ra-2Oswald KülpeJonas CohnBerthold von KernAugust Döring    
 
FRIEDRICH THEODOR VISCHER
(1807-1877)
Das Schöne und die Kunst
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"Wahrhafte Bildung bringt nur das Schöne, weil es allein den sonst verstümmelten, nach Natur- und Geistseite zerissenen Menschen einigt. Es muß uns mit seinen Reizen durchdringen, wenn sich das eigentliche Wesen in uns entwickeln soll. Ganze Menschen werden wir nur durch die Kunst."

"Das Band des Schönen hebt die Trennung der Stände, der Kultursphären, der Berufsarten, der Charaktere auf, es streift allen Beschäftigungen ihre Einseitigkeit ab, denn alle suchen die Mitte der Menschheit, die Einheit der geteilten Kräfte: indem sie sich auf besondere Zwecke werfen, fühlen sie eben hierin ihren Mangel, daher lieben sie den seligen Schein, womit das Schöne das ganz Leben erst zum Einklang bringt."

"Streng denken ist wohl die höchste unter allen Leistungen des menschlichen Geistes. Aber wer verschlösse sich der Einsicht, daß das Schöne an sich nicht ganz zu erkennen ist? Du wirst ein echtes Kunstwerk nie ganz analysieren können, es bleibt ein unauflösbares Geheimnis zurück. Könnte man alles in Begriffe fassen, wofür brauchten wir dann noch das Kunstwerk? Dann wären ja Worte ein Ersatz dafür."

"Es ist das übersinnliche Substrat in der Menschennatur, das vom Schönen erfaßt wird. Der Mensch soll werden, was er ist. Er soll alle Eigenschaften in sich entwickeln und jene volle Übereinstimmung von Geist und Sinnlichkeit erreichen, von der die Rede war. Wir sind Krüppel, wenn wir nicht unsere Sinnlichkeit erziehen. Vom Band des Geistes getrennt, verwildert sie; und ohne sie verdorrt der Geist. Wer sich mit dem Schönen gar nicht vertraut mach, ist ein Barbar. Des Menschen Natur ist Bildung, Kultur, wodurch die ursprünglich in ihm liegende reine Menschlichkeit sich entfaltet."

In ein glänzendes Reich des Lichts führt uns die Wissenschaft der Ästhetik; es verknüpft sich mit ihrem Gegenstand das Gefühl reinster Freude. Vom Schönen wird jeder erquickt; die Liebe zu ihm ist allen angeboren; es hat keine Feinde.

Man sollte also meinen, das Schöne finde lauter offene Türen. Aber nein: wenigstens abgeneigt sind ihm religiöse Eiferer und moralische Rigoristen. Und wie verhalten sich die nur materiell Gesinnten? Wir haben Achtung für den realistischen Geist unserer Zeit, stellen uns nicht unter die Reihe derer, die ihre Richtung auf die Stoffwelt ohne weiteres bekämpfen. Realismus heißt ja noch nicht Materialismus. Es ist etwas Großes, die Materie zu bezwingen. Sie bringt Wohlstand und damit Unabhängigkeit. Aber wahr ist auch: sie rächt sich oft durch Ansteckung mit dem Erdigen ihres Charakters; der ihr zugewandte Sinn verfällt leicht in trockenen Ernst und trivialen Genuß, er verschließt sich dem Schönen und läßt es so nebenhergehen.

Oft hört man, das Schöne habe keinen Zweck, sei nur  Luxus,  wolle in der Welt nicht nützen, nicht belehren; und aus dieser Anschauung erwachsen ihm Gegner. Nun wohl, in  ihrem  Sinn genommen,  ist  es Luxus. Zur Not ließe es sich auch ohne das Schöne leben. Aber wie? Wäre das Leben dann noch der Mühe wert? Wäre es erträglich?

