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HERMANN SCHWARZ
[mit NS-Vergangenheit]
Die Arten des religiösen Erlebens (1)

"Man überlege noch einmal, daß sich in jedem Wert, dessen Soll wir empfinden, unsere Ewigkeitstiefe regt, ob es sich um Wahrheit, Schönheit, Treue, Gerechtigkeit oder Nächstenliebe handelt, stets flammt ein Ideelles mit werbender Kraft in uns auf, weist uns über die sinnlichen und selbstischen Triebe hinaus und weckt den Hunger nach Wesenhaftigkeit. Wir fühlen hier überall, ein Höheres als wir verlangt unsere Willenshingabe. Aber diese Willenshingabe wird selten geleistet, viel häufiger wird sie versagt. Das natürliche Ich scheut sich, in jenen Werten unterzugehen und läßt die Gottesaugenblicke, in denen sie drängen und fordern, vorübergehen."

Mit ECKEHARTs Lehre von Gott, der der Seele bedarf, um in ihr zu werden, und mit der Vertiefung dieser Lehre, daß im Werden aller Werte, Wahrheiten und individuellen Dinge unsere allgemeinsame überindividuelle Seelentiefe hervortritt, ist eine neue geschichtliche Größe in das religiöse Leben und Denken eingetreten. PLOTINs überseiende Einheit ist verschwunden. Der metaphysische Nimbus seines Einen fällt ab, das Leben und Sein nicht ist, doch beides aus sich herausglänzen lassen soll; das in abstrakter Gleichförmigkeit in sich besteht, ohne ein Eines für ein Bewußtsein oder in einem Bewußtsein zu sein. Anstelle jener beziehungslosen  Einheit die im leeren Raum schwebt und in ihrer unbewegten Substanzialität die Starrheit der pythagoräischen Zahlen nachahmt, tritt ein tief geheimnisvolles, noch unaufgeschlossenes Einheits leben.  Der Gedanke eines Überich ist geschaffen, darin logische und psychische Realität vermählt sind. Bewußtsein und Wert begründend, quillt es hinter allem Sein der individuellen Seelen. Es stockt am Vielheitsleben, das sie entfalten, um sich, in dieses aufgenommen, erst recht zu steigern und in der Form bewußter Geistigkeit aufzuschließen.

Solange jene Stockung dauert, erfüllen uns unverstandene Vorstellungen von Gott und Werten. Transzendente Größen scheinen uns zu umgeben, und unser Denken spannt sich vergeblich, ihre auswärtige Objektivität mit unserer subjektiven Innerlichkeit zu vermitteln. Vergeblich auch müht sich unser Wille um Lohn und Gunst von einem jenseitigen Gotteswillen. Gerade indem unser Ich um Gnade frohndet, behauptet es sich in seiner egoistischen Vereinzelung und nimmt auch den göttlichen Willen, den es über sich setzt, egoistisch vereinzelt. Es merkt nichts von den Seinsströmen des überindividuellen Geisteswillens, der dann in den Seelen durchbricht, wenn sie die niedere Lebendigkeit ihres Eigenwillens aufgegeben haben. Wer als Subjekt dieses Geisteswillens lebt, für den verinnerlichen sich die transzendenten Objekte. Er wird selbst zu der ideellen Bewegung, die ihn durchflutet. Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit verlebendigen sich aus Schemen seiner Vorstellung zu Wahrheiten seines Tuns; sie werden zu schaffender Geistigkeit, während sie vorher leere Schablonen waren.

Die Wurzel dieser tiefgründigen Religionsphilosophie fanden wir bei AUGUSTIN. Im augustinischen Begriff der Gottesanlage konnten wir den ersten Keim der kühnen ECKEHART-Gedanken erkennen. Aber wie hat der deutsche Meister alle Tiefen des Begriffes, der so schlicht erscheint, herausgearbeitet!

