ra-4ra-2R. StammlerF. LasalleNietzschevon WieserBöhm-Bawerk    
 
CARL SCHIRREN
Über Machiavelli

"Wer frei sein will - das ist der herrschende Gedanke - soll nur im Bund mit Freien sein Ziel zu erreichen hoffen. Man kann nicht zugleich frei und unfrei, Herr seiner selbst und Gebieter Anderer, Herr seiner selbst und von Anderen abhängig sein. Die Freiheit aller ist die einzige Gewähr des Freistaats."

"Der Tribun oder irgendein Bürger, jeder, hat das Recht, Gesetze ans Volk zu bringen und über jedes so vorgeschlagene Gesetz mag jedermann reden, für und wider. Ein gutes System, solange die Bürger gut sind, denn es ist recht, daß jedermann frei seine Ansicht sagt und das Volk selbst das Beste wählt. Sind aber die Bürger entartet, dann wird dieses ansich gute System verderblich, denn nun tritt nicht der Beste nach vorne, sondern wer der Mächtigste ist und richtet seinen Vorschlag nicht darauf, wie er das allgemeine Wohl, sondern darauf, wie er seine Macht fördert; er redet und, was ihn fürchtet, schweigt, so daß das Volk übel beraten wird und, getäuscht oder gezwungen, zum eigenen Verderben Beschlüsse faßt."

Indem ich das Amt des Rektors antreten, kann meine erstes Wort nur der Wissenschaft gewidmet sein, welche mir den Kreis, in dessen Mittelpunkt ich heute gestellt bin, erschlossen hat. Sie gibt mir ein Recht und legt mir eine Pflicht auf, und keine zu leichte Pflicht. Zwar könnte zur Unterhaltung unter Vielen nichts mehr geeignet, nichts so ansprechend erscheinen, als die Betrachtung einer jener Fragen, von deren Lösung geschichtliche Einsicht abhängt. Sie wollen mir gestatten, nicht ganz dieser Ansicht zu sein, und, wenn ich zu reden aufhöre, dürfte ich Sie bekehrt haben. Was, flüchtig betrachtet, als Gemeingut Vieler, ja, der gebildeten Menschheit erscheint, enthüllt sich bei näherer Prüfung vielleicht als selten bedacht und schwer verständlich und abstoßend. Man ist so gewohnt, Geschichte reizend zu finden, daß man auf den Gedanken nicht gerät, sie könne auch finster, vieldeutig, furchtbar werden.

Ihr erstes Gesetz aber ist Wahrheit. Die Brutalität der Tatsächen bricht sie mit der Brutalität der Logik. Sie ist nicht berufen, zu unterhalten und zu betören, sondern sie lehrt, sie straft, sie vernichtet.

Sie vernichtet vor allem Jllusionen der Geschichtsschreiber; vor ihr besteht nichts, was täuscht, während in unmännlicher Verblendung Generation um Generation sich immer wieder in historischen Täuschungen wiegt, um das erste aller Gesetze vergessen zu können: daß der Mensch, menschlich geredet, sich selbst sein Gesetz, sein Maß und seine Strafe ist.

Es ist gut, aus dem Gedränge der Zeit zu einem der großen Geister einkehren, welche, gemeinen Schwächen enthoben, frei jeder Selbstbespiegelung in erborgten Idealen, ohne Grauen geschaut und verkündet haben, was oft in Jahrhunderten nur einmal begriffen und verkündet wird: das elementare Geheimnis eines Menschheitsproblems.

Es sind immer nur Wenige, welche Wahrheit ertragen und ihr ein Opfer bringen.

Und unter den Wenigen nur Wenige, welche sie ganz und offen bekennen.

Darum ist das, wovon ich Ihnen zu reden haben, zwar vielbesprochen, aber wenig begriffen und immer noch halb verschleiert.

Als zu Ende des 15. Jahrhunderts Frankreich und Spanien von Norden und Süden über Italien hereinbrachen, saßen dort - den Papst, Venedig und etwa noch Florenz ausgenommen - fast lauter neue Gewalten in vielerlei Herrschaften: eine reich gegliederte Welt, voll Eifersucht und Lust am Dasein, voll Freude am Schönen, voll Drang nach Erkenntnis; reich an politischer Einsicht, wie sie sich gleich rege einst nur in den Städten von Hellas entwickelt gehabt; übrigens weder von großer Reinheit der Sitten, noch von hoher, moralischer Kraft, fast durchweg auf Gewalt und Genuß gestellt und entartet, aber mitten in der Entartung in ihrer Weise vollendet, jede Staatszelle mit eigentümlichem Leben: eine beispiellose Mannigfaltigkeit der Bildungen und Formen.

Und plötzlich war darüber hin der Sturm der Eroberung ergangen und ein gemeinsames Elend lastete auf allem, was nicht Papst, was nicht Venedig, was nicht Florenz war.