Und ist das Schöne nicht allerorten verbreitet? Erscheint es uns nicht rings in der Natur? Wallt es nicht in der blauen Luft? Rauscht und wogt es nicht im Wasser? Tritt es nicht hervor in der Gestalt der Pflanze, des Tiers, des Menschen? Wirkt es im menschlichen Schaffen nicht von selbst, mit innerer Notwendigkeit? NIcht nur aus den Werken freier Kunst blüht es uns entgegen. Kein Gerät, kein Gefäß, kein Zimmer, kein Kleid ist ohne einen Anflug des Schönen. Es rankte sich allerorten um das Nützliche, sproßt als Ornament aus der trockenen Kernform des Gebäudes, umsäumt die struktiven Glieder als Blatt, Blume, Stab, Welle, Band, Rolle; es veredelt in grenzenloser Ausbreitung und immer von neuem das bloß Taugliche und vom Bedürfnis Gebotene.

Und weiter! Fragen wir uns, ob das Schöne nicht ungesucht im Leben doch Zwecke erreiche! Freilich unmittelbar praktisch kann das nicht geschehen, denn es ist bloßer Schein; seine tieferen sittlich-politischen Wirkungen können nur indirekt eintreten. Aber wie stark sind sie doch! Suchen wir uns vorzustellen, was die Völker wären ohne seine Macht! Wo blieben die Griechen ohne HOMER, AESCHYLOS, SOPHOKLES, PHIDIAS? Wo die Italiener ohne DANTE, RAPHAEL, MICHELANGELO? Wie können wir uns die Engländer denken ohne SHAKESPEARE, die Deutschen ohne die Strahlen aus den Lichtquellen LESSING, GOETHE und SCHILLER?

Aber auch wenn wir nach der Wurzel sehen, finden wir den tiefsten Zusammenhang. Das Schöne zieht seinen Saft aus dem ganzen Leben; seine Nahrung ist die beste Substanz des Volkstums. Nur aus Kraft kann Kunst erwachsen.

Die von ihrer Weihe strahlende Größe Athens entsprang aus den Befreiungskämpfen gegen die Perser. Auch wenn eine Nation sinkt, wie z. B. die spanische im 17. Jahrhundert, kann der Geist noch in ihr wirken und die Blüte der Kusnt hervorbringen. Selbst Werdendes kann sich im Schönen offenbaren: als wir noch nichts waren, da wurde doch unser deutsches Dichterpaar geboren von der Volkskraft, die eine Zukunft in sich barg. Das Schöne steht also nicht in der Luft.

Wir treiben keine Schöngeisterei, die nur die gefällige Form, nicht den rechten Kern will und den Lebensernst nicht achtet. Mancher mag vor der Ästhetik eine Scheu haben in der Meinung, als sei das, womit sie sich beschäftigt haben, nur etwas Weichliches, ein bloßes Schaumgebilde, als gebe es in diesem Revier nur schlaffes, süßliches Zeug, lyrisches Gezwitscher, leeren Effekt, dünne Produkte einer saftlosen Granzie und als könne sie daher selbst nur ein Naschen, ein leeres Spiel, ein müßiges Gerede sein. Wohl gleicht das Schöne oft einer zarten Blume, aber das Liebliche ist nur eine Schwester des Erhabenen; und das echt Schöne ist doch groß und fest, beharrlichen Geistes, männlich und mit Kraft gepanzert; es ist zwar Schein, aber Schein, aus dem etwas hervorstrahlt; ein bescheidener Schein, aus dem etwas hervorstrahlt; ein bescheidener Schatten, der nichts anspricht zu verändern, außer derm Mark des Lebens. Die großen Künstler der Nationen waren keine Schöngeister; die großen Künstler der Nationen waren jene ehrhabenen Schauer in die Seele, womit uns die tiefsten Momente des Dasein erfassen. Mild, rührend, schmelzend sind die Poesien eines GOETHE, aber sehe einer den inneren Gehalt des Mannes an: er ist geschmiedet wie aus dem härtesten Stahl. Da das Schöne nur  so  gesund ist, hat es auch eine Gewalt. Nein, nicht überflüssig ist das Schöne; wir können ihm nicht entfliehen; es ist nicht  neben  dem Leben, sondern mitten darin, alles erfüllend; es umgibt uns wie Luft, wie Wasser, worin wir baden; es ist eine große Wahrheit, eine  Macht.  Sie ruft: Du mußt mich haben, du Mensch, denn ich will dich bilden!