Nach AUGUSTIN ist uns die Gottesanlage anerschaffen. Das menschliche Wesen behauptet darin einen Rest der Lebensgemeinschaft, zu der uns Gott mit sich bestimmt hat. Vielleicht hätte der Kirchenvater zugegeben, daß unsere Gottesanlage der Keim ist, mit dessen Entfaltung sich alles Gottmenschentum entfaltet. Aber nie hätte er sich diesen Keim als eine unerschafftene, überindividuelle Größe träumen lassen, in deren Begriffe es liegt, daß jede transzendente Göttlichkeit ebenso verschwindet, wie KANTs Lehre von der Apriorität der Raum- und Zeitformen die physische Setzung von Raum und Zeit aufhebt.

AUGUSTIN glaubte noch das Vorhandensein des Gotteskeims in uns dadurch begreifen zu können, daß er ihm die Existenz eines transzendenten Gottes voranstellte. Auf den Gedanken, es könnte umgekehrt, in einem nur vorübergehenden Stadium, das Leben des Gotteskeims bedingen, daß die Vorstellung eines transzendenten Gottes vor uns auftauchen muß, kam er nicht. ECKEHART sah im Grund unserer Seele das überindividuelle Einheitsleben, in dem Wert und Bewußtsein noch verschlossen sind, und das sich fühlbar macht, indem Werte, deren Soll wir empfinden, vor unser Bewußtsein treten.

Wie hat man sich zu diesem  Leben  zu verhalten? Diese Frage, nicht aber die Frage, wie man sich zu Gott zu verhalten hat, ist für ECKEHART die Kardinalfrage. Sie liefert den Maßstab, unter dem er die ihm vorliegenden religiösen Standpunkte mißt. Des Menschen Verhalten zu Gott schwingt in der Gestaltung jenes Grundverhältnisses nur anhangsweise mit.

Der Gesichtskreis ECKEHARTs eignet sich auch für uns, um die religiösen Standpunkte, denen wir in unserer bisherigen Nachforschung begegnet sind, auf einfache und klare Kategorien zu bringen. Durcheinandergeschlungenes wird entwirrt, Auseinanderliegendes wird gesammelt werden.

Man überlege noch einmal, daß sich in jedem Wert, dessen Soll wir empfinden, unsere Ewigkeitstiefe regt, ob es sich um Wahrheit, Schönheit, Treue, Gerechtigkeit oder Nächstenliebe handelt, stets flammt ein Ideelles mit werbender Kraft in uns auf, weist uns über die sinnlichen und selbstischen Triebe hinaus und weckt den Hunger nach Wesenhaftigkeit. Wir fühlen hier überall, ein Höheres als wir verlangt unsere Willenshingabe. Aber diese Willenshingabe wird selten geleistet, viel häufiger wird sie versagt. Das natürliche Ich scheut sich, in jenen Werten unterzugehen und läßt die Gottesaugenblicke, in denen sie drängen und fordern, vorübergehen.

Damit kommen wir zu der ersten Art, wie man sich zu den Antrieben geistigen Lebens stellen kann. Es ist der Standpunkt  des natürlichen Ich.  Dieses besteht nur dadurch, daß die Gottesanlage in uns noch nicht durchgebrochen ist. Wert und Bewußtsein haben sich noch nicht durchdrungen und erheben sich eben darum vor uns wie zwei voneinander getrennte, ja unvereinbare Größen. Der Wert bleibt für das Denken, die Seele für den Willen isoliert. In unserer Vorstellung scheinen die Werte für sich zu bestehen. Wir nehmen sie als rein ideelle Gedankeneinheiten, als bewußtseinsfremde Abstrakta. Ebenso isolieren wir unser Bewußtsein. Wir ergreifen es für sich in unserem Eigenwillen, der überall das Seine sucht. das ist der Zustand des natürlichen Menschen. Vergeblich harrt die Seele der Werterfüllung und harrt der Wert darauf, kein abstraktes Ziel zu bleiben, sondern zum Gehalt seelischer Bewegung zu werden. Die Beziehung zwischen dem Wert und dem unselbstischen Gefallen, das auf ihn eingestellt ist, bleibt nur Keim und Anlage. Sie ist nur äußerlich vorhanden, nicht als Liebe in das Subjekt hineinentwickelt. Kurz, der Zustand der natürlichen Menschen ist durch beides charakterisiert: das Fürsichnehmen seiner selbst im  Eigenwillen  und das Fürsichnehmen der Werte, ihre Abstraktheits- und Entfernungstäuscung in der  Vorstellung

