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JOHN RUSKIN
Wie wir arbeiten und wirtschaften müssen
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"Wenn wir jemanden um einen Dienst bitten, so mag er ihn uns entweder freiwillig oder gegen Bezahlung gewähren. Eine Freiwillige Dienstleistung kommt jetzt nicht in Betracht, sie ist eine Sache der Liebe, nicht des Handels. Aber wenn er Bezahlung für ihn verlangt und wir mit absoluter Gerechtigkeit verfahren wollen, so ist es klar, daß diese Gerechtigkeit nur darin bestehen kann, daß wir Zeit für Zeit, Kraft für Kraft und Geschicklichkeit für Geschicklichkeit geben. Wenn jemand eine Stunde für uns arbeitet und wir nur versprechen, eine und eine halbe Stunde für ihn zu arbeiten, so erlangt er einen ungerechten Vorteil. Die Gerechtigkeit beruth auf dem vollkommenen Austausch oder falls überhaupt Rücksicht genommen wird auf die Lage der Parteien, so sollte sie gewiß nicht dem Arbeitgeber zuteil werden."

Qui Judicatis Terram
[Ihr Richter auf Erden]

Veraltete Weisheit

Einige Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung hinterließ ein jüdischer Kaufmann, der an der Goldküste ein reges Geschäft betrieben hatte und eines der größten Vermögen seiner Zeit erworben haben soll, zugleich auch wegen seines praktischen Sinnes eines großen Rufes genoß, in seinen Geschäftsbüchern einige allgemeine Bemerkungen über den Reichtum, die seltsamerweise bis auf den heutigen Tag sich erhalten haben. Die strebsamen Kaufherren des Mittelalters hielten sie in hoher Achtung, besonders die Venetier, welche in ihrer Bewunderung sogar so weit gingen, dem alten Juden an der Ecke eines ihrer wichtigsten öffentlichen Gebäude ein Standbild zu errichten. In neuerer Zeit sind diese Schriften in Mißachtung geraten, da sie in jeder Weise dem Geist des modernen Handels widersprechen. Nichtsdestoweniger werde ich einige Stellen daraus anführen, teils weil sie wegen ihrer Neuheit den Leser interessieren möchten, aber hauptsächlich, weil sie ihm zeigen, daß es für einen höchst praktischen und gewinnsüchtigen Kaufmann trotz einer erfolgreichen Laufbahn möglich ist, jenen Grundsatz der Unterscheidung zwischen rechtmäßig und unrechtmäßig erworbenen Reichtum zu befolgen, bei dem wir im vorhergehenden Kapitel nur vorübergehend verweilten, den wir jedoch in diesem eingehend prüfen wollen. So z. B. sagt er an einer Stelle: "Schätze, mit Lügenzungen erworben, sind wie ein flüchtiger Hauch derer, die den Tod suchen." Dann fügt er an einer andern hinzu (er hat eine seltsame Art, seine Sprüche zu verdoppeln): "Frevelhaft erworbene Schätze dienen zu nichts; vom Tod errettet nur die Gerechtigkeit." Diese beiden Stellen sind beachtenswert, insofern sie den Tod als das wirkliche Endergebnis jedes ungerechten Planes, reich zu werden, hinstellen. Wenn wir lesen statt "Lügenzungen", "lügnerische Etikette, Dokumente, Vorspiegelungen oder Ankündigungen", dann leuchtet uns deutlicher ein, inwiefern die Worte auf das moderne Geschäftsleben passen. Das Aufsuchen des Todes drückt auf erhabene Weise den wahren Verlauf menschlicher Bemühung bei solchem Geschäftsverfahren aus. Wir sprechen gewöhnlich so, als verfolge der Tod  uns  und als versuchten  wir,  ihm zu entfliehen; aber dies geschieht nur in seltenen Fällen. Gewöhnlich verstellt er sich, macht er sich schön und allberückend, nicht wie die Königstochter herrlich im Innern, sondern äußerlich: sein Gewand ist von getriebenem Gold. Wir jagen wahnsinnig nach ihm unser Leben lang, er flieht oder versteckt sich vor uns. Und unser höchster Erfolg nach siebzig Jahren besteht in nichts weiter, als daß wir ihn in seiner Ganzheit fassen und festhalten: Gewand, Asche und Stachel.

Ferner sagt der Kaufmann: "Wer den Armen drückt, um sich zu bereichern, wird sicherlich in Not geraten." Und stärker: "Beraube nicht den Armen, weil er arm ist, noch bedrücke ihn um des Geschäftes willen. Denn der Ewige streitet ihren Streit und raubt das Leben ihren Beraubern." Insbesondere ist dieses "Berauben des Armen, weil er arm ist," die merkantile Form des Diebstahls und besteht darin, daß sie die Notlage eines Menschen ausnützt, um seine Arbeit oder sein Eigentum zu einem geringen Preis zu bekommen. Des gewöhnlichen Straßenräubers entgegengesetzte Art des Stehlens - die den Reichen zu berauben, weil er reich ist - scheint dem alten Kaufherrn nicht so häufig in den Sinn gekommen zu sein; wahrscheinlich deshalb, weil sie sich weniger lohnt und gefährlicher ist als das Berauben der Armen und darum von klugen Menschen selten unternommen wird.