Wahrhafte Bildung bringt nur das Schöne, weil es allein den sonst verstümmelten, nach Natur- und Geistseite zerissenen Menschen einigt. Es muß uns mit seinen Reizen durchdringen, wenn sich das eigentliche Wesen in uns entwickeln soll. Ganze Menschen werden wir nur durch die Kunst. Das lateinische Sprichwort von der  Wissenschaft:  "emollit mores, nec sinit esse ferocem" [sie besänftigt den Charakter und nimmt ihm die Wildheit. - wp] ist nur halb wahr, denn sie ist abstrakt und mühsam; wer sich nicht hineinarbeitet, dem bleiben ihre Werke Hieroglyphen; und die natürliche Teilung ihrer Arbeit führt zur Einseitigkeit.

Der Wert, den der Gegenstand der Ästhetik: das Schöne vor dem Inhalt der Wissenschaften voraus hat und der eigentliche Grund seiner unvergleichlichen Wirkung liegt darin, daß es unmittelbar verständliche Bedeutung hat, daß es ebensosehr für Sinn und Nerv wie für Geist und Gemüt vorhanden ist.

Und was das Leben, der Staat, die Gesellschaft, das Gesetz fordert, bedrückt uns nicht in dieser Sphäre, denn das Schöne entbindet, indem es anzieht; es reizt, stärkt, erhebt ohne jede praktische Beziehung. Es löst uns vom Drang und Zwang des Sollens, denn es stellt den Endzweck der Welt als erreicht dar und zeigt das Leben im Glanz der Vollkommenheit. (1) Selbst Kampf und Leiden verklärt sich im idealen Schein zum Triumph.

Diese Lösung von der Pein der unerreichten, hastig erstrebten Zwecke ist wesentlich eine Einigung. Die Pein schwindet, weil die Gegensätze als verbunden und ineinandergeglichen dargestellt werden. Die Lösung ist aber ebendaher auch im anschauenden Subjekt eine Einigung der Kräfte. Das Schöne, habe ich gesagt, stellt aus dem geteilten Menschen den ganzen wieder her; es läßt ihn die volle Übereinstimmung seines Wesens mit sich selbst und mit der Welt genießen. Durch das wirkliche Leben zieht sich der Zwiespalt zwischen Materiellem und Geistigem, Sinnenglück und Seelenfreude, Form und Inhalt, Natur und Vernunft, Selbstliebe und Liebe zur Menschheit, Freiheit und Ordnung. Das Schöne bringt Frieden. (2) Sein Bilden ist in diesem Sinn ein Binden und Zusammenbauen. Wie die Kraft, woraus es entspringt, harmonisch ist und zum Einklang dringt, so ist es eine allgemein menschliche Angelegenheit und gründet Harmonie im Leben. Es herrscht überall. Jede Sphäre hat einen Bezug zu ihm. Jede hat freilich wieder etwas, das sie von der anderen ausschließt. Alle aber sind im rein Menschlichen versöhnt; und bei der großen Teilung der Arbeit liegt darin eine umso tiefere Erquickung.

