bestimmungen, die das unterscheidende Subjekt ausführt, erkannt, sondern in naiver Weise als schlechthin und unbedingt gegeben betrachtet. Dies spricht HUME selbst deutlich aus, wenn er sagt, daß die Herkunft der Sinneseindrücke "durch menschliche Vernunft" nicht zu erkennen ist. Das Gegebene ist aber - wie wir bereits bemerkt haben - für die vollendete kritische Auffassung nicht mit unableitbaren Bestimmungen von vornherein behaftet, sondern bloß der Bestimmung fähig, so daß lediglich von Bestimmungen am Gegebenen, nicht von gegebenen Bestimmungen die Rede sein kann.

Die empirische Forschung des Bewußtseins führt somit auch in ihrer vollendeten Form nicht zu vollkommenen Durchführung des kritischen Verhaltens. Wir gewinnen jedoch die grundlegende Einsicht, daß die als schlechthin gegeben vorausgesetzten Bestimmungen der Bewußtseinsinhalte aus ursprünglichen Unterscheidungen hervorgehen. Das Vorhandensein der Bewußtseinsinhalte beruth nämlich in der Tat auf der Verschiedenheit derselben, und die Verschiedenheit tritt im Bewußtsein nur durch den Vollzug von Unterscheidungen zutage.


13. Die Vermögen des Geistes

Es ist aber die empirische, von LOCKE begründete und von HUME kritisch durchgeführte Untersuchungsweise nicht die einzig mögliche. Schon LEIBNIZ hat (Nouveaux essais sur l'entdendement humain) gegen LOCKE geltend gemacht, daß, wenn auch aller Inhalt des Denkens aus der Erfahrung stammt, doch das Denken selbst davon auszunehmen ist. "Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, nisi intellecuts ipse." [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, außer der Geist selbst. - wp] Indem LEIBNIZ sich zu diesem Grundsatz bekennt, bequemt er sich dem gegnerischen Standpunkt LOCKEs, den er bekämpft, an. Denn seiner philosophischen Grundauffassung gemäß mußte er nicht nur das Denken, sondern auch die Gegenstände des Denkens, die empirischen Inhalt des Bewußtseins, als ein Entwicklungsprodukt der Monade ansehen, die, mit den Kräften des Vorstellens und Strebens begabt, von unklarer und verworrener sinnlicher Vorstellung zu klarer und deutlicher logischer Erkenntnis fortschreitet. Sobald jedoch die Annahme ursprünglicher Geistesanlagen mit der Anerkennung irgendwie gegebener Erfahrungsinhalte zusammentraf, war auch die Aufgabe gestellt, unter diesen Voraussetzungen den menschlichen Geist zu untersuchen.

Diese Aufgabe hat KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" gelöst, indem er durch die Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand über LEIBNIZ, durch die Trennung des Inhaltes von der Form der Sinneswahrnehmung über HUME hinausging.

Von der LEIBNIZ-WOLFFischen Philosophie sagt er, daß sie
    "allen Untersuchungen über die Natur und den Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz ungerechten Gesichtspunkt angewiesen hat, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch betrachtete", während er doch in Wahrheit "nicht bloß die Form der Deutlichkeit und Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und Inhalt desselben betrifft."
Demgemäß nennt er Sinnlichkeit und Verstand die beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis, "die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen." Die Sinnlichkeit ist aber die Fähigkeit, Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen.
    "Mittels der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu oder im Umschweif, zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann."
KANT sichert sich somit die Möglichkeit, etwas als gegeben vorauszusetzen, indem er ein besonderes Vermögen, die Sinnlichkeit, annimmt, deren Aufgabe es ist, dem Denken die Gegenstände zu vermitteln. Dies hat nun aber keineswegs zur Folge, daß alle Erkenntnis aus der Erfahrung stammt. Ebenso wie LEIBNIZ gegen LOCKE bemerkt,
    "daß die notwendigen Wahrheiten, wie man solche in der reinen Mathematik, besonders in der Arithmetik und in der Geometrie findet, auf Grundsätzen ruhen müssen, deren Beweis nicht von Beispielen und folglich auch nicht vom Zeugnis der Sinne abhängt, obgleich man ohne die Sinne niemals darauf gekommen sein würde, daran zu denken"
- so betont KANT nicht minder gegen HUME die unbedingte Gewißheit der mathematischen Erkenntnis, die von der Erfahrung unabhängig ist. Er tadelt HUME geradezu (in den "Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik"), daß er bei der Erforschung des Gebietes der reinen Erkenntnisse a priori unbedachtsamerweise "eine ganze und zwar die erheblichste Provinz desselben, nämlich die reine Mathematik" wegen mangelnder Einsicht in ihr Wesen davon abgeschnitten hat. Und er bringt seinerseits die Sonderstellung der Mathematik zum schärsten Ausdruck, indem er die mathematische Erkenntnis der philosophischen gegenüberstellt.

Zu dieser Gegenüberstellung gelangt KANT, indem er an den Gegenständen, die als Modifikationen unserer Sinnlichkeit in Erscheinung treten, die Materie oder den Inhalt, der empfunden wird, von der räumlichen und zeitlichen Form, in der das Empfundene geordnet und angeschaut wird, trennt. Der empfundene Inhalt wird von der Erfahrung dargeboten, die Form hingegen, die nicht selbst wieder empfunden werden kann, muß "im Gemüt a priori bereit liegen und daher abgesondert von aller Empfindung betrachtet werden können." Das Gegebene ist somit von Anfang an in doppelter Weise mit Bestimmungen behaftet; mit den a posteriori gegebenen Qualitäten der Empfindung, wie Härte, Farbe, Geschmack und dgl. und mit den a priori gegebenen reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit. Die Qualitäten bestimmen das, was im Raum und in der Zeit vorhanden ist. Aber dieses vorhandene Etwas ist kein für sich existierendes Ding, sondern bloß eine Erscheinung, die lediglich in den subjektiven Formen des Raumes und der Zeit eine Realität gewinnt und ohne diese Formen gar nicht bestehen kann. Raum und Zeit hingegen gewinnen zwar an den erscheinenden Gegenständen eine empirische Realität; sie sind jedoch für sich betrachtet die unaufhebbaren und keiner Ableitung fähigen Bedingungen der Sinnlichkeit. Als solche haben sie eine transzendentale Idealität,
    "nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts sind und den Gegenständen ansich weder substisierend [grundlegend - wp] noch inhärierend [innewohnend - wp] beigezählt werden können."
Man kann demnach sowohl den empirischen Inhalt wie auch die von der Erfahrung unabhängige Form des Gegebenen zum Gegenstand des Denkens machen, so daß ein doppelter Gebrauch des Verstandes zu unterscheiden ist. Soll er zu einer Erkenntnis führen, so muß er nach der Ansicht KANTs, was auch das Gegebene sein mag, in einer Verknüpfung oder "Synthesis" bestehen.
    "Die Synthesis eines Mannigfaltigen bringt zuerst eine Erkenntnis hervor, die zwar anfänglich noch roh und verworren sein kann und also der Analysis bedarf; allein die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentliche die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalt vereinigt; sie ist also das Erste, worauf wir acht zu geben haben, wenn wir über den Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen."
Die Synthesis der gegebenen Erscheinungen erfolgt nun nach gewissen, in der Natur des Verstandes begründeten Regeln oder Kategorien, die KANT in der "Tafel der Kategorien" als Bestimmungen der Quantität, Qualität, Modalität und Relation zusammenstellt. Sie kommt zustande, indem die mannigfachen Elemente der Erscheinungen aus ihrer Zerstreuung und Vereinzelung durch die Einbildungskraft zunächst zusammengefaßt, in der Reproduktion miteinander assoziiert und durch die Apperzeption zu einer Einheit verknüpft werden.
    "Diese Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand",
der sich somit als das Vermögen der Regeln oder als der innerste Grund "der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen in einer Erfahrung" erweist. Darum ist der Verstand "der Quell der Gesetze der Natur"; er macht durch die Kategorien "Erfahrung ihrer Form nach allererst und ursprünglich möglich."