Es war das anfangende Erwachen unserer Ewigkeitsanlage in uns, daß Wertvorstellungen in uns auftauchen und an unseren Willen pochen. Gleich hier, an seiner Schwelle, wird das religiöse Leben verfälscht. Der eigensüchtige Mensch verkennt, daß jene Werte seine Hin- und Darangabe fordern. Er möchte sie in Lusterregungen auflösen oder in ihnen seine Eitelkeit befriedigen. Auch noch in den Werten such er sich und das Seine und will, daß  sie  ihm mit Lust zahlen oder sein Ich geistig schmücken, statt daß er ihnen mit seinem Sein zahlt. Da gilt ihm dann Tugend für Glückseligkeit oder für eine innere Steigerung seiner Würde. In diese Art Sittlichkeit schleicht sich nur zu deutlich die Eigensucht und Eigenliebe des natürlichen Menschen (2).

Allein es gibt einen inneren Zeiger, der trotz aller Lust- und Eitelkeitstäuschungen die Falschheit dieser Beziehung zwischen Wert und Bewußtsein anzeigt, und der uns daran mahnt, daß sich erst mit einer ganz anderen Durchdringung beider geistiges Leben verwirklicht. Wir empfinden die Forderung, daß Werte in uns, wir in Werten zu  leben  haben, in der Weise eines Sollens. Dieses Sollen ist die Bewußtseinsspiegelung der in uns aufstrebenden Gottesmenschheit. Der Gott in uns spiegelt sich im Bewußtsein solange als Gesetz, bis die in uns gepflanzten Gotteswerte überall dort im  Leben  der Liebe wirklich aufgenommen sind, wo vorher nur  Anlagen  auf sie zielten. Ein fortgeschrittener Zustand religiösen Lebens tritt ein, wenn der Mensch jenes Soll erkennt und das Pflichtgebot, den in Gesetzesform gekleideten Anspruch der Werte auf ihn, anerkennt. Die geläufige Gestalt dafür ist, alle Werte in einem göttlichen Willen zusammenzufassen und anzunehmen, daß von diesem Befehl an uns ausgeht, ihm gemäß zu leben. Unser unmittelbares Verhalten zu den Werten verwandelt sich hiermit in ein mittelbares. Der Anblick einer fremden Macht tritt zwischen sie und uns. Sie sind mit der Einbeziehung in diese Macht vor unserer subjektivistischen und eudämonistischen Verfälschung mehr geschützt, als wenn wir sie nur als die Inhalte unserer Tugend anstreben. Auch ist die Abstraktheit und Vereinzelung von ihnen genommen. Wenngleich nicht in uns, so erscheinen sie doch in dem göttlichen Willen, der sie erzeugt oder sanktioniert, lebendig und vereinheitlicht. Freilich, diesen Willen selbst nimmt der natürliche Mensch, wie er seinen eigenen Willen nimmt: als ein in sich vollendetes und auf sich reflektiertes Leben. Er läßt Gottes Willen in einer transzendenten Selbständigkeit neben und gegenüber dem seinen bestehen, nur stärker an Macht und rein in den Absichten.

