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ALF ROSS
Theorie der Rechtsquellen
[Ein Beitrag zur Theorie des positiven Rechts
auf Grundlage dogmengeschichtlicher Untersuchungen]

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"Das Problem der Quellen des positiven Rechts wird man nicht mit voller Klarheit stellen können, solange nicht das positive Recht selber Problem geworden ist. Erst wenn man gefragt hat, was es denn eigentlich besagt, daß ein Rechtssystem Geltung hat, drängt sich die nächste Frage unabweisbar auf: woran man erkennen kann, daß eine gewisse Regel geltendes Recht ist."

"Man hat zahlreiche, bandstarke Werke über das Naturrecht geschrieben, das positive Recht als solches hat man als etwas Selbstverständliches und Unproblematisches angesehen - oder vielmehr übersehen. Die Rechtswirklichkeit wird auf die gleiche Weise bestimmt, wie der naive erkenntnistheoretische Realismus die Naturwirklichkeit bestimmt: das Wirkliche ist das faktisch Existierende, das wir durch die Wahrnehmung als uns umgebend vorfinden."

"Es heißt, das kritische Grundprinzip materialistisch verkennen, wenn man die rechtlichen Prinzipien als absolut, als ansich existierend postuliert. Man ist dann genötigt, die Existenz eines inneren, nicht-intellektuellen Organs zum unmittelbaren Anschauen des Ewigen anzunehmen. Die absolute Existenz sprengt jedes System. Das unmittelbare Anschauen entzieht sich jeder Begründung und Kontrolle. Es ist eine innere Offenbarung, die sich prinzipiell nicht von der äußeren unterscheidet, wenn Gottes Stimme vom Himmel zum Menschen spricht. Beide lassen der subjektiven Willkür unbegrenzten Spielraum."


Vorwort

Die Wissenschaften sind ein Werk der Generationen. Jedes Geschlecht muß an  der  Stelle seine Arbeit aufnehmen, wo es sie findet. Hochmut und Täuschung wäre es, wenn jemand glaubte, sich über diese Tatsache hinwegsetzen und alles von vorn anfangen zu können. Selbst das Werk, das neue Bahnen bricht, ist nur das Glied einer Kette und erhält seinen Platz in der Reihe, wenn einmal seine Geschichte geschrieben wird. Auch ein solches Werk wird früher oder später im Massengrab der Bibliotheken seine Ruhe finden und seine letzte Mission erfüllen: den Boden für neue Gewächse zu bilden. Das ist das Los des Menschengeschlechts: durch andere empor zu steigen, damit wieder andere durch uns empor steigen können.

Aus diesem innigen Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Vergangenheit heraus sind die hier vorliegenden Untersuchungen über die Theorie der Rechtsquellen entstanden. Sie sind, sowohl was Problemstellung als auch Lösungsversuch betrifft, aus historischen Studien natürlich hervorgewachsen, und ich möchte gerne, daß man in ihnen nur eine organische Fortsetzung der Tradition und nicht etwas radikal Neues sieht. Ist es richtig, daß sich das wissenschaftliche Denken zu allen Zeiten wie eine durch das historisch Gegebene logisch bestimmte Gegenrede entwickelt, so liegt hierin vielleicht auch die Erklärung einer merkwürdigen optischen Täuschung. Bei dogmengeschichtlicher Forschung sieht es aus, als ob die historische Entwicklung nicht bloß eine kontinuierliche Linie ist, sondern zugleich einen schaffenden Prozeß enthält, der Problemstellung und Problemlösung immanent zur Reife bringt. Ich hatte das Gefühl, als ob meine Aufgabe bloß darin bestanden hat, einen Gedanken zu Ende zu denken oder aus gegebenen Prämissen einen Schlußsatz zu ziehen. Ich will damit aber nicht sagen, daß die Rechtstheorie nun zu einem Abschluß gebracht worden ist. Im Gegenteil: die Rechtstheorie ist noch jetzt in erster Entwicklung begriffen, und die Gedanken, die ich in diesem Buch niedergelegt habe, werden hoffentlich bald veraltet sein.

Im historischen Teil der vorliegenden Arbeit habe ich zu zeigen versucht, auf welche Weise die spezifisch rechtstheoretische Problemstellung auf dem Weg von der historischen Schule zum Positivismus hervorgewachsen ist und sich von der Zusammenkopplung mit Politik und Soziologie zu befreien versucht hat. Aber dem gewöhnlichen Positivismus, wie ihn Juristen ohne philosophische Bildung geschaffen haben, fehlt jede kritische Grundlegung. In seiner Hilflosigkeit kann er nur seinem Willen, die Positivität des Rechts zu behaupten, durch armselige Tautologien Ausdruck geben  (Bergbohm).  Er wird deshalb mit Recht als der  naive Positivismus  bezeichnet. Er ist im Grund genommen ein verflachtes Nebenprodukt des unkritischen Empirismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die französisch-englische Philosophie und das ganze populärwissenschaftliche Denken beherrschte. Hier setzt KELSENs normologische Rechtslehre ein. Sie begründet eine neue Epoche in der Geschichte des Rechtsdenkens, indem sie den ersten Versuch einer  kritischen  Grundlegung des  Positivismus  macht.

Dem herrschenden juridischen Positivismus fehlt nicht bloß Tiefe und Fundament, sondern er leidet in seinem Aufbau selbst an einem verborgenen Fehler. Trotz allen guten Willens ist es ihm niemals geglückt, die naturrechtliche Problemstellung zu überwinden. Ohne es zu wissen, trägt er in seinem Innern verborgen den Erbfeind mit sich. Durch die Lehre von den streng "positiven" Auslegungsmethoden und Prinzipien der Rechtsanwendung stellt er tatsächlich praktische Forderungen an die Gestaltung des Rechts und ist also nicht mehr Theorie. Versteht man unter Naturrecht im weitesten Sinne jedes unter der Maske der Theorie eingeschmuggeltes, praktisches Postulat, so kann eine solche Lehre mit Recht naturrechtlich genannt werden. Vom Naturrecht im engeren Sinne und vom Freirecht unterscheidet sie sich dadurch, daß diese Postulate nicht ideal oder material, sondern (angeblich) formal-logisch sind. Das macht es ihr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, die soziale Realität des Rechts zu begreifen. Sollte es mir geglückt sein, in vorliegender Arbeit einigermaßen den Weg zu einer  kritischen Bestimmung der sozialrealen Positivität des Rechts  und damit zu einer Überwindung des letzten naturrechtlichen Einschlags des Positivismus zu bahnen, so würde ich darin ihre größte Bedeutung sehen.

Die historische Methode muß durch eine kritische ergänzt werden. Es ist wichtig, daß diese, je mehr man sich von der bloß historischen der aktuellen Diskussion nähert, hauptsächlich als eine  immanent-kritische  Methode auftritt. Begnügt man sich damit, von seinem eigenen Gesichtspunkt aus eine entgegengesetzte Auffassung zu bekämpfen, so hat man in Wirklichkeit nichts anderes getan, als seinen eigenen Standpunkt noch einmal hervorgehoben. Ein neues Argument als Stütze dieses Standpunktes liegt nicht in der Kritik. Der Forscher dagegen, der sich erst zur endgültigen Beibehaltung seiner Ansicht entschließt, wenn alle anderen, dieser systematisch beigeordneten, kritisch durchgeprüft sind, schafft dadurch ein neues selbständiges Argument für seine Lehre, nämlich dasjenige, welches darin liegt, daß alle anderen Wege verschlossen sind. Die immanente Kritik ist zugleich ein Instrument der Wahrheitsforschung selbst. Dazu kommt, daß sie allein imstande ist, eine verstehende und fruchtbare Diskussion zu fördern. Eine transzendente Kritik läßt sich immer damit erledigen, daß man ihren Ausgangspunkt abtut (durch eine neue transzendente Kritik!), aber eine immanente Kritik muß man entweder widerlegen oder sich vor ihr beugen. Nur durch die immanente Methode darf man hoffen, die Rahmen des Partikularismus zu sprengen und der chaotischen Zersplitterung der modernen Literatur entgegenzuwirken. Natürlich ist es leichter, sich in einem Kreis von Glaubensgenossen niederzulassen, sich in bequemer Selbstzufriedenheit in eine Sekte zurückzuziehen und entweder die übrige Welt ihren Gang gehen zu lassen oder sie mit Hilfe der Waffen abzufertigen, welche uns eine leichterworbene, transzendente Kritik immer zur Verfügung stellen kann. Aber auf diese Weise droht der Wissenschaft die Gefahr, ihre Universalität zu verlieren und sich in eine monadenhafte Mannigfaltigkeit aufzulösen.

Deshalb habe ich in meinen historischen Untersuchungen danach gestrebt, dieses Ideal der immanent-kritischen Methode zu verwirklichen, wenn es auch zweifelhaft ist, inwieweit mir dies gelungen ist. Denn es ist klar, daß diese Methode größere Anforderungen an die Phantasie und das Einfühlungsvermögen des Forschers stellt als die transzendente. Es gilt hier, die natürliche Borniertheit des Individuums zu überwinden und, wie KANT an einer Stelle sagt, in die Haut seines Widersachers zu kriechen. Aber das ist nicht immer leicht.

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Vorliegende Arbeit ist als die Frucht einer Studienreise entstanden, die ich in den Jahren 1923-1926 mit Unterstützung des Stampeschen Reisestipendiums (Universität Kopenhagen) durch Frankreich, Österreich und England unternommen habe. Von entscheidender Bedeutung wurde für mich der Eindruck, den ich während meines Aufenthaltes in Wien von Herrn Professor HANS KELSENs fesselnder Forscherpersönlichkeit erhielt. Dank der von ihm empfangenen Inspiration faßte ich den Plan zu vorliegender Abhandlung und bei ihrer Ausarbeitung war mir der Gedanke an Herrn Professor KELSENs aufmunternde Anregung oftmals die beste Hilfe. Auch Herrn Professor ALFRED von VERDROSS (Wien) bin ich für die vielen Anregungen, die mir durch seinen Unterricht zuteil geworden sind, zu Dank verpflichtet.

Zu Beginn des Jahres 1926 konnte ich meine Arbeit abschließen. Daß es mir nun geglückt ist, diese als akademische Abhandlung vorzulegen, ist vor allem dem entgegenkommenden Interesse zuzuschreiben, das Herr Professor AXEL HÄGERSTRÖM (Uppsala) für meine Studien bekundet hat. Nur dieses Interesse hat mir Kräfte zur Überwindung der Schwierigkeiten gegeben, die für mich mit der Erwerbung des Doktorgrades außerhalb meines Vaterlandes verbunden waren. Ich spreche dafür Herrn Professor HÄGERSTRÖM meinen innigsten Dank aus.

Äußere Umstände privater Natur haben mich gehindert, irgendwelche Änderungen meiner Abhandlung wie sie seit ihrem Abschluß zu Anfang des Jahres 1926 vorliegt, vorzunehmen. Ich bitte daher den Leser sich dessen - mit Rücksicht auf die behandelte Literatur - beim Lesen erinnern zu wollen. Dieser Umstand ist umso mehr bedauerlich, als sich seit Abschluß meiner Arbeit meine Anschauungen in gewissen Punkten geändert haben. Ich gebe daher meine Abhandlung in vorliegender Form mit gewissen Bedenken heraus. Da jedoch die Veränderung mehr die Formulierung meiner Gedanken als diese selbst betrifft und sich deshalb eine Umarbeitung nicht auf einzelne Punkte beschränken, sondern eine vollständige Neuschreibung erfordern müßte, habe ich geglaubt, mich darüber hinwegsetzen zu können.

