cr-2V. NorströmM. Nemovon HartmannW. TatarkiewiczA. Messer     
 
GOTTLOB FRIEDRICH LIPPS
Mythenbildung und Erkenntnis
[2/2]

"Man kann das Wesen der Dinge entweder als eine der Sinnenwelt unmittelbar zugrunde liegende, ihr immanente oder als eine sie übersteigende transzendente Wirklichkeit zu begreifen suchen. In dem einen wie in dem andern Fall überwindet man in der Tat das naive Verhalten des primitiven Menschen, der mit seinen Sinnen die wirkliche Welt wahrzunehmen glaubt. Man bleibt jedoch immer noch in dem naiven Glauben befangen, daß es eine für sich bestehende Wirklichkeit gibt, die entweder durch das Denken erschlossen oder in einer mystischen Erhebung über die Sinnenwelt unmittelbar geschaut werden kann."

"Die antike Philosophie hat eine kritische Weltbetrachtung angestrebt, indem sie in stufenweise fortschreitender Entwicklung gewisse Bestimmungen im Denken festzuhalten und als überall zugrunde liegend nachzuweisen sucht. Diese Bestimmungen werden in der vorsokratischen Philosophie zu irgendeiner Seite oder einem Teil des natürlichen Seins und Werdens, bei Plato und Aristoteles hingegen dem vernunftbegabten geistigen Leben des Menschen entnommen. Sie wurden aber nicht als Bestimmungen des Denkens erkannt, sondern als unabhängig vom Denken bestehende Realitäten materieller oder geistiger Art angesehen."


III. Kapitel
Die Entwicklung der
kritischen Weltbetrachtung

Wer von vornherein verschiedene geistige Vermögen oder Arten des Denkens unterscheiden zu dürfen glaubt, wird geneigt sein, das naive und kritische Verhalten aus der Verschiedenheit jener Vermögen oder Denkweisen abzuleiten. Er wird dann wohl annehmen, daß der naive Mensch bloß mit sinnlicher Anschauung und mythenbildender Phantasie begabt ist, während das prüfende, zergliedernde, abstrakte Begriffe prägende Denken erst im kritischen Menschen erwacht.

Es sind jedoch weder anschauliche noch begriffliche Gegenstände möglich, wenn sie nicht voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden. Man muß daher das Unterscheiden und das Beziehen als die elementaren, wechselweise sich bedingenden Funktionen des Denkens anerkennen und zugeben, daß sowohl die sogenannten Anschauungen als auch die sogenannten Begriffe auf jenen Grundfunktionen beruhen und nicht als vermeintlich einfache Geistesprodukte einem anschaulichen und begrifflichen Denken oder einem Anschauungs- und Denkvermögen ohne weiteres entspringen.

Darum ist die Annahme nicht zulässig, daß der naive Mensch überhaupt nicht denkt oder anders denkt als der kritische. Denn der eine gelangt ebenso wie der andere durch sein Denken zu Unterscheidungen und Beziehungen, wobei er nur - wie es nicht anders sein kann - auf den Umkreis des Lebens, das er führt, eingeschränkt ist. Dann ist aber auch andererseits die Entwicklung und Bereicherung der objektiven Existenz mit einer entsprechenden Vertiefung und Verzweigung des unterscheidenden und beziehenden Denkens verknüpft, ohne daß durch eine geistige Neugeburt besondere Vermögen oder Denkweisen ins Leben gerufen werden müßten.


1. Die Unterscheidung zwischen der
Wahrnehmung und dem Wesen der Dinge

In der Tat genügt es, als Zeichen fortschreitender Entwicklung ein umfangreicheres und stärkeres Aufleben der Vergangenheit in der Gegenwart anzunehmen. Dann werden nämlich auch die in den gegenwärtigen Eindrücken wieder auflebenden Zustände oder Vorgänge in einem weiteren Umfang und mit größerer Deutlichkeit erfaßt. Es wird unterschieden, was vordem unbemerkt ineinander verwoben blieb, und vielseitige Verknüpfungen treten anstelle der früheren Zersplitterung in gleichgültig nebeneinanderstehende Gegenstände. Die geistige Stumpfheit des primitiven Menschen verschwindet, und Widersprüche werden nicht mehr hingenommen, sondern als solche beachtet.

Widersprüche sind aber unvermeidlich, da die vergangenen Bewußtseinszustände bei den nämlichen äußeren Eindrücken in mannigfach sich verändernder Form auftreten und sich bald zu besonderen Erinnerungsbildern verselbständigen, sich bald mit dem wahrgenommenen Gegegenstand verweben. So wird etwa das eine Mal in einem schlangenförmigen Blitz die sich windende Schlange unmittelbar als die lebendige Blitzschlange wahrgenommen, ein andermal erinnert man sich jedoch beim Anblick des Blitzes ausdrücklich an die Schlange. Oder man sieht bloß den Blitz, ohne ihn zugleich als Schlange aufzufassen.

Daran scheitert das naive Verhalten. Denn das für sich bestehende, den Veränderungen und Bewegungen zugrunde liegende Wesen der Gegenstände, das der primitive Mensch unmittelbar zu erleben glaubt, kann nicht in Wahrnehmungen, die miteinander in Widerspruch stehen, hervortreten. Ist es aber nicht mit den Sinnen erfaßbar, so muß es einen anderen Ursprung haben.

Die hierdurch bedingte Scheidung zwischen der Wahrnehmung der Dinge und ihrem Wesen bildet den ersten Schritt, der über die naive Weltbetrachtung des primitiven Menschen hinausführt.

Man kann nun das Wesen der Dinge entweder als eine der Sinnenwelt unmittelbar zugrunde liegende, ihr immanente oder als eine sie übersteigende transzendente Wirklichkeit zu begreifen suchen. In dem einen wie in dem andern Fall überwindet man in der Tat das naive Verhalten des primitiven Menschen, der mit seinen Sinnen die wirkliche Welt wahrzunehmen glaubt. Man bleibt jedoch immer noch in dem naiven Glauben befangen, daß es eine für sich bestehende Wirklichkeit gibt, die entweder durch das Denken erschlossen oder in einer mystischen Erhebung über die Sinnenwelt unmittelbar geschaut werden kann.

Man gelangt darum erst dann zur reinen und strengen Durchführung des kritischen Verhaltens, wenn man sich darauf besinnt, daß der Grund für das Wesen der Dinge ebenso wie für die sinnliche Wahrnehmung derselben im eigenen Denken und Wahrnehmen liegt. Man findet so schließlich in sich selbst, was man zuvor vergeblich in einer, von der subjektiven Auffassung vermeintlich unabhängigen Wirklichkeit gesucht hat.


2. Der lebendige Urstoff und
die substanzielle Zahl

Diejenigen, welche zuerst für die ganze Erscheinungswelt eine letzte, im Denken erfaßbare Wurzel suchten, waren die ionischen Naturphilosophen. An ihre Spitze stand THALES von MILET. Er glaubte im Wasser den Stoff zu finden, der allem zugrunde liegt. Zu dieser Annahme mag er wohl, wie ARISTOTELES vermutet, durch die Beobachtung gekommen sein, daß die Nahrung aller Tiere und aller Same, aus dem Leben entsteht, feucht ist. Seinen Urstoff dachte er sich lebendig und fähig, die Dinge aus sich zu erzeugen. Und auch die Erzeugnisse des Urstoffs waren nach seiner Ansicht beseelt. - Anstelle des Wassers setzte ANAXIMANDER den unendlichen oder unbegrenzten körperlichen Stoff, der ewig, unvergänglich und lebendig ist und die Dinge aus sich ausscheidet. ANAXIMENES hingegen bezeichnet die Luft als den lebendigen Urgrund, aus dem durch Verdichtung und Verdünnung alles entstanden ist.