Ja, von diesen Dreien schien zumindest Florenz der Gefahr demnächst auch erliegen zu sollen.

Gerade in dieser furchbaren Lage entfaltete ein eigentümlicher Trieb des italienischen Genius von Neuem unvergleichliche Blüten. Von jeher hatte in diesem edelsten Stamm der romanischen Welt die höchste Aktions- mit der höchstens Kontemplationskraft gewechselt. Wurde diesem Volk durch eigene oder fremde Schuld die freie Lebensbetätigung gehemmt, so setzte sich seine unerschöpfliche Lebenskraft in ein intensives Beschauen um und, wo es die Dinge nicht zu beherrschen und zu bewegen vermochte, da fand es einen Ersatz in dem Vermögen, zu erkennen, zu begreifen, zu schildern.

Im Leben dieses Volkes tritt jede Phase rasch zu einem typischen Ausdruck hervor. Die größten Maler haben hier bald das Vollkommene übertroffen, die größten Dichter der Unübertreffliche geschaffen. Weder vor- noch nachher hat das menschliche Leben in seiner natürlichen Bedingung so vollendet künstlerischen Ausdruck gefunden, wie im  Decamerone  des BOCCACCIO und nie der Geist in seiner Weltverachtung, im Gefühl der Hoheit, mit welchem er das, was nicht vom Geiste ist, von sich abstößt, in der Demut, mit welcher er sich hingibt an das, was ihn erst voll sich fühlen läßt: als Geist, eine so unsterbliche Verklärung, wie in der  Commedia  von DANTE.

Unter den größten Italienern steht ebenbürtig neben diesen beiden nur einer, an dichterischer Begabung ihnen nicht vergleichbar, in Beherrschung des Stoffs, in Vollendung des Stils selbst von ihnen nicht übertroffen, an Schärfe der Einsicht beiden überlegen: NICCOLO MACCHIAVELLI, der Florentiner.

Geboren 1469, gestorben 1527, so daß er eine der glorreichsten und furchtbarsten Epochen mit seinem Leben umspannt, ein Zeuge der Dinge, deren inneren Sinn und geheime Warnung er in unvergleichlichen Zügen enthüllt hat. Außer den  Dispacci  [Mitteilungen - wp]; den beiden  Ritratti  [Porträts - wp] über Frankreich und Deutschland, welche ihm zugeschrieben werden; der in eisiger Ruhe erschütternden Darstellung, wie CESARE BORGIA einen Bund verräterischer Freunde durch List überwindet und sie dann nacheinander erdrosseln läßt, sind es vor allem vier Werke, deren jedes für den vollen Ruhm des Mannes ausreicht: das Werk über die Kriegskunst, die florentinische Geschichte, die Erörterungen über die ersten zehn Bücher des TITUS LIVIUS und der  Principe:  das Buch vom Fürsten.

Der Zeit nach folgen sie nicht so aufeinander. Der  Principe  ist nicht den  Discorsi,  jenen Erörterungen über LIVIUS gefolgt, sondern älter als sie, geschrieben, als das große Vorbild der Principi, FERDINAND der Katholische, noch lebte; die  Discorsi,  als FERDINAND schon tot war.

Man darf daher nicht sagen, die Lehre, welche der  Principe  angeblich predigt, sei aufgestellt worden, als die vermeintliche Lehre der  Discorsi  gescheitert war, vielmehr ist der Geist MACCHIAVELLIs von der Erwägung der Macht und ihrer Natur noch einmal zu der Betrachtung zurückgekehrt, wie Freiheit unter Menschen errungen, behauptet, verloren wird, wo dann zuletzt freilich die Macht wieder eintritt in ihre Rechte. So daß der dominierende Gedankengang der Schriften - und es ist auch der Gedankengang der Zeit - nicht vom älteren "Principe" zu den jüngeren "Discorsi", sondern von den  Discorsi  zum  Principe  führt.

Die  Discorsi  stellen sich unstreitig die Aufgabe, vornehmlich an der römischen Geschichte die Physiologie des Freistaats zu illustrieren. Nicht um vergangene Dinge, sondern um die Gegenwart zu begreifen, und für die Zukunft zu rüsten. Wer frei sein will - das ist der herrschende Gedanke - soll nur im Bund mit Freien sein Ziel zu erreichen hoffen. Man kann nicht zugleich frei und unfrei, Herr seiner selbst und Gebieter Anderer, Herr seiner selbst und von Anderen abhängig sein. Die Freiheit aller ist die einzige Gewähr des Freistaats. Es ist gut, klug sein und Gelegenheiten ergreifen, aber das erste ist Mut und unbeugsamer Geist. So allein werden Republiken gegründet und erhalten.