Das Finnesche Stipendium (Kopenhagen) hat zum Druck des  historischen  Teils dieser Abhandlung beigetragen. Ich spreche dafür meinen Dank aus.



ERSTES BUCH
Historische Darstellung der Theorie
der Rechtsquellen nach 1800


Erster Abschnitt
Französische Doktrin

Kapitel I
Einleitung

1. Das Problem der Quellen des positiven Rechts wird man nicht mit voller Klarheit stellen können, solange nicht das positive Recht selber Problem geworden ist. Erst wenn man gefragt hat, was es denn eigentlich besagt, daß ein  Rechtssystem Geltung hat,  drängt sich die nächste Frage unabweisbar auf: woran man erkennen kann, daß eine gewisse Regel geltendes Recht ist.

Damit haben wir einen der wichtigsten Gründe aufgezeigt, die der Entwicklung einer Theorie der Rechtsquellen in Frankreich im Weg gestanden haben. Das positive Recht als solches wurde niemals zum Problem gemacht. Von altersher haben die rechtsphilosophischen Untersuchungen einen rechtsethischen und keinen rechtstheoretischen Charakter gehabt. Man hat viel Mühe darauf verwandt, zu bestimmen, wie das Recht  sein soll,  geringe oder gar keine darauf, zu untersuchen, was es denn eigentlich bedeutet, daß  Recht ist,  und wie und innerhalb welcher Grenzen sich diese Existenz erkennen läßt. Man hat zahlreiche, bandstarke Werke über das Naturrecht geschrieben, das positive Recht als solches hat man als etwas Selbstverständliches und Unproblematisches angesehen - oder vielmehr übersehen. Was Frankreich anbetrifft, so ist jedenfalls die allgemeine englische Auffassung, kontinentales Rechtsdenken sei identisch mit spekulativ-ethisch-metaphysischem Naturrecht, nicht ganz unberechtigt. Die Rechtswirklichkeit wird auf die gleiche Weise bestimmt, wie der naive erkenntnistheoretische Realismus die Naturwirklichkeit bestimmt: das Wirkliche ist das faktisch Existierende, das wir durch die Wahrnehmung als uns umgebend vorfinden.

Als Beispiel dafür läßt sich anführen, daß GASTON MAY in der neuesten französischen "Introduction à la science du droit" das positive Recht definiert als "le droit  existant  actuellement chez un peuple déterminé" [Das aktuell existierende Recht für eine ganz bestimmte Nation. - wp]. In einem ähnlichen Werk neueren Datum erkärt CAPITANT ausdrücklich: "l'expression Droit positif est facile déterminé" [Der Ausdruck positives Recht ist leicht bestimmt. - wp]. Das sind die neuesten französischen Definitionen der Positivität des Rechts. Weitere Betrachtungen widmet man diesem Problem nicht. Selbst GENY, der die Lehre von den Rechtsquellen eingehend studiert hat, betrachtet das Gesetz als eine letzte Selbstverständlichkeit. Er charakterisiert es als "l'oeuvre du pouvoir compétent" [Arbeit der zuständigen Stelle - wp] und erklärt, daß es zwecklos ist, weiter zu fragen, weshalb das Gesetz Geltung hat. Dieselbe Frage untersucht er dagegen eingehend, sofern sie die Gewohnheit angeht. Diese Definitionen des positiven Rechts als des faktisch existierenden Rechts übersehen, daß die Anwendung der Kategorie  Existenz  auf ein System von Normen ein Fundamentalproblem darstellt; und wenn GENY das Gesetz als den Willen der  kompetenten  Macht bestimmt, so vergißt er, daß die Kompetenz keine sinnlich wahrnehmbare Tatsache, vielmehr selber ein normativer Begriff ist und so wiederum das Rechtsproblem voraussetzt, das gelöst werden sollte. (1)

So liegt in Frankreich tatsächlich nicht ein einziges Werk vor, das die Theorie der Rechtsquellen aus der Theorie des positiven Rechts entwickelte. Das gilt in besonderem Maß vom Hauptwerk auf diesem Gebiet, FRANCOIS GENYs "Méthode d'Interpretaion". Dieses Werk - ein Hauptwerk jedenfalls mit Rücksicht auf seinen Umfang - hat sicher einen wertvollen und befreienden Einfluß auf die Praxis ausgeübt, sonderlich auf die doktrinäre Interpretation, die im Begriff war, sich in einer lebensfremden, abstrakt-logischen Paragraphenmathematik und Konstruktionskunst zu verlieren. Doch ebenso wie die Naturrechtsdoktrinen der Aufklärungszeit hat das Werk seine unbestreitbare politische Bedeutung auf Kosten seines theoretischen Wahrheitsgehaltes erkauft. Wie schon der Titel vermuten läßt, ist GENYs Buch derart von Rechtspolitik durchsetzt, daß es kaum möglich ist, herauszusondern, was als Theorie des positiven Rechts wertvoll ist, und was ein mehr oder weniger verstecktes politisches Postulat darstellt. Von weit größerer theoretischer Bedeutung sind EDUARD LAMBERTs vortreffliche, ausführliche Untersuchungen über das Gewohnheitsrecht. Doch mußten diese wegen des Rahmens, dem sie eingefügt sind, fragmentarisch bleiben. LAMBERT hat nämlich nicht direkt die Theorie der Rechtsquellen im Auge, er behandelt vielmehr die Lehre vom Gewohnheitsrecht nur soweit sie in einem anderen Zusammenhang von Bedeutung ist (2). Der reinste positive Beitrag zur Theorie der Rechtsquellen findet sich vielleicht in CARRÉ de MALBERGs ausgezeichneter "Contribution à la théorie générale de l'État". Die Aufgabe und die Umgrenzung des Werkes bewirkt indessen, daß es sich auch hier nur um ein Bruchstück handeln kann.

2. Aus den oben unter Nr. 1 geschilderten Verhältnissen ersteht eine doppelte Schwierigkeit beim Studium der Quellentheorie in Frankreich. Zum ersten gibt es nur eine spärliche Literatur, die dieses Thema direkt zum Gegenstand hat. Es muß daher zum großen Teil indirekt studiert werden. Dies ist möglich, wenn man nicht nur die wissenschaftliche Lehre zum Gegenstand seiner Untersuchungen macht, sondern zugleich gewisse charakteristische Züge in der Gesetzgebung, in der Praxis, in der doktrinären Interpretationsmethode - ja in all den stillschweigenden Voraussetzungen, die all diesen Phänomenen zugrunde liegen und sozusagen die juristische Atmosphäre einer Zeit ausmachen. (3) Es wird sich zeigen, daß es auf dieser Grundlage möglich ist, eine - wenngleich eher unbewußt vorausgesetzte, als bewußte - Rechtsquellenlehre herauszulösen.

Zum andern ist das Material, das so auf dem einen oder anderen Weg zusammengetragen wird, derart von politischen Elementen durchsetzt, daß wir uns vor eine neue Ausscheidungsaufgabe gestellt sehen, wenn wir die Lehre von den Quellen des positiven Rechts herausfinden wollen. Wir müssen alles ausscheiden, was als Politik bestimmen möchte, wie das  Recht sein soll,  um als letztes Produkt die Vorstellungen übrig zu behalten, die man sich vom positiven Recht, dem  Recht, das ist,  bildet. Diese letzte Aufgabe zwingt uns, kurz den Unterschied zwischen positiver, naturrechtlicher und soziologischer Methode zu skizzieren.

3. Bei Juristen findet sich nicht selten die Auffassung, von Naturrecht zu sprechen müsse man von vornherein als verfehlt ablehnen. Da man es für ausgemacht hält, daß es nur  ein  Recht, das positive, gibt, glaubt man, alles, was den Namen  Naturrecht  führt, für abwegig erklären zu müssen. Gar oft indessen ist dieser Streit nur ein Streiten um Worte. Man will für die naturrechtlichen Sätze den Namen  Recht  nicht gelten lassen. Nun hat dieser Standpunkt im Interesse einer Klarstellung der Begriffe zweifellos seine Berechtigung. Damit ist aber noch keineswegs die materielle Frage gelöst, ob eine selbständige naturrechtliche Problemstellung und Methode möglich ist oder nicht. Die Frage, ob ein ethisches Idealrecht möglich ist oder nicht, ob man allgemeingültig bestimmen kann, wie das  Recht sein soll,  geht den positiven Juristen an und für sich gar nichts an. Was er behaupten kann und muß, ist nur die Integrität des positiven Rechts. Er muß sich dagegen verwahren, daß das Naturrecht irgendwie in die Domäne des positiven Rechts übergreift, er muß es ablehnen, daß positive Probleme als gelöst gelten sollen, wenn man mehr oder weniger maskierte naturrechtliche Methoden zur Anwendung bringt. Nicht das Naturrecht selbst als rein ideales Problem, sondern seine methodische Vermengung mit dem positiven Recht und seinen Problemen ist abzulehnen. Die Aufgabe ist daher, sich zunächst einmal den methodischen Unterschied klarzumachen.

Im üblichen, ungenauen Sprachgebrauch versteht man unter Rechtswissenschaft eine jede wissenschaftliche Lehre, die auf die eine oder andere Weise die Probleme berührt, die man gemeinhin als rechtliche qualifiziert. In Wirklichkeit aber gibt es nicht einmal eine homogene Wissenschaft,  die  Rechtswissenschaft, sondern mehrere verschiedene, untereinander liegende heterogene Wissenschaften. Die Methode, das, was die Struktur einer Wissenschaft charakterisiert, ist nämlich verschieden. Später werde ich hierauf ausführlicher zu sprechen kommen. Für jetzt soll nur als notwendige Grundlage für die historische Entwicklung ein etwas vergröbertes Résumé gegeben werden.