Wir können jedoch, wie KANT meint, auch zu Erkenntnissen kommen, "indem wir uns im Raum und der Zeit die Gegenstände durch eine gleichförmige Synthesis schaffen, indem wir sie bloß als Quanta betrachten." Dies geschieht offenbar, wenn wir die Elemente des Raumes und der Zeit durch die Einbildungskraft zusammenfassen, in der Reproduktion aneinanderreihen und durch die Apperzeption zu einer Einheit verknüpfen. Wir bestimmen oder "konstruieren" dann unsere Begriffe in der Anschauung a priori und gelangen zur mathematischen Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe. Denn nach der Auffassungsweise KANTs liegen der Mathematik die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit zugrunde, weil die Gegenstände der Geometrie Raumgebilde sind und die Zahlbegriffe der Arithmetik auf der sukzessiven Hinzusetzung gleichartiger Einheiten in der Zeit beruhen.

Auf diese Weise gewinnen Raum und Zeit für KANT eine bemerkenswerte Doppelstelleung. Als Anschauungsformen der Sinnlichkeit bieten sie den gegebenen Erfahrungsinhalt. Als Formen, die a priori erkennbar und bestimmbar sind, gestatten sie die gleichförmige Synthesis, durch welche die Gegenstände der mathematischen Erkenntnis konstruiert werden. Sie sind somit die Vermittler zwischen der reinen Verstandestätigkeit und der Welt der sinnlichen Erscheinungen. Diese Vermittlung übernimmt insbesondere die Zeit, da sie in jeder empirischen Vorstellung enthalten ist: sie ermöglicht als "transzendentales Schema" die Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen.

Demgemäß ist die Zusammenfassung der Zeitteile zur Zeitreihe oder die Zahl (im Sinne KANTs) das Schema der Quantität, die in den Raum- und Zeitformen der Erscheinungen Gestalt gewinnt. Es ist ferner die in gradweiser Abstufung mehr oder weniger erfüllte Zeit das Schema der Qualität, die im Empfindungsinhalt und dem der Empfindung (nach der Auffassung KANTs) korrespondierenden Dinge-ansich realisiert wird. Es ist sodann die Vorstellung des Beharrens, der Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] und des Zugleichseins in der Zeit das Schema der Relation, die in der beharrenden Substanz, in der Kausalität und Wechselwirkung hervortritt. Es ist schließlich die Vorstellung des Seins zu irgendeiner Zeit, in einer bestimmten Zeit und zu aller Zeit das Schema der Modalität, die in der möglichen, wirklichen und notwendigen Existenz der Dinge zur Geltung kommt.

Hiernach wird ein schlechthin gegebener Inhalt an Empfindungen zusammen mit den unableitbaren, im Gemüt a priori bereitliegenden Anschauungsformen des Raumes und der Zeit durch die dem Verstand eigentümlichen Arten der Synthesis zu Erkenntnissen verarbeitet.

Daß der Empfindungsinhalt auf ursprünglichen Unterscheidungen beruth, läßt KANT unbeachtet. Er stellt sogar jenen Inhalt geradezu als seinem Wesen nach unableitbar hin, indem er ein unerkennbares Substrat der sinnlichen Erscheinung als Ding-ansich voraussetzt. "Denn sonst würde der ungereimte Satz folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint." (Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft) Achtet man aber auf die im Empfinden sich betätigende Funktion des Unterscheidens, so ergibt sich, daß die empfundenen Qualitäten nicht nur intensiv abstufbar und im übrigen rätselhafte Wirkungen der Dinge ansich sind, sondern in den mannigfachen Beziehungen des Gegensatzes und der Ähnlichkeit oder der Verwandtschaft ihr Dasein gewinnen. Diese Beziehungen sind ebenso wie Raum und Zeit als "a priori bereitliegende" Formen anzuerkennen, die zwar nicht den objektiv existierenden Dingen, wohl aber den im Bewußtsein sich vollziehenden Unterscheidungen notwendig anhaften.

Zu der Voraussetzung schlechthin gegebener Empfindungsqualitäten fügt KANT die weitere Annahme, daß auch dem Anschauen und Denken selbst ein übersinnliches Substrat zukommt, das als Vernunftwesen einen in sich begründeten Willen hat und darum frei, nach selbst gegebenen Gesetzen, im sittlichen Wollen und Handeln sich betätigt. Er glaubt auf diese Weise in der praktischen Vernunft den Urgrund des Handelns zu finden.

Es zeigt sich so, daß selbst die vorzugsweise als kritisch bezeichnete Philosophie KANTs das naive Verhalten nicht völlig überwindet. Denn die kritische Auffassung der Welt und des Menschen kennt bloß einesteils das in den Bestimmungen des Denkens hervortretenden objektive Geschehen, zu dem auch das Handeln des Menschen gehört, und andererseits das Denken oder die subjektive Auffassung des objektiven Geschehens, welche die Beurteilung der menschlichen Handlungen als gut oder böse in sich schließt. Sie kennt hingegen weder gegebene Qualitäten noch eine sich selbst Gesetze gebende praktische Vernunft.

Überdies muß darauf hingewiesen werden, daß die Auffassung des Raumes und der Zeit, die den verwickelten Aufbau der kantischen Philosophie trägt, nicht haltbar ist. Raum und Zeit sind keineswegs schlechthin bestehende, unableitbare Anschauungsformen. Sie beruhen vielmehr auf den allgemeinen Ordnungs- und Größenbeziehungen und erhalten ihre Besonderheit nur dadurch, daß es die objektive Wirklichkeit ist, die in räumlicher und zeitlicher Form der Ordnung und Größe teilhaftig wird. (vgl. Kapitel 6). Darum ist es auch nicht richtig, mit KANT die Mathematik auf Raum und Zeit zu gründen und der mathematischen Erkenntnis die philosophische gegenüberzustellen. Denn Raum und Zeit sind nur Anwendungsgebiete der Mathematik, während die Mathematik selbst die allgemeinen Größen- und Ordnungsbeziehungen zum Gegenstand hat, die aus den ursprünglichen Bestimmungen des Denkens hervorgehen. (vgl. Kapitel 5)

Wenn aber die mathematischen Ordnungs- und Größenbegriffe zusammen mit den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit un den im Bewußtsein erfaßbaren Qualitäten der Empfindung auf den Beziehungen und Unterscheidungen des Denkens beruhen, so kann man das menschliche Erkennen nicht aus zwei getrennten Stämmen ableiten: man muß bis zu ihrer gemeinsamen Wurzel in den Bestimmungen des Denkens vordringen. (vgl. Kapitel IV)


14. Die Tathandlung

Eine einheitliche Auffassung von der Welt und dem Menschen zu gewinnen, war indessen bereits das Streben der von KANT ausgehenden Philosophen.

Den Urgrund des Bewußtseins und zugleich den Ausgangspunkt zu einer Begründung allen Wissens sucht FICHTE im ursprünglich und schlechthin sich betätigenden Handeln, das er als "Tathandlung" bezeichnet. Das Handeln als reines, an und für sich unendliches Streben und die Tat als Frucht des Strebens machen das Wesen der Tathandlung aus.

Die Formulierung der Tathandlung führt zu den drei Grundsätzen der "Wissenschaftslehre" [auswah2_#fichte] oder der Philosophie, deren Aufgabe es ist, den Prozeß aufzudecken, durch den das Bewußtsein und mit ihm das Wissen entsteht. Das der Tathandlung zugrunde liegendes Streben ist das Ich, nicht in seiner individuellen Beschaffenheit - "alle Individuen sind in der einen großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen" (Über die Würde des Menschen) - sondern als praktische Vernunft oder wirksamer Geist. Dieses handelnde Ich ist das Primäre; es begründet das erkennende oder theoretische Ich. Denn nur aus der Natur des Strebens, das ohne ein Widerstreben nicht denkbar ist, läßt es sich begreifen, daß die Tat, dem sie erzeugenden Handeln gegenübertritt, obwohls sie nur kraft des Handelns besteht. Durch die Tat findet aber, wie FICHTE meint, das handelnde Ich sich selbst als Subjekt, und es findet zugleich in sich - es empfindet - die von ihm selbst erzeugte Schranke als Objekt.