Gehört aber zu Behauptung menschlicher Freihit ein so hoher Grad männlicher Tugend, was dann, wenn die Männer entarten?

Und wie eine solche Entartung allmählich, unmerklich wächst und dann unabwendbar hereinbricht, das wird nun in den florentinischen Geschichten mit unübertroffener Meisterschaft geschildert.

MACCHIAVELLI selbst ist ein Teil der Dinge, die er entwickelt; in der flüchtig wiedererrungenen Freiheit hatte er mitten drin gestanden; am Unvermögen seiner Zeitgenossen, sie zu behaupten, sind ihm zuerst die Merkmale des Prozesses entgegengetreten, durch den sie im Laufe der Jahrhunderte abhanden gekommen war: diesen Merkmalen ist er dann rückwärts durch die Jahrhunderte nachgegangen, hat sie überall wiedererkannt und bis in ihre Wurzeln verfolgt. War jemals - so schreibt er im Vorwort - eine Republik durch Parteiung zerklüftet, so war es Florenz. Denn die andern, von welchen Kunde auf uns gekommen ist, hatten meist an einer Spaltung genug, wie Rom nach der Vertreibung der Könige, wie Athen, wie andere Staaten zu anderen Zeiten und schon diese eine Spaltung hat alle ins Verderben gebracht. In Florenz aber haben anfangs miteinander gestritten: Nobili und Nobili, danach die Nobili und das Volk, schließlich das Volk und die Plebs. Und sobald eine Partei die Oberhand gewann, spaltete sie sich sofort in sich selber und jeder neuen Spaltung folgten abermals Krieg, Totschlag, Verbannung, Ruin der Familien und Häuser, wie in keinem anderen Freistaat. Zwar liegt gerade darin der hohe Ruhm von Florenz: daß es trotzdem zu einer solchen Blüte und Macht gedieh; aber nicht minder gewiß liegt darin schließlich der Untergang.

Das ist in Kurzem die Summe. Und indem er nun im ersten Buch die Geschichte Italiens von der Völkerwanderung bis auf die Anfänge von Florenz verfolgt, und wie in einem weltgeschichtlichen Prolog die Geschicke seiner Stadt im Voraus widerspiegelt, schreibt er jene Einleitung, welche in Wahrheit allein diesen Namen verdient und der, an Einheit des Gusses, an innerem Zusammenhang mit dem, was nachfolgt, an künstlerischer Gliederung nichts ähnliches - auch das erste Buch des THUKYDIDES nicht - an die Seite gesetzt werden kann.

Aber die vollendete Meisterschaft des Geschichtsschreiber zeigt sich in der unvergleichlichen Klarheit und Ruhe, mit welcher er die einmal gesicherte Lösung eines historischen Rätsels durch allen Wechsel der Zeiten verfolgt. Da stört ihn kein Bedauern, kein Gedankenspiel mit welthistorischen Ideen, mit höherer Fügung, mit erschlichenen Trostgründen: da tritt nichts hervor, als das Recht, die Pflicht, das Vermögen und die Tatsache der einfachen, menschlichen Freiheit, welche sich ihr Geschick selber zu schaffen, welche zu siegen oder zu scheitern hat.

Nirgends die Befangenheit des Moments, die Hoffnung, die keine Erfahrungen kennt, die jugendliche Torheit  einer  persönlichen Generation, welche, weil sie einem großen Problem gegenübersteht, das sie in Überschätzung ihres Berufes und ihres Vermögens auch lösen zu können sich vermißt - sie wird aber elend daran scheitern - nun gleich vermeint, daß nie ein dergleichen Problem schon vormals gestellt gewesen, daß nie an seiner Lösung Generation um Generation sich abgearbeitet hat und Generation um Generation gescheitert ist.

Vielmehr der untrügliche Blick, der Jahrhunderte umfaßt und sich nicht irre machen läßt durch die Jllusionen einer flüchtigen Gegenwart.

Und so aus dem Fluß der Geschichte selbst und ihrer scheinbar freien und zufälligen Bewegung tritt, ehe er auch nur formuliert ist, mit unentrinnbarer Notwendigkeit, unausgesprochen, der Schlußsatz hervor, welcher dann kurz und eindringlich heißen wird:  il principe. 

So unentrinnbar ist dieser Schluß, daß zuletzt alle Wege auf ihn hinausführen.

Unter den vielen Schlüsseln zum System des  Principe  ist jedoch der einfachste im 18. Kapitel des ersten Buches der  Discorsi  gegeben. Nirgends ist der, wenn man so will verzweifelte, Zirkel, in welchem sich, soweit Menschengedenken zurückreicht und soweit Menschenverstand vorauszuschauen vermag, Freiheit und Macht bewegen, so kurz, so eindringlich, so völlig unwiderleglich dargelegt, wie hier. Indem MACCHIAVELLI die römische Freiheit in ihrer glücklichsten Zeit zum Ausgang seiner Betrachtung nimmt, entwickelt sich für ihn rasch die entscheidende Frage.