Man kann drei Arten von Betrachtungsweisen rechtlicher Probleme, drei Arten Rechtswissenschaft unterscheiden:
    a) Die positive oder dogmatische Rechtswissenschaft, die  Rechtsdogmatik.  Diese ist eine normative, d. h. normbeschreibende Wissenschaft (4). Wir gehen dabei davon aus, daß das Recht aus Normen besteht. Was das bedeutet, können wir hier nicht näher ausführen. Wir müssen uns damit begnügen, festzustellen, daß eine Norm  nicht  ein Naturphänomen ist. Eine Norm läßt sich nicht mit einem Sinneswerkzeug oder einem Instrument wahrnehmbar machen; innerhalb des naturwissenschaftlichen Relationssystems kann sie nicht bestimmt werden. Die positive Rechtswissenschaft hat die Aufgabe, die Gültigkeit oder Existenz (Sein, Wirklichkeit) einer gewissen Normart - der rechtlichen Normen - zu bestimmen. Da nun eine Norm, wie gesagt, kein Naturphänomen ist, so muß die Kategorie  Existenz  (das Sein) hier anders bestimmt werden, als innerhalb der naturwissenschaftlichen Erkennenis, wo der Begriff zuerst als eine der modalen Formen des Denkens entwickelt wurde. Formal ist die Bedeutung die gleiche: sie ist der Ausdruck für eine objektiv eindeutige Determination innerhalb eines Systems, die Einordnung eines einzelnen Gliedes in eine gewisse Gültigkeitsreihe. In diesem weiteren formalen Sinn kann man sagen, daß alle Erkenntnis darauf abzielt, eine Existenz, ein Sein, eine Wirklichkeit zu bestimmen. Hiermit wird nur der objektiv gültige Charakter der Erkenntnis ausgedrückt. Auch die Wissenschaft, die - wie z. B. die positive Rechtswissenschaft - darauf abzielt, eine Norm, ein Sollen, zu erkennen, zielt doch darauf ab, zu bestimmen, daß diese Norm  ist,  daß ein gewisses Verhältnis gesollt  ist,  darauf also, das Sein eines Sollens zu bestimmen. Unsere Erkenntnis zerfällt also in ebensoviele Hauptgruppen, wie sich Systeme zu einer eindeutigen Determination angeben und anwenden lassen. Jedes dieser Systeme bestimmt sein besonderes Sein, seine besondere Wirklichkeit, Existenz. Hiermit soll indessen noch nicht die Frage entschieden sein, wie weit letzten Endes eine gewisse Verbindung zwischen diesen verschiedenen Systemen und den ihnen entsprechenden Seinsarten besteht (vgl. X, 10).

    b) die soziologisch-explikative Rechtswissenschaft, die  Rechtssoziologie Hierunter versteht man die Kausal-Naturwissenschaft, die gewisse menschliche Handlungen als determiniert innerhalb eines naturwissenschaftlichen Funktionszusammenhangs zu fassen sucht. Es handelt sich um die menschlichen Handlungen, die von einem gewissen Rechtssystem aus als rechtsetzende oder rechtunterworfene (geforderte oder verbotene) relevant sind. Die Rechtssoziologie lehrt nicht,  daß  und woran  erkannt werden kann, daß  ein gewisses Rechtssystem existiert, gilt. Sie sucht von einem größeren soziologischen (naturwissenschaftlichen) Zusammenhang aus zu verstehen,  weshalb  ein konkretes Rechtssystem unter gegebenen Umständen vorliegt, und welchen Einfluß dieser Rechtszustand seinerseits wieder auf andere soziologische Verhältnisse ausübt. Die Rechtssoziologie sucht z. B. herauszufinden, welche Verbindung zwischen der Rechtsordnung eines Gemeinwesens und seiner ökonomischen Struktur besteht. Welche Wirkung eine religiöse Anschauung auf eine Gesetzgebung müßte ausüben können. Welche sozialen Umschichtungen eine Änderung in der Grundbuchgesetzgebung etwa verursachen kann. Besonders interessant ist das soziologische Problem, unter welchen Bedingungen die faktische Befolgung einer Rechtsanordnung zu erwarten ist. Diese Bedingungen umgrenzen das soziologische Machtgebiet des Gesetzgebers. Bei all diesen Fragen darf man aber nicht vergessen, daß nicht das Recht selber, die Normen, sich als Glieder in die Kausalreihe einfügen, vielmehr die rechtlich relevanten sozialen Handlungen: die rechtsetzenden und die rechtunterworfenen Handlungen. Rechtssoziologie setzt also logisch eine Rechtsdogmatik voraus, die feststellt, welche Handlungen rechtlich relevant sind.

    c) Die politische Rechtswissenschaft, die  Rechtspolitik.  Hierunter ist eine normative Wissenschaft zu verstehen, die festzustellen sucht, wie das Recht (unter gegebenen Umständen) von einem gewissen normativen Gesichtspunkt aus  sein soll (muß).  Da die Frage, wie es etwas "sein soll" keine absolute Bedeutung hat, vielmehr nur eine relative hinsichtlich einer gewissen Normart (in einem weiteren Sinn), so zerfällt die Rechtspolitik notwendigerweise in ebensoviele Disziplinen, wie verschiedene normative Gesichtspunkte (in einem weiteren Sinn) zur Anwendung kommen. Es gibt nicht nur  ein  Ideal,  das  Ideal, denn dieser Begriff läßt sich nur relativ für eine gewisse Normart bestimmen. Eine Verkennung dieser Wahrheit führt zum Glauben an ein einzelnes Idealrecht, das alle andere Rechtspolitik überflüssig macht. Selbst wenn man (vgl. weiter unten) die Möglichkeit eines absolut gültigen, ethischen Rechtsideals annehmen will, so hat man damit noch keineswegs eine soziologische Rechtstechnologie unmöglich oder überflüssig gemacht. Selbst wenn es geglückt ist, die Frage zu lösen, wie der Gesetzgeber in Übereinstimmung mit einem ethischen Ideal das Recht gestalten soll, so ist damit das andere Problem, welches Recht er zur Anwendung bringen soll, um eine von ihm willkürlich festgesetzte, soziologische Wirkung zu erzielen, noch keineswegs gelöst oder aus dem Weg geräumt. Die beiden Fragen haben nichts miteinander zu tun. Faktisch werden die beiden politischen Disziplinen beim Gesetzgeber im gleichen Umfang Anwendung finden, wie er faktisch in Übereinstimmung mit einem (vermeintlich) absoluten ethischen Ideal oder ohne Rücksicht darauf einen gewissen sozialen Effekt herbeizuführen wünscht.
Rechtspolitik ist also eine normative, d. h. eine normdarstellende Wissenschaft. Die Normen aber, die sie bestimmt, sind nicht die rechtlichen. Welche aber dann? An und für sich ist keine Vorausbegrenzung möglich. Jede Normart, deren Forderung sich sinngemäß auf die rechtsetzenden menschlichen Handlungen als solche anwenden lassen, kann eine besondere rechtspolitische Norm begründen. Daß die normative Forderung auf diese Handlungen  als rechtsetzende  angewendet wird, besagt, daß der Inhalt dieser Forderung sich auf den durch diese Akte hervorgebrachten Rechtszustand richten muß. Die eventuelle Bedeutung der Handlungen in anderer Hinsicht ist irrelevant. Jede Rechtspolitik setzt also voraus, daß ein gewisser Zustand - wenn auch nur ein vorgestellter - als rechtlich erkannt ist. Sie setzt also logisch eine Rechtstheorie voraus, d. h. eine Lehre, die sich damit befaßt, was es besagt, und wie erkannt werden kann, daß etwas geltendes Recht ist. Hier sollen zwei rechtspolitische Disziplinen erwähnt werden:
    I. Die ethischen Normen begründen die rechtspolitische Disziplin, die man  Rechtsethik  oder  Naturrecht im engeren Sinne  nennen kann. (5) Ob wir die hierauf gegründeten Normen  Recht  nennen wollen, oder nicht, ist, wie gesagt, ein Streit um Worte. Zweckmäßig ist es, sie nicht so zu nennen. Das materiell Wichtige aber ist, daß sie sich durch die Sanktion - die die prinzipielle Normcharakteristik ist - fundamental von den rechtlichen Normen im eigentlichen Sinne unterscheiden. Benennt man sie Recht, so wird man eine methodische Verwirrung, eine Vermengung moralischer und juristischer Gesichtspunkte verursachen. Die französische Rechtstheorie ist reich an Beispielen.

    II. Die unechten oder technischen Normen begründen eine andere rechtspolitische Disziplin, die  Rechtstechnologie.  Unter einer unechten oder technischen Norm ist eine Handlungsregel zu verstehen, deren Bestimmung über einen kausal-naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt hinausführt, indem sie aussagt, daß eine gewisse Handlung aus naturwissenschaftlich-funktionellen Gründen notwendig ist, falls ein gewisses anderes naturwissenschaftlich determinierbares Verhältnis realisiert oder nicht realisiert werden soll, so z. B. die Handlungsregel, die besagt, daß man eine Pflanze wässern muß, wenn sie gedeihen soll. Diese Regel ist nur eine Anwendung des entsprechenden naturwissenschaftlichen Gesetzes, das besagt, daß ein gewisses Quantum Wasser für das Leben der Pflanze notwendig ist. Diese Abhängigkeit drückt man ungenau aus, wenn man sagt, daß die Handlung notwendig ist als Mittel (Ursache) zu einem gewissen Zweck (Wirkung). Die Ausdrucksweise ist ungenau, weil der Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren kein kausaler zu sein braucht, sondern in jedem beliebigen anderen naturwissenschaftlichen Funktionalzusammenhang bestehen kann.
Die Rechtstechnologie ist eine Anwendung der Rechtssoziologie. Sie bestimmt, welche rechtsetzende menschliche Handlung man unter gegebenen Umständen wählen muß, um gewisse soziologische Folgen, gewisse Veränderungen in den rechtsdeterminierten Handlungen hervorzurufen. Sie gibt z. B. an, welche Rechtsregeln man unter gegebenen Umständen aufstellen muß, um den Realkredit und seine ökonomische Bedeutung zu vergrößern.

Außer diesen drei Hauptgruppen der Rechtswissenschaft könnte man eine vierte nennen: die Rechtsgeschichte. Ihre Theorie soll nicht weiter erörtert werden, da sie für unsere Darstellung ohne Belang ist.

Dagegen soll die wissenschaftstheoretische Grundlage besprochen werden, die jede der drei Hauptarten voraussetzt.

Die positive Rechtswissenschaft setzt logisch eine Rechtstheorie voraus. Sie hat die Aufgabe, nachzuweisen, in welchem Umfang eine Erkenntnis positiven Rechts möglich ist.

Die Rechtssoziologie gründet sich auf die allgemeine Soziologie und damit wieder auf die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie.

Die Rechtspolitik setzt eine Theorie der betreffenden Normart voraus. So beruth die Möglichkeit einer Rechtsethik auf der Möglichkeit einer Ethik. Ihre Struktur muß in jedem Punkt der Struktur der Ethik folgen. Es ist daher ein schwerer Vorwurf gegen eine Naturrechtstheorie - wie z. B. die französische - wenn man beweisen kan, daß sie fundamental gegen grundlegende Prinzipien der ethischen Philosophie verstößt.

Die Rechtstechnologie beruth auf der Rechtssoziologie. Sie ist keine echte normative Wissenschaft, da von ihr gilt, was wir oben unter  "b)"  gesagt haben (6).

Man wird vielleicht gegen diese Einteilung einwenden, daß Rechtssoziologie und Rechtsethik sich gegenseitig ausschließen. Man wird vielleicht meinen, daß es in demselben Maß unmöglich ist, rechtsetzenden Handlungen moralische Forderungen unterzuschieben, wie es möglich ist, sie als kausal bestimmt anzusehen. Das ist nicht richtig. Diese Überlegung läuft auf die populäre Vorstellung hinaus, nach der Ethik und Determinismus einander ausschließen. Hat man erst mit COHEN eingesehen, daß der Streit um Determinismus oder Indeterminismus die Ethik nichts angeht und seinem Wesen nach mittelalterlich ist, so hat man keinen Grund, darüber weitere Worte zu verlieren. Die Ethik setzt nicht die metaphysische Freiheit des Handelns voraus, sondern nur ihre psychologische Bewußtheit (7).