Aber die folgenden zwei Stellen sind um ihrer tiefen allgemeinen Bedeutung willen die merkwürdigsten:
    "Der Reiche und der Arme begegneten einander: sie Alle schuf der Ewige."

    "Der Reiche und der Arme begegneten einander: ihr Licht ist der Ewige."

    Sie begegneten einander; buchstäblich: sie standen sich gegenseitig im Weg (obviaverunt).

Veraltete Weisheit

Das heißt, daß die Wirkung und Gegenwirkung von Reichtum und Armut, das Sichbegegnen von Angesicht zu Angesicht zwischen Reich und Arm ein ebenso notwendiges und vorherbestimmtes Weltgesetz ist, wie daß die Flüsse in das Meer strömen oder die elektrischen Wolken ihre Kraft austauschen. - "Sie alle schuf der Ewige." Aber dieser Vorgang mag sich mild und gerecht oder zerstörend und verheerend ins Werk setzen; durch den Groll würgender Fluten oder das Gefälle dienstbarer Wellen; in der Finsternis des Donnerschlags oder durch die unversiegbare Kraft des lebendigen Feuers, weich und gestaltenreich wie Liebeslaute aus weiter Ferne. Und was von all dem sein soll, hängt davon ab, daß beide, Reich und Arm, wissen, daß Gott ihr Licht ist, daß im Mysterium des menschlichen Lebens es kein anderes Licht gibt als dieses, worin sie einander ins Antlitz schauen und wonach sie leben können; ein Licht, das in einem anderen Buch, worin des Kaufherrn Lebensregeln aufbewahrt sind, die "Sonne der Gerechtigkeit" genannt wird, von der gesagt wird, daß sie am Ende aufgehen werde "Mit Genesung in ihren Flügeln." Denn, fürwahr, diese Genesung kann nur mittels Gerechtigkeit möglich werden; weder Liebe noch Glaube noch Hoffnung bringen sie zuwege; umsonst werden die Menschen lieben, umsonst glauben, wenn sie nicht vor allem gerecht sind. Der große Fehler der besten Menschen Generationen hindurch war der, zu meinen, daß den Armen geholfen werden könne durch das Geben von Almosen, durch das Predigen von Ausdauer und Geduld und durch alle anderen Mittel der Linderung und Versöhnung bis auf das, was Gott dazu erkoren hat: die Gerechtigkeit ...


Segensreicher Strom oder wilder Strudel

Ich habe soeben vom In-das-Meer-Fließen der Ströme gesprochen als einem die Wirkung des Reichtums teilweise veranschaulichenden Bildes.

In gewisser Hinsicht ist das Bild sogar ein vollkommenes. Der populäre Nationalökonom dünkt sich weise, weil er entdeckt haben will, daß der Reichtum oder die Formen des Besitzes im Allgemeinen dahin gehen müßten, wo sie gebraucht werden; daß, wo Nachfrage ist, auch das Angebot nachfolgen müsse. Er behauptet ferner, daß menschliche Gesetze diese Wirkung von Angebot und Nachfrage nicht verhindern könnten. Genau im selben Sinn und mit derselben Gewißheit strömen die Wasser auf Erden dahin, wo sie vonnöten sind. Wo das Land sich senkt, dahin fließt das Wasser; menschlicher Wille kann weder den Flug der Wolken noch den Lauf der Flüsse hemmen. Aber ihre Verwertung und Verwaltung kann durch menschliche Fürsorge bestimmt werden. Ob der Strom Fluch oder Segen bringen wird, hängt von des Menschen Arbeit und seiner ordnenden Geisteskraft ab. Jahrhunderte hindurch wurden große Gebiete der Erde mit reichem Boden und günstigem Klima durch die Wut ihrer Flüsse verwüstet; waren nicht nur Wüsteneien, sondern Brutstätten der Pest. Der Strom, der, richtig geleitet, die Fluren sanft bewässert, die Lüfte gereinigt, Menschen und Vieh genährt und Lasten getragen haben würde, bedeckt jetzt die Ebene und verpestet die Lüfte; sein Odem ist Gift und sein Werk Hungersnot. So geht dieser Reichtum "dahin, wo man ihn braucht." Keine menschlichen Gesetze können seinen Lauf anhalten, sie können ihn nur leiten und lenken; aber dies kann durch Kanäle und schützende Dämme so vollständig erreicht werden, daß heilsames Lebenswasser daraus wird: Reichtum aus der Hand der Weisheit; oder, wenn man ihn andererseits seinem zügellosen Lauf überläßt, kann man ihn zu dem machen, was er allzu oft gewesen ist: zur furchtbarsten und schlimmsten nationalen Plage, zum Wasser des Marah, welches die Wurzel aller Übel nährt.