Der Tribun - so beginnt der klassische Absatz - oder irgendein Bürger, jeder, hatte das Recht, Gesetze ans Volk zu bringen und über jedes so vorgeschlagene Gesetz mochte jedermann reden, für und wider. Ein gutes System, solange die Bürger gut sind, denn es ist recht, daß jedermann frei seine Ansicht sagt und das Volk selbst das Beste wählt. Sind aber die Bürger entartet, dann wird dieses ansich gute System verderblich, denn nun tritt nach vorne nicht der Beste, sondern wer der Mächtigste ist und richtet seinen Vorschlag nicht darauf, wie er das allgemeine Wohl, sondern darauf, wie er seine Macht fördert; er redet und, was ihn fürchtet, schweigt, so daß das Volk übel beraten wird und, getäuscht oder gezwungen, zum eigenen Verderben Beschlüsse faßt. Wenn Rom, einmal entartet, dennoch frei bleiben wollte, so mußte es seine Verfassung ändern, denn der Böse kann nicht nach derselben Regel leben, wie der Gute und, wo der Stoff sich ändert kann die Form nicht dieselbe bleiben. Nun kann die bestehende Ordnung der Dinge von beidem nur eins: entweder plötzlich oder allmählich verändert werden; plötzlich, wenn man allgemein wahrnimmt, daß sie schon durch und durch entartet ist; allmählich, sofern zeitig entdeckt wird, daß sie langsam zu entarten beginnt. Beides aber, das eine, wie das andere, ist gleich unmöglich. Denn, soll die Reform allmählich erfolgen, so vermag den Anstoß nur ein Mann von ungewöhnlicher Einsicht geben, der früh merkt, wohin sich die Dinge entwickeln. Nun ist nichts wahrscheinlicher, als daß kein solcher Mann zur rechten Zeit da ist; ersteht aber auch einer, so vermag er die Übrigen nicht zu überzeugen. Denn die Menschen halten fest an der Gewohnheit, zu sein, wie sie sind und sie erwehren sich einer unwillkommenen Änderung umso heftiger, je weniger ihnen das Übel, welchem sie zutreiben, greifbar vor Augen tritt: das Künftige, das bloß Mögliche hat für sie keine Schrecken, solange sie sich im Wirklichen wohl fühlen. Und so gehen sie dem Abgrund entgegen. Wiederum, steht erst das Übel gegenwärtig Allen vor Augen und man meint, ihm nun plötzlich entgehen zu können, so ist wohl die Einsicht vorhanden, aber der Wille fehlt, denn in einem entarteten Volk reift überall kein großer Entschluß, und ginge es darüber zugrunde. Es folgt nur aus Zwang und, wer ein solches Volk retten will, muß damit beginnen, ihm die Freiheit vollends zu nehmen. Nun setzt der Entschluß, ein Volk zu retten, einen guten Menschen, der Entschluß sich durch Gewalt der Herrschaft zu bemächtigen, einen bösen Menschen voraus; nur in den seltensten Fällen wird ein guter Mensch durch böse Mittel Gewalt zu erlangen trachten, so gut seine schließliche Absicht auch ist; der böse aber, der sich ohne Bedenken der Herrschaft bemächtigt, wird das Gute nicht wollen und nie die übel erlangte Gewalt zum Segen wenden. So daß aus all dem folgt, wie schwierig, ja, wie unmöglich es ist, in einem entarteten Volk die Freiheit zu behaupten oder neu zu begründen. Der beste, am wenigsten grausame, der einzig rettende Weg führt zuletzt aus der Republik zum Königtum.

Das heißt, sobald man durch die Namen hindurch auf den elementaren Grund der Begriffe sieht: aus der Freiheit zur Macht.

Und damit gehen die  Discorsi  zu anderen Fragen über.

Nun steht schon fest, was MACCHIAVELLI demnächst noch weiter begründen mag: das Beste, was Menschen zuteil werden kann, ist Freiheit, solange sie die Kraft haben, sie zu behaupten. Wer diese Kraft hat, ist gut; böse wird, wer sie verliert. Ein entartetes Volks, sich selbst überlassen, ist verloren; selbst unter einem bösen Prinzip stünde es besser da. Denn aus sich selbst will es weder, noch kann es sich helfen; der  Principe  will nicht, aber er hat die Einsicht und vollends die Macht. Ändert sich einmal der Wille des Volkes, so hilft das wenig, denn auch beim besten Willen vermag es nichts; der  Principe  braucht nur zu wollen, und er kann.