Das Naturrecht in einem weiteren Sinn umfaßt eine Kombination von Rechtsethik und Rechtssoziologie, teils eine Rechtsethik, in der Regel spekulativ-metaphysischen Charakters, teils die Lehre, daß das Recht vom Rechtsgeber bewußt und frei geschaffen wird. Diese letzte Problemstellung, die fragt, wie das Recht geschaffen wird, leitet die Theorie formell zur Rechtssoziologie, wenn auch die gegebene Lösung materiell eine Verleugnung des soziologischen Gedankengangs selber bedeutet. Für das Verständnis einer Reihe von historischen Phänomenen ist es von Wichtigkeit, daß man wohl beachtet, daß das, was historisch den Streitpunkt in den naturrechtlichen Systemen gebildet hat, zu einem großen Teil nicht ihre rein ethischen, sondern ihre soziologischen Elemente sind. Die historische Schule in Deutschland, die soziologische Schule in Frankreich sind in erster Linie keine Reaktion gegen ein ethisches System, sondern gegen die (anti)soziologische Lehre vom Ursprung des Rechts als einer freien und willkürlichen Äußerung des Willens eines Souveräns. Was den Rationalismus der Aufklärungszeit charakterisiert, ist nicht so sehr die Besonderheit des ethischen Ideals, als der Glaube, es stehe in der Macht eines bewußten, freien menschlichen Willens, irgendwann einmal dieses Ideal zu realisieren.

Ob man, statt von drei Gruppen der Rechtswissenschaft zu sprechen, es vorzieht, den Namen  Rechtswissenschaft  der Rechtstheorie und Rechtsdogmatik vorzubehalten, das ist nur eine Frage der Terminologie. Eine solche Terminologie bringt richtig zum Ausdruck, daß nur die beiden genannten Disziplinen auf einer spezifisch juristischen Methode beruhen. Die Rechtssoziologie ist nur ein Zweig innerhalb der Naturwissenschaften. Die verschiedenen Arten der Rechtspolitik fallen unter andere, nichtrechtlich, normative Wissenschaften. Wie wir gesehen haben, wird sowohl die Anwendung der soziologischen Betrachtungsweise, wie die der nicht-rechtlichen, normativen Betrachtungsarten auf rechtliche Phänomene von einer Rechtstheorie bedingt. Diese begründet und bezeichnet das spezifisch Rechtliche. Wenn man das bedenkt, dann ist die Terminologie im übrigen natürlich gleichgültig. Aus dem erwähnten Unterschied folgt, daß der positive Jurist als solcher keine Veranlassung hat, das Naturrecht oder die Rechtssoziologie zu bekämpfen. Seine Aufgabe besteht vielmehr darin, die Selbständigkeit des positiven Rechts gegenüber diesen beiden anderen Disziplinen zu betonen.

Erst mit diesem methodischen Seziermesser ausgerüstet, werden wir imstande sein, den größten Teil der französischen Rechtsphilosophie zu verstehen und kritisch zu würdigen. Allzuoft verdeckt hier eine äußere Eleganz des Stils eine innere methodische Verwirrung. Wir werden jetzt alles verschleiernde Gewebe fortschneiden und den Nerv aller Rechtsphilosophie: die Theorie des positiven Rechts bloßlegen können. In Kapitel II werden wir diese Operation an der französischen Naturrechtsdoktrin vornehmen. Als reines Naturrecht ist sie für uns ohne Interesse. Wir beschäftigen uns mir ihr nur soweit, wie es möglich ist, Elemente rechtstheoretischen Charakters herauszulösen.


Kapitel II
Die französische Naturrechtsdoktrin, soweit sie für das
Verständnis der französischen positiven Theorie von Bedeutung ist.

1. Ein Studium des Ursprungs der naturrechtlichen Doktrin in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Wir nehmen die französische Revolution zum Ausgangspunkt. Es ist allgemein bekannt, daß diese Epoche von Anfang bis Ende von naturrechtlichen Gedankengängen durchdrungen ist. Von ROUSSEAUs Philosophie und den aufschießenden Freiheits- und Gleichheitsidealen genährt, lebt man im festen Glauben an ein ewiges, unveränderliches Idealrecht, das Gott in die menschliche Natur gelegt hat, und das durch die menschliche Vernunft erkannt wird. Es ist ein Idealrecht, das sich leicht wird realisieren lassen, wenn die Souveränität vom Fürsten seinem rechtmäßigen Inhaber, dem Volk, zurückgegeben wird. Dann wird eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit anheben. Man verehrt die Vernunft als eine Göttin und gibt einem Prinzip einen höheren Wert, als den Kolonien. "Périssent les colonies plustôt qu'un principe!" [Mögen die Kolonien zugrunde gehen, wenn nur die Prinzipien erhalten bleiben. - wp] lautet ein bekannter Ausruf. In der Erklärung der Menschenrechte findet dieser Glaube seinen monumentalen Ausdruck. Durch seinen unverkennbaren Einfluß auf den  Code Napoleon  hat er dazu beigetragen, dem französischen Recht bis zu unseren Tagen sein Gepräge zu geben. Im Kommissionsentwurf zum  Code Napoleon  erscheint er unter allen Artikeln als sein Panier und wird in folgende schöne Worte gekleidet: "Il existe un droit universel et immuable, source de toutes los lois positives: il n'est que la raison naturelle, en tant qu'elle governe tous les hommes." [Ein universelles und unveränderliches Recht ist Quelle aller positiven Gesetze: das ist die natürliche Vernunft, die alle Menschen regiert. - wp] Das ist das Glaubensbekenntnis der Revolution.

Die Ideale, die diesen Glauben tragen, sind die liberalen Freiheits- und Gleichheitsideale, wie sie bei KANT ihre prägnante Synthese fanden. In praktisch-politischer Hinsicht bedeuten sie eine Reaktion gegen die absolutistische Monarchie, gegen die Reste des Feudalwesens (die Privilegien) und gegen das Zunftwesen und zugleich eine eifrige Betonung der individuellen Bewegungsfreiheit auf allen Gebieten. In theoretischer Hinsicht fanden sie ihren Ausdruck in der Lehre von der eminenten Würde und Unverletzbarkeit der menschlichen Person, in der Behauptung angeborener, absoluter, subjektiver Rechte, die die Freiheit des Individuums gegenüber der Staatsmacht garantieren. Die Lehre vom  contrat social  hat gerade dieses Ziel: den primären und absoluten Charakter der subjektiven Rechte gegenüber der Staatsmacht zum Ausdruck zu bringen. Nach ROUSSEAU hat das Naturrecht in Frankreich keinen hervorragenden Theoretiker gefunden. Die nähere Ausführung der Lehre verläuft mitunter in der Spur des älteren Naturrechts als eines wahrhaften Naturgesetzes. (8) Gemeinhin wird aber doch das Naturrecht als ein  droit rationel  [rationales Recht - wp] das sich auf die Vernunft gründet, dargestellt, oder auch als Gottes Gesetz, das man durch das Gewissen erkennt. Allen Verfassern gemeinsam ist, daß sie gewisse letzte Prinzipien postulieren, die nicht kritisch begründet werden, sondern metaphysischen Charakters sind. Die meisten berufen sich auf Gott als die letzte Basis für das Naturrecht. "La loi naturelle", sagt TOULLIER, "c'est la volonté de Dieu, ... c'est une loi que Dieu a donné à tous les hommes et qu'ils peuvent connaître par les seules lumiéres de leur raison." [Das Naturgesetz ist der Wille Gottes, ... es ist ein Gesetz, das Gott allen Menschen gegeben hat, und das sie nur durch das Licht der Vernunft erkennen können. - wp]

2. Der Glaube der Revolution an ein Naturrecht ist seitdem in Frankreich niemals ganz verloren gegangen. Gerade in unseren Tagen scheint es besonders  en vogue  zu sein. BONNECASE, der die Geschichte des Naturrechts im 19. Jahrhundert geschrieben hat, erwähnt nicht weniger als 73 Verfasser, die dem Naturrecht in der einen oder anderen Form ihre Zustimmung gegeben haben. Die Hauptrichtung blieb metaphysisch, wie zur Zeit der Revolution. KANTs kritische Philosophie übte wohl einen gewissen Einfluß aus. Aber BONNECASE - selber ein gläubiger Metaphysiker - kann doch feststellen, daß die metaphysische Doktrin im 19. Jahrhundert geherrscht hat, und daß sie wahrscheinlich auch die Zukunft behalten wird. BONNECASEs Darstellung und Theorie kann deshalb als typisch für viele andere in Frankreich gelten. Es sind im wesentlichen dieselben Ideale, die sich hinter der Metaphysik der Revolution verbergen. Nur daß auch seine Lehre das Gepräge der Hinwendung von einer individualistischen zu einer kollektiv orientierten Moral trägt, die die neuere französische Moraltheorie charakterisiert.

Anhänger der metaphysischen Doktrin sind in erster Linie die katholischen Naturrechtslehrer, unter denen man als Repräsentanten besonders OUDOT, ROTHE, BOISTEL, de VAREILLES-SOMMIÉRES nennen kann. Die neueste Arbeit in diesem Genre ist VALENSINs "Traité de droit naturel" (mit einem "nihil obstat" [es steht nichts dagegen - wp] für die  censores deputati  [berufene Zensoren - wp] versehen), der gläubig der scholastischen Philosophie des heiligen THOMAS von AQUIN folgt.

Ihm nahe verwandt ist FRANCOIS GENYs mit ungeheurem Fleiß geschriebenes Werk "Science et technique en droit privé positif". Er bekennt sich als Anhänger der "philosophie nouvelle". Damit meint er offenbar die philosophischen Modeströmungen anti-rationalen Charakters, die sich als Philosophie des Lebens oder der  Aktivität  bezeichnen. Unter dieser gemeinsamen Benennung vereinigt er ohne kleinliches Unterscheidungsbestreben BERGSONs und Le ROYs Intuitionismus und JAMES' Pragmatismus mit POINCARÉs unendlich fernstehender kritischer Philosophie. Selbstverständlich ist ihm BERGSONs  Intuition  ein billiges philosophisches Mittel, um mit einem feinen Wort jede subjektiv-metaphysische Willkür zu verdecken.

Unter den vielen anderen Anhängern des metaphysischen Naturrechts sind vielleicht BEUDANT und CHARMONT die bekanntesten, beide angesehen Juristen. Aber es würde zu weit führen, darauf näher einzugehen.

3. Das metaphysische Naturrecht hat jedoch nicht die Alleinherrschaft in der französischen Literatur gehabt. Ich will hier versuchen, den Umriß der Geschichte des französischen Naturrechts nach der Revolution zu zeichnen. Daraus wird sich ergeben, daß das Naturrecht zu den verschiedenen Zeiten eine verschiedene Rolle gespielt hat.