Indem das Ich sich findet, setzt es sich selbst.
    "Es ist zugleich das Handelnde und das Produkt der Handlung, das Tätige und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind ein und dasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck der Tathandlung."
So gelangt FICHTE zum ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre: "Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein." Das ich kann indessen sein eigenes Sein nur setzen, indem es sich von etwas unterscheidet oder gegen etwas setzt. Es gibt kein Setzen ohne ein Entgegensetzen. Da nun das dem Ich Entgegengesetzte als Nicht-Ich zu bezeichnen ist, so ergibt sich als zweiter Grundsatz allen menschlichen Wissens: "Dem Ich wird schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich." Das Nicht-Ich ist somit das durch das Ich als Subjekt bedingte und ihm gegenübertretende Objekt. Da das Objekt kein Ding ansich ist, sonder nur im Ich Bestand hat, so setzt demnach das Ich im Ich zugleich Ich und Nicht-Ich. Dieser Widerspruch findet seine Lösung, indem Ich und Nicht-Ich als aufeinander wirkend und der Veränderung fähig angenommen werden. Denn nunmehr kann "ein Einschränken beider Entgegengesetzter durcheinander stattfinden. Hiernach lautet der dritte und letzte Grundsatz: "Das Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen." (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre)

Diesen Deduktionen FICHTEs liegt die klare Erkenntnis zugrunde, daß Subjekt und Objekt sich wechselweise fordern und bedingen. Denn das Handeln, worin das Wesen des absoluten Ich oder des reinen Geistes besteht, kann sich nur als Tat verwirklichen, und die Tat kann nur als das Erzeugnis des Handelns auftreten. Es gibt somit eine Welt als Objekt nur für ein die Welt wahrnehmendes und erkennendes Ich als Subjekt.

Indem jedoch FICHTE das Handeln als ein an und für sich unendliches Streben auffaßt, das durch die Tat seine Schranke findet, werden Handeln und Tat oder Subjekt und Objekt nicht bloß voneinander unterschieden, sondern - wie ein bewegter Körper und ein widerstehendes Mittel - in Wechselwirkung zueinander gesetzt. Demgemäß setzt das Ich einesteils "sich als bestimmt durch das Nicht-Ich", wodurch das theoretische Wissen begründet wird, und andernteils "sich als bestimmend das Nicht-Ich", wodurch der Zugang zur praktischen Wissenschaftslehre eröffnet wird. Das Ich findet hiernach sich selbst in seinem Gegensatz gegen das Nicht-Ich etwa so, wie der Vogel beim Fliegen mit dem Widerstand der Luft seinen eigenen Körper wahrnimmt, falls nur beachtet wird, daß das Objekt nicht für sich allein besteht, sondern als Erzeugnis des Subjekts dem Grundvermögen der "produktiven Einbildungskraft" entspringt, worauf "gar leich der ganze Mechanismus des menschlichen Geistes sich gründen dürfte." So werden dann insbesondere die Empfindungen zwar nicht, wie bei KANT, als gegebene Affektionen der Sinnesvermögen, als "Vereinigung von Tätigkeit und Leiden" aufgefaßt, so daß die von HUME nahelegte Erkenntnis, der zufolge die Empfindungsqualitäten ursprüngliche Unterscheidungen des Ich sind, nicht gewonnen werden kann.

In Wahrheit kann jedoch nur die Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt, nicht das angeblich mit Hemmung und Gegenwirkung verknüpfte Hervortreten des einen im andern in Frage kommen. Diese Unterscheidung ist die Grundbedingung für das kritische, wissenschaftliche oder philosophische Erkennen. Sie hebt den Menschen über die Stufe des naiven Daseins hinaus, auf der das Subjekt sich im Objekt verliert.

Nun legt aber FICHTE überdies alle Wirklichkeit einzig und allein in das handelnde Ich, das sich selbst durch sein Handeln objektiviert und in den Bewußtseinsobjekten eine Gestalt zu gewinnen strebt. Infolge davon kann bloß das hierdurch bedingte Zusammenbestehen von Subjekt und Objekt den Gegenstand des Erkennens bilden. Es führt durch die Verknüpfung von Denken und Handeln, wie sie in der Persönlichkeit des Menschen vorliegt, zu den Problemen des sittlichen Lebens, während es keinen Zugang zu einer Erforschung des objektiven Naturgeschehens gewährt. Darum bildet die Rechts- und Sittenlehre den Kern der Philosophie FICHTEs.


15. Die Potenzen des Subjekt-Objekts und
die Objektivationen des Willens

Wird aber überhaupt etwas schlechthin und unbedingt Wirkendes in unableitbarer Existenz vorausgesetzt, so kann es natürlich, sobald sich das Bedürfnis regt, allgemeiner, als es von FICHTE geschah, gefaßt werden, so daß es auch das Naturgeschehen und nicht erst das im Menschen als Subjekt und Objekt sich entzweiende Streben beherrscht.

Eine solche Fassung sucht SCHELLING zu gewinnen, indem er das ursprüngliche Wirken weder als Subjekt noch als Objekt, sondern als "totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven" denkt. Dieses Ursprüngliche ist das Eine, Unaufhebbare, sich selbst Gleiche und sich in seiner Identität als Subjekt und Objekt unendlich Setzende. Es ist jedoch dies alles nur als Wirkende und in seinem Wirken sich Erkennendes, wobei es sich selbst erscheint. Die Erscheinungsformen sind die endlichen Dinge, die voneinander zwar verschieden sind, jedoch insgesamt, jedes in seiner Art, die Identität von Subjekt und Objekt zum Ausdruck bringen. Darum bieten sie die Faktoren des Subjektiven und Objektiven bloß in gradweiser Verschiedenheit, als "quantitative Differenzen" dar, die je nach dem Überwiegen der Subjektivität oder Objektivität durch ein Potenzieren des subjektiven oder des objektiven Faktors erreicht und darum als "Potenzen" bezeichnet werden. Diese Potenzen bilden in ihrer Gesamtheit das Wesen der Welt, das aus dem Wirken oder der "Kraft" des unendlichen Subjekt-Objekts hervorgeht und in einer unbegrenzten Stufenfolge die unlösbare Verwebung von Subjekt und Objekt oder von Erkennen und Sein zur Ausgestaltung bringt.
    "Die Kraft, die sich in der Masse der Natur ergießt, ist dem Wesen nach dieselbe mit der, welsche sich in der geistigen Welt darstellt, nur daß sie dort mit dem Übergewicht des Reellen, wie hier mit dem des Ideellen zu kämpfen hat; aber auch dieser Gegensatz, welcher nicht ein Gegensatz dem Wesen, sondern der bloßen Potenz nach ist, erscheint als Gegensatz nur dem, welcher sich außerhalb der Indifferenz befindet und die absolute Identität nicht selbst als das Ursprüngliche erblickt. Die Identität erscheint nur dem, welcher sich selbst von der Totalität des Universums abgesondert hat, und inwiefern er sich absondert, als ein Produziertes; dem, welcher nicht aus dem absoluten Schwerpunkt gewichen ist, ist sie das erste Sein und das Sein, das nie produziert worden ist, sondern ist, sowie nur überhaupt etwas it, dergestalt, daß auch das einzelne Sein nur innerhalb derselben möglich, außerhalb derselben, also wirklich und wahrhaftig, nicht bloß in Gedanken abgesondert, nichts ist." (Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, 1801)
Hiernach gelangt SCHELLING zu einer kraftvollen Auffassung von der Einheit und Zusammengehörigkeit der natürlichen und geistigen Welt. "Es ist ein alter Wahn" - so sagt er im Vorwort zu den Abhandlungen von der Weltseele -, "daß Organisation und Leben aus Naturprinzipien unerklärbar sind." Man stützt ihn durch die Behauptung, daß er erste Ursprung der organischen Natur physikalisch unerforschlich ist. Aber
    "es wäre wenigstens ein Schritt zu jener Erklärung getan, wenn man zeigen könnte, daß sich die Stufenfolge aller organischen Wesen durch eine allmähliche Entwicklung ein und derselben Organisation gebildet hat. Daß unsere Erfahrung keine Umgestaltung der Natur, keinen Übergang einer Form oder Art in die andere gelehrt hat (obgleich die Metamorphosen mancher Insekten und, wenn jede Knospe ein neues Individuum ist, auch die Metamorphosen der Pflanzen als analogische Erscheinungen wenigstens angeführt werden können), ist gegen jene Möglichkeit kein Beweis; denn, könnte ein Verteidiger derselben antworten, die Veränderungen, denen die organische Natur, so gut wie die anorganische, unterworfen ist, können (bis ein allgemeiner Stillstand der organischen Welt zustande kommt) in immer längeren Perioden geschehen, für welche unsere kleinen Perioden (die durch den Umlauf der Erde um die Sonne bestimmt sind) kein Maß abgeben, und die so groß sind, daß bis jetzt noch keine Erfahrung den Ablauf einer derselben erlebt hat."
Und indem er so den Entwicklungsgedanken für die organische Welt in voller Deutlichkeit ausspricht, ist er sich zugleich darüber klar, "daß ein und dasselbe Prinzip die organische und anorganische Natur verbindet."