Und wo gäbe es sonst einen Ausweg, wenn nun gar eine Fremdherrschaft droht? Wie vermöchte ein verkommenes Volk zugleich sich selbst und den Feind zu überwinden? Ein Volk ist verloren, das seine Grenzen nicht zu schützen vermag; daß es das vermag, ist die Vorbedingung jeder Freiheit. Daher hat die Freiheit, welche sich selbst nicht zu behaupten vermag, der Macht zu weichen; die Macht kann eher noch die Freiheit wiederbringen, als die, ihrer selbst nicht mächtige, Freiheit die Macht.

So tritt auf die lange vorbereitete Bühne der  Principe. 

Und bei der Geistesschärfe, mit welcher MACCHIAVELLI jedes Problem zergliedert und die Bedingungen seiner Lösung erwägt; bei der antiken Entschlossenheit, mit welcher er sich allen Bedingungen unterwirft, welche seine Einsicht als unausweichlich erkennt; bei dem Mut, der ihn beseelt, geht er rückhaltlos auf das erste, das nächste Ziel los. Ist einmal eine unerläßliche Aufgabe gestellt, so muß sie gelöst werden um jeden Preis. Sentimentale Bedenken ist weiter nicht am Platz; die Freiheit mag weinen - warum hat sie sich nicht selber zu helfen vermocht? - die Moral die Stirn verhüllen - warum hat sie sich als unfähig erwiesen, das Entsetzliche abzuwenden? - es bleibt keine Wahl: vor allem - der  Principe  muß siegen.

Und nun werden ihm die Lehren vorgetragen, wie er allein zum Sieg kommt. Nie, weder vorher, noch nachher, sind die Fibern, ist die innerste Seele der Mcht so nackt, so ganz ohne Rückhalt bloßgelegt werden, wie hier.

Von den Fürsten, die es durch Erbschaft sind, will MACCHIAVELLI nicht viel reden; sie brauchen sich nicht sonderlich zu mühen; sie mögen tun, wie ihre Vorfahren, und im Übrigen sich in die Zeit schicken: auf Tugend, auf Größe, auf Glanz kommt es da weiter nicht an; die Mittelmäßigkeit selbst weiß sich zu behaupten und eine eigene Wissenschaft des Herrschens ist gar nicht vonnöten.

Anders schon bei solchen, welche weder durch Erbrecht gesichert, noch völlig neuen Ursprungs sind. Auch wenn ein Verdienst sie erhöht hat: auf allen Wegen drohen ihnen Gefahren. Denn so sind einmal die Menschen, daß sie hoffen, es jedesmal, sobald sie den Herrscher wechseln, besser zu haben. Wen sie anfangs mit Jubel begrüßen, trachten sie bei der ersten Gelegenheit zu stürzen, um einem andern zu folgen oder sich selbst zu verwalten und gewinnen freilich weder die Freiheit noch einen Herrn, wie sie ihn suchten. Wer aber einmal gestürzt ist, hat darum nicht minder die Herrschaft verloren.

Die schwerste Aufgabe schließlich ist dem gestellt, der im vollsten Sinn des Wortes ein  principe nuovo  ist.

Ist er ein Mnn, geboren zu herrschen, entschlossen, um jeden Preis, es komme, wie es wolle, die Herrschaft zu behaupten, so hat er sich die erste Regel zu merken: Staaten werden behauptet, wie sie gewonnen wurden. Der Fürst, den die Liebe der Untertanen erhebt, vermag die Liebe der Untertanen zu halten; aber das sind Fälle, so selten, daß sie kaum in Betracht kommen. Wer dagegen die Herrschaft - und das ist die Regel - durch List und Gewalt erringt, der behält sie nur, solange er mit List und Gewalt zu herrschen fortfährt. Was er tut, er tue es voll, ohne Zaudern, ohne Halbheit. Menschen wollen entweder geschmeichelt oder getreten sein: abwechselnd eins ums andere oder ein Mittelding von beidem ertragen sie nicht. Kleine Beleidigungen werden sie rächen; große zu rächen, werden sie nicht wagen. Wer sie kränkt, kränke sie so, daß gleich jeder Gedanke an Widerstand gebrochen wird. Wer dennoch widerstrebt, werde vernichtet: der Rest wird sich fügen.

Es gibt Viele, welche Regeln aufgestellt haben, nach denen sich ein Herrscher richten soll. Aber sie haben sich Staaten und Fürsten eigens erdacht und im Auge gehabt, was sein könnte, nicht, was da ist.

Ein Fürst hat keine Zeit, nach Idealen zu jagen.

Wer, statt zu handeln, erwägt, wie zu handeln sei, geht unter. Ein Herrscher, der stets und in allen Dingen das Gute wollte, müßte damit beginnen, ein Todfeind Aller zu werden, die nicht das Gute wollen. Denn der wahrhaft Gute kann das Böse nicht dulden; er ruht nicht eher, als bis es ausgerottet ist; somit müßte ein guter Fürst zum Verfolger seiner Untertanen werden, um schließlich doch zu erliegen. Daher soll ein Herrscher beides zu sein vermögen: gut und böse, das eine wie das andere je nach Lage der Dinge.