Das Inkrafttreten des  Code Napoleon  führte eine durchgreifende Änderung in der Bedeutung mit sich, die den naturrechtlichen Theorien beigemessen wurde. Während diese zur Zeit der Revolution und des Entstehens des  Code  eine hervorragende, aktive Rolle gespielt hatte, traten sie nun, wo das Resultat vorlag, im juristischen Interesse stark zurück. Der Grund war einfach der, daß man nun glaubte, das Recht wäre endlich gefunden und seine Fixierung käme dem Rechtsideal so nahe, wie nur irgendwie möglich. Man hatte also keine praktische Veranlassung mehr, Rechtspolitik zu treiben. Man begnügte sich im allgemeinen damit, in einigen wenigen Linien ein höheres Recht, ein Naturrecht, anzuerkennen, und ging im übrigen nicht näher darauf ein. Dies gilt nicht allein von den ersten Kommentatoren (bis etwa zum Beginn der Regierung  Louis Philippes),  die im wesentlichen ihre Aufgabe darin sahen, analytisch die exakte Bedeutung und den Geltungsbereich des Textes festzustellen. Es gilt nicht weniger von der späteren Gruppe der Kommentatoren (bis gegen den Schluß des Jahrhunderts), die man "l'école de l'exégèse" genannt hat, und die auf der Basis formal logischen Räsonnements und juridischer Konstruktionen versuchten, den Rechtsstoff synthetisch darzustellen und den Willen des Gesetzgebers zu rekonstruieren, wo dieser fehlte oder nicht klar war. Diese Schule, die durch Namen wie AUBRY et RAU, DEMOLOMBE, LAURENT, MARCADÉ, DEMANTE-COLMET de SANTERRE und VALETTE repräsenstiert wird, ist der vollgültigste Ausdruck für die französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Für die naturrechtlichen Probleme hatte sie kein Interesse. Dieser Mangel an aktuellem Interesse muß auch erklären, daß die deutsche historische Schule auf das gleichzeitige Frankreich einen so geringen Einfluß ausübte. Wohl war die Zeitschrift "Themis" (1819 bis 1831), die ATHANASE JOURDAN gründete, besonders in der Richtung SAVIGNYs und seiner Schule orientiert, sie behielt aber doch zu einem großen Teil ein naturrechtliches Gepräge. (9)

4. Außerhalb des Kreises der Juristen entstand eine Reaktion gegen das metaphysische Naturrecht. Die soziologische Schule, von AUGUSTE COMTE begründet, von Männern wie BORDIER, COURCELLE-SENEUIL und TARDE weitergeführt, und in DURKHEIMs Meisterwerken völlig neu entstanden, bedeutet, ebenso wie die historische Schule in Deutschland, eine Reaktion gegen die metaphysisch-naturrechtliche Rechts- und Staatsauffassung. Schon im Jahr 1852 sagt COMTE in seinem "Catéchisme positiviste" was für eine moderne normative Betrachtungsweise als einleuchtend feststeht: daß man nicht von subjektiven Rechten sprechen kann, die von einem objektiven Normsystem unabhängig wären, und daß dieses notwendigerweise und in erster Linie Pflichten normiert, da das subjektive Recht sich nur als ein konstruktives Element zur Bestimmung der Pflicht betrachten läßt.

Wie erwähnt ist die soziologische Schule in erster Linie doch keine Reaktion gegen das naturrechtliche, ethische Ideal, sondern gegen die Lehre vom Recht (und dem Staat) als freiem und willkürlichen Menschenwerk. Was die Ethik angeht, so hat innerhalb der Schule nie Einigkeit geherrscht und man darf wohl sagen, daß DURKHEIMs und LÈVY-BRUHLs Morallehre noch nicht völlig die notwendigen Konsequenzen aus der wissenschaftstheoretischen Grundlage der Soziologie gezogen haben. Dagegen hat zu allen Zeiten darüber Einigkeit geherrscht, daß man Recht und Staat nicht als willkürliche, frei erfundene Schöpfungen betrachtete, sondern als eine Wirklichkeit, die von objektiven, soziologischen Gesetzen determiniert wird.

In diesem Zusammenhang interessiert uns der Einfluß der Schule auf die Rechtsethik. COURCELLE-SENEUIL kämpft erbittert gegen das überlieferte metaphysische Naturrecht. An seine Stelle setzt er - sicher unter SPENCERs Einfluß - ein utilitaristisches Ideal. Andere - gleichfalls unter dem Einfluß des SPENCER-DARWINschen Evolutionismus - betrachten die Rechtsidee als ein Entwicklungsprodukt und studieren ihre Genesis und Entwicklung. Auch GABRIEL TARDE bekämpft das Naturrecht, aber nur in seiner konkret-ausführlichen Form. Er nimmt an, daß es gewisse oberste unveränderliche Prinzipien gibt, eine gewisse "vérité morale" [Wahrheit der Moral - wp]. Insofern steht er den modernen Vertretern des Naturrechts nahe.

5. Gegen Ende des Jahrhunderts nahm die soziologische Moralauffassung in etwas popularisierter Gestalt einen neuen Aufschwung. Unter dem Schlagwort "le solidarisme" entstand eine Bewegung, die von LÉON BOURGEOIS im Jahr 1896 mit einem Buch über "la solidarité" inauguriert wurde. Die Bewegung stand sicher in Verbindung mit dem Bedürfnis des Laizismus nach einer Moraltheorie. Ihre Prätension war ursprünglich, eine imperativistische Moraltheorie zu schaffen, die ausschließlich auf der physischen Tatsache der Solidarität und eine rein naturwissenschaftliche Methode basiert war. Wenn wir uns nun dessen erinnern, was oben in I, 3 über den Unterschied zwischen  normativer  und  naturwissenschaftlicher  Erkenntnis gesagt worden ist, dann werden wir sogleich einsehen, daß dieser Versuch von vornherein methodisch unmöglich ist. Jeder Gedankengang, der von physischen Tatsachen ausgeht und eine naturwissenschaftliche Methode benutzt, wird niemals um den damit bezeichneten Kreis herumkommen. Die Resultate können notwendigerweise nicht darüber hinausgehen, daß eine gewisse faktische Naturwirklichkeit festgestellt, gewisse faktische Naturgesetze konstatiert werden. Sie werden niemals eine Norm, eine Pflicht für die Menschen begründen können. Wäre man auch imstande, klarzumachen, daß eine gewisse Handlungsweise für das Bestehen des menschlichen Lebens faktisch notwendig ist, so hat doch diese Aussage einen ganz anderen Inhalt, als der Satz, daß diese Handlungsweise  Pflicht  ist. Die letztere Aussage ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß es Pflicht ist, das Leben zu bewahren. Diese Voraussetzung aber macht keine  naturwissenschaftliche  Wahrheit aus.

So sah man dann auch bald die Unmöglichkeit ein, auf rein faktisch naturwissenschaftlicher Grundlage eine Norm aufzustellen. In den Jahren 1901-1902 hielten auf den  Ècoles des Hautes Études sociales  hervorragende französische Moralphilosophen eine Reihe Vorlesungen zur Beleuchtung des Problems der Solidarität. Man war sich im allgemeinen darüber einig, daß man mit Solidarität, wenn man sie als Grundlage für eine Handlungsnorm ansieht, ein Ideal postuliert. LÉON BOURGEOIS gab selber seinen früheren Irrtum zu. Besonders ÈMILE BOUTROUXs Ausführungen sind von großem Gewicht. Nichts destoweniger kam im selben Jahr (1901) ein eigentümliches und bedeutendes juristisches Werk heraus, das mit großem Talent und großer Energie noch einmal versuchte, den in Wirklichkeit paradoxen Gedanken durchzuführen, eine soziale Handlungsnorm,  la régle de droit objectif,  in einem sozialen Faktum zu begründen. Das war LÉON DUGUITs "L'Ètat, le droit objectif et la loi positive". DUGUITs Gedanke fußt auf COMTEs Positivismus und Solidarismus in ihrer schon damals veralteten Form als eine rein naturwissenschaftliche Lehre. Er ist der erste französische Jurist, der ernsthaft den Gedanken COMTEs, daß der Begriff  subjektives Recht  aus der Domäne der Politik verschwinden muß, zur Durchführung bringt. Er will eine rein objektive Rechtsethik schaffen. Unglücklicherweise wählte er als Grundlage dafür eine Moraltheorie, die bereits damals allgemein aufgegeben war, und die eklatanteste Verkennung des Unterschiedes zwischen naturwissenschaftlicher und normativer Erkenntnis bedeutet.

Später hat DUGUIT viele Bücher geschrieben. Formell hält er ständig an seiner ersten Lehre fest, es läßt sich aber leicht zeigen, daß in seinem letzten großen Werk "Traité du droit constitutionel" von seiner ursprünglichen Lehre nur noch die Schale übrig geblieben ist. Der Kern ist jetzt in Übereinstimmung mit der herrschenden soziologischen Richtung eine historisch-relative Morallehre.  La conscience juridique du peuple  [das Rechtsbewußtsein der Menschen - wp] ist der höchste Maßstab - ganz so wie für die historische Schule hundert Jahre früher. (10) Doch erkennt DUGUIT in Übereinstimmung mit der Lehre des heiligen THOMAS von AQUIN einen Rechtfertigungsbegriff mit gewissen ewigen und unveränderlichen Elementen an. Er gibt selber zu, daß man ihn insofern einen Anhänger eines  droit naturel  nennen kann. Und so reicht DUGUIT in seinem Alter der Metaphysik, die er sein ganzes Leben lang mit so unermüdlicher Energie bekämpft hat, die Hand. (11) Das erklärt sich aus einer Wendung, die sich in den letzten Jahren in der französischen Rechtsphilosophie vollzogen hat, und von der später die Rede sein soll (Nr. 7).

6. Wie man aus obigem ersieht, machte sich in Frankreich etwa um die Jahrhundertwende bis gegen den Ausbruch des Krieges eine ständig wachsende anti-metaphysische, soziologische Bewegung geltend. Wohl schien auch das Naturrecht Fortschritte zu machen. Man sprach sogar von einer "renaissance du droit naturel". Aber dieses  droit naturel nouvel  war vom alten Naturrecht weit verschieden. Im Gegensatz zu diesem verzichtete das neue Naturrecht darauf, konkrete, juridische Lösungen von seinem Ideal aus zu deduzieren. Ein konkretes, detailliertes vorbildliches Recht wird jetzt verworfen, man begnügt sich damit, "une idée directrice" [richtungsweisende Idee - wp] anzugeben. Ja, von einzelnen abgesehen, die, wie BEUDANT, die Unveränderlichkeit der abstrakten Idee festhalten, geht man sogar so weit, anzuerkennen, daß diese Idee in Bezug auf Ort und Zeit variabel ist. SALEILLES führt das von STAMMLER übernommene Schlagwort "droit naturel au contenu variable" [natürliches Recht variabler Inhalte - wp] ein. Während sich aber in STAMMLERs Lehre ein invariables Element, die Form, fand, verschwindet dieses gänzlich in SALEILLES' Wiedergabe. SALEILLES' Naturrecht besteht in Wirklichkeit nur darin, daß er sich auf die Analogie, "la conscience collective" [kollektives Bewußtsein - wp] und "droit comparé" [vergleichendes Recht - wp] als subsidiäre Rechtsquellen beruft. Seine Absicht mit diesem Naturrecht ist, einer abstrakt-logischen Interpretationsmethode entgegenzuwirken, den Richter, wenn die Worte des Gesetzes versagen, auf die erwähnten extra-legalen - aber doch empirisch-positiven - Quellen zu verweisen. Sein Naturrecht ist also sehr, sehr weit von einem absoluten, metaphysischen Idealrecht entfernt. DEMOGUE erklärt freilich in seinem monumentalen Werk "Notions fondamentales du droit privé", daß ein Idealrecht existiert. Er denkt dabei jedoch nicht nur an eine subjektive Würdigung. "C'est le but de la vie envisagé objectivement, but qui doit exister en dehors de nous." [Objektiv betrachtet sind das Ziel des Lebens Zwecke, die außerhalb von uns selbst liegen. - wp] Wir scheinen uns hier also mitten in der krassesten Metaphysik zu befinden. Aber unmittelbar darauf heißt es: "ce probléme d'ordre objectif nous ne pouvons l'aborder que par nos idées subjectives, je dirai même volontiers par nos sentiments". [Dem Problem einer objektiven Ordnung können wir uns nicht von unseren subjektiven Vorstellungen her nähern, nicht einmal durch unsere Gefühle. - wp] Damit wird in Wirklichkeit eingeräumt, daß das besprochene objektive Ideal wissenschaftlich unerkennbar und deshalb auch nicht objektiv ist. Abgesehen von dieser wissenschaftstheoretischen Unkorrektheit, die sich aus dem Drang nach einem metaphysischen Glaubensbekenntnis erklärt, ist DEMOGUEs hübsches Buch im übrigen von einem tiefdringenden realistischen Geist getragen. Man darf deshalb wohl das erwähnte absolute Rechtsideal als rudimentäres Überbleibsel ansehen, das von den überwundenen metaphysischen Systemen übernommen wurde, ohne im übrigen mit DEMOGUEs eigener Lehre organisch zusammenzuhängen.