Auf diesem Punkt seiner religiösen Entwicklung hat sich der natürliche Mensch in den  gesetzlichen Menschen  verkleidet: noch ungebrochen der Eigenwille, aus sich heraussetzend und transzendierend (in jenseitigen Bezirken schweifend) nach wie vor die Vorstellung. Daß Werte im menschlichen Bewußtsein von innen her Leben werden wollen, bleibt unbegriffen. Es gilt als ein göttliches Gebot, daß wir sittlich leben, d. h. uns nach den sozial unentbehrlichsten Wertvorstellungen richten sollen. Wir seien hier zu Leistungen verbunden, auf deren Erfüllung die Gunst, auf deren Verfehlung der Zorn des jenseitig gedachten Gotteswillens ruht.

Der Gegensatz zum natürlichen und gesetzlichen Menschen beginnt mit dem  Christenmenschen Bei ihm ist alle Eigensucht und aller Eigenwille geschwunden. Nur der Bewegung aus Gott ist seine Seele geöffnet, ohne daß er etwas für sich sucht. Nicht gehorcht er dem Herrn seiner Seele, um Himmelsseligkeiten zu erwerben, oder um der Qual der Verdammten zu entgehen. Er macht sich zum reinen Gefäß des göttlichen Willens, zu dem hin er in unmittelbarer Hingerissenheit der Liebe bewegt wird. Was eine solche Liebe des gotteswilligen Menschen, die das Gemüt zum unmittelbaren Gottesdienst stimmt, hervorruft, ist nach AUGUSTIN die innere Güte, Wahrheit und Schönheit Gottes: nach BERNHARD von CLAIRVAUX ist es die Leidens- und Liebesmajestät  Christi.  Bei DUNS SCOTUS ist die Überzeugung, daß echte Religiosität nur in einem Verzicht auf Eigenwillen und in der gänzlichen Fügsamkeit unter Gott besteht, schon so erstarkt, daß er einen besonderen Anreiz, durch den wir zum unmittelbaren Gefallen an Gott erobert werden, nicht mehr voraussetzt. Genug, zu wissen, was fromm sein bedeutet. Nun steht es bei jedem, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Freilich betont DUNS stark, daß die Entscheidung gegen Gott, das Bestehen auf sich selbst und seinen Eigenwillen, immer Unseligkeit bedeutet (3). Diese können wir nur los werden, wenn wir zu unserem egoistischen Willen "nein" und zu allem, worin sich Gottes Wille an uns wendet, "ja" sagen.

Aber womit wendet sich Gottes Wille an uns? Was haben wir als Christenmenschen, sei es augustinischer, sei es bernhardischer, sei es dunistischer Prägung, Gott zu Liebe zu tun, nachdem wir gewonnen und gesonnen sind, nicht mehr für uns, sondern nur noch in lauterer Hingabe an Gott zu wollen? Worin besteht die Bewegung  aus  Gott, deren Gefäß restlos zu sein wir uns anschicken? Sollen wir bestimmten Geboten gehorchen, in denen sich Gottes Herrenwille offenbart hat? Hat man den Zeremonien einer Kirche zu folgen, die diesen Willen verwaltet? Handelt es sich um eine Nachahmung des Lebens  Christi,  von dem feststeht, daß es Gott gefiel? Gilt es inneren Erleuchtungen oder der Stimme des individuellen Gewissens zu lauschen, darin Gott mit jedem Menschen besonders verkehrt? Oder sollen wir in den Leiden, die Gott schickt, unseren besten Segen sehen, da sie das schwerste für irdische Kreaturen sind, und der Wille, der sie sittlich bejaht, von egoistischer Selbstbehauptung am weitesten ab- und der überkreatürlichen Art des göttlichen Willens am nächsten steht?