Hiernach ist es für die ionischen Naturphilosophen charakteristisch, daß ein lebendiger, zeugungskräftiger Urstoff als die Grundlage des Naturgeschehens angenommen wird, und daß dieser Urstoff als die Wurzel allen Lebens zu einer einheitlichen und systematisch durchgeführten Naturerklärung benutzt wird.

Die Frage nach dem Urgrund der Welt fand indessen von anderer Seite eine andere Beantwortung. Die Philosophen, die dem Bund der Pythagoreer angehörten, glaubten das Wesen der Dinge in den Zahlen zu finden, die sie insbesondere in der Harmonie der Töne und in den Raumformen entdeckt hatten. Beispielsweise haben sie die Linie durch die Zahl "zwei" bestimmt; in entsprechender Weise war "drei" die Zahl der Fläche, "vier" die Zahl des Körpers, offenbar nur deshalb, weil die Linie durch zwei Punkte, die einfachste Fläche, das Dreieck, durch drei Linien und der einfachste Raumkörper durch vier Flächen bestimmt wird. Die Pythagoreer waren aber in der kritischen Auffassung noch nicht so weit gekommen, um die uns geläufige Scheidung von Form und Stoff zu vollziehen. Es blieb ihnen darum die Zahl mit dem Gegenstand, der eine zahlenmäßige Bestimmung finden sollte, verschmolzen. So entstand die Lehre, daß die Elemente der Zahlen, nämlich das Gerade und das Ungerade, die Elemente der Dinge sind, und daß der ganze Himmel und die ganze Welt aus Zahlen besteht.

Der Urgrund der Welt ist somit für die Pythagoreer nicht wie für die ionischen Naturphilosophen ein lebendinger Urstoff, sondern die substanziell existierende Zahl.

Indem das Wesen der Dinge in ihrer erst im Denken hervortretenden Eigenschaft zahlenmäßigen Bestimmungen zugänglich zu sein, gesucht wird, kommt der Gegensatz zwischen der Wahrnehmung und dem Begreifen der Welt schon deutlicher zur Geltung als bei der Annahme eines lebendigen Urstoffs. Aber erst die Eleaten einerseits und HERAKLIT andererseits bringen ihn in vollendeter Weise zum Ausdruck.


3. Das objektive Sein und das objektive Werden.
Die Materialisierung des Geistigen.

Die Lehre der Eleaten, die namentlich durch PARMENIDES ausgebildet wurde, gipfelt in der Erkenntnis, daß jeder Unterschied, der an einem räumlichen Nebeneinander oder an einem zeitlichen Nacheinander durch die Sinne wahrgenommen wird, ein wesenloser Schein ist, dem keine wahre Existenz zukommt. Darum existiert nur das Seiende wirklich. Es ist ohne Anfang und ohne Ende und ohne Veränderung, eine unteilbare und unbewegliche Einheit, die nicht geworden ist und nicht vergeht, einer in sich ruhenden Kugel vergleichbar.

HERAKLIT hingegen, der sich in einen nicht weniger schroffen Gegensatz zur gewöhnlichen Auffassungsweise stellt, wendet seine Aufmerksamkeit vor allem dem Werden, dem Entstehen und Vergehen zu. Er sieht nirgends beharrendes Sein. Alles ist in unablässiger Veränderung begriffen, wie in einem Strom, wo Welle auf Welle folgt. So findet er das Wesen der Welt in einem rastlosen, ohne Anfang und ohne Ende sich betätigenden Leben selbst, dessen Träger das lebendige Feuer ist.
    "Diese Weltordnung", so sagt er, "dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen verlöschend." (Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Heraklit, Fragment 30)
Um die Bedeutung der einen oder der anderen Lehre zu würdigen, ist zu beachten, daß der Urgrund der Welt dem Denken als letzter, nicht weiter reduzierbarer Ausgangspunkt dienen soll. Er darf somit nicht schon von vornherein mit Bestimmungen, die alle im Denken ihre Quelle haben, behaftet sein. Denn wären solche vorhanden, so würde nur zugestanden, daß der letzte, nicht weiter reduzierbare Ausgangspunkt noch nicht gefunden ist.

Die Stärke der Eleaten und HERAKLITs liegt nun darin, daß sie bis zum reinen Sein und Werden vordringen, um es als den schlechthin gegebenen Urgrund alles differenzierten Seins und Werdens vorauszusetzen. Und der Ausgangspunkt für die philosophische Weltbetrachtung wäre in der Tat hier schon gefunden, wenn nicht das Sein und das Werden in einer gegensätzlichen Beziehung zueinander ständen und somit doch noch mit einer Bestimmung des Denkens behaftet wären, was sich darin zeigt, daß beim Sein der Eleaten alles Werden und beim Werden HERAKLITs alles Sein ausgeschlossen bleiben soll. Darum gibt es nicht, wie man vielleicht meinen könnte, zwei verschiedene Ausgangspunkte für zwei einander ausschließende Bestimmungsweisen des Wesens der Welt. Wir gelangen vielmehr zu der fundamentalen Erkenntnis, daß das Gegebene, von dem das Denken bei der Bestimmung des Wesens der Dinge ausgehen muß, weder im reinen Sein der Eleaten noch im reinen Werden HERAKLITs, sondern nur in dem schlechthin Unbestimmten, der Bestimmung bloß Fähigen, das nicht einmal als Sein oder als Werden zu bezeichnen ist, gefunden werden kann.

Es darf demnach in Wahrheit überhaupt nichts, was in bestimmter Weise gegeben ist, vorausgesetzt werden, und bloß die Bestimmungen des Denkens können als Ausgangspunkt dienen.

Diese Einsicht ist indessen erst dann möglich, wenn die Quelle aller Bestimmungen im Denken gesucht wird. Ist diese Stufe der kritischen Weltbetrachtung noch nicht erreichte, so muß das Sein und das Werden als unabhängig von der subjektiven Auffassung des Menschen in objektiver Existenz vorausgesetzt werden. Dies hat zur Folge, daß man inkonsequenterweise in den Ausgangspunkt schon all das hineinlegen muß, was erst aufgrund desselben seine Erklärung finden soll. Und mit Rücksicht hierauf erweist sich das reine Sein und ebenso das reine Werden als unzulänglich. Es bietet keine Handhabe, um die tatsächlich bestehende Welt mit ihrem Sein und Werden abzuleiten.

Demgemäß konnte PARMENIDES nur vom Standpunkt der gewöhnlichen Vorstellung aus eine Erklärung des Weltgeschehens versuchen, indem er neben der Ansicht, die nur das Seiende anerkennt, die gemeine Ansicht, die am Nichtseienden festhält, zuließ. Und auch HERAKLITs ewig lebendiges Feuer ist kein bloßes Werden mehr, sondern zugleich ein beharrendes Sein, wenn es in seinen Umwandlungen die wechselnden Dinge erzeugt, die im Streit der Gegensätze bestehen und vom Gesetz des Werdens beherrscht werden, wobei der Logos als die in der Welt herrschende Vernunft hervortritt.

Darum gelangen erst diejenigen Philosophen, die das allem Geschehen zugrunde liegende Sein mit der Möglichkeit sich zu verändern ausstatten, zu einer befriedigenden Weltbetrachtung. Eine solche bietet in relativ vollendeter Form DEMOKRIT. Er nimmt das ursprüngliche Sein in der Form von unveränderlichen Atomen an, die an Zahl unendlich und in ihrer räumlichen Gestalt verschieden sind. Dieses Sein ist insofern unveränderlich, als die Gesamt der Atome sich weder vermehrt noch vermindert. Es ist aber der Veränderung fähig, da die Atome im Raum existieren und sich darum bewegen können. Sie fallen nach der Annahme DEMOKRITs, im Raum, und zwar mit verschiedener Geschwindigkeit, so daß sie aufeinanderprallen und seitlich abweichen. Die hieraus entstehenden Wirbel sind der Anfang der Weltbildung.