Indem "le droit naturel nouvel" die Variabilität des Ideals anerkennt, hat er sich vollständig von einer metaphysischen Grundlage entfernt und steht faktisch auf demselben Standpunkt, wie die realistische Soziologie. Von zwei verschiedenen Seiten fand so eine wertvolle Annäherung, ja ein Zusammentreffen statt. Die Soziologie nahm ursprünglich ihren Ausgangspunkt in einem "reinen Faktum" - räumte aber nun ein, daß sich hinter diesem ein Ideal verbarg, das durch die Würdigung eines gegebenen Gemeinwesens bestimmt wird. Das Naturrecht hatte seinen Ausgangspunkt in einer "reinen Idealität", einem absolut-metaphysischen Idealrecht genommen - gab aber nun den positiv-relativen Charakter des Ideals zu. Von zwei verschiedenen Ausgangspunkten aus traf man sich am gleichen Ziel: der Behauptung eines positiven, relativen Ideals auf soziologisch-kollektiver Grundlage.

Zum Schluß soll davon gesprochen werden, wie die letzten Jahre eine Störung in diesem Entwicklungsgang gebracht haben.

7. Bereits vor dem Krieg war man geneigt, den französischen "Idealismus", d. h. die französische Naturrechtsdoktrin der deutschen "Machttheorie" gegenüberzustellen. Der Krieg gab dieser Neigung neue Nahrung. So entstand auf nationaler Grundlage der Drang, wieder stärker eine absolute Rechtsidee zu betonen. Man betrachtete die vorausgehende, realistisch orientierte Periode als einen vorübergehenden Verfall unter deutschem Einfluß und sah im Krieg eine Prüfung, die den französischen Idealismus zu neuem Leben erwecken sollte. Es entstand eine ganze kleine Literatur, die darauf ausging, den französischen Idealismus zu verherrlichen und den Schaden nachzuweisen, den die deutsche Rechtsphilosophie angerichtet hätte. Man machte die deutschen Professoren für den Krieg verantwortlich. Selbst ÉMILE BOUTROUX lieferte einen Beitrag dazu in einer Konferenz der "Société des dames francaises" (12). Es ist hier nicht der Ort, darauf einzugehen, inwiefern eine  moralische  Wahrheit in diesen Angriffen lag. Wir wollen die Dinge hier von einem  rein rechtswissenschaftlichen  Gesichtspunkt aus betrachten. Wir wollen zeigen, daß die Schlüsse, die man von französischer Seite aus dem moralischen Unwillen gegenüber Deutschland zog,  rechtswissenschaftlich  ganz unhaltbar sind.

Die Wirkungen bestanden vor allem darin, daß man aufs Neue zur Lehre eines absoluten, metaphysischen Naturrechts zurückkehrte - in dessen Namen die alliierten Mächte den Krieg geführt hatten. BONNECASE betont eifriger denn je ein  droit absolu  auf metaphysischer Grundlage. HAURIOU, der bisher hervorragende Werke auf soziologischer Grundlage geschrieben hatte, entwickelt in einem Artikel, der sich gegen die deutsche Rechtslehre richtet, eine absolute Naturrechtsdoktrin. Die maßhaltende Formulierung: "droit naturel au contenu variable" wird verworfen. "Il existe un idéal justice universel et immuable" [Es existiert nur ein ideales Recht, das universell und unveränderlich ist. - wp] Er begnügt sich indessen nicht mit einem  droit rationnel,  sondern greift ganz auf die älteste Naturrechtslehre zurück,  le droit naturel  im engeren Sinne. Das Recht entspringt aus der Natur des Menschen. Er sucht der klassischen Lehre einen moderneren Zuschnitt zu geben, indem er sie auf die Anthropologie gründet. (!)  L'espéce humaine  [menschliche Spezies - wp],  homo sapiens,  wird durch die  sapientia  [Weisheit - wp], d. h. das Vorhandensein moralischer Fähigkeiten konstituiert. Als Grundlage also dient ein moralisches Gefühl, ein moralischer Instinkt, oder wie man nun diese subjektive Offenbarungsform ewiger Wahrheiten nennen mag, und damit die Metaphysik.

BERTHÉLEMY schmäht die Lehre von der Personifikation des Staates als eine deutsche Staatsverherrlichung. RIPERT schildert die deutsche historische Schule als nationalistisch im Gegensatz zum universellen Naturrecht. Selbst DUGUIT, der Naturrechtsgegner ansich, bekennt sich, wie erwähnt, zu Naturrecht und Metaphysik. Von orthodox soziologischer Seite übernimmt es DAVY, mit Hilfe einer vertieften Soziologie den französischen Idealismus zu retten.

Es ist nicht schwer - wird aber längerer Ausführungen bedürfen - die Summe rechtswissenschaftlicher Irrtümer aufzuweisen, auf denen diese Angriffe und Schlußfolgerungen beruhen. Die Hauptsache ist, daß die Gegenüberstellung von "Idealismus" und "Machttheorie" selber rechtswissenschaftlich falsch ist. Das folgt einfach schon daraus, daß der französische Idealismus eine  rechtsethische  Lehre ist, die deutsche Machttheorie aber eine  Rechtstheorie  als Basis für eine  positive  Rechtswissenschaft. Für ein genaueres Verständnis verweise ich auf meine obigen Ausführungen (I, 3). Damit ist nicht gesagt, daß sich nicht hinter der deutschen Rechtstheorie eventuell eine moralische Lehre, oder genauer der Mangel einer solchen verbarg. Das hat aber mit der deutschen Theorie, wie sie vorliegt, als  Theorie des positiven Rechts,  nichts zu tun. Als solche kann die deutsche Machttheorie mit der französischen Naturrechtslehre nicht kollidieren. Sie beschäftigen sich nicht mit den gleichen Problemen. Man kann sogar behaupten, daß auch die französische Auffassung einem Machtprinzip huldigt, soweit man aus der Naturrechtsdoktrin eine Theorie des positiven Rechts heraussondern kann. DUGUITs Lehre von "les gouvernants" als "les plus forts" [Herrschaft als Macht - wp] ist ein Beispiel hierfür.

Es ist für die Umstände, unter denen die französische Polemik entstand, charakteristisch, daß die einzelnen Verfasser zwar alle darin einig sind, die deutsche Auffassung in einen Gegensatz zur französischen zu stellen, daß die Polemik im Ganzen genommen aber voller Inkonsequenzen ist. Es entbehrt nicht der Komik, wenn man konstatieren muß, daß das, was der eine Verfasser als deutsch schmäht, oft für einen anderen eine echt französische Theorie oder notorisch alten französischen Ursprungs ist. Umgekehrt kann es auch geschehen, daß das, was man als französischen Idealismus verherrlicht, früher und besser in Deutschland gesagt worden ist.

So kann man feststellen, daß die Theorie von der Personifikation des Staates, die BERTHÉLEMY als deutsch brandmarkt, seinen echten französischen Ursprung in ROUSSEAUs Lehre von der Souveränität der Nation hat; und daß MICHOUD erklärt, die Personifikationslehre sei in der modernen französischen Staatstheorie vorherrschend. Außerdem ist BERTHÉLEMYs eigener Versuch, die verpflichtende Kraft des Rechts durch einen "consentiment géneral" [allgemeinen Konsens - wp] zu begründen, früher und mit viel größerer Tüchtigkeit von dem Deutschen BIERLING durchgeführt worden, besonders in der Fassung seiner Lehre, wie sie in seinem Werk "Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe" vorliegt. Was RIPERT anbetrifft, so soll bemerkt werden, daß der "Nationalismus" der deutschen historischen Schule, d. h. ihr historischer Relativismus in aller modernen französischen Soziologie der tragende Gedanke ist. BONNECASE kann man daran erinnern, daß  l'école de l'exégése  [Schule der Auslegung - wp] - die "au XIX: e siécle a symbolisé en France la science du droit" [das 19. Jahrhundert steht für ein Frankreich der Rechtswissenschaft - wp] - nach seiner eigenen Darstellung eine bedeutsame Ähnlichkeit mit der geschmähten deutschen Schule hat. Die genannte französische Schule hat, sagt er, den Gesetzgeber vergöttlicht, und "déifier le législateur c'est aprés tout déifier l'État" [Die Vergötterung des Gesetzgebers ist eine Vergötterung des gesamten Staates - wp]. Alle erwähnten Verfasser kann man fragen, weshalb sie in rechtswissenschaftlicher Hinsicht ihre Anklage mehr gegen die deutsche als gegen die englische Theorie richten, die seit AUSTINs Zeit, d. h. im letzten Jahrhundert, ebenso wie die deutsche einer Machttheorie als Grundlage für das positive Recht gehuldigt hat.

Es gibt Gründe genug, die die hier behandelten Irrtümer verständlich machen. Wie zu Beginn dieses Teils erwähnt, hat die Theorie des positiven Rechts niemals in Frankreich ein eigentliches Problem gebildet. Es ist daher zu verstehen, daß man die positive deutsche Rechtstheorie für eine Rechtsethik, d. h. für die Verleugnung einer solchen gehalten hat. Man hat auch wohl Grund zu glauben, daß die Haltung der französischen Theorie vorübergehend ist. In der  Revue de metaphysique et morale  hat RUYSSEN bereits im Jahr 1915 einen klugen und sympathischen Artikel über "la force et le droit" geschrieben. Im Vorwort zur neuesten französischen Staatslehre hat CARRÉ de MALBERG Gesichtspunkte, die den hier dargestellten analog sind, vertreten. - Im Jahr 1814 schrieb von SAVIGNY in einer durch die politischen Verhältnisse erregten Gemütsverfassung seine berühmte Streitschrift mit einer einseitigen, ungerechten Kritik des französischen  Code civil.  Später hat er seinen Fehler eingesehen und sich leidenschaftslos über die französische Rechtswissenschaft geäußert.