Sobald jedoch SCHELLING zur Lösung des Problems schreitet, die Welt als Entwicklung des Geistes in der Natur zu begreifen und die Natur als sichtbaren Geist, den Geist als unsichtbare Natur aufzufassen, bleibt er bei einer bloß symbolischen Betrachtungsweise stehen. So wird ihm beispielsweise der Magnet mit seinen beiden, durch eine Indifferenzzone verbundenen Polen zum Symbol des ursprünglichen Hinaustretens der absoluten Indifferenz in die Gegensätze des Objektiven und Subjektiven, der expansiven und retardierenden [zurückziehenden - wp] oder der positiven und negativen Kraft; und da sich ihm diese Entzweiung zusammen mit ihrer Aufhebung im Gleichgewichtszustand ebenso wie die Magnetpole im Verein mit der Indifferenzzone in der Form der linearen Erstreckung anschaulich darstellt, so betrachtet er den Magnetismus als das, was die Länge in der Konstruktion der Materie bedingt, so daß er nicht mehr eine Einzelerscheinung, sondern eine allgemeine Funktion der Materie ist. In entsprechender Weise wird die Elektrizität zu dem die Fläche erzeugenden Moment und als solches gleichfalls zu einer allgemeinen Funktion der Materie, während der chemische Prozeß zur Durchdringung der Körper und so zur Raumerfüllung führt.
    "Sowie nämlich der Magnetismus, welcher bloß die Länge sucht, unmittelbar dadurch, daß er eine Flächenkraft wird, Elektrizität wird, so geht hinwiederum die Elektrizität unmittelbar dadurch, daß sie aus einer Flächenkraft ein durchdringende wird, in chemische Kraft über."
Darum werden im chemischen Prozeß "Spuren des magnetischen Moments" und "elektrische Erscheinungen" zu beachten sein, und man wird
    "endlich vielleicht selbst die Übergänge ein und derselben Kraft erst in eine Flächen- und schließlich in eine durchdringende Kraft unterscheiden können." (Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses)
Finden wir so bei Schelling das Bemühen, durch eine Natursymbolik zu einer einheitlichen, das Belebte und Unbelebte gemeinsam umschließenden Weltbetrachtung zu gelangen, so glaubt SCHOPENHAUER dieses Ziele durch eine verallgemeinerte Auffassung des im menschlichen Handeln wirksam werdenden Willens erreichen zu können.

Der Wille, das "jedem unmittelbar Bekannte", wird zunächst in den Aktionen des eigenen Leibes zum Anschauungsobjekt.
    "Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung, sondern sie sind ein und dasselbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben; einmal ganz unmittelbar und einmal in der Anschauung für den Verstand."
Darum ist der Leib Bedingung und Erkenntnis des Willens.

Wer aber das Wesen seiner eigenen leiblichen Erscheinung im Willen erkannt hat, dem wird diese Überzeugung
    "ganz von selbst der Schlüssel werden zur Erkenntnis des innersten Wesens der gesamten Natur, indem er sie nun auch auf alle jene Erscheinungen überträgt, die ihm nicht wie seine eigne in unmittelbarer Erkenntnis neben der mittelbaren, sondern bloß in letzterer, also bloß einseitig, als Vorstellung allein, gegeben sind. Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen ganz ähnlich sind, in Menschen und Tieren, wird er als ihr innerstes Wesen jenen nämlichen Willen anerkennen, sondern die fortgesetzte Reflexion wird ihn dabei leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetiert, ja, die Kraft, durch welche der Kristall anschießt, die welche den Magneten zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehen und Suchen, Trennen und Vereinen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht - diese alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem inneren Wesen nach aber als dasselbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar intim und besser als alles andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt." -
Wird demgemäß alle Kraft als Wille in Anspruch genommen, so ist klar, daß man den Willen auch da als wirksam anerkennen muß, "wo ihn keine Erkenntnis leitet". Dies sehen wir "zu allernächst am Instinkt und den Kunsttrieben der Tiere", deren blinde Willensbetätigung "zwar von Erkenntnis begleitet, aber nicht von ihr geleitet ist", und auch an den vitalen und vegetativen, durch Reize ausgelösten Funktionen unseres Leibes, wie Verdauung, Blutkreislauf und dgl. Aber selbst in den nach unveränderlichen Gesetzen wirkenden Kräften der Natur tritt der Wille als "das Sein ansich jedes Dings in der Welt und der alleinige Kern jeder Erscheinung" zutage. Wenn die Erscheinungen der unorganischen Natur von unserer eigenen Willensbetätigung gänzlich verschieden zu sein scheinen, so liegt dies vornehmlich am
    "Kontrast zwischen der völlig bestimmten Gesetzmäßigkeit in der einen und der scheinbar regellosen Willkür in der anderen Art der Erscheinung."
Es äußert sich indessen im Fallen eines Steines und in einer menschlichen Willenshandlung derselbe Wille. Der Unterschied besteht nur darin, daß wir dort alle in Betracht kommenden Umstände übersehen, während hier die Individualität des Menschen und vielerlei zur Geltung kommende Nebenumstände das Vorherbestimmen der Handlung aus dem Motiv allein unmöglich machen. Es gibt darum bloß verschiedene Stufen der Objektivation des Willens (die quantitativen Differenzen oder Potenzen SCHELLINGs). - Die niedrigsten Stufen stellen die Kräfte der unbelebten Natur dar. Dort erscheint er als "blinder Drang und erkenntnisloses Streben". Auch im Pflanzenreich, wo "Reize das Band seiner Erscheinungen sind", wirkt er "noch völlig erkenntnislos als finstere treibende Kraft" ebenso wie in den von bloßer Reizwirkung beherrschten Lebenserscheinungen der Tiere. Mit der Nahrungssuch wird aber "die Bewegung auf Motive und wegen dieser die Erkenntnis notwendig". Sie tritt "als ein auf dieser Stufe der Objektivation des Willens erforderlichers Hilfsmittel" hervor, das in der Erscheinungswelt "durch das Gehirn oder ein größeres Ganglion" repräsentiert wird. Mit diesem Hilfsmittel
    "steht nun mit einem Schlag die Welt als Vorstellung da, mit allen ihren Formen, Objekt und Subjekt, Zeit, Raum, Vielheit und Kausalität." "Der Wille, der bis hierher im Dunkeln, höchst sicher und unfehlbar, seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet, als ein Mittel, welches notwendig wurde zur Aufhebung des Nachteils, der aus dem Gedränge und der komplizierten Beschaffenheit seiner Erscheinungen eben den vollendetsten erwachsen würde."
Zunächst sind bloß "anschauliche Vorstellungen", keine "Begriffe" vorhanden. Aber da,
    "wo der Wille zum höchsten Grad seiner Objektivation gelangt ist", beim Menschen, tritt noch "die Vernunft als das Vermögen abstrakter Begriffe"
hinzu. - So ist also der Wille
    "das Erste und Ursprüngliche, die Erkenntnis bloß hinzugekommen, zur Erscheinung des Willens, als ein Werkzeug derselben, gehörig."
Dies hindert aber nicht, daß nun die Erkenntnis ihrerseits den Willen beeinflußt. Wird in der höchsten Stufe des Erkennens die Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen erkannt, findet der Mensch in allen Wesen sich selbst, so daß er auch "die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muß", so wird diese Erkenntnis "zum Quietiv [Beruhigungsmittel - wp] allen und jeden Wollens".
    "Der Mensch gelangt zum Zustand der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit." (Die Welt als Wille und Vorstellung.)
In diesen Entwicklungen SCHOPENHAUERs tritt uns keine gekünstelte Symbolik wie bei SCHELLING, auch keine kritische Erkenntnis, sondern lediglich eine systematisch durchgeführte naive Weltbetrachtung entgegen. Denn nur der naive Mensch kann den Willen als ein unmittelbar Bekanntes hinnehmen, indem er gleich dem primitiven Menschen sich selbst in ein Doppelwesen spaltet und den schattenhaften, gespestischen, nicht mit den Sinnen wahrnehmbaren Teil als das im Handeln hervortretende wollende Ich oder als den Willen schlechthin auffaßt. Der kritische Forscher hingegen findet den Ursprung des Glaubens an eine im Menschen wirkende Willenskraft in der Verwebung der körperliche, unmittelbar empfundenen Tätigkeit des Handelns mit der Vorstellung von den Zielen des Handelns, so daß ihm die Willenshandlung ein der Lösung bedürftiges Problem, aber nicht den Ausgangspunkt der Philosophie darbietet. Wenn ferner der im eigenen Innern vermeintlich erlebte Willen in allen Lebewesen und schließlich selbst in der unbelebten Natur wiedergefunden wird, so werden wir wiederum an den primitiven Menschen erinnert, der auch das eigene lebendige Sein allenthalben in der Natur wahrzunehmen glaubt und im Naturgeschehen das Wirken unsichtbarer, im Verborgenen lebender Wesen von menschlicher Art erblickt. Dazu kommt, daß sich der Wille im Verlauf seiner Objektivationen in unerklärlicher Weise das Licht anschaulichen Vorstellens und begrifflichen Denkens anzündet. Bei SCHELLING ist dieses Licht zumindest von vornherein, selbst in den Potenzen mit überwiegender Objektivität in einem dem Zurücktreten der Subjektivität entsprechenden geringen Grad vorhanden. Bei SCHOPENHAUER hingegen wird der Wille zur schöpferischen Macht, die mit einem Schlag das Reich geistiger Funktionen ins Leben ruft. Das tiefgründende Problem der Entstehung und Entwicklung des Bewußtseins, das FICHTE mittels der produktiven Einbildungskraft zu bewältigen sucht, wird so verständnislos beiseite geschoben. Demgemäß bleiben auch anschauliches Vorstellen und begriffliches Denken unvermittelt nebeneinander bestehen.