Es bilden sich nun unzählige Welten, die nebeneinander und nacheinander entstehen und vergehen. In einer solchen Welt rührt alle Verschiedenheit von der Verschiedenheit der Atome an Zahl, Größe und Gestalt her. Es gibt darum bloß Druck und Stoß, aber keine inneren Zustände. Auch die Seele wird von Atomen gebildet. Sie besteht aus den feinen, glatten und runden Atomen, auf deren Bewegungen die Lebenserscheinungen beruhen sollen.

Man erkennt ohne weiteres, daß dieses Weltbild des DEMOKRIT mit mancher unbegründeten Willkürlichkeit behaftet ist. Der Fall der Atome ist vor allem unzureichend motiviert. Und die Atome selbst dürften ebensowohl zusammendrückbar und dehnbar statt unveränderlich vorausgesetzt werden. Auch hätte man anstelle der Atome, die durch den leeren Raum getrennt sind, eine den Raum stetig erfüllende Materie von starrer oder elastischer Beschaffenheit annehmen dürfen, die einer Bewegung in geschlossenen Wirbeln oder periodisch wiederkehrender Verdichtungen und Verdünnungen fähig gewesen wäre.

Bei der Unmöglichkeit, einen Zusammenhang mit der gegebenen Erfahrungswelt im einzelnen herzustellen, erscheint es jedoch unwesentlich, ob DEMOKRIT das ursprüngliche Sein in der einen oder in der anderen Form voraussetzt, und ob die Bewegung der Atome aus irgendwelchen Ursachen erst entsteht oder von Anfang an vorhanden ist. Die unbestimmten Vorstellungen, mit denen man sich beim Mangel jeder exakten Durchführbarkeit begnügen muß, können immerhin zu einem scheinbar befriedigenden Zusammenhang führen.

Das Unzulängliche zeigt sich vielmehr darin, daß aus dem objektiven Sein und Werden der Materie in keiner Weise die subjektiven Zustände, die der Mensch in seinem Bewußtsein erlebt, hervorgehen können. Es wird ihnen darum in naiver Unbefangenheit eine materielle Existenz zugeschrieben. So bezeichnet dann auch DEMOKRIT das Denken als eine Bewegung, indem er - nach dem Zeugnis des ARISTOTELES (de anima I, 2) - die von leicht beweglichen Atomen gebildete Seele der im Denken sich betätigenden Vernunft gleichsetzt.

In entsprechender Weise ist bei allen Philosophen, die bloß das objektive Sein und Werden der Materie beachten, auch das subjektiv Geistige etwas objektiv Materielles, mag es nun als ein feiner beweglicher Stoff oder eine harmonische Mischung von Stoffen wie bei den Naturphilosophen jener Zeit oder wie bei Naturforschern unserer Tage als eine Absonderung der Materie nach Art der Drüsensekretion oder als eine besondere Form der im Weltgeschehen sich wandelnden Energie angesehen werden. Im antiken wie im modernen Gewand ist eine solche Materialisierung des Geistigen mit einer wahrhaft kritischen Weltbetrachtung nicht vereinbar.


4. Die Entdeckung des Begriffs

Sollen aber die subjektiven geistigen Zustände als das, was sie sind, zur Geltung kommen, so muß der Mensch sich selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen, da er nur durch die Beschäftigung mit sich selbst auf die Tatsache des Denkens und auf den Prozeß des Erkennens aufmerksam werden kann. Die Weiterentwicklung des kritischen Verhaltens über die in DEMOKRIT erreichte Stufe vollzieht sich darum innerhalb einer neuen, dem Menschen zugewandten, der Natur zunächst abgewandten Richtung der Philosophie.

Man darf jedoch nicht erwarten, daß nun sofort die unbedingte, besondere geistige Kräfte und Vermögen ausschließende Zusammengehörigkeit des Bewußtseins und des objektiven Seins erkannt wird. Wird sie doch selbst in unseren Tagen noch nicht mit widerspruchsfreier Klarheit erfaßt. Es behält vielmehr die zunächst liegende, volkstümliche Auffassungsweise, die auch heute noch ihre Vertreter findet, die unbestrittene Herrschaft. Ihr zufolge wird der Mensch durch sein Denken zu seinem Handeln bestimmt, so daß sich der Geist oder die Vernunft als eine zu zweckmäßigem Wirken befähigte Macht darbietet.

Demgemäß finden wir bereits in ANAXAGORAS einen Hinweis auf die neue Zeit, wenn er dem chaotischen Zustand, in dem alle Stoffe gemischt sind, den Geist als eine mit Wissen ausgerüstete, weltbildende Macht gegenüberstellt. Er hat allerdings diese geistige Kraft nur als Ursache der Bewegung eingeführt und nicht ihr Wissen, durch das alles zu vorbestimmten Zielen hingeführt werden soll, zur Erklärung der Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens benutzt. Er zeigt sich somit noch völlig von der physikalischen Betrachtungsweise beherrscht.

Als Vorläufer der neuen Zeit sind hingegen die Sophisten anzusehen. Sie betrachten anstelle der Natur den die Natur wahrnehmenden Menschen. Dabei verschwindet ihnen das Wesen der Dinge, das man als ein hinter dem Sinnenschein verborgenes Sein und Werden vorausgesetzt hatte, und es bleibt nur die sinnliche Wahrnehmung in ihrer subjektiven Bedingtheit bestehen. Darum gibt es für sie kein wirkliches Erkennen, sondern bloß ein aus der trüben Quelle trügerischer Sinneswahrnehmung geschöpftes Meinen. Dies hat zugleich, da im Wissen des Menschen der Grund für seine Tätigkeit gesucht wird, den Mangel unbedingt verbindlicher Normen des Handelns zur Folge. Es hängt folglich von der subjektiven Ansicht des Menschen ab, was im einzelnen Fall als gut oder böse zu gelten hat. In diesem Sinn bezeichnet PROTAGORAS den Menschen als das Maß aller Dinge, und GORGIAS geht noch weiter und leugnet sowohl das Sein, wie auch die Erkennbarkeit des Seins und die Mitteilbarkeit der Erkenntnis.

Indem sich SOKRATES gegen diese Auflösung von Recht und Gesetz wendet und die Wurzel und das Wesen des sittlichen Handelns erforscht, wird er zum Bahnbrecher der neuen Richtung in der Philosophie. Er will zwar nur sich selbst und andere prüfen, um wahre und vermeintliche Erkenntnis zu sondern und im richtigen Wissen die Quelle für richtiges Handeln zu finden. Dabei entdeckt er aber den Prozeß des Erkennens, der von der Wahrnehmung des einzelnen durch das Vergleichen ähnlicher Fälle und das Festhalten des Gemeinsamen zum Begreifen führt und in den Begriffen das allgemein Gültige finden läßt.

Diese Begriffe sind in Wahrheit Erkenntnisse, die auf den Formen des beziehenden Denkens beruhen und im Verein mit den Vorstellungen von der sinnlichen Welt unseren Besitz an Wissen ausmachen. Wenn man jedoch daran glaubt, daß aus dem Wissen das Handeln hervorgeht, und daß es demnach z. B. nur nötig ist, das Wesen des Guten zu begreifen, um gut zu handeln und so den Begriff des Guten in die Tat umzusetzen, dann müssen die Begriffe eine Wirklichkeit besitzen, die zwar nicht sinnenfällig materiell, aber darum nicht weniger wesenhaft ist.