8. Wie oben unter Nr. 3 besprochen, ist die naturrechtliche Problemstellung und Methode an und für sich legitim. Aber, wohl verstanden, nur solange, wie sie innerhalb des Gebietes der Rechtspolitik Anwendung findet und streng von der Theorie des positiven Rechts gesondert bleibt. Es liegt indessen - wie SALMOND nachgewiesen hat - eine große Gefahr in der  Äquivokation droit  als  droit positif  und  droit naturel.  Zahllos sind daher auch die Irrtümer, die diese Äquivokation in der französischen Literatur erzeugt hat. So ist die oben erwähnte begeisterte Huldigung vor dem französischen Rechtsideal im Gegensatz zur deutschen Machtlehre ohne diesen Hintergrund undenkbar. Die so entstehenden Verwirrungen beruhen alle auf einer Vermischung des positiven Rechts mit dem Naturrecht. Man begeht einen fundamentalen Fehler, die Existenz eines Objekts mit seinem Ideal zu verwechseln, das in Bezug auf eine gewisse Normart bestimmt ist. Oder, wie STAMMLER sagen würde, man verwechselt den Begriff des Rechts mit seiner Idee. Der Sprachgebrauch ist im Französischen so lose, daß BONNECASE ein ganzes Buch über "la notion de droit" [Der Begriff des Rechts - wp] schreiben konnte, in dem sich auch nicht ein Wort über den Begriff des Rechts findet.

Diese Verwechslung schreibt sich, abgesehen von der erwähnten Äquivokation, von einem psychologischen Umstand her, der sich im Entwicklungsprozeß der Normwissenschaften geltend zu machen scheint. Die normativen Begriffe werden nämlich zuerst mit besonderem Hinblick auf die moralische Domäne, das zuerst entdeckte Ursprungsgebiet der Normen, gebildet. Dann sucht man die so gefundenen spezifisch moralischen Begriffe auf andere normative Gebiete zu übernehmen. Das muß wegen der Verschiedenheit der Verhältnisse zu Verwicklungen führen, so z. B. hinsichtlich des Geltungsbegriffs. Der Entwurf zum  Code civil  erklärte "le droit naturel" für "la source de toutes les lois positives" [Quelle aller positiven Gesetze - wp]. Damit soll in erster Linie gesagt sein, daß die positiven Gesetze ihren  moralisch  bindenden Charakter aus ihrer Übereinstimmung mit "le droit naturel" herleiten. Infolge der obenerwähnten Begriffstransfusion greift nun dieser moralische Begriff auf das juridische Gebiet über. Man übersieht dabei, daß ein juridischer Geltungsbegriff existiert, der ebenso spezifisch ist, wie der moralische. Da ist es dann nicht zu verwundern, daß man in der französischen Literatur allgemein den Begriff des positiven Rechts mit der Idee des Rechts vermengt und die Geltung des Rechts mit seiner ethischen Justifikation identifiziert. Oft wird das positive Recht als eine sanktionierte Festsetzung, als eine Ergänzung oder eine mit Rücksicht auf die Umstände abweichende Interpretation des Naturrechts bestimmt. Deshalb hat man auch eine menschliche Gesetzgebung zur Ergänzung der göttlichen nötig. In einer neuen französischen Einleitung zur Rechtswissenschaft wird das Verhältnis so dargestellt, daß das positive Recht eine "interprétation du droit naturel" sei, die durch verschiedene positive Umstände modifiziert wird. Das wird dadurch illustriert, daß man sagt,  le droit positif  werde durch  le droit naturel  definiert, wie eine mathematische Kurve durch ihre Asymptote. Der Fehler bei diesen Definitionen, für die sich eine Menge Beispiele anführen lassen, liegt nicht darin, daß sie die Wahrheit verschleiern, daß das positive Recht noch so verwerflich sein kann, ohne daß es darum seinen Charakter als positives Recht verlieren würde. Das gilt, ob nun das Ideal, das das Naturrecht bestimmt, metaphysisch oder historisch relativ ist, wie in der modernen soziologischen Schule. So z. B. wenn DUGUIT in seinem neuesten Werk "Traité de droit constitutionel" den Begriff des positiven Rechts mit dem historisch-relativen Ideal: "la conscience juridique du peuple" [das Rechtsbewußtsein der Menschen - wp] vermengt. Außer dem hier behandelten naturrechtlichen Einschlag macht sich in diesem Gedankengang ein anderer Methodensynkretismus [Methodenvermengung - wp] geltend. "La conscience juridique du peuple" wird nicht nur als Ideal angesehen, sondern auch als Faktum, als wirkende, soziologische Ursache der Existenz des Rechts. DUGUITs Standpunkt entspricht genau dem der deutschen historischen Schule. Die Geschichte wiederholt sich. Freilich sucht DUGUIT seine Abweichung von der deutschen historischen Schule zu betonen, indem er behauptet, daß er im Gegensatz zu dieser der "conscience collective" [Kollektivbewußtsein - wp] keine selbständige, reale Existenz beimißt. Das Volksbewußtsein wird nicht in einem "Volksgeist" hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], sondern soll nur Ausdruck für das sein, was die große Masse eines Volkes meint. Aber abgesehen davon, daß er sich in diesem Punkt im Gegensatz zur soziologischen Schule befindet, auf die er sich sonst beruft, ist diese Ableugnung leeres Gerede. Indem DUGUIT sich auf ein kollektives Bewußtsein zur eindeutigen Bestimmung des Rechts beruft, akzeptiert er damit die praktische Konsequenz der verworfenen Lehre: daß nämlich stets in der großen Masse eines Volkes Einigkeit und Harmonie zwischen den individuellen Idealen herrscht, so daß es möglich ist, von  einem gemeinsamen Ideal  zu sprechen. Dies ist die praktische Bedeutung der Theorie vom "Volksgeist". Die Aufrechterhaltung dieser Konsequenz impliziert faktisch, wenn nicht auf metaphysischer, so doch auf soziologisch-funktioneller Grundlage eine Volksgeisttheorie.

Mit einem schiefen Rechtsbegriff als Ausgangspunkt müssen notwendigerweise auch die anderen Teile der Rechtstheorie mehr oder weniger verfehlt sein. So besonders die Lehre von den Rechtsquellen. Das Naturrecht übernimmt hier die Rolle, das positive Recht zu ergänzen. Der Grundgedanke in aller modernen französischen Quellenlehre (soweit sie nicht, wie in älterer Zeit, glaubt, sich auf das Gesetz beschränken zu können) ist, subsidiär nach dem Gesetz (und der Gewohnheit) verschiedene, naturrechtliche supplierende [ergänzende - wp] Quellen aufweisen zu können. Diese Auffassung, die falsch sein muß, da sie einen formal einheitlichen Rechtsbegriff zerspaltet, führt zu vielen Irrtümern und nutzlosem Streit. Dies soll eingehend im nächsten Kapitel dargestellt werden.

Schließlich soll erwähnt werden, daß die psychologische Triebfeder in DUGUITs Rechtslehre, sein Kampf gegen die Souveränität der Staatsmacht, erst dann psychologisch verständlich wird - aber auch allen wissenschaftlichen Wert verliert -, wenn man sie auf dem Hintergrund der üblichen Verwechslung von Rechtstheorie und Rechtsethik sieht. DUGUITs Abscheu von der Lehre von der Souveränität der Staatsmacht ist ausschließlich darauf zurückzuführen, daß er diese Lehre als eine rechtsethische Theorie zur Rechtfertigung der moralisch bindenden Kraft des Rechts versteht. Seine Opposition hiergegen kann sehr richtig und verständlich sein. Sie verliert jeden Sinn, wenn sie sich ohne Unterschied gegen die Souveränitätslehre von rein positiv-theoretischem Charakter richtet, eine Theorie von der juristisch bindenden Kraft des positiven Rechts. Hier ist seine Lehre, wie so oft, wenn der methodische Unterschied vergessen wird: Scheinprobleme und Scheinkämpfe. Ein Kampf gegen Windmühlen: schön, aber nutzlos.

9. Dieses Kapitel soll mit einer kurzen Untersuchung des Werts des französischen Naturrechts als Rechtsethik beschlossen werden, d. h. also ohne Hinblick auf ihr Verhältnis zum positiven Recht. Eine solche Bewertung kommt der Ethik zu. Der Jurist als solcher hat in dieser Frage keine Kompetenz. Die Untersuchung soll sich hier deshalb nur darauf richten, ob das französische Naturrecht in seinen Hauptlinien mit den tragenden Grundprinzipien in der neueren (französischen) Moralphilosophie und Erkenntnistheorie übereinstimmt. Was nun zunächst die historisch-relative, soziologisch orientierte Naturrechtslehre anbetrifft, so ist diese bis auf weiteres durch eine enge Anlehnung an die moderne französische Wissenschaft und Philosophie legitimiert. (DURKHEIMs Richtung ganz besonders.) Dagegen gründet sich das metaphysische Naturrecht (unter GENYs Führung) auf ethische und erkenntnistheoretische Prinzipien, die in einem eklatanten Gegensatz zur modernen französischen Philosophie stehen, ja zum europäischen Gedankengang seit KANT (13). Es kann sich nur auf eine katholische oder modern-mystische Modephilosophie (Intuitionismus) stützen. Man blättere PARODIs (Le probléme morale et la pensée contemporaine" durch oder lese BRUNSCHVICGs kluge Arbeiten, man denke an Namen wie DURKHEIM, LÉVY-BRUHL, HENRI POINCARÉ, GOBLOT, MEYERSON, BOUTROUX, BOYET, BELOT, FOUILLÉE, um nur auf Geratewohl einige der bekanntesten Namen zu nennen: bei keinem wird man den geringsten Anhaltspunkt für eine solche Lehre finden. Es heißt, das kritische Grundprinzip materialistisch verkennen, wenn man die rechtlichen Prinzipien als  absolut,  als  ansich  existierend postuliert. Man ist genötigt, die Existenz eines inneren, nicht-intellektuellen Organs zum unmittelbaren Anschauen des Ewigen anzunehmen. Die absolute Existenz sprengt jedes System. Das unmittelbare Anschauen entzieht sich jeder Begründung und Kontrolle. Es ist eine innere Offenbarung, die sich prinzipiell nicht von der äußeren unterscheidet, wenn Gottes Stimme vom Himmel zum Menschen spricht. Beide lassen der subjektiven Willkür unbegrenzten Spielraum. Welche Beweise könnte GENY gegen mich zu Felde führen, wenn ich die Formen seines Naturrechts akzeptieren würde, ihre Fundamentalsätze aber mit einem Inhalt erfülle, der zu dem seinen in einem direkten Widerspruch steht? Ich bräuchte mich ja nur, ebenso wie er selbst, darauf berufen, daß "la conscience", "l'intuition", "mon sentiment intime" [mein inneres Gefühl - wp], "des forces psychologiques plus obscures, subconscience, croyance, sentiment" [dunkle psychologische Mächte, ein Unbewußtes, Glaube, Gefühl - wp] oder wie nun GENY die Offenbarungsformen, die sich jeder objektiven Kontrolle entziehen, nennen mag, es mir so offenbart hätten.