Sämtliche Wissenschaften berühren sich mit diesem Reich. Prüfstein einer philosophischen Weltanschauung ist es, ob sie das Schöne zu erklären weiß. Der Philologe hat es auf der höchsten Stufe mit Poesie zu tun, der Historiker muß in der Kunst den Gipfel des Kulturzustandes erkennen. Der Naturforscher fragt nicht nach Schönheit, aber indem er untersucht, woraus die Dinge bestehen, wie sie zusammenhängen und welchen Gesetzen sie unterliegen, kommt er zuletzt auf einen Punkt, wo die Ästhetik eintritt. Beide Wissenschaften haben sich viel zu sagen. Der Physiologe studiert den Prozeß des Hörens und Sehens; und das führt ihn zur Tonlehre und zur Musik, führt ihn zur Lehre von den Farben und ihrer Harmonie; womit sich auch der Chemiker befaßt. - Und in der Religion, welch ungeheure Bedeutung hat hier die Phantasie, das Organ des Schönen! Im Gegensatz zu ihr will sie zwar das Sinnliche im Menschen nicht aufheben oder vernachlässigen, sondern verklären und fortbilden; doch ohne sie entstehen weder Religionen noch werden sie verstanden. - Dann weiter! Gehört nicht zu einer tieferen Auffassung des Staates die Einsicht, daß die Pflege der Kunst ein integrierender Bestandteil der Verwaltung ist? Der Jurist begegnet dem Schönen in den sinnbildlichen Rechtsgebräuchen. Im Kriminalrecht wird es ihm zustatten kommen, wenn er dramatisch empfänglich ist. - Endlich die technische Praxis. Wir haben uns schon erinnert, wie sie in Kunst übergeht, auch wo es ihr nicht darum zu tun ist. Und so wird sich auch der Ingenieur nicht immer über die Frage der ästhetischen Wirkung hinwegsetzen können. Sogar die doch gewiß eckige, prosaische, rein auf den Gebrauch angelegte Maschine bleibt dem Schönen nicht ganz entzogen. Sein Band schlingt sich überall durch; und der Mensch sucht es, weil er Harmonie sucht. Es hebt die Trennung der Stände, der Kultursphären, der Berufsarten, der Charaktere auf, es streift allen Beschäftigungen ihre Einseitigkeit ab, denn alle suchen die Mitte der Menschheit, die Einheit der geteilten Kräfte: indem sie sich auf besondere Zwecke werfen, fühlen sie eben hierin ihren Mangel, daher lieben sie den seligen Schein, womit das Schöne das ganz Leben erst zum Einklang bringt.

Doch wir sind nicht hier um zu genießen, sondern um einem wissenschaftlichen Zweck zu dienen. Es ist eine schwere Aufgabe, an die wir gehen. Wer sich mit Ästhetik beschäftigen, wer das Schöne und die Kunst auch  begreifen  will, darf Gegenstand und Erkenntnis desselben nicht verwechseln. Der Gegenstand, nämlich die Welt des Schönen, ist heiter, unmittelbar und mühelos einleuchtend oder doch wohltätig anspannend. Der Versuch aber, das Wesen dieses Gegenstandes zu erkennen, ist ernste, mühsame Arbeit, deren Schwierigkeit von Stufe zu Stufe wächst.

Streng denken ist wohl die höchste unter allen Leistungen des menschlichen Geistes. Aber wer verschlösse sich der Einsicht, daß das Schöne an sich nicht ganz zu erkennen ist? Du wirst ein echtes Kunstwerk nie ganz analysieren können, es bleibt ein unauflösbares Geheimnis zurück. Könnte man alles in Begriffe fassen, wofür brauchten wir dann noch das Kunstwerk? Dann wären ja Worte ein Ersatz dafür. Das sagen wir uns selbst; und ein radikaler Gegner aller Ästhetik behauptet nun einfach: Wissenschaft des Schönen ist also unmöglich.

Er wird sich auch darauf berufen, daß wir selbst, wenn wir das Schöne anschauen oder erzeugen, in einer  Stimmung  sind, deren letzte Gründe sich nicht angeben lassen. Wer will erklären, warum z. B. eine Landschaft diese oder jene Gemütsstimmung in uns hervorruft? Das Schöne entsteht nicht durch Reflexion, sondern durch Begeisterung,  theia mania  [göttlicher Wahnsinn - wp]. Im ersten Wurf schon kommt das Bild dem Künstler ganz plötzlich, gleich einem Traumgesicht steigt es ihm auf aus den Tiefen des Unbewußten. Wie will man mit dem Senkblei des Begriffs da hinabreichen? Du wirst das Geheimnis der Kraft, die das Schöne schafft, nie und nimmer ergründen.

Und endlich wird der Gegner sagen: das Schöne wirkt auch auf verschiedene Menschen verschieden. Gibt es nun keine gemeinsame Ansicht über das, was schöne ist, so können wir das Objekt ja gar nicht fassen.

Nehmen wir diese Einwände der Reihe nach auf!