5. Der Begriff als transzendente oder
immanente zielstrebende Kraft

So haben also PLATO und ARISTOTELES als die Hauptträger der an SOKRATES sich anschließenden Entwicklung der Philosophie die beiden möglichen Auffassungsweisen ausgebildet, die mit dem Glauben an die Wirksamkeit der Begriffe verträglich sind.

Da der Inhalt des Begriffs nicht sinnlich wahrnehmbar ist, so konnte PLATO den Begriff von seiner Erscheinung loslösen und ihn als das für sich existierende Urbild oder als die Idee der begrifflich zusammengefaßten Gegenstände ansehen. Er kam so dazu, in den Ideen eine unsichtbare, unkörperliche Welt der schon vorhandenen sichtbaren Welt zur Seite zu stellen.

Diese von PLATO entdeckte immaterielle Welt der Ideen war die Welt des Seins. Denn die Ideen sind das allein wahrhaft Seiende. Das Entstehen und Vergehen der räumlich wahrnehmbaren materiellen Welt sollte nur aus dieser Welt des Seins abgeleitet und erklärt werden. Einer befriedigenden Lösung dieser Aufgabe stand jedoch im Weg, daß nur den Ideen ein wahres Sein zukommt. Darum durfte die Materie nicht als substanziell existierend angenommen werden. Sie konnte nur ein Nichtseiendes sein; nichts als leerer Raum, mit dem die Ideen sich mischen und so die sichtbare Welt erzeugen.

So sind die Ideen, die als zielsetzende Kräfte das Werden erklären sollten, zu einem unveränderlichen Sein geworden, das nur als schöpferische Kraft das im Raum Sichtbare hervorbringen kann und somit die Fähigkeit, zu einer wirklichen Erklärung des Naturgeschehens zu dienen, eingebüßt hat. Hiermit verbindet sich bei PLATO die Ansicht, daß auch die vernünftige Seele des Menschen ein vom Leib trennbares, rein geistiges Sonderdasein hat. Sie kann sich im Wahnsinn, der keine menschliche Krankheit ist, sondern durch ein göttliches Hinausversetzen aus dem gewohnten Zustand entsteht (Phädrus, 265 A), zu einer höheren Welt erheben und tritt durch die Erkenntnis des Guten unmittelbar in Gemeinschaft mit Gott.

ARISTOTELES hingegen faßt die Ideen nicht als Urbilder auf, die ein in sich abgeschlossenes, auf sich beruhendes Dasein führen. Er sucht sie der Erklärung des Naturgeschehens tatsächlich dienstbar zu machen.

Darum stellt er die Erforschung des Werdens in den Vordergrund. Er findet, daß bei jedem Werden, bei jeder Veränderung und Entwicklung, ein Substrat vorhanden sein muß, aus dem etwas wird. Dies ist die Materie. In der Materie wirkt nun die Idee als eine treibende, bestimmten Zielen zustrebende Kraft, die der Materie die bestimmte Form gibt.

Jedes Ding besteht somit aus Materie und Form. Aber die Form ist eine wirkende Kraft, die nicht entsteht und vergeht, sondern der Materie innewohnt, und zwar dann schon innewohnt, wenn ihre Wirkung noch nicht in Erscheinung getreten ist.

Soll die wirkende Kraft offenbar werden, so bedarf es erst noch eines Anstoßes von außen, der äußeren Ursache. Hat die äußere Ursache gewirkt und der Triebkraft oder der Idee die Möglichkeit sich auszugestalten gegeben, so erweist sich die innere Kraft als zweckmäßig wirkend und nach einem Ziel strebend. Fehlt die äußere Ursache, so ist doch der innere Formtrieb da. Er wartet nur auf den äußeren Anstoß, der die vorhandene Anlage zur Entwicklung kommen läßt. Das Ding, das durch diese Entwicklung entstehen wird, ist darum auch ohne die äußere Ursache schon vorhanden: es existiert der Möglichkeit nach oder potentiell.

ARISTOTELES kommt so zu der fundamentalen Unterscheidung der Möglichkeit und der Wirklichkeit, des Potentiellen und Aktuellen. Er gelangt hierdurch zu einer widerspruchsfreien Auffassung des Werdens. Denn er läßt einerseits in der Materie das Sein bestehen, das dem Prozeß des Werdens zugrunde liegt; während er andererseits die Bedingung dafür, daß ein Prozeß des Werdens möglich ist, in der dem Stoff innewohnenden, zielstrebenden und formbildenden Kraft erkennt. Aufgrund dieser Kraft ist das, was durch den Prozeß des Werdens zur Verwirklichung kommen soll, potentiell schon vorhanden.

Eine solche zielstrebende Kraft ist vor allem die Seele des Menschen. Sie gibt dem mit Organen begabten, potentiell lebendigen Körper das aktuelle Leben. Darum wird sie von ARISTOTELES als Entelechie [sich im Stoff verwirklichende Form - wp] des zum Leben befähigten Körpers bezeichnet. Sie ist vorhanden, auch wenn sie sich nicht in einer bestimmten Weise betätigt, wie ein Mensch Künstler ist, auch wenn er die Kunstfertigkeit, die er erworben hat, nicht ausübt.

Eine Seele im Sinne des ARISTOTELES hat aber nicht bloß der denkende Mensch und das mit sinnlicher Wahrnehmung begabte Tier, sondern auch die Pflanze, deren bewußtloses Leben bloß in der Ernährung und Fortpflanzung besteht. Demnach ist die Seele nicht an die Bewußtseinserscheinungen gebunden, und es wird so begreiflich, daß selbst das Unbelebte wie ein Belebtes aufgefaßt und jegliche Bewegung und Veränderung als eine Art Leben angesehen wird.

So sind selbst die Elemente, das absolut leichte Feuer und die absolut schwere Erde, die relativ leichte Luft und das relativ schwere Wasser, mit einem Streben behaftet, das befriedigt ist, wenn jedes Element seinen Ort, der ihm aufgrund seiner Leichtigkeit oder Schwere zukommt, erreicht hat.

Demgemäß findet ARISTOTELES in dem Menschen, der sich in seinem Denken Ziele für sein Handeln setzt und durch sein Denken zu vorbestimmten Zielen hingeführt zu werden glaubt, das Vorbild für das potentielle Sein, das er seiner teleologischen Weltbetrachtung zugrunde legt. Er sieht selbst in der unbelebten Natur das Wirken zielstrebender Kräfte, und er betrachtet das Werden, wie wenn in ihm ein durch vernünftige Überlegung geleitetes Handeln zutage treten würde.

Indem er aber das im Menschen zutage tretende, vernunftbegabte, zum Handeln befähigte Sein als gegeben hinnimmt, gelangt er so wenig wie seine Vorgänger zu einer vollkommen kritischen Weltbetrachtung.

Man darf nämlich nicht unbeachtet lassen, daß bei jedem Versuch, das Weltgeschehen zu erklären, ein potentielles Sein vorausgesetzt wird. Es bietet sich im lebendigen Urstoff der ionischen Naturphilosophen ebenso dar, wie in der Eins der Pythagoreer, aus der die geraden und ungeraden Zahlen als die wesentlichen Bestimmungen der Dinge hervorgehen. Es ist nicht weniger in dem der Wandlung fähigen Feuer HERAKLITs wie in den im Raum beweglichen Atomen DEMOKRITs vorhanden. Und PLATO besitzt es in den mit schöpferischer Kraft begabten Ideen, die im leeren Raum ihre Abbilder erzeugen.