Wie jeder Mensch, so wird vor Allem der Fürst - weil aller Augen sich auf ihn richten - an seinen Eigenschaften erkannt. Sie können Lob oder Tadel verdienen. Ein Fürst kann freigiebig oder geizig; er wird grausam oder fromm sein; er wird sein Wort halten oder brechen; der eine ist weichlich und kleinmütig; der andere großherzig und furchbar; milde oder stolz; unbändig oder keusch; offen oder versteckt; hart oder gnädig; ernst oder leichtfertig; gläubig oder ganz ohne Glauben. Freilich ist vielleicht das löblichste Ding ein Fürst, der alle guten Eigenschaften in sich vereinigt; aber wo ist der Mensch, von dem sich das sagen ließe? Die Menschennatur erträgt es nicht.

Nun mag der gewöhnliche Mensch, je nach Anlage, Glück oder Laune in einen gut, im andern böse sein und je nach der Mischung der Elemente mehr gut oder mehr böse erscheinen, etwa unkeusch, aber wahr; gütig, aber leichtsinnig; kleinmütig und fromm, oder umgekehrt: keusch und verschlagen; hart und ernst; großherzig und doch ganz ohne Glauben. Der gewöhnliche Mensch mag eben sein, wozu die Natur ihn gemacht hat.

Ein Fürst aber, der herrschen will, ist kein gewöhnlicher Mensch; er soll nicht sein, wozu die Natur ihn gemacht hat; er soll das sein, was ihn zu beherrschen befähigt und, da er ohne Schwächen und Sünden kein Mensch wäre, so soll er sündigen und schwach sein in dem, was ihn nicht hindert, zu herrschen; was aber den Herrscher ausmacht, darin soll er das Größte leisten.

Es ist leicht gesagt, ein Fürst solle mehr Liebe als Furcht erwecken. Aber mit Liebe beherrscht man die Menschen nicht dauernd; daß man es mit Furcht vermag, hat CESARE BORGIA bewiesen: wer war gehaßt, wie er und wer hat, wie er, die Romagna gebändigt und sich zu Füßen gehalten?

Ein Fürst soll nicht Scheu tragen, grausam zu sein, wenn der Staat dadurch zusammengehalten wird. Nur soll es ihm keine Freude machen, grausam zu heißen. Wo er es sein muß, da sei er es; wo er es nicht zu sein braucht, da zeige er sich menschlich, um nicht unerträglich zu werden.

Daß es am Fürsten löblich ist, sein Wort zu halten, edel und wahr, nicht falsch und verschlagen zu sein, wer räumte das nicht ein? Und doch lehrt alle Erfahrung und die Gegenwart predigt es laut: die größten Fürsten sind die geworden, welche nicht viel auf das Worthalten gaben, welche die Sinne der Menschen zu betören verstanden: sie haben sich Alle unter die Füße gebracht.

Zwei Arten gibt es, zu triumphieren: mit Hilfe des Gesetzes und mit der Gewalt der Waffen. Menschwürdig ist nur das erste; das andere ist bestialisch; allein, wo das erste nicht ausreicht, da muß das andere zu Hilfe kommen und ein Fürst soll beides zu sein vermögen: Bestie und Mensch.

Als Bestie soll er Löwe und Fuchs sein, weil ein Löwe sich nicht der Fallstricke zu erwehren vermag und ein Fuchs nicht der Wölfe. Als Fuchs soll der Fürst den Netzen entgehen, als Löwe die Wölfe in Schrecken halten. Wer allezeit den Löwen machen will, versteht sich schlecht aufs Regieren.

So soll auch ein weiser Herrscher nicht immer sein Wort halten; schadet es seiner Herrschaft, so soll er es brechen; er soll es brechen, wenn sich die Bedingungen geändert haben, unter welchen er es gab. Wären freilich alle Menschen gut, dann wäre diese Lehre nicht gut; aber da die Menschen böse sind und ihr Wort Dir nicht halten, brauchst Du auch ihnen Dein Wort nicht zu halten und nie kann es einem Fürsten an Gründen mangeln, sein Wort zu brechen. Alte und neue Geschichte weiß zu berichten von zerrissenen Traktaten, von zertretenen Schwüren, von Wortbruch und List und immer noch hat der Fürst triumphiert, der es am besten verstanden hat, Fuchs zu sein. Nur daß er nicht vom Scheitel bis zur Ferse als Fuchs einhergeht, sondern er soll sich zu verstellen wissen. So einfältig sind nun einmal die Menschen und so völlig dem Anspruch des Augenblicks, der Forderung, welche der Tag stellt, unterworfen, daß, wer zu betrügen unternimmt, noch immer welche findet, sich betrügen zu lassen. Solange ALEXANDER VI. auf dem päpstlichen Stuhl saß, hat er die Menschen unaufhörlich hintergangen; er hat nie an etwas anderes gedacht und immer hat er erfolgreich gelogen mit einer unendlichen Kunst, die teuersten Schwüre zu tun une einer unendlichen Übung, sie sämtlich zu brechen: er kannte seine Welt und es ist ihm immer gelungen.