16. Der Prozeß des Erkennens

Die Willensobjektivationen SCHOPENHAUERs sind ebenso wie die Potenzen SCHELLINGs Betätigungen des Weltgrundes, zu dem man nicht in stufenweise fortschreitender Erkenntnis, sondern durch eine unmittelbare Erleuchtung gelangt. Eine solche Erleuchtung tritt aber in Wahrheit nicht unmittelbar ein. Sie kann bloß durch eine vielseitig bedingte geistige Entwicklung vermittelt werden. Und nur dann, wenn diese Bedingungen und Vermittlungen unbeachtet bleiben, entsteht der Schein einer geheimnisvollen Erhebung des Geistes zu einem hinter der Sinnenwelt verborgenen Urgrund, zu einem in sich ruhenden Absoluten, aus dem die Sinneswelt hervorquillt, um sich als wesenlose Nichtigkeit wieder darin aufzulösen.

Wer in dieser Weise das Dasein der Welt und des Menschen zu ergründen hofft, handelt naiv, wie der primitive Mensch, der das, was er sieht und hört, wie etwas von seinem Sehen und Hören Unabhängiges hinnimmt uns im Naturgeschehen, ohne es zu wissen, sein eigenes lebendiges Sein wiederfindet, das ihm nun wie eine fremde, ihn beherrschende Macht gegenübertritt.

Es bedeutet darum einen fundamentalen Fortschritt in der Entwicklung der kritischen Weltbetrachtung, wenn HEGEL im Gegensatz zu SCHELLING die Erkenntnis gewinnt, daß die Wahrheit begriffen und verständlich gemacht werden muß und nicht bloß gefühlt und geschaut werden darf. "Die wahre Gestalt der Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein." Wenn aber das Wahre - und nur dies ist das Absolute - erst begriffen werden muß, so kann es bloß im Prozeß des Erkennens hervortreten. Darum "ist vom Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist." Es ist überhaupt kein Ding, keine Substanz, sondern das Erkannte oder Begriffene, so daß es als Begriff bezeichnet werden kann. Das, was begriffen wird und somit von Anfang an als das Begreifliche dem Prozeß des Erkennens zugrunde liegt, ist aber nichts anderes als das Wirkliche. Faßt man es zugleich als den Grund der Wirklichkeit, so ist es das Wirkende, das in seinem Wirken sich Entwickelnde und sich Ausgestaltende. Indem es begriffen wird, erweist es sich als vernünftig, als wirkende Vernunft, die ihr eigenes Wirken erkennt und zuletzt nur sich selbst in ihrem Wirken findet. Darum kann HEGEL den Geist als das Absolute, das Geistige als das allein Wirkliche bezeichnen und sagen, daß alles darauf ankommt, "das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken". Es sind dann am Geist zwei Momente zu unterscheiden: er wirkt, und er wird sich seiner Wirkungen bewußt. Er wirkt so, wie er vernünftigerweise wirken muß, und er erscheint sich selbst in seinen Verwirklichungen. So schreitet er dann, indem er sich entwickelt, zugleich im subjektiven Erfassen seines objektiven Wirkens fort, bis er sich selbst findet und zur Selbsterkenntnis gelangt. Dann wird er das, was er als geistige Substanz ansich ist, zugleich für sich als Wissen von sich als Geist.
    "Der Geist, der sich so entwickelt als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Element erbaut." (Phänomenologie des Geistes, Vorrede)
Der Geist enthüllt daher in der Entwicklung, durch die er zu sich selbst kommt, sein Wesen. Diese, von HEGEL in der "Phänomenologie des Geistes" dargelegte Entwicklung führt von der "sinnlichen Gewißheit" - der scheinbar reichsten, aber in Wahrheit ärmsten, im bloßen Hinweis auf das einzelne, das "Dies", "Jetzt", "Hier" sich erschöpfenden Erkenntnis - zur Wahrnehmung der Dinge mit ihren Eigenschaften. Das Ding ist zunächst lediglich das Zusammen der Eigenschaften, d. h. einzelner, voneinander unterschiedener, gleichgültig nebeneinander stehender Bestimmungen. Es ist beispielsweise als Salz "einfaches Hier und zugleich vielfacht; es ist weiß und auch scharf; auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere, und so weiter". Zur Einheit wird das Ding erst im wahrnehmenden Subjekt durch den Ausschluß anderweitiger Eigenschaften, die anderen Dingen zugehören, von denen das vorliegende unterschieden wird. Wird aber das Ding tatsächlich als Einheit wahrgenommen, so werden seine Eigenschaften zu Bestimmungen des wahrnehmenden Subjekts. Das Salz ist "weiß, an unser Auge gebracht, scharf auch, an unser Zunge, auch kubisch, an unser Gefühl, usw." Jetzt ist das Objekt die Einheit und die Vielheit seiner Eigenschaften wird erst durch die verschiedenen Sinnesfunktionen des wahrnehmenden Subjekts bedingt, das somit
    "abwechslungsweise ebensowohl sich selbst als auch das Ding zu beidem macht, zum reinen, vielheitslosen Eins, wie zu einem in selbständige Materien aufgelösten Auch."
Darum existiert jedes Ding sowohl für sich als Einheit wie auch für die anderen Dinge als ihr Gegensatz, und die Eigenschaften begründen einerseits das Wesen des Dings, während sie andererseits bloß der Unterscheidung von den anderen Dingen dienen.
    "Dieser Verlauf, ein beständig abwechselndes Bestimmen des Wahren und Aufheben dieses Bestimmens, macht eigentlich das tägliche und beständige Leben und Treiben des wahrnehmenden und in der Wahrnehmung sich zu bewegen meinenden Bewußtseins aus."
Durch den hierin sich kundgebenden Widerstreit wird das Bewußtsein getrieben, vom bedingt allgemeinen Ding mit seinen Eigenschaften zum "Unbedingtallgemeinen" weiter zu schreiten, dessen Wesen "die Einheit des Fürsichsein und des Füreinanderseins" ist. Dies ist die Kraft, die ihrer Natur nach als sich äußernde und als "aus ihrer Äußerung in sich selbst zurückgedrängte" Kraft besteht. "Die in sich zurückgedrängte Kraft muß sich äußern", und "in der Äußerung ist sie ebenso in sich selbst seiende Kraft wie sie in diesem Insichselbstsein Äußerung ist". Es ist somit "die Kraft das Unbedingtallgemeine, welches, was es für ein anderes, ebenso ansich ist". Ihre Äußerung setzt aber stets eine Erregung durch eine andere Kraft voraus, so daß in der sollizitierten [erzwungenen - wp] und sollizitierenden [erzwingenden - wp] Kraft sich "das Spiel der Kräfte" entfaltet. In ihm bietet sich die Wirklichkeit dar, wie sie der Verstand erfaßt.
    "Das wahrhafte Wesen der Dinge hat sich jetzt so bestimmt, daß es nicht unmittelbar für das Bewußtsein ist", sondern "als Verstand durch diese Mitte des Spiels der Kräfte in den wahren Hintergrund der Dinge blickt."
So scheidet sich die im Bewußtsein hervortretende und im Spiel der Kräfte begründete Erscheinungswelt von dem für den Verstand erkennbaren Absolutallgemeinen, als dem "inneren Wahren", indem sich erst über der sinnlichen als der erscheinenden Welt nunmehr eine übersinnliche als die wahre Welt aufschließt: "über dem verschwindenden Diesseits das bleibende Jenseits." Aber dieses Übersinnliche ist keine vom Sinnlichen getrennte Wirklichkeit, sondern das, was die Erscheinung vermittelt; es ist das "Sinnliche und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist."