Alle diese verschiedenen Auffassungsweisen muß die kritische Betrachtung in sich aufnehmen und überwinden, da sie ja nur ein bestimmungslos Gegebenes des Denkens zu versehen, daß aus ihnen das Weltgeschehen hervorgehen kann. ARISTOTELES stellt sich aber durch seine Teleologie in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu dem aus Stoß und Druck resultierenden Mechanismus DEMOKRITs ebenso wie zu dem in qualitativen Änderungen hervortretenden Gesetz des Werdens bei HERAKLIT. Er vermag ferner selbst PLATO nicht zu überwinden. Denn wenn einmal an schlechthin bestehende Kräfte geglaubt werden muß, aus denen die der Natur eingepflanzte Zwecktätigkeit hervorgeht, so kann man auch im Sinne PLATOs übernatürliche, schöpferische Kräfte annehmen, die eben dieselben Zwecke erstreben und verwirklichen.

So konnte dann PLATO zusammen mit ARISTOTELES und neben ihnen auch die Vorsokratiker in der Folgezeit innerhalb der verschiedenen Richtungen, in die sich die antike Philosophie nach ARISTOTELES verzweigt hat, Einfluß gewinnen. Und es war insbesondere die Möglichkeit gegeben, daß die christliche Philosophie, für die sich der Glaube an eine übersinnliche Welt und einen Weltschöpfer Lebensbedingung war, zunächst an PLATO und die Neuplatoniker anlehnen konnte, um später, nachdem die Macht der christlichen Kirche eine ausreichende Stütze für den Bestand der Glaubenslehren geworden war, in ARISTOTELES den praecursor Christi in naturalibus [Vorläufer in natürlichen Angelegenheiten - wp] und die Regel der Wahrheit zu finden.

Hiernach hat die antike Philosophie eine kritische Weltbetrachtung angestrebt, indem sie in stufenweise fortschreitender Entwicklung gewisse Bestimmungen im Denken festzuhalten und als überall zugrunde liegend nachzuweisen sucht. Diese Bestimmungen werden in der vorsokratischen Philosophie zu irgendeiner Seite oder einem Teil des natürlichen Seins und Werdens, bei PLATO und ARISTOTELES hingegen dem vernunftbegabten geistigen Leben des Menschen entnommen. Sie wurden aber nicht als Bestimmungen des Denkens erkannt, sondern als unabhängig vom Denken bestehende Realitäten materieller oder geistiger Art angesehen.


6. Der Wille als Grundkraft

Auf der von PLATO und ARISTOTELES erreichten Stufe des kritischen Verhaltens blieb im Wesentlichen auch die christlich-mittelalterliche Philosophie stehen. Ansicht, daß die Quelle für das Tun und Lassen des Menschen in seinem Denken liegt, stand allerdings mit der christlichen Auffassungsweise, die das Wesen des Menschen in seinem guten oder bösen Willen sucht, im Widerspruch. Man brauchte aber nur die Vernunftkraft durch die Willenskraft zu ersetzen, um in ihr einen ganz entsprechenden Ausgangspunkt für die Weltbetrachtung zu erhalten.

Demgemäß hält es AUGUSTIN nicht für ausreichend zu wissen, was gut ist, um selbst gut zu sein; er verlangt vielmehr, daß man das Gute will und erstrebt. Und er ist geneigt, nicht nur das Wesen des Menschen, sondern das Wesen der Dinge überhaupt in einem solchen Wollen und Streben zu suchen. Dies führt ihn aber in gleicher Weise wie ARISTOTELES dazu, den Menschen als Vorbild bei der Betrachtung des Weltgeschehens zugrunde zu legen. So schreibt er auch dem Stein, der Welle, dem Wind und der Flamme, obwohl kein Empfinden und Leben vorhanden ist, ein Streben zu, so daß ein Körper ebenso wie der mit Willen begabte Mensch zu dem ihm bestimmten Ort hingetrieben wird.

Ist aber der Wille die Grundkraft im Menschen, so ist es nicht mehr unerläßlich, das Begriffene oder den Begriff für eine kraftbegabte Realität zu halten. Darum konnte dem Realismus, der mit PLATO oder ARISTOTELES die Begriffe als Wesenheiten ansah, die vor den Einzelndingen oder in den Einzeldingen existieren, der aufgeklärte Nominalismus gegenübertreten, der in den durch Namen bezeichneten Begriffen bloß subjektive Zusammenfassungen ähnlicher Einzeldinge zu Arten oder Gattungen sah.


7. Die Unterscheidung zwischen
objektivem Sein und Bewußtsein.

Im mittelalterlichen Nominalismus kündigt sich bereits die moderne Zeit an, die durch eine tiefergehende und schärfer bestimmte Auffassung des objektiven Geschehens und des geistigen Lebens die vollständige Durchführung des kritischen Verhaltens anbahnt.

Die Richtung, in der sich die Betrachtung der unbelebten Natur vervollkommnen konnte, läßt sich ohne weiteres überblicken.

Durch unbestimmte Behauptungen über den Kreislauf des Werdens, wie bei HERAKLIT oder über das Entstehen und Vergehen von Welten durch den Fall der Atome, wie bei DEMOKRIT, werden die Einzelheiten des Naturgeschehens dem Verständnis nicht näher gebracht. Das Naturgeschehen muß tatsächlich bestimmt werden. Es kann aber weder aus nichts hervorgehen, noch in einem Wissen oder Wollen, aus dem die Handlungen belebter Wesen zu entspringen scheinen, seine Quelle haben. Darum bleibt bloß die Möglichkeit, daß es sich wechselweise bedingt und bestimmt. Es erweist sich aber als quantitativ bestimmbar, so daß es in der wechselweisen Abhängigkeit gesetzmäßig sich ändernder Größen hervortritt. Darum stellen sich die Naturgesetze als mathematische Funktionen zwischen Größen dar, deren Bestimmung eine auf Maß und Zahl beruhende Beobachtung des Naturgeschehens verlangt.

Diese Erkenntnis bringt schon GALILEI in vollkommen klarer Weise zum Ausdruck.

Er verwirft die Ansicht, daß die Philosophie in Büchern steht und auf den Einfällen der Menschen beruth, wie die Jlias und das Rasende Roland, Bücher, bei denen es am allerwenigsten darauf ankommt, ob das, was in ihnen geschrieben steht, auch wahr ist.
    "Die größte Philosophie", so fährt er fort, "ist in jenem großen Buch geschrieben, das beständig offen vor unseren Augen liegt, ich meine die Welt; man kann es aber nicht verstehen, wenn man nicht zuvor gelernt hat, die Sprache zu verstehen und die Zeichen zu erkennen, in denen es geschrieben ist. Es ist in mathematischer Sprache geschrieben und die Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere mathematische Figuren." (Il saggiatore)
Indem sich in diesem Sinne die moderne Naturbetrachtung, wie die KEPLERschen Gesetze der Planetenbewegung und GALILEIs Fallgesetze zeigen, entwickelte, wurde von anderer Seite die Auffassung des geistigen Lebens in nicht weniger bedeutsamer Weise geklärt.

Um den Quellpunkt untrüglicher Erkenntnis zu finden, sucht DESCARTES alles in Zweifel zu ziehen. Er will annehmen, "daß der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Sonne und alles Äußerliche nur das Spiel von Träumen ist" und daß er selbst "keine Hände hat, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, keine Sinne", sondern sich ihren Besitz bloß einbildet. Er will mit anderen Worten alles objektive Sein und Werden als eine Täuschung ansehen. Dann muß er aber doch seine subjektive Auffassung von all jenen Objekten, auch wenn sie nur im Zweifeln besteht, als unaufhebbar anerkennen. So kommt er zu dem Satz: "Ich bin, ich bestehe, so oft ich etwas aussage oder vorstelle." Und da er von seinem eigenen Sein nur sein Denken nicht wegzudenken vermag, so gelangt er zu der genaueren Fassung: "Ich bin ein denkendes Ding." Es ist dies ein Ding, "das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, begehrt, verabscheut, auch und vorstellt und wahrnimmt." (Mediationes de prima philosophia)

DESCARTES ist demnach zwar in dem Irrtum befangen, daß der subjektive Zustand des Denkens von den gedachten Objekten abtrennbar ist und für sich allein existieren kann, weshalb ihm das Denken zur denkenden Substanz wurde. Er wurde aber gerade durch diesen Irrtum dazu veranlaßt, in unzweideutiger Schärfe und Bestimmtheit das subjektive Sein oder das Bewußtsein vom objektiven Sein zu unterscheiden. Er hat so nicht nur sich selbst, sondern der Philosophie überhaupt die doppelte Aufgabe gestellt, das Bewußtsein in gleicher Weise wie das objektive Sein zum Gegenstand der Untersuchung zu machen und zugleich eine befriedigende Auffassung vom Zusammenbestehen des Bewußtseins und des objektiven Seins zu gewinnen.