Die Welt wird beherrscht nicht durch das, was Du bist, sondern durch das, was Du scheinst. Darum braucht ein Herrscher nicht alle Eigenschaften, von welchen die Rede war, wirklich in sich zu vereinen; es soll sie nur gelegentlich hervorscheinen lassen. Besäße er alle Tugenden und übte sie ununterbrochen, so wäre er unfähig zu herrschen, weil er, um den Staat zusammenzuhalten, auch einmal sein Wort brechen muß, auch einmal kein Erbarmen üben darf, auch einmal die Menschlichkeit, selbst die Religion mit Füßen zu treten hat. Sein Geist soll daher frei sein und zu allem befähigt: zum Gutsein, wo er es darf, zum Bösetun, wo es gilt. Über seine Lippen soll kein Wort kommen, das nicht Frömmigkeit, Treue, Menschlichkeit, Religion, Wahrhaftigkeit atmet und fromm, treu, menschlich, religiös, wahrhaft soll er scheinen; was er im Herzen ist, bleibt seine Sache.

Was Du bist, erkennen nur Wenige; was Du scheinst, sehen Alle mit Augen. Der Fürst lasse sich nur eines zur Sorge sein: den Staat behaupten. Die Mittel werden allezeit ehrbar erscheinen und von Allen gelobt werden, denn - und in diesem Satz zieht sich eine furchtbare Summe - denn die Welt ist gemein und die Meinung der Menge erstickt das Urteil der Besseren.

Das ist, in wenigen Sätzen, der Sinn und der Geist des Buches vom Fürsten.

Nun ist ja bekannt, und mit besonderem Nachdruck fast immer betont, daß es geschrieben wurde in einer bestimmten Tendenz. "Aufruf, Italien von den Barbaren zu befreien", so betitelt sich das 26. und es ist das letzte, Kapitel und mit der Rede wendet es sich direkt an LORENZO di MEDICI. Es sind die Zeiten, so etwa lautet der Aufruf, wo Italien eines  Principe nuovo  bedarf. Wie Israel in Ägypten Knechtschaft erduldete, damit die Kraft des MOSES sich umso gewaltiger offenbare; wie die Perser von den Medern unterdrückt wurden, damit CYRUS in voller Größe erscheine; wie die Athener zerstreut saßen, damit THESEUS sie sammle und in seiner Herrlichkeit glorreich hervorgehe, so hat Italien, schwerer geknechtet, als die Juden, tiefer gedemütigt, als die Perser, schlimmer zerstreut, als die Athener, ohne Haupt, ohne Einheit, zerschlagen, geplündert, keine Hoffnung, außer auf Dein Haus. Laß jene Männer Dir zum Beispiel werden. Es waren seltene, wunderbare Menschen und doch nur Menschen. Sie hatten weniger Gelegenheit, als Du, und keine gerechtere, keine leichtere, keine Gott wohlgefälligere Sache. Gott selbst hat Dich erkoren. Das Meer hat sich geteilt, eine Wolke hat Dir den Weg gewiesen, die Barmherzigkeit hat Wasser gespendet und vom Himmel ist Manna gefallen. Der Rest steht bei Dir. Gott will nicht alles vollenden, um uns nicht den freien Willen zu nehmen; am Ruhm will er uns den Teil gönnen, der uns gebührt.

Dann, nach einer letzten Apostrophe, hebt sich die Rede und schließt in einem unvergleichlichen Schwung mit den unsterblichen Versen PETRARCAs welche die Wiedergeburt italischer Tapferkeit und die italische Freiheit verkünden.

So weit allerdings ein ethisch-praktischer Grund des wunderbaren, endlos mißverstandenen Buches.

Aber bedarf es einer Adresse zu seinem Verständnis? Ist es unerläßlich, unsterbliche Lehren auf eine persönliche Folie zu prüfen? Tritt uns der Principe wirklich als Ausgeburt einer Zeit, eines Hirns, als infernales Ideal, als Außerordentliches, Ungeheures entgegen? Oder stellt er sich nicht einfach dar als Bild seiner selbst, wie er ist, wie er anders nicht sein kann, wie er sein wird bis ans Ende der Tage?