Es findet im Gesetz - "dem beständigen Bild der unsteten Erscheinung" - seinen Ausdruck.
    "Die übersinnliche Welt ist hiermit ein ruhiges Reich von Gesetzen, zwar jenseits der wahrgenommenen Welt, denn diese stellt das Gesetz nur durch eine beständige Veränderung dar, aber in ihr ebenso gegenwärtig, und ihr unmittelbares stilles Abbild."
Da aber die Gesetze nur im Denken Bestand haben, so findet sich das Bewußtsein in seinem eigenen Denken den wahren Inhalt der Erscheinungswelt.
    "Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhang, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahinter gehen, ebensosehr damit gesehen wird, daß etwas dahinter ist, das gesehen werden kann."
Durch diese Einsicht eröffnet sich für HEGEL der Zugang zur kritischen Weltbetrachtung. Denn indem das erkennende Subjekt sich selbst in den Dingen entdeckt, lernt es, die empfundene, wahrgenommene und von Gesetzen beherrschte Welt als ein durch sein Empfinden, Wahrnehmen und Denken bedingtes Produkt aufzufassen.

Es zeigt sich so, daß die ganze, von LEIBNIZ angeregte, durch KANT in die Bahn des transzendentalen Idealismus gelenkte Richtung der spekulativen Philosophie ebenso wie die von der Erfahrung ausgehende Erforschung der Bewußtseinserscheinungen einerseits und des objektiven Naturgeschehens andererseits in immer steigenden Maß zur Überwindung des naiven Verhaltens durch kritische Selbstbesinnung führt. Der Überfluß der Monaden, den LEIBNIZ im Gegensatz gegen die eine, allumfassende Substanz SPINOZAs voraussetzt, und den auch KANT im intelligiblen Reich der Dinge-ansich als den unerkennbaren, aber durch das sittliche Wollen und Handeln geforderten Hintergrund der Erscheinungswelt bestehen läßt, verschwindet. An seine Stelle tritt das unendliche Handeln oder Streben, das wie in einem zeitlosen Schöpfungsakt das Bewußtsein und das objektive Geschehen ins Leben ruft. Es ist dies bei FICHTE das absolute Ich, das in seinem Handeln sich selbst und zugleich die Objekte als Schranken seines Handelns setzt, und bei SCHELLING die absolute Indifferenz des Subjektiven und Objektiven, welche die ganze Stufenfolge der realen Ausgestaltungen des Weltprozesses von Anfang an in sich trägt. Und dieses uranfängliche Setze und Insichtragen beseitigt schließlich HEGEL, indem er das Absolute im dem Geist sucht, der sich in der Wirklichkeit ausgestaltet und in seinem Wirken sich selbst erkennt. Darum tritt das Bewußtsein zugleich mit dem objektiven Geschehen, wie die kritische Betrachtungsweise es verlangt, lediglich im Prozeß des Erkennens hervor. Es wird so offenbar, daß die Wahrnehmung auf
    "den leeren Abstraktionen der Einzelheit und der ihr entgegengesetzten Allgemeinheit, sowie des Wesens, das mit einem Unwesentlichen verknüpft, eines Unwesentlichen, das doch zugleich nötig ist", beruth, während der wahrnehmende Verstand sich nicht bewußt wird, "daß es solche einfache Wesenheiten sind, die in ihm walten, sondern meint, es immer mit ganz gediegenem Stoff und Inhalt zu tun zu haben."
Das erkennende Subjekt entdeckt aber im Sinne Hegels nicht nur den Prozeß des Erkennens, sondern vor allem sich selbst als den wirkenden und sich verwirklichenden Geist. Darum fängt für HEGEL die Entwicklung des Bewußtseins jetzt erst eigentlich an, nachdem "das einheimische Reich der Wahrheit" zugänglich geworden ist. Es wird demgemäß auch das Selbstbewußtsein in seinen verschiedenen Gestalten als Vernunft, als Geist, als Religion und schließlich als absolutes Wissen aufgezeigt. Auf dieser abschließenden Stufe wird das reine Denken unmittelbar zum Gegenstand des Denkens und die Wissenschaft zum wahren Wissen des Geistes von sich selbst, das in der Logik durch die Lehre vom Sein, vom Wesen und vom Begriff seine Begründung findet.

Diese weitergehende Entwicklung ist jedoch nur möglich, weil der Geist für HEGEL nicht bloß unterscheidendes und verknüpfendes Denken, sondern in erster Linie Wirken und Selbstverwirklichen ist. Und nur deshalb, weil kein blinder Drang, kein unvernünftiger Wille, sondern ein vernünftiger Geist zugrunde liegt, verknüpft sich mit dem Streben und der Verwirklichung des Geistes der Prozeß des Erkennens. Der hervorgehobene Fortschritt im kritischen Verhalten ist somit im Grunde genommen bloß ein nebenhergehender Erfolg, der dadurch herbeigeführt wird, daß zum Wesen des Geistes das Wirken zusammen mit dem Erkennen des Wirkens gehört.