Gegen die Möglichkeit einer Wissenschaft des Schönen wird vor allem angeführt die  Unergründlichkeit des Kunstwerks.  Sie hat, sagt man, ihren Grund darin, daß es unersetzlich ist; Worte, Begriffe können kein Surrogat dafür sein; für das Schöne kann es keinen Ausdruck geben als das Schöne selbst. Aber folgt denn daraus, daß ich das, was der Künstler schafft, nicht begriffsmäßig untersuchen kann? Wir haben hier doch etwas, woran sich Verhältnisse, Teile, Grenzen, Farben, Tonstufen, bestimmte Wirkungen wahrnehmen lassen. Und wir dürfen uns doch besinnen, wie es möglich ist, daß man statt in Worten, in Formen denken und sprechen kann. - Gewiß, es ist ja wahr: wir gelangen da zu keinem Ende; das Schöne läßt sich mit Gedanken nicht ganz einholen und wird immer inkommensurabel [unvergleichlich - wp] sein. Es kann einer meinen, er habe ein Kunstwerk erschöpft und auf Begriffe zurückgeführt, die sich in Worten aussprechen lassen. Kommt er dann wieder, so muß er finden, daß eine ganze Fülle von Gesichtspunkten noch unbegriffen ist. Allein gerade das ist jetzt unsere Aufgabe, das  Suchen.  Wenn auch nicht alles am Gegenstand faßbar ist, so läßt uns doch der Drang nach ästhetischer Erkenntnis nie in Ruhe. Unsere Aufgabe bleibt also auf jeden Fall das Suchen. Und das, was wir finden, sollen wir auch schätzen. Denkendes Analysieren eines Kunstwerks bringt ja doch nicht nichts zutage, sondern sehr etwas. Wenn wir auch FAUST und HAMLET nie ganz ergründen, so können wir doch bis zu einer gewissen Tiefe diesem und jenem darin beikommen, sofern wir uns nur recht Mühe geben. Wir können uns z. B. über die Komposition klar werden, können klar werden darüber, warum der Dichter seine Charaktere so und eben so gestellt hat, können Licht gewinnen über die Szenenfolge, über die Grundidee, über die Hauptpersonen. Gewiß, alles auf einmal wird der suchende Betrachter nicht finden, aber doch jedesmal etwas. Immer wieder von neuem wird er ganze Lichtbündel von Schönheit herausziehen.

Der zweite Einwurf betrifft das  Unbewußte  in der  Empfindung des Schönen.  Natürlich ist das so und wir können den Nebel, worin dieses Geheimnis schwimmt, nie ganz erhellen. Aber wir können doch Lichtlinien darin ziehen und dieser nicht wenige. Das ist doch etwas.

Ein ganz einfaches Landschaftsgemälde, z. B. eine trübe, regnerische Heide, warum reizt sie uns als etwas  Schönes?  Jede Farbe stimmt in ihrer Art. Darf man da nun hoffen, daß die Nuancen der Stimmung sich jemals in Begriffe bringen lassen? - Auch die Töne haben seelische Bedeutungen für uns. Es knüpft sich an eine bestimmte Reihe von Klängen eine bestimmte Stimmungsqualität. Etwas Ideales ist darin. Das kann man wohl nicht in Worten fassen. Man wird nie ganz fertig damit. Aber etwas Licht gibt uns eine eigenartige Symbolik, vermöge welcher unsere Seele unbewußt gewissen Farben, Tönen etwas unterlegt, als brächten sie uns eine Stimmung entgegen, die sie an sich nicht haben. In dieser intimen Symbolik muß das Geheimnis liegen. In ihr Wesen eingeweiht, wissen wir doch etwas mehr, als wenn wir nichts wüßten. Wohl können wir auch damit nicht alles auf Worte reduzieren, aber was wir daran haben, ist doch nicht nichts zur Lösung des Rätsels.