Alle Wirklichkeit, alle Vergangenheit legt Zeugnis für ihn ab.

Wie MACCHIAVELLI ihn gestempelt, hat er die Welt beherrscht. Blicken SIe, wohin Sie wollen: er tritt Ihnen überall entgegen, wo ein Volk seine Freiheit verliert. Das 16. Jahrhundert bietet eine Reihe glänzender Jllustrationen, in allen ersinnlichen Gestalten, vom großen Kaiser bis auf den vollendetsten und verächtlichsten aller  Principi  diesseits der Alpen, jenen MORITZ von Sachsen, den eine unselige Verblendung unter die Vorkämpfer der Reformation zu stellen wagt. Im 17., im 18. Jahrhundert, immer wieder treten uns, mit unauslöschlichen Merkmalen gezeichnet, die großen und die kleinen Principi, bald in diesem, bald in jenem Volk entgegen, nicht durchweg nach Art der Renaissance, gelegentlich im Stil des Rokoko, des Direktoriums, im Frack, in Sporen, mit oder ohne Krone, etwa ein RICHELIEU: im Wesen - ob sie nun NAPOLEON oder anders heißen - unabänderlich dieselben, so unabänderlich das Wesen der Macht ist.

Und unabänderlich, wie das Wesen der Macht, ist das Wesen der Freiheit. Ein unbestechliches Gesetz beherrscht ihr Werden und ihr Vergehen. Nie aber ist ihr Bild mit dem Verhängnis, das sie schleichend dahinrafft, mit dem langsamen Sterben bei lebendigem Leib, mit der Nemesis, welche aus ihrem Grab den Principe entstehen läßt, so klar, so unerbittlich zurückgeworfen worden, wie aus dem stählernen Spiegel, den MACCHIAVELLI ihr vorhält.

Allerdings, das sterbliche Herz wird traurig im Hinschauen und die erste, verzeihliche, immerhin eine weibliche, Regung richtet sich, je nach dem Temperament, darauf, die Augen zu schließen oder den Spiegel zu zerschlagen. Aber wird damit das Urbild getilgt?

Und je länger, je stiller, je ernster Du hinsiehst, umso magischer bist Du gefesselt: es ist alles so fremd und doch alles so bekannt, alles so furchtbar und doch alles so begreiflich, alles so verabscheuungswürdig, einzeln für sich, aus dem Zusammenhang gehoben, vollends auf der Folie wesenloser Ideale betrachtet - und doch so erschütternd wahr. Immer bekannter werden die wunderbaren Gebilde und unheimlich, aber unverkennbar, treten Dir aus den Zügen der sterbenden Freiheit, der Selbstucht, die sich anschickt, ihr Erbe anzutreten, deutlich und deutlicher Deine eigenen Züge entgegen und im Principe erscheint als sein Urbild der Mensch - der einfache, natürliche Mensch - mit seinem Verlangen nach Macht.

Vor diesen elementaren Gewalten, welche alle Geschichte beherrschen, so daß, wo sie nicht begriffen werden, alle Geschichte unbegreifbar bleibt: wie schal und wüst, wie traurig erscheint an ihnen gemessen die rasch erlernte, hastig geübte Kunst, Geschichte zu deuten und umzudeuten nach der Laune des Tages, nach dem Stichwort von Schulen, nach dem zufälligen Wechsel von Triumphen.

Wen freilich graut vor jenen elementaren Gewalten; wenn davor graut, sich im Spiegel zu erblicken, wie er ist, nicht wie er sich schmeichelt zu sein; wen davor graut, die Bestie in sich anzufassen und niederzuzwingen, um - das ist der einzige Weg - der Freiheit aus ihrer Entartung empor und zum Sieg zu verhelfen über den Principe in seiner Entartung; wen davor graut, für den ist es nichts in der Welt MACCHIAVELLIs, wo nirgends Nebel, Halbheit, Feigheit, wo überall nur Klarheit und hoher Mut herrscht, eherne Konsequenz und kein Erbarmen, Gesetz und keine Willkür.

Wen davor graut, der wende um und flüchte zu gleichgestimmten Meistern.

Sie stehen in Scharen bereit, ihn zu empfangen.

Vor den Horizont der Geschichte werden sie ihn führen; sie verheißen ihm, Wunder zu deuten und die Ferne zu erschließen; ein Kaleidoskop spielen sie ihm in die Hand; mit kindischen Bildern fesseln sie ihm das Auge und, während er in Träumen das Rätsel des Daseins zu lösen vermeint, ziehen hoch über ihm ungesehen, unermessen, ungeahnt die ehernen Gestirne ihre unausweichlichen Bahnen.
LITERATUR - Carl Schirren, Über Machiavelli, Rede beim Antritt des Rektorats an der Königlichen Universität zu Kiel gehalten am 5. März 1878, Kiel 1878