Ein wirkender, in der Wirklichkeit sich entfaltender und dabei sich selbst in seinem Wirken erkennender Geist vermag sich aber einer kritischen Prüfung gegenüber nicht zu behaupten. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder er verändert sich durch sein Wirken, oder er wirkt, ohne selbst eine Veränderung zu erleiden. Im ersteren Fall würde er sich in das von ihm Gewirkte verwandeln: er würde zu einem veränderlichen Bestandteil der Wirklichkeit, der einen Gegenstand des Denkens bilden, aber nicht selbst das Denken sein könnte. Im letzteren Fall würde er zwar der Geist bleiben, der er ist; er müßte jedoch, eben weil er bei seinem Wirken unverändert bliebe, als schöpferisch tätig anerkannt werden. Dann könnte von einer Entfaltung in der Wirklichkeit nicht die Rede sein. Er wäre überhaupt unerkennbar und dürfte nur als ein alles Begreifen übersteigender Gegenstand des Glaubens in Frage kommen.

Die Verwebung des Prozesses des Erkennens mit der Entwicklung des objektiven Weltgeschehens, wie sie bei HEGEL vorliegt, ist demnach unzulässig. Ist der Geist das im Unterscheiden und Verknüpfen sich vollziehende Erkennen, so kann er nichts wirken: er erkennt die sich verändernde und sich entwickelnde Welt, ohne seinerseits ein veränderliches und sich entwickelndes Objekt zu sein. Soll er hingegen als wirksam gelten, so ist er entweder ein erkennbarer Bestandteil des objektiven Geschehens oder der unerkennbare, schöpferisch tätige Urgrund der Wirklichkeit; er hat aber weder im einen noch im andern Fall mit dem subjektiven Prozess des Erkennens etwas zu tun.

Wir haben jedoch nicht nur im Gegensatz gegen HEGEL den prinzipiellen Unterschied zwischen dem subjektiven Zustand des Bewußtseins, in dem das Denken und Erkennen sich vollzieht, und der objektiven Weltentwicklung, die den Gegenstand des Denkens und Erkennens bildet, festzuhalten. Wir müssen auch die von HEGEL angebenen Entwicklungsstufen des erkennenden Geistes oder des Erkennens schlechthin als unzutreffend bezeichnen. Es ist nämlich ein bloßes willkürliches Konstruieren, wenn man die ursprüngliche Auffassung auf der Stufe der sinnlichen Gewißheit in die Abstraktionen des "Dies", "Jetzt", "Hier" auflöst und das wahrnehmende Bewußtsein, das zur Kenntnis der Dinge und ihrer Eigenschaften gelangt, durch die hierbei sich geltend machenden Widersprüche zur Auffassung übersinnlicher Kräfte und weiterhin zum Selbstbewußtsein fortschreiten läßt. In Wahrheit beginnt die Entwicklung der Erkenntnis, die in der Phänomenologie des Geistes betrachtet werden soll, mit der naiven Weltbetrachtung, die dem Kind und dem primitiven Menschen eigentümlich ist, während das sinnliche Empfinden in seiner qualitativen, räumlichen und zeitlichen Vereinzelung niemals für sich allein auftritt, sondern ein nur dem kritischen Forscher bemerkbares Moment im Prozeß des Erkennens bildet, das auf keiner Stufe des Erkennens fehlt. Es geht ferner die ganze weitere Entwicklung keineswegs in einer unmittelbar von einem Glied zum andern nach einem vorbestimmten Gesetze fortlaufenden Reihe vor sich. Sie ist vielmehr ein vielfach bedingter und vielfach sich verzweigender, jedem abstrakten Schema sich entziehender, lebensvoller Verlauf.

Demgemäß ist HEGEL weit davon entfernt, das naive Verhalten völlig zu überwinden und die kritische Betrachtungsweise folgerichtig durchzuführen. Er stellt zwar unzweifelhaft ein wichtiges Glied in der Entwicklung der kritischen Weltauffassung dar, indem er weder ausgebildete Vermögen oder Kräfte des Geistes, noch eine schlechthin bestehende und in bestimmter Weise wirkende Substanz voraussetzt, sondern nur den sich entwickelnde und sich verwirklichenden Geist kennt. Er bleibt aber doch in einem Intellektualismus befangen, der naiverweise das Handeln des Menschen aus seinem Denken hervorgehen läßt und sich somit den erkennenden Geist zugleich als wirkenden Geist denkt.

Darum konnte diesem Intellektualismus in der Folgezeit ein ebenso naiver Voluntarismus entgegengesetzt werden, der den Weltgrund der Vernunft entkleidet und ein ursprüngliches vernunftloses Streben annimmt; sofern man nicht vorzog, von den auf Erfahrung beruhenden Einzelwissenschaften auszugehen und den Zusammenhang ihrer Forschungsergebnisse zu einem System positiver Erkenntnisse als einen Ersatz für die Philosophie zu betrachten.


17. Die Aufgabe der Philosophie

Wird aber das kritische Verhalten des denkenden Menschen als der Ursprung der Philosophie erkannt, so muß auch seine reine und strenge Durchführung gefordert werden.

Diese Forderung wird nicht erfüllt, wenn man sich für den Intellektualismus oder für den Voluntarismus entscheidet, oder wenn man sich von der Philosophie abkehrt und sich auf die Arbeit in den Sondergebieten der Einzelwissenschaften beschränkt, wo doch wieder dem auf den Grund gehenden Forscher, wie es nicht anders sein kann, die philosophischen Probleme auf Schritt und Tritt entgegentreten. Es ist vielmehr das Wesen des kritischen Verhaltens klarzulegen, damit die Aufgabe der Philosophie unzweideutig bestimmt und zugleich von der Aufgabe der Einzelwissenschaften abgegrenzt werden kann.

In dieser Absicht haben wir die naive und die kritische Weltbetrachtung einander gegenübergestellt.

Wir haben die Tatsache hervorgehoben, daß der Mensch nicht zu leben vermag, ohne zu denken und in seinem Denken die Welt und sein eigenes Dasein zu erfassen. Dabei verhält er sich notwendig zunächst naiv, da er nur allmählich darauf aufmerksam werden kann, daß die Dinge, die scheinbar unabhängig von ihm bestehen, ihre Bestimmtheit lediglich durch die von ihm vollzogenen Unterscheidungen und Verknüpfungen erhalten.

Der Schein des unabhängigen, für sich bestehenden Daseins, der für die naive Auffassung den voneinander unterschiedenen und miteinander verknüpften Dingen anhaftet, ergab sich uns als der eigentliche Grund der Mythenbildung, die im Seelenglauben und in der Belebung der Natur mit Wesen von menschlicher oder übermenschlicher Art zutage tritt. Um diese Einsicht zu gewinnen, genügte es, darauf hinzuweisen, daß im Menschen der Ablauf des objektiven Geschehens, das ihn mit seiner Umgebung verknüpft, unaufhebbar mit dem subjektiven Zustand des Bewußtseins, in dem jenes Geschehen erfaßt wird, zusammenbesteht, und daß der mit Bewußtsein begabte Mensch ein lebendes Wesen ist, bei dem die Einwirkungen, denen es unterliegt, und die Handlungen, die es vollführt, mit dem Aufleben und Nachwirken vergangener Einwirkungen und Handlungen verbunden sind. Dieses Aufleben und Nachwirken der Vergangenheit ist es, was im Bewußtsein die Erinnerung ermöglicht und anderenteils, wenn es der erforderlichen Selbständigkeit entbehrt und bloß im Verein mit dem sonstigen objektiven Geschehen erfaßt wird, zu einer modifizierten Auffassung jenes Geschehens führt. Es verwebt sich auf diese Weise insbesondere das, was man selbst bereits erstrebt und getan hat, mit den Vorgängen in der Natur, die so ihrerseits lebendig und mit lebenden Wesen erfüllt zu sein scheint.