Zum dritten können sich die Gegner auf das  Unbewußte im künstlerischen Schaffen  berufen. Wohl sagt JEAN PAUL mit Recht: "Das Genie ist in mehr als  einem  Sinn ein Nachtwandler; in seinem hellen Traum vermag es mehr, als der Wache und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit im Dunkeln." Der begeistertste Freund des Schönen wird vor allem diesen Einwurf machen. Aber soll etwas darum unerforschlich sein, weil es dem Nacht- und Dämmergebiet im Seelenleben angehört? Dann wäre überhaupt nichts Psychisches erforschlich. Alles, was im Lichte des Geistes liegt, ist ja zuerst in verhüllter Form des Instinkts dagewesen; alles Geistsein ruht ja im Grunde der Natur; und seine Entwicklung verbirgt sich daher dem Blick. Es gibt keine Sphäre des Lebens, des Staates, der Wissenschaft, deren Anfänge nicht im Unbewußten liegen würden. Das Recht z. B. hat lang, es es in Begriffe und Gesetze gefaßt wurde, dunkel im Menschen gewaltet. Was ist heller als die Erkenntnis selbst? Aber auch sie tritt immer zuerst im Flor der Ahnung auf. Alles Sittliche fängt mit Empfindung an und gelangt erst dann zu klaren Grundsätzen. Wenn also etwas darum unbegreiflich ist, weil es vom Unbewußten ausgeht, dann fahre wohl alle Wissenschaft des Geistes! Denn das ist ja eben ihr Geschäft, Unbewußtes ins Bewußtsein zu erheben; sie ist ja gerade die Leuchte im Schattenland der Triebe. - Es verhält sich da, wie wenn man in eine große Wassertiefe hineinblickt; anfangs sieht man nichts, dann tiefer und tiefer, den Boden nie. Man wird den Meeresgrund auch im Schönen nie sehen. - In früheren Zeiten, da freilich glaubte ich in die Tiefe dringen zu können; man wird mit dem Alter bescheidener. - Aber schon das ist Erkenntnis, wenn wir erkennen,  warum  wir die Phantasie nicht ganz erkennen.

Mit Grübeln kann kein Kunstwerk entstehen. Ein scharfes und gründliches Denken muß zwar seine Entstehung begleiten, das Talent jedoch muß angeboren sein, es kommt aus einem dunklen Naturschoß. Unbewußtes waltet hier noch mehr als in allen anderen Gebieten. Trotzdem muß auch diese Nacht sich erleuchten lassen. Wagen wir es nur einzudringen; es gibt keine absolute Finsternis. Das Vermögen, wodurch Schönes entsteht, die Natur der Phantasie und des in sie aufgehenden Ganzen der geistigen Kräfte werden wir doch so weit zu erkennen vermögen, daß sich uns gewisse Unterscheidungslinien darin bilden. Wir finden ihr Schaffen gewissen  Gesetzen  unterworfen. Der Künstler glaubt frei zu handeln und ist doch auf sie angewiesen. Nun treten freilich in jedem einzelnen Akt der künstlerischen Schöpfung diese Gesetze zu einem ganz neuen und  nur sich selbst gleichen  Werk zusammen. Irgendein Stoff gibt irgendeinem, vorher nicht zu bestimmenden Individuum den Anstoß. Allein die Normen, wonach die Phantasie wirken muß, sind, obwohl in jedem neuen Fall in einer neuen Kombination, doch jedesmal dieselben. Wir unterscheiden ferner im allgemeinen Wesen der Phantasie besondere Richtungen,  Begabungsarten  und erkennen, wie hierauf die Verschiedenheit der Künste und ihrer Zweige beruth, wie sich die Phantasie des einzelnen einem oder mehreren dieser Zweige zuordnet und wie er den Bestimmungen dient, die von Natur darin liegen. Das Werden der Künste scheint zwar ein Spiel des Zufalls, ein sinnloses Durcheinander von Willkürlichkeiten zu sein, aber ihr fertiger Bestand gleich einem Bau von klarem Gefüge. Aus dem Wesen der Bildhauerei z. B. haben sich auf langem Erfahrungsweg gewisse  Regeln  hervorgesichtet, erste Grundlagen und Bedingungen plastischen Schaffens, die keiner ungestraft mißachtet.