Man kann mehr oder weniger von der Möglichkeit einer absoluten Ethik überzeugt sein. Man kann achtenswerte Versuche machen, eine solche objektiv zu begründen. Sowohl in Deutschland, wie in Frankreich hat man großzügige Versuche in dieser Richtung unternommen. Die metaphysische Doktrin bedeutet nichts anderes, als daß man jedes wissenschaftlich-philosophische Räsonnement einfach leugnet, um sich einem religiös-metaphysischen Glaubenspostulat in die Arme zu werfen. - Diese Metaphysik pflegt sich mit dem Namen  Idealismus  zu schmücken.
LITERATUR Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, Wiener Staats- und Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. XIII, Leipzig 1929
    Anmerkungen
    1) Mit diesem Hinweis auf die  kompentente  Macht nimmt GENY eine ähnliche Stellung ein, wie BERGBOHM, dessen realistische Rechtsauffassung in denselben Begriff hinauslief.
    2) LAMBERTs Untersuchungen sind in erster Linie rechtspolitischen Charakters. Seine Lehre vom Gewohnheitsrecht setzt es sich deshalb zum Ziel, zu zeigen, daß dieses nicht, wie allgemein angenommen, eine unbewußte Rechtsbildung, sondern zu einem großen Teil bewußt hervorgebracht ist, vom Richter geschaffenes Recht, so daß die rechtspolitischen Forderungen deshalb auch hier Anwendung finden.
    3) Dieser Umstand zeigt, daß die Theorie der Rechtsquellen nicht ohne Verbindung mit dem praktischen Rechtsleben ist.
    4) Es muß sofort hinzugefügt werden, daß die Aufgabe aller Wissenschaft Erkenntnis ist, d. h. objektive, eindeutige Determination, und daß es deshalb verkehrt ist, wie SOMLO (Juristische Grundlehre, Seite 22) und viele andere, von einer "normsetzenden" Normwissenschaft im Gegensatz zu einer bloß "normdarstellenden" zu sprechen. Da man doch an der Forderung festhält, daß auch die Resultate einer solchen Wissenschaft eine objektive, eindeutige Determination sein sollen, und da dieses Kennzeichen eben ausgedrückt, was man sonst unter einer erkennenden im Gegensatz zu einer schaffenden Tätigkeit versteht, so kann nur von einer Festsetzung "existierender" Normen die Rede sein. Sofern man mit normsetzender Normwissenschaft nur sagen will, daß die Existenz der Norm ausschließlich von intellektuell-apriorischen Faktoren (der Logik) bestimmt wird, kann man mit FELIX KAUFMANN (Logik und Rechtswissenschaft, Seite 62) darauf hinweisen, daß "es normative Wahrheiten, ein normatives a priori nicht gibt". Er nennt den Begriff einer normsetzenden Wissenschaft mit Recht Unsinn. Das Gleiche gilt von GENYs Lehre, die Rechtswissenschaft besitze "une activité proprement productive" [eine wahrhaft produktive Tätigkeit - wp], und sie komme nur in Betracht "tant qu'elle crée véritablement du nouveau" [wenn sie wahrhaftig etwas Neues erschafft - wp] (Methode II, vgl. Seite 145-146, 231-233 und I, Seite 5).
    5) Hiermit soll jedoch nicht die Frage entschieden sein, wieweit die Rechtsethik eine Anwendung der ethischen Normen auf das Recht ist (die übliche Auffassung); oder eine eigene Begründung besitzt, die wieder entweder so gedacht werden kann, daß die rechtlichen Normen in einer Parallelität zu den ethischen stehen (STAMMLER), oder daß sie eine eigene Stufe im Verhältnis zu diesen innerhalb einer gewissen Stufenfolge repräsentieren (MAX SALOMON).
    6) Man kann gegen die hier vorgenommene Dreiteilung einwenden, daß es richtiger sein würde, mit Rücksicht auf die Einheit der Methode der Rechtstechnologie zusammen mit der Rechtssoziologie zu gruppieren. Das kann sehr richtig sein. Wenn es hier dennoch nicht geschieht, so deshalb nicht, weil die praktischen Ziele der Rechtstechnologie es natürlich machen, sie unter die Rechtspolitik einzureihen.
    7) Es ist eine interessante Aufgabe, eine psychologische Erklärung für die populäre Verknüpfung von Moral und Indeterminismus zu geben. Sie läßt sich vermutlich darin finden, daß ein Drang besteht, das  Leiden  zu  justifizieren.  Das nackte Faktum des Leidens ohne Verbindung mit menschlichen Zielen und Bestrebungen wird als "sinnlos" empfunden, als die eigentliche Tragik der Menschheit. Wenn dagegen ein Mensch ein Leiden "freiwillig" auf sich nimmt, d. h. um ein Ziel zu erreichen, das er höher wertet, als das Freisein vom Leiden, dann scheint diesem der Stachel genommen. Das Faktum des Leidens wird durch die Voraussetzung eines überwiegenden Wertes justifiziert.  Nicht  also die Ursachenbestimmtheit des Leidens, sondern seine  Zwecklosigkeit  wird "sinnlos" genannt. Das Entscheidende bei der Justifizierung des Leidens liegt also umgekehrt nicht darin, daß man die Ursachlosigkeit der Handlung postuliert, sondern darin, daß man ihre Zweckbestimmtheit fordert, d. h. verlangt, daß sie aus einem Motivationsprozeß hervorgegangen ist, in dem die Vorstellung vom Leiden Element gewesen ist. - Da das populäre Bewußtsein bei Moral vorzugsweise an Verantwortung, Schuld, Straf leiden  denkt, so findet obiges Räsonnement hier Anwendung. Das Strafleiden ist justifiziert, wenn es aus einem Motivationsprozeß, wie erwähnt, hervorgegangen ist. Es ist noch rätselhaft, warum diese Forderung eines Motivationsprozesses, einer Zweckbestimmtheit im populären Gedankengang als Forderung einer Ursachlosigkeit der Handlung (Indeterminismus) ausgedrückt wird. Der Grund ist vielleicht der, daß man den ursprünglich normativen Charakter des Denkens auf einen später kausalen überleitet. Geradeso wie Schuld voraussetzt, daß die normative Zurechnung bei der Person des Leidenden haltmacht, verlangt man, daß auch die kausale Ursachreihe dort aufhört, d. h. daß die Handlung indeterminiert ist. Das hängt mit dem äußerst interessanten Problem zusammen, in welchem Grad normatives Denken in der Geschichte der Menschheit einem kausalen vorausgegangen ist.
    8) Unter den neueren Versuchen in diesem Stil ist der von BEUDANTS in "Le droit individuel et l'Etat" zu nennen. Ebenfalls DUGUITs Rechtslehre in ihrer älteren Form (régle de droit = régle 'de fait) [Regel des Rechts = Regel der Tatsachen - wp]
    9) Über die Geschichte dieser Zeitschrift siehe BONNECASE, La Thémis. BONNECASE bekämpft eifrig die übliche Vorstellung, daß die  Thémis  ein Organ der historischen Schule in Frankreich war. Er hebt hervor, daß die Leiter in einem hohen Maß naturrechtlich beeinflußt waren (Seite 246f; vgl. Seite 248f; daß das römische Recht im Programm der Zeitschrift eine untergeordnete Rolle spielte (Seite 246) ferner, daß sie nicht SAVIGNYs Abneigung gegen eine Kodifikation teilt. Die Wahrheit ist wohl, daß die von BONNECASE hervorgehobenen Unterschiede zu einem großen Teil notwendigerweise aus den Umständen folgen mußten. Die historische Schule konnte in Frankreich nicht dieselbe Form annehmen, wie in Deutschland. Die Zeitschrift ist zweifellos in der Richtung der deutschen Rechtswissenschaft orientiert.
    10) Wenn man die Rechtsregel eine "régle de fait" nennt, so will man sie als naturnotwendig auf die Tatsache der Solidarität begründet bestimmen. Unter der Voraussetzung, daß man leben will, muß sie gefolgert werden, da man nur in einer Gemeinschaft leben kann. (L'État, Seite 84-85). Wie aus dem Text hervorgeht, muß dieser Standpunkt schon aus dem Grund verlassen werden, weil die Solidarität als Grundlage für eine Handlungsnorm ein Ideal ist, keine Tatsache. Aber der Verfasser entfernt sich noch weiter von seinem Ausgangspunkt, insofern, als er das Recht nicht auf einen objektiven Solidaritätsbegriff basiert, der mit einem gegebenen Gemeinwesen gegeben ist, sondern auf eine kollektive Vorstellung von dieser Solidarität. Bereits in "L'État" taucht dieser Gedanke auf. So wird Seite 282 aus der Solidarität als solcher abgeleitet, daß der Staat das kapitalistische Eigentumsrecht nicht anerkennen soll, ein Standpunkt, der Seite 283 verlassen wird, unter Hinweis auf die herrschende kollektive Auffassung, die das Privateigentumsrecht als notwendig ansieht. Dieser Gesichtspunkt herrscht vor in "Traite I". Wohl bewahrt man noch die alte Lehre dem Buchstaben nach, aber der Geist ist ein anderer. Das Recht wird nun auschließlich von "la conscience juridique" vom Volk aus bestimmt. Den Zusammenhang sucht man zu wahren, indem man den Begriff "équilibre" [Gleichgewicht - wp] oder "ordre social" einführt. Die Rechtsregel wird dem Naturgesetz an die Seite gestellt, das in einem Organismus herrscht: wird es gebrochen, dann tritt ein "désordre", eine kollektive Reaktion ein. Man wird indessen bemerken, daß die kollektive Reaktion nicht einem Naturgesetz folgt, sondern kollektiv-normativen Charakters ist. Die Gleichsetzung ist falsch. Die nominelle Übereinstimmung zwischen DUGUITs alter und neuer Lehre ist möglich aufgrund einer Äquivokation [Mehrdeutigkeit - wp] in der Bezeichnung "fait". Das kollektive "fait moral", auf das DUGUIT sich stützt, ist wohl  als psychischer Akt  eine Tatsache, aber der  Inhalt des Aktes  ist ein Ideal, eine Norm. Als Akt unterscheidet er sich nicht von allen anderen. Allein auf den spezifischen Charakter des Inhalts als Inhalt, als Rechtfertigkeitsideal, kann DUGUIT das Recht begründen, das dann natürlich nicht den Charakter einer "régle de fait" hat. Vgl. hierzu BOUTROUX, Science et Religion, Paris 1922, Seite 163. Es ist klar, daß alle die Forderungen, die aus dem kollektiven Ideal abgeleitet werden, z. B. die Religionsfreiheit, nicht als physische Existenzbedingungen für ein Gemeinwesen aufgefaßt werden können. DUGUITs Standpunkt ist demnach identisch mit dem der historischen Schule.
    11) DUGUIT, Traite, Seite 50f, 73. Ob man mit den Metaphysikern eine unveränderliche "justice en soi" [Gerechtigkeit ansich - wp] behaupten will, die in der menschlichen  Natur  begründet ist und vom Gewissen erkannt wird, oder ob man wie DUGUIT sich auf das Rechtfertigkeitsgefühl als einem Faktum berufen will, es aber als "un élément permanent de la nature humaine [ständiges Element der menschlichen Natur - wp], so wie THOMAS von AQUIN es analysierte, postuliert - dürfte ein und dasselbe sein. Auch hier verschleiert die fehlende Scheidung zwischen einem psychischen Akt und seinem Inhalt, die Erkenntnis dieser Wahrheit.
    12) EMILE BOUTROUX, Germanisme et Humanité, Revue international de l'enseignement, 1915, Seite 241f und 344f: Germanisme = "une barbarie savante et une science barbare" [gelehrte Barbarei und barbarische Wissenschaft - wp] (Seite 350).
    13) Es muß wohl zugegeben werden, daß auch KANT zu der Erkenntnis des kategorischen Imperativs durch eine Art intellektueller Intuition, das Gewissen, gelangt. Aber im Gegensatz zu den französischen Naturrechtstheorien ist KANTs Imperativ ein bloß formales Prinzip (oder in jedem Fall als ein solches gemeint). Es postuliert keinen absoluten Code, "le bien en soi" [ansich Gutes - wp].