Wir bedurften ferner keiner besonderen geistigen Vermögen oder Denkweisen, um das Erwachen zu kritischer Besonnenheit verständlich zu machen. Denn die Annahme, daß mit fortschreitender Entwicklung die Vergangenheit in der Gegenwart mit größerer Lebhaftigkeit und in einem weiteren Umfang auflebt und nachwirkt, war ausreichend, um den Menschen durch ein weiter und weiter sich ausbreitendes und dabei immer enger sich verschlingendes Netz von Unterscheidungen und Verknüpfungen in den Stand zu setzen, Widersprüche in der Auffassung der Welt und des eigenen Daseins zu bemerken und ihren Ursprung nicht in den wahrgenommenen und erkannten Dingen selbst, sondern im eigenen Wahrnehmen und Denken zu suchen.

Hiermit verknüpft sich ohne weiteres die Einsicht, daß man zur reinen und strengen Durchführung des kritischen Verhaltens gelangt, wenn man den Grund der Bestimmtheit allen Seins und Werdens in den Unterscheidungen und Verknüpfungen des erkennenden Subjekts sucht.

Es ist demnach die Aufgabe der Philosophie, vom Vollzug der Bestimmungen des Denkens auszugehen und anzugeben, wie sich darin die den Raum erfüllende, in der Zeit sich verändernde Welt und in ihr der mit Bewußtsein begabte Mensch darbietet, der in seinem Denken diese Welt und sein eigenes Dasein zunächst naiv und im Verlauf seiner Entwicklung mit zunehmender kritischer Besonnenheit erfaßt, um schließlich in den von ihm vollzogenen Bestimmungen das Sein und Werden der Welt, in der er lebt, und die er zusammen mit seiner eigenen objektiven Existenz in seinem Bewußtsein erfaßt, umschlossen zu finden. Will man sich nun noch über das Dasein der Welt wundern, so kann man es nicht aus einer übersinnlichen Welt oder aus Kräften, die ihr innewohnen, sondern bloß aus den Unterscheidungen und Verknüpfungen des Denkens ableiten; und fragt man nach dem Ursprung des eigenen Bewußtseins, so kann man es nicht in der Macht des Willens oder der Vernunft, sondern lediglich in den vergangenen und gegenwärtigen Erlebnissen begründet finden. Das Rätsel vom Dasein der Welt und des Menschen findet so allerdings nicht die Lösung, die der naive Mensch erwartet. Es löst sich aber für den kritischen Menschen in der Erkenntnis, daß die Welt und der Mensch mit all seiner naiven Verwunderung und seinen zweifelnden Fragen in den Bestimmungen des Denkens seinen letzten Grund hat.

Durch diese Bestimmung ihrer Aufgabe wird die Philosophie zugleich von den Gebieten der Einzelwissenschaften abgegrenzt, die gleichfalls das kritische Erkennen für sich in Anspruch zu nehmen berechtigt sind. Die Naturwissenschaften nehmen nämlich den im Raum sich erstreckenden und in der Zeit sich veränderndern, mit Eigenschaften und Zuständen begabten Körper als gegeben hin. Und die Geisteswissenschaften setzen überdies lebende Wesen voraus, die zum zielbewußten Handeln befähigt sind. Die Annahme solcher Träger von Eigenschaften und Zuständen und zielbewußten Handlungen beruth aber auf bereits vollzogenen Bestimmungen und schließt somit Erkenntnisse ein, auch wenn sie als Ausfluß vollendeter kritischer Besonnenheit bloß unmittelbar gegebene Erfahrungstatsachen zum Ausdruck bringt.

Dies hat auch für die Mathematik Geltung, die den mit seinen sämtlichen Merkmalen ausgerüsteten Begriff der Zahl und weiterhin auch die Begriffe des Raumes und der Zeit für ihre spezialwissenschaftliche Arbeit als gegeben betrachtet.

Demgemäß ist das, was den Einzelwissenschaften als Ausgangspunkt dient, stets noch einer weitergehenden Reduktion fähig, die so weit fortgesetzt werden kann, bis man zu den ursprünglichen Bestimmungen des Denkens gelangt, aus denen die Vielheit und die Einheit, die räumliche und die zeitliche Form, die Körper mit ihren Eigenschaften und Zuständen und die Lebewesen mit ihren zielbewußten Handlungen für unsere Auffassung erst hervorgehen. Durch dieses Zurückgehen erhalten die Einzelwissenschaften ihre philosophische Begründung. Damit tritt aber die Philosophie nicht etwa in den Dienst der Einzelwissenschaften. Sie hat vielmehr ihr selbständiges Gebiet im System der Erkenntnisse, die nicht aus voraussetzbaren Begriffen oder aus empirisch zulassigen Annahmen, sondern unmittelbar aus dem Vollzug der ursprünglichen Bestimmungen des Denkens hergeleitet werden können.

Daß die hier vertretene Auffassung der Philosophie sich mit ihren geschichtlich vorliegenden Ausgestaltungen verträgt, zeigt der Bericht über ihren Verlauf von THALES von MILET bis zu HEGEL. Er ist ein Versuch, diesen Verlauf als eine Entwicklung der kritischen Weltbetrachtung aufzufassen.

Wir ersehen daraus, daß die kritische Besonnenheit sich anfänglich nur in der Unterscheidung zwischen der bloßen sinnlichen Wahrnehmung der Dinge und ihrem Wesen geltend macht. Das Wesen der Dinge wurde aber als ein unabhängig bestehendes, absolutes Sein oder Werden materieller oder geistiger Art vorausgesetzt, das angeblich so, wie es an und für sich ist, erkannt werden kann. Wir fanden es im lebendigen Urstoff der ionischen Naturphilosophen und in der substanzielle existierenden Zahl der Pythagoreer, im reinen Sein der Eleaten und im Werden HERAKLITs, sowie in den den Bewegung im Raum fähigen Atomen DEMOKRITs, in den als transzendente Ideen und als immanente, zielstrebende Kräfte wirksamen Begriffen bei PLATO und ARISTOTELES und im realen Willen bei AUGUSTIN.

Erst in der modernen Zeit kommt aufgrund der induktiven, von den Tatsachen der Erfahrung ausgehenden Forschungsweise zunächst bei der Auffassung des Naturgeschehens die kritische Betrachtungsweise zum Durchbruch. Sie führt zur Unterscheidung zwischen dem subjektiven Zustand des Denkens oder des Bewußtseins und der im Raum ausgedehnten objektiven Welt und hiermit zur Aufgabe, das Zusammenbestehen des Bewußtseins und des objektiven Seins begreiflich zu machen. Da sie jedoch nur die unbelebte Natur in Wahrheit beherrscht, die sie als einen durch Größen und Größenbeziehungen bestimmbaren Bewegungsmechanismus aufzufassen lehrt, so muß das Bewußtsein, das auf diese Weise keine ausreichende Unterlage findet, sich verselbständigen. Es tritt bei DESCARTES als denkende Substanz der ausgedehnten Substanz, bei SPINOZA als Modus des Denkens dem Modus der Ausdehnung gegenüber, und es erlangt bei den von den Bewußtseinserscheinungen ausgehenden Philosophen in den Ideen oder Perzeptionen des Geistes eine selbständige Wirklichkeit. Ja es wurde bei LEIBNIZ und der ganzen von ihm angerechten Richtung der philosophischen Spekulation zum allein Wesenhaften und Wirklichen, das aus der Kraft seiner Vernunft oder seines Willens die Erscheinung der Körperwelt hervorbringt.

Es werden demgemäß in der neueren Philosophie die Bewußtseinszustände oder die Vermögen und Kräfte, auf denen sie angeblich beruhen, als für sich bestehend aufgefaßt. Hat man aber in der Einschränkung der kritischen Betrachtungsweise auf die unbelebte Natur den Grund für diese Verselbständigung des Bewußtseins erkannt, so wird damit zugleich die Aufgabe gestellt, in der konsequenten Durchführung des kritischen Verhaltens diese Beschränkung zu überwinden.
LITERATUR - Gottlob Friedrich Lipps, Mythenbildung und Erkenntnis, Leipzig und Berlin 1907