Weiter! Der eine ist mehr für Menschendarstellung, der andere mehr für Landschaftsmalerei begabt usw. Die Gebiete nun, worauf sich die verschiedenen Talente verteilen, haben ihre festen Grenzen, die nicht ohne Schaden überschritten werden. Wenn z. B. ein Dichter Episches und Dramatisches mischt, so geschieht es nur auf Kosten der Harmonie und des Erfolgs. Damit ist frelich noch nichts gesagt über das Individuelle, unendlich Eigne, wie es im einzelnen Fall zu verwerten ist. Wir müssen uns begnügen, seiner allgemeinen Bedeutung bewußt zu sein. Die Erkenntnis der Gesetze und Schranken ermöglicht nicht von vornherein festzustellen, wie es sich gestalten wird. Die Ästhetik kann jedoch nicht von der Bedingung abhängig sein, daß sie alle möglichen Stilcharaktere und Kunstwerke im voraus müßte nachweisen können. Weiß denn der Staatsrechtlehrer, welche Formen des Gemeinwesens noch auftauchen werden? Übrigens gibt uns die Wissenschaft doch Schlüssel für jedes Künftige. Wer die verschiedenen Arten und Richtungen der natürlichen Begabung überhaupt unterscheiden gelernt hat, der wird auch besser sehen, aus welchen Fäden das Neue, noch nie Dagewesene geschlungen ist. Steht es dann vor Augen, so bleibt zwar sein individuelles Wesen als solches ein Rätsel; niemand kann definieren, worin es an sich besteht, warum es gerade so und nicht anders ist, aber wir erkennen doch die allgemeinen Züge, woraus es sich zusammensetzt. Und sobald dadurch, daß sich die Künstlerindividuen entwickelten, eine Anzahl von Kunstwerken und überhaupt eine Kunst da war, ließen sich stets wiederkehrende Grundmotive in ihrem Tun erkennen und unbewußt befolgte Gesetze, die über dem Individuum stehen.

Überblicken wir nun aber die Vergangenheit, so wird uns klar, wie jeder Künstler, trotz dem Eigenen und Eigensten an ihm, ein Kind seiner Zeit und seines Volkes ist. Er muß sich dem allgemein herrschenden Stil unwillkürlich fügen; diese historische Macht hat mehr Stärke als das einzelne Wesen. Und auch die Epochen und Nationen ordnen sich dem Ganzen unter. Jede arbeitet in ihrem Geiste für sich und geht doch, ohne es zu ahnen, mit dem großen Weltstrom der Menschheit. So offenbart sich im scheinbar Zufälligen Notwendigkeit, im scheinbar Vereinzelten Zusammenhang; und wir sehen:  die Natur des Schönen ist eine geschichtliche.  Wir folgen ihm durch die Zeiten, forschen nach den Ursachen und Bedingungen seines Gangs, erwägen den Wert seiner Erscheinungen, die Gewalt der besonders zu ihm berufenen Männer und Frauen, die Art, wie es durch die obwaltende Gesamtstimmung modifiziert wird, sein Verhältnis zum Leben, zur Religion, zum Staat, zur Gesittung. Und dabei haben wir es immer wieder mit seinen Elementen zu tun. So stellt sich z. B. heraus, wie die Verzweigung der Phantasie in verschiedenen Arten mit den Kulturperioden der Menschheit zusammenhängt, warum es ein klassisches, ein romantisches Ideal gibt und ein modernes (wenn man ein solches annehmen will). Der Unterschied zwischen den großen Künstlern wird uns dabei klarer; und allmählich erhellt sich die Nacht, die zuvor undurchdringlich schien.

Die Gegner berufen sich auch auf die  Ungleichheit des Eindrucks,  den das Schöne macht. Die Urteile divergieren ja. Wir haben keine Maßstäbe. Doch gehen wir von den einfachsten Erfahrungen aus! Wenn einer die Parthenonskulpturen von Phidias, die sixtinische Madonna von RAPHAEL, die Deckengemälde der sixtinischen Kapelle von MICHELANGELO nicht schön findet, werden wir dann mit dem lange Umstände machen und ihm einräumen: ja, du hast eigentlich recht, ein Gesetz gibt es nicht: das sist ganz dem Zufall der Individualität anheimgegeben? Nein, wir werden ihn stehen lassen und denken: du bist ein Esel, denn wir halten dir Richtigkeit unserer Ansicht hierüber für so gewiß, als zweimal zwei gleich vier ist. Es gibt genug verstümmelte Menschen; und sie bestimmen hier nicht. Chinesen und Irokesen werden uns darin so wenig irre machen, als Räuber in unseren Begriffen von Recht und Unrecht. Es gibt doch ein allgemeines ästhetisches Urteil.