Wir haben demgemäß innerhalb der modernen Philosophie in dreifacher Hinsicht eine Entwicklung des kritischen Erkennens zu erwarten: hinsichtlich des objektiven Naturgeschehens, hinsichtlich der subjektiven Bewußtseinserscheinungen und hinsichtlich des Zusammenbestehens des objektiven Seins und des Bewußtseins.


8. Die denkende und die
ausgedehnte Substanz

Durch die Trennung des Bewußtseins vom objektiven Sein wird DESCARTES selbst veranlaßt, den Grund für die Beschaffenheit der durch die Sinne vermittelten Empfindungen in der empfindenden Seele, nicht aber in den empfundenen Dingen zu suchen. Die körperlichen Dinge sind somit an und für sich nicht hart, schwer, farbig oder mit sonstigen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften behaftet, sondern, wie DESCARTES meint, bloß in Länge, Breite und Tiefe: sie sind ausgedehnte Substanzen.
    "Ein Leeres, in dem sich keine Substanz befindet, kann es offenbar nicht geben, weil die Ausdehnung des Raumes von der Ausdehnung des Körpers nicht verschieden ist."
Aus dem gleichen Grund sind unteilbare Substanzen oder Atome unmöglich. Da ferner der Raum gleichartig ist, so ist auch alle Materie überall, wo sie auch ist, dieselbe und nur durch ihre Grenzen bestimmt. Alles Geschehen muß folglich in Bewegung bestehen und auf Bewegung zurückgeführt werden.

DESCARTES stellt darum Bewegungsgesetze auf und läßt aus der durch die Schöpferkraft Gottes uranfänglich in Bewegung gesetzten Materie die Welt entstehen, wobei nur Stoß und Berührung, kein innerer Drang oder eine von außen wirkende Kraft in Betracht kommt. Selbst in den Tieren und im Leib des Menschen sieht er bloße Bewegungsmechanismen, die durch die aus den feinsten Teilchen des Blutes gebildeten Lebensgeister in Betrieb erhalten werden. Nur im Menschen ist noch die Seele als denkende Substanz vorhanden, die mittels der sogenannten Zirbeldrüse (glandula pinealis) mit den Lebensgeistern und so mit dem ganzen Körper in Wechselwirkung steht. Sie besitzt die Kraft des Wollens, durch die sie die Zirbeldrüse in geeigneter Weise bewegt und so eine Macht über den Körper gewinnt, und die Fähigkeit des Empfindens und Vorstellens, durch die sie der Einwirkungen der Lebensgeister auf die Zirbeldrüse und der eigenen Willensregungen bewußt wird.

DESCARTES sucht somit die Grundbestimmung des objektiven Seins in der Ausdehnung der Materie, die sich im Raum bewegt. Er läßt das Bewußtsein aus den Gegenwirkungen einer für sich bestehenden immateriellen Substanz gegen die Einwirkungen der Materie hervorgehen, und er verleiht dieser Substanz die Kraft, auf die Materie durch ihren Willen Wirkungen auszuüben, ohne selbst ihre Willenskraft zu erschöpfen und so äquivalente Änderungen zu erleiden.

Aus der Ausdehnung erklärt sich jedoch in Wahrheit nur die rein geometrische Beschaffenheit der Körper, nicht aber die Fähigkeit, dem Eindringen anderer Körper Widerstand zu leisten, Bewegungsimpulse zu empfangen und zu vermitteln. Es ist ferner das Bewußtsein als subjektiver Zustand, wie schon hervorgehoben wurde, keiner von einem objektiven Sein getrennten substanziellen Sonderexistenz fähig. Und die Annahme, daß aus Einwirkungen der Materie das Bewußtsein im Geist geweckt wird und daß der Geist materielle Bewegung hervorbringen könnte, ist vollends, da sie eine schöpferische Geistestätigkeit einschließt, mit einer kritisch wissenschaftlichen Betrachtungsweise unvereinbar.


9. Ausdehnung und Denken als Modi
der unendlichen Substanz

Darum stellt sich SPINOZA auf eine höhere Stufe des kritischen Verhaltens, indem er die Trennung des Bewußtseins vom objektiven Sein aufrechterhält und zugleich die Wechselwirkung zwischen Geist und Materie beseitigt.

Er gewinnt die fundamentale Erkenntnis, daß der Körper
    "weder den Geist zum Denken, noch der Geist den Körper zur Bewegung oder zur Ruhe oder zu etwas anderem (wenn es ein solches gibt) bestimmen"
kann. Die Menschen sind zwar, wie er sagt, fest überzeugt,
    "daß der Körper auf einen bloßen Wink des Geistes bald bewegt wird, bald ruht, und sehr vieles tut, was allein vom Willen des Geistes und von der Kunst des Denkens abhängt."
Aber dies liegt lediglich an der Unkenntnis dessen, was der Körper
    "nach den bloßen Gesetzen seiner Natur" vermag, so daß "wenn die Menschen sagen, diese oder jene Handlung des Körpers geht aus dem Geist hervor, der die Herrschaft über den Körper hat, sie nicht wissen, was sie sagen, und nur mit blendenden Worten eingestehen, daß sie die wahre Ursache jener Handlung nicht kennen, ohne sich darüber zu wundern." (Ethica; de origine et natur affectuum; prop. II)
Den menschlichen Körper sucht SPINOZA allerdings ebenso wie DESCARTES als einen Bewegungsmechanismus zu begreifen. Er sieht in ihm, wie in jedem zusammengesetzten Körper ein System einfacher Körper, die sich nur durch Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit voneinander unterscheiden. Die Bewegung oder Ruhe des einen Körpers kann bloß durch einen anderen Körper hervorgerufen werden, dessen Bewegung oder Ruhe wiederum von einem anderen Körper bestimmt wird usw. Die Bewegungszustände der Körperwelt bilden somit eine ins Unendliche sich erstreckende Kausalreihe, die nirgends einer Unterbrechung fähig ist. Darum ist der einzelne Körper nichts für sich Bestehendes, sondern nur ein Modus oder eine Daseinsform der unendlichen ausgedehnten Substanz.

Der menschliche Geist kann nun, da er kein Bewegungszustand ist, nicht aus der Welt hervorgehen. Er existiert jedoch, wie die Tatsache des Denkens zeigt, im Verein mit dem menschlichen Körper. Er ist demgemäß seinem Ursprung nach nichts anderes als die Idee des Körpers, so daß er alles erfaßt, was in ihm geschieht. Und in den Erregungen seines Körpers nimmt er zugleich die äußeren Körper als Ursache der Erregungen wahr, da die Erkenntnis der Wirkung, nach der Ansicht SPINOZAs, von der Erkenntnis der Ursache abhängt und dieselbe einschließt.