In diesen Fragen offenbart sich die innere Ungewißheit, in der uns auch nocht die christenmenschliche Auffassung des religiösen Erlebens, als handle es sich um die Liebesgemeinschaft zweier Willen, läßt. Wir bleiben ungewiß bezüglich der Bewegung, die wir aus Gott erfahren und für ihn ausführen sollen. LUTHER hat deshalb später die  Fragestellung  geändert. Wir hätten gar nichts Gott zuliebe zu tun, sondern sollen Gottes Liebe nehmen; nicht wir können ihm, sondern er will uns dienen (indem er uns rechtfertigt). Nach den Maßstäben ECKEHARTs gemessen, befindet sich aber auch noch der Christenmensch in einer falschen inneren  Stellung.  Ein letzter Rest vom Standpunkt des natürlichen Menschen klebt ihm darin an, daß ihn noch immer unverstandene Vorstellungen von einem transzendenten Gott erfüllen. Wohl verneint er seinen Eigenwillen; das ist ein Zeichen fortgeschrittener Frömmigkeit. Aber er glaubt, sich damit einem gnädigen Willen über ihm zu ergeben: das ist der transzendente Irrtum. In uns, in einem überindividuellen Fünktleinskeim werdender Gottesmenschheit, liegt in ECKEHARTs Sinn unser Schat. Die Gottes- und Gnadenvorstellung ist nur eine notwendige Funktion im Lebenwerden dieser Gottesanlage. Ist unter dem Zug jener Vorstellung unser Wille bereit geworden, zu sich Nein zu sagen und sich für ein geistiges Nichtichleben offen zu halten, so mag der gewandelte Mensch in einem letzten Schritt getrost noch sie verabschieden. Gibt er seinen Eigenwillen auf, indem er sich für sich nimmt, so darf er auch die Vorstellungstäuschung ablegen, durch die er Gott für sich nimmt. Nicht um ein Verhältnis, das nach außen auf einen hypothetischen Gott geht, sondern um ein Verhältnis nach innen zu den Nötigungen unserer Gottesanlage handelt es sich in der reifsten, eckehartschen Art, der Frömmigkeit.

Die mystische Art, die Art der Vergottungsmystik (4), ist dies nicht.  Der mystische Mensch  kehrt das Verhalten des Christenmenschen nur ebenso einseitig um. Bei ihm weicht die Transzendenz Gottes aus der Vorstellung, aber er vollendet nicht den Selbstverzicht im Willen. Indem er in ekstatischen Denkübersteigerungen, bis zur Vernichtung aller bestimmten Vorstellungen, Gottes Sein zu gewinnen sucht, möchte er die Seligkeit Gottes in sich fühlen. Sein Wille löst sich von allem Ich und Kreaturenglück, um dennoch auf Glück, auf Gottesglück, gestimmt zu bleiben.

Im reifsten religiösen Erleben  wird das Gotterleben zu einem Lebendigwerden aus eigenen Gründen. Wie dem Menschen aller Eigenwille geschwunden ist, haben ihm alle Werte aufgehört, abstrakte und transzendente Vorstellungsgrößen zu sein. Sie sind in ihm zu einer wirkenden Geistigkeit geworden. Wenn vorher Werte, die Sendlinge seines Lebensgrundes, vor sein Bewußtsein traten, so machte er sich daraus kahle Begriffe von anhängenden Tugenden, sozialen Nützlichkeiten, göttlichen Geboten. Er zielte bestenfalls in vorübergehenden Gefallensregungen auf sie, ohne ihnen Liebe zu schenken. Indem er seinem Ichwillen lebte, blieb seine Gottesanlage samt den Forderungen, in denen sie sich regte, nur gleichsam der Anhang des Subjekts, statt daß umgekehrt das Subjekt zum Anhang der Gottesanlage hätte werden sollen. Jetzt hat das Ich gelernt, sich selbst zu verneinen. Der Mensch gefällt sich nicht mehr, sondern mißfällt sich, und stellt alles andere als höher und besser über sich.