Das Schöne ist unmittelbar und absolut einleuchtend. KANT sagt: "Schön ist, was ohne begriffsmäßiges Denken allgemein und notwendig gefällt." Es ist das übersinnliche Substrat in der Menschennatur, das vom Schönen erfaßt wird. Der Mensch soll werden, was er ist. Er soll alle Eigenschaften in sich entwickeln und jene volle Übereinstimmung von Geist und Sinnlichkeit erreichen, von der die Rede war. Wir sind Krüppel, wenn wir nicht unsere Sinnlichkeit erziehen. Vom Band des Geistes getrennt, verwildert sie; und ohne sie verdorrt der Geist. Wer sich mit dem Schönen gar nicht vertraut mach, ist ein Barbar. Des Menschen Natur ist Bildung, Kultur, wodurch die ursprünglich in ihm liegende reine Menschlichkeit sich entfaltet. In der Kultur wird nur fertig, was in der Natur liegt. Besäße einer die Sinnesanlage für das Schöne überhaupt gar nicht, so wäre er nur ein Bruchstück von einem Menschen.

Das Volk freilich hat bei seiner groben Arbeit keine Zeit, diese Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Geist zu entwickeln. Seine Innerlichkeit ist nicht so ausgebildet, daß aus Farben, Gestalten, Tönen als das Tiefe zu ihm spricht, was der Künstler in sie gelegt hat. Nicht daß es dem Volke ganz erspart wäre, aber vor großen Werken wird es mehr oder weniger stumpf dastehen.

Das ursprünglich Reinmenschliche kann in einem Volke durch äußere Ungunst von leichter Entwicklung abgehalten, es kann aber auch verbildet und durch falsche Kultur verdreht werden. Man denke z. B. an China, wo die verstümmelten Frauenfüße für schön gelten. Oder blicken wir nach unserer eigenen Vergangenheit. Die deutsche Malerei, wie lang hat sie gebraucht, um die normale Menschengestalt zu begreifen! Selbst ALBRECHT DÜRER schuf unwillkürlich manche verfehlte. Der trug in seinem Inneren noch nicht den Kanon, den wir mitbringen müssen, um zu beurteilen, daß eine Menschengestalt schön oder nicht schön ist und doch war er ein so meisterhafter Zeichner. Unser nordisches Gefühl hat lange gebraucht, bis ihm das Ideal der schönen Menschengestalt aufging und hat es erst lernen müssen bei den Alten, an der antiken Kunst und an der italienischen. Das Reinmenschliche muß also durch Kultur entwickelt sein.
LITERATUR Friedrich Theodor Vischer, Vorträge, Das Schöne und die Kunst - Zur Einführung in die Ästhetik, Stuttgart 1898
    Anmerkungen
    1) Was nur eine Vorstellung sein kann und nie eintreffen wird, es dünkt uns im Schönen gegenwärtig: insofern hat die Phantasie hier eine Antizipation im uneigentlichen Sinn vollzogen. Aber es ist doch auch eine Antizipation im eigentlichen Sinn, denn der Tag des Besseren wird und muß kommen. So lernen wirden Glauben an das Hohe von der Kunst. Sie wirft den Schein des Idealen in die Wirklichkeit, auf eine Zeit, einen Ort, ein Individuum. In ihrem reinen Äther fühlen wir uns geheilt von den Wechselstürmen der Furcht und Hoffnung. Da sind die Völker frei und der Einzelne hat sein Genüge. - Aus älteren Heften, vom Winter 1848/54.
    2) Hierin liegt insbesondere die Bedeutung für eine in Parteien zerissene Zeit. - Aus einem Heft vom Anfang des Jahres 1849.