Da aber der menschliche Körper als Bewegungsmechanismus vor anderen Körpern nichts voraus haben kann, so muß SPINOZA jedem Körper eine Idee zuordnen. Die Ideen, die in den Unterscheidungen und Verknüpfungen des Denkens bestehen, gewinnen jeodch nicht erst durch die Bewegungszustände der Körper die Möglichkeit aufzutreten. Sie werden, wie eine fremdartige Beigabe, gewissermaßen nur von außen ihrem Körper beigefügt, so daß sie sich von ihnen wieder loslösen, um ihrerseits zu Objekten des Denkens zu werden. Als solche treten sie zueinander in Beziehung. Sie fordern einander oder schließen einander aus. In diesem Fordern und Ausschließen oder Bejahen und Verneinen stellen sich die Willensakte des Geistes dar, der sich hierdurch seinem innersten Wesen nach nicht minder als Wille wie als Verstand erweist. Es verursacht nun die eine Idee die andere, so daß sie sich als Glieder einer unbegrenzt sich fortsetzenden Kausalreihe darbieten und ebenso wie die Körper bloß als Modi der unendlichen Substanz existieren. Es gibt somit zwei Reihen kausal verknüpfter Modi. In der einen wie in der anderen offenbart sich aber dieselbe Substanz, da die Ordnung und Verknüpfung der Ideen dieselbe ist wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.

Hieraus wird ersichtlich, daß die Schwäche SPINOZAs in der Annahme eines bloßen Bewegungsmechanismus als der objektiven Unterlage für das Bewußtsein liegt. Dies bedingt nämlich das bloß äußerliche Zusammenbestehen von Bewußtsein und objektivem Sein und veranlaßt die Verselbständigung der Ideen. Es entsteht so der Schein, als ob die Ideen selbst wieder einer Ordnung und Verknüpfung im Denken fähig wären, während sie doch lediglich in der Ordnung und Verknüpfung der Dinge hervortreten und nicht ihrerseits zu geordneten und verknüpften Dingen werden können. Denn eine Idee von der Idee ist ebenso unmöglich wie ein Körper vom Körper.


10. Die Monade als entwicklungsfähige
kraftbegabte Substanz

Über DESCARTES und SPINOZA hinausgehend gewinnt LEIBNIZ die Einsicht, daß ein Bewegungsmechanismus weder eine Erklärung des Naturgeschehens noch ein Verständnis der Bewußtseinserscheinungen möglich macht. Bei dem Versuch, aus den Grundsätzen der Mechanik die erfahrungsgemäß bestehenden Naturgesetze abzuleiten, findet er, "daß die bloße Auffassung einer ausgedehnten Masse nicht ausreicht, und daß noch der Begriff der Kraft benützt werden muß." Und diese Kraft kann er sich nur stofflos, als seelenartige Substanz denken, woraus sich etwas dem Gedanken und dem Begehren Ähnliches ergibt (Systéme nouveau de la nature). Das geistige, im Vorstellen sich betätigende Sein läßt sich aber aus mechanischen Gründen nicht erklären.
    "Gesetzt, man denke sich eine Maschine, welche mittels ihrer Einrichtung denkt, fühlt, Vorstellungen hat, so kann sie sich so vergrößert denken, unter Beibehaltung derselben Verhältnisse, daß man eintreten könnte, wie man in eine Mühle eintritt. Besichtigt man sie unter diesen Voraussetzungen im Innern, so würde man nur finden, daß ein Stück das andere treibt, aber niemals etwas, durch welches man sich eine Vorstellung erklären könnte." (Monadologie)
Daraus schließt LEIBNIZ, daß man die Vorstellungen und mit ihnen die das wahre Sein darbietende ursprüngliche Kraft oder Tätigkeit "in der einfachen Substanz und nicht in der zusammengesetzten oder in einer Maschine" suchen muß, da, wie er ausdrücklich hervorhebt, "alles in den zusammengesetzten Substanzen nur von den in ihnen enthaltenen einfachen kommen kann." Die einfachen Substanzen, die Monaden, sind aber stofflos, unteilbar und unausgedehnt, ursprünglich und ewig, keiner Beeinflussung von außen fähig: sie haben "keine Fenster, durch welche etwas ein- oder ausgehen könnte". Darum kann nur der Schein einer Wechselwirkung zwischen ihnen entstehen, indem sich jede in vollkommener Übereinstimmung mit den anderen aufgrund einer "prästabilierten Harmonie" [vorgefertigten - wp] entwickelt.

Auf diese Weise vermeidet LEIBNIZ in der Tat den Mechanismus des DESCARTES und des SPINOZA. Dafür entschwindet ihm das objektive Sein überhaupt, und es bleibt ihm bloß das zur entwicklungsfähigen Substanz gewordene Bewußtsein. Infolge der Unabhängigkeit der Monaden voneinander kann nämlich die einzelne Monade bei der Bemühung um eine Erklärung des Weltgeschehens, das sich in ihren Vorstellungen entfaltet, die anderen Monaden, an deren Dasein sie glaubt, gar nicht benutzen. Sie hat ja als einzigen Erklärungsgrund nur das eigene Sein, aus dem sich die Vorstellungen von der materiellen, räumlich-zeitlichen Welt zusammen mit dem ihr selbst angehörigen Streben und Wollen entwickeln. Wie aber diese Entwicklung zustande kommt, macht LEIBNIZ in keiner Weise verständlich. Er ist auch hierzu gar nicht in der Lage, weil er durch seinen Grundsatz, im Zusammengesetzten nur das anzuerkennen, was schon die Bestandteile darbieten, sich immer wieder auf das ergebnislose Zusammenbestehen von Monaden hingewiesen sieht, von welchen doch immer nur eine die vorgestellte, der Erklärung bedürftige Welt als einen, aus ihrem eigenen Sein hervorquellenden Strom von Vorstellungen in sich tragen kann.

So führen dann auch die ersten Versuche, das Dasein der Welt und des Menschen aufgrund der Unterscheidung zwischen Bewußtsein und objektivem Sein zu begreifen, noch nicht zu endgültigen Bestimmungen.

Dies darf uns nicht befremden. Denn es genügt nicht, diese Unterscheidung zu vollziehen und einerseits das zunächst in die Augen fallende, in der Bewegung materieller Teile sich darbietende mechanische Naturgeschehen als allein in Betracht kommend vorauszusetzen, andererseits durch die naive Auffassung des eigenen Daseins zur Annahme kraftbegabter und entwicklungsfähiger Substanzen sich verleiten zu lassen. Man muß vielmehr die wesentlichen Bestimmungen für das objektive Sein und für das Bewußtsein erkannt haben, wenn man eine abschließende Welt- und Lebensauffassung entwickeln will. Zu diesem Ziel führt aber bloß die kritische, auf die Erfahrung gestützte Erforschung des Naturgeschehens und der Bewußtseinserscheinungen.