Damit beginnt ihm der ideelle Gehalt der Wertvorstellungen, die sich ihm schenken und ihm Aufgaben vorhalten, zu bewähren. Er hält den Gottesaugenblicken, in denen sie drängen und fordern, selbstlos still. Sein Wille ist ihnen geöffnet. Das ungewisse Gefallen, das er vorher an den Werten hatte, belebt sich jetzt, da sich ihnen das Ichzentrum frei gibt, zu Tat und Liebe. Letztere ist mehr als psychische Lebendigkeit. Denn sie ist vom geistigen Leben der Werte erfüllt. Indem die Seele zum Gefäß von Werten geworden ist, sind die Werte konkret, zum Gehalt seelischer Bewegungen, geworden. Darüber fallen die sinnlichen und selbstischen Regungen des Menschen erst recht ab, es bildet sich ein neues Wesen im alten Wesen. Sein seelisches Ich war vorher nichts als die bewegende Kraft des Körpers und in sich selbst eine leere Form. Jetzt verwandelt es sich, indem sich darin ein geistiges Überich als "Seele der Seele" durchsetzt. Wie die Seele den Leib bewegt, während es so aussieht, als ob das eigene Leben des Leibes wirkt, so webt jetzt in den psychischen Regungen ein höheres Leben, während es so aussieht, als ob das eigene Leben der Seele wirkt. Es hat sich nichts und doch alles geändert, wenn ein Ich, das vorher selbstisch war, aufgabenwillig geworden ist. Der Mensch hat dem Wert mit seinem Sein gezahlt, nun durchflammt ihn dessen höheres Sein. In ihm gebiert sich der immanente Gott als Leben des Wertes, der vorher abstrakt war. Er gebiert sich als Leben der Seele, die vorher tot war.
LITERATUR Hermann Schwarz, Die Arten des religiösen Erlebens,Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 150, Leipzig 1913
    Anmerkungen
    1) Unveränderter Abdruck eines  "Überschau und Ausschau"  überschriebenen Abschnitts (§ 21) aus dem in der Sammlung  "Synthesis"  (Sammlung historischer Monographien philosophischer Begriffe) bei CARL WINTER in Heidelberg erscheinenden Werke:  Der Gottesgedanke in der Geschichte der Philosophie  von HERMANN SCHWARZ, erster Teil (von Heraklit bis Jakob Böhme).
    2) Schon TAULER schildert so den Standpunkt der griechischen Ethik in seiner "Nachfolge Christi": "Woh haben die Weltweisen von jeher viel über die Tugend geschrieben, aber auf den wahren Grund derselben sind sie nicht gekommen. Sie schrieben von der Tugend, als von einer der menschlichen Natur angenehmen Sache, und natürlich genommen ist auch die Tugend lieblicher als das Laster; dieser Annehmlichkeit wegen liebten sie selbe, sie fanden ihre Lust in ihr, und darum übten sie solche. Sie suchten also nicht die Tugend, sondern nur ihre Lust, so war sie nur Eigenliebe, nicht Tugendliebe, sie suchten nämlich in ihr selbst. Daran dachten sie nicht, daß gerade in der Verzichtleistung auf alle natürliche Lust die wahre Tugen besteht ... Wer sich und seine Lust in der Tugend sucht, sie deshalb übt, dessen Tugen ist eine bloß natürliche. Die Tugend hingegen mit völliger Entsagung aller natürlichen Neigung und Lust üben, das ist das Werk der Gnade, und in dieser Gnade steht der entledigte Geistesarme."
    3) Darum ist es sehr zweifelhaft, ob das, was uns nach DUNS SCOTUS zu Gott hin bewegt, noch Liebe genannt werden kann. Der Wunsch, von der inneren Unseligkeit der Sünde (des Eigenwillens) los zu werden, ist sichtlich etwas anderes als die positive Hingerissenheit durch den Gottesanblick bei AUGUSTIN oder durch den  Christus-Anblick bei BERNHARD und FRANZ.
    4) ECKEHARTs Mystik ist vielmehr die Überwindung der hergebrachten verflogenen Mystik.