11. Die Bestimmung des Naturgeschehens durch
Größen und Größenbeziehungen

Im Bereich der auf Beobachtung und Experiment gegründeten Naturwissenschaft wurde NEWTON durch seine "Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie" zum Führer. Er stellt vier Regeln zur Erforschung der Natur auf, wonach
    1. nur die zur Erklärung der Erscheinung notwendigen und hinreichenden Ursachen zugelassen werden dürfen,

    2. bei gleichartigen Wirkungen auch gleiche Ursachen als wirksam zu gelten haben

    3. die unveränderlich an allen der Beobachtung zugänglichen Körpern auftretenden Eigenschaften als allgemein gültig anzusehen sind und

    4. die induktiv aus Beobachtungen abgeleiteten Sätze als verbindlich betrachtet werden müssen, bis sie durch anderweitige Beobachtungen berichtigt oder in ihrer Geltung beschränkt werden.
Hierdurch wird der Anschluß an die Erfahrung gewährleistet und das Aufstellen von bloßen Hypothesen vermieden.
    "Alles nämlich, was nicht aus den Erscheinungen abgeleitet wird, ist als Hypothese zu bezeichnen, und die Hypothesen, mögen es metaphysische oder physische, diejenigen der verborgenen Eigenschaften oder mechanische sein, haben in der experimentellen Forschung keine Stelle."
So hält es NEWTON selbst zwar für möglich, daß ein "spiritus subtilissimus" [schwer zu durchschauender Geist - wp] als Träger der Anziehung die Körper durchdringt und in ihnen verborgen ist, der auch die Wirkungen der Elektrizität und des Lichtes, ja sogar durch seine Vibrationen in den Nerven die Empfindungen und Bewegungen der lebenden Wesen zu vermitteln vermag. Er spricht jedoch nicht von dieser Möglichkeit, ohne hinzuzufügen, daß die Experimente noch fehlen, durch welche die Wirkungsgesetze jenes "spiritus" genau bestimmt und bewiesen werden müssen. Er zweifelt somit nicht am Vorhandensein physikalischer Ursachen, aus denen insbesondere die von ihm aus den Beobachtungen erschlossene Tatsache, daß alle Körper gegeneinander gravitieren, abgeleitet werden kann.

Er trennt aber die Tatsache der Gravitation von ihrer physikalischen Erklärung und beschränkt sich darauf, aus dem mathematisch formulierten Gravitationsgesetz die Bewegungen der Himmelskörper und die Erscheinung von Ebbe und Flut abzuleiten.

Diese Beschränkung ist es, die NEWTON zum Bahnbrecher der kritischen Naturforschung macht. Mochten nämlich immerhin einerseits seine Nachfolger die Gravitation für eine Grundkraft der Materie halten oder andererseits die Versuche zu einer physikalischen "Erklärung" derselben, die NEWTON selbst für möglich hielt, immer wieder erneuert werden, so war doch tatsächlich durch die mathematische Behandlungsweise die Bestimmung der Naturerscheinungen durch Größen und Größenbeziehungen in den Vordergrund gerückt, die unabhängig von einem Glauben an unmittelbar in die Ferne wirkende oder irgendwie vermittelte Kräfte ihre Bedeutung behält.

Es war so die Erkenntnis vorbereitet, die in voller Klarheit bei ROBERT MAYER zum Durchbruch kam. In den kurzen "Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur" (Annalen der Chemie und Pharmazie von WÖHLER und LIEBIG, 1842) beantwortet er die Frage "was wir unter Kräften zu verstehen haben, und wie sich solche untereinander verhalten". Denn
    "während mit der Benennung Materie einem Objekt sehr bestimmte Eigenschaften, wie die der Schwere, der Raumerfüllung zugeteilt werden, knüpft sich an den Benennung Kraft vorzugsweise der Begriff des Unbekannten, Unerforschlichen, Hypothetischen."
Man muß daher versuchen, "den Begriff von Kraft ebenso präzise wie den von Materie aufzufassen und damit nur Objekte wirklicher Forschung zu bezeichnen."

Nun sind Kräfte Ursachen und unterliegen dem Grundsatz "causa aequat effectum" [Ursache gleich Wirkung - wp]. Für die Ursache c und ihre Wirkung e gilt daher die Gleichung c = e. Darum kann in einer Kette von Ursachen und Wirkungen "nie ein Glied oder ein Teil eines Gliedes zu Null werden." Die Ursachen sind daher unzerstörbar. Indem aber die Ursache eine ihr gleiche Wirkung hervorbringt, hört sie auf zu sein und verwandelt sich in die Wirkung. Sie kann folglich verschiedene Formen annehmen. So ergibt sich die Erkenntnis: "Ursachen sind (quantitativ) unzerstörbare und (qualitativ) wandelbare Objekte." Es finden sich nun in der Natur zwei Arten solcher unzerstörbaren und wandelbaren Ursachen: die Materien und die Kräfte. Eine gegebene Materie wird niemals zu nichts und entsteht niemals aus nichts; sie verwandelt sich aber in andere, ihr äquivalente Materien. Und auch die Kraft ist ein unwägbares Objekt, das weder aus nichts entsteht noch in nichts vergeht, sondern sich in andere Kräfte wandelt. Sie wird so tatsächlich, gleich der Materie, zu einem Gegenstand wirklich Forschung. Da nämlich alles objektive Sein und Werden auf der in räumlicher und zeitlicher Form existierenden Materie beruth, so kann die Kraft nur in veränderlichen, materiellen Zuständen bestehen. Es bedarf daher zur Bestimmung der Kraft bloß der Feststellung, welche materiellen Zustände sich ändern und füreinander eintreten. Vermindert sich beispielsweise an dem zur Erde fallenden Stein die Entfernung von der Erde bei zunehmender Bewegung, so stellen die Entfernung und die Bewegung zwei Kräfte dar, die ineinander übergehen. Hört aber die Bewegung auf, ohne eine andere Bewegung oder eine Erhebung über die Erde zu bewirken, so entsteht dafür, wie die Erfahrung lehrt, ein äquivalentes Quantum Wärme. Und es kann sich nun gar kein Bedürfnis nach einer Vorstellung über das Wesen der Wärme oder nach einer Erklärung der Verwandlung von Bewegung in Wärme regen. Denn das Verschwinden der Bewegung erklärt hinreichend das Auftreten der Wärme, deren Wesen in nichts anderem als in der Äquivalenz mit der Bewegung, durch welche sie verursacht worden ist, besteht.

Beachtet man noch, daß sich sowohl die Materien wie auch die materiellen Zustände in ihrer räumlichen und zeitlichen Existenz als Quanta darbieten, so wird hiernach in der Tat das Naturgeschehen durch Größen und Größenbeziehungen bestimmt.

Diese Erkenntnis gilt allerdings zunächst nur für die unbelebte Natur. Denn die lebende Welt ist nach der Ansicht MAYERs "ein Reich des Fortschritts und der Freiheit", das nicht mehr der Herrschaft der Zahl unterliegt, weil in ihm neben der Materie und der Kraft "die Seele oder das geistige Prinzip" als Träger des Denkens, Fühlens und Wollens waltet. ("Über notwendige Konsequenze und Inkonsequenzen der Wärmemechanik"; Vortrag gehalten in der allgemeinen Versuchsanstalt der Naturforschung zu Innsbruck, 1869).

ROBERT MAYER hält es demnach nicht für zulässig, eine besondere Art der Kraft oder der Energie für die geistigen Vorgänge in Anspruch zu nehmen. Er erweist sich so als der besonnene, wahrhaft kritische Forscher, dem es nicht möglich ist, zur Auffassungsweise des DEMOKRIT zurückzukehren und etwa das subjektive Empfinden und Denken zugleich mit dem objektiven Handeln als Äußerungsweisen der im Nervensystem vorhandenen Energie anzusehen. Wenn wir aber zwischen den objektiven Lebensäußerungen und den mit ihnen zusammen bestehenden subjektiven Bewußtseinserscheinungen unterscheiden, so müssen wir daran festhalten, daß sich auch die lebende Welt, soweit ihre objektive Existenz in Frage kommt, in räumlicher und zeitlicher Form darbietet und somit durch Größen und Größenbeziehungen bestimmbar ist. Welcher Art diese Bestimmungen sind, kann allerdings die kritische Feststellung des Seins und Werdens der unbelebten Natur nicht lehren. Denn sie treten, wie aus den Untersuchungen des 8. Kapitels hervorgehen wird, erst bei der Erforschung der Bewußtseinserscheinungen und ihres Zusammenhangs mit dem zugrunde liegenden objektiven Geschehen in voller Klarheit zutage.
LITERATUR - Gottlob Friedrich Lipps, Mythenbildung und Erkenntnis, Leipzig und Berlin 1907