Die Wissenschaft des Reichwerdens und ihre Ethik

Die Notwendigkeit dieser Gesetze der Verteilung oder Einschränkung läßt der moderne Nationalökonom seltsamerweise bei der Definition seiner "Wissenschaft" außer Betracht. Er nennt sie kurzweg die "Wissenschaft vom Reichwerden". Aber es gibt viele Wissenschaften und Künste, die vom Reichwerden handeln. Das Vergiften der Reichbegüterten war im Mittelalter, das Verfälschen von Nahrungsmitteln der Wenigbegüterten ist heutzutage eine vielfach angewendete Kunst. Die alte und ehrwürdige Hochlandsmethode des Schutzgeldes; das moderne und wenig ehrwürdige System, Waren auf Kredit zu nehmen und die vielfach verbesserten Methoden der Besitzaneignung, die wir auf allen Stufen der Betriebsamkeit bis herab zu den Taschenspielerkünsten dem Genius unserer Tage verdanken, alle kommen unter die allgemeine Rubrik der Wissenschaften und Künste des Reichwerdens. Aus all dem geht also hervor, daß der populäre Nationalökonom den Charakter seiner Wissenschaft, die er  par excellence  die Wissenschaft des Reichwerdens nennt, durch gewisse kennzeichnende Merkmale einschränken muß. Ich hoffe, ihn nicht zu mißdeuten, wenn ich annehme, daß  seine  Wissenschaft die Wissenschaft ist vom "Reichwerden durch legale oder gerechte Mittel." Soll in dieser Definition das Wort "gerecht" oder "legal" beibehalten werden? Denn möglicherweise können bei gewissen Völkern oder unter gewissen Herrschern oder mittels des Beistands gewisser Advokaten Vorgänge legal sein, die nicht gerecht sind. Lassen wir daher das Wörtlein "gerecht" in unserer Definition endgültig seinen Platz einnehmen, so macht die Aufnahme dieses einzigen Wörtchens in der Grammatik unserer Wissenschaft einen erheblichen Unterschied. Denn hieraus folgt alsdann, daß, um wissenschaftlich reich zu werden, es auf rechtmäßige Weise geschehen muß, und wir daher wissen müssen, was gerecht ist; so daß unsere Wirtschaftslehre nicht länger von Klugheit, sondern von Gerechtigkeitssinn und dieser von göttlichem, nicht menschlichem Gesetz abhängig sein wird. Und diese Klugheit ist fürwahr von keinem niederen Rang; sie schwebt gleichsam in Himmelslüften und blickt ewig nach dem Licht, das von der Sonne der Gerechtigkeit ausgeht; daher stellt DANTE die Seelen, die sich besonders durch sie auszeichneten, als Sterne dar, welche am Himmel immerdar Adleraugen bilden, da sie im Leben das Licht von der Finsternis unterschieden haben und für die ganze Menschheit gleichsam das Licht des Körpers sind, welches das Auge ist; indessen jene Seelen, welche die Flügel des Vogels bilden (sie geben der Gerechtigkeit Macht und Herrschaft, da "Genesung in ihren Flügeln liegt") die Himmelsinschrift im Licht erscheinen lassen: "Diligite Justitiam Qui Judicatis Terram." Ihr, die Ihr richtet auf Erden, liebet nicht nur die Gerechtigkeit, sondern - man beachte - liebet sie fleißig und emsig; das heißt: zollt ihr eine Liebe, die emsig sucht und eine Auswahl trifft. ...

Absolute Gerechtigkeit ist freilich ebensowenig erreichbar wie absolute Wahrheit; aber der Gerechte unterscheidet sich vom Ungerechten durch sein Verlangen und Streben nach Gerechtigkeit, gleichwie sich der Wahrheitsliebende vom Falschen durch sein Streben nach Wahrheit unterscheidet. Und obgleich absolute Gerechtigkeit unerreichbar bleibt, läßt sich doch soviel Gerechtigkeit, als wir für unsere praktischen Zwecke nötig haben, von all denen erreichen, die danach streben.


Gerechter Lohnsatz

Wir haben also in der Verfolgung unserer Aufgabe zu prüfen, was die Gesetze der Gerechtigkeit betreffs des Lohnes der Arbeit sind: diese Gesetze bilden keinen unwesentlichen Teil von den Grundlagen unserer Jurisprudenz.

Ich führte in meinem letzten Artikel den Begriff der Geldzahlung auf seine einfachsten und ursprünglichsten Bestandteile zurück. Aus diesen Bestandteilen lassen sich ihre Natur sowie die auf sie bezüglichen Forderungen der Gerechtigkeit am besten feststellen.

Wie oben dargelegt, beruth die Geldzahlung ursprünglich auf dem Versprechen, welches wir einem Menschen geben, der für uns arbeitet, daß wir ihm für die Zeit und Arbeit, die er heute in unserem Dienst hergibt, ein gleich großes Maß von Zeit und Arbeit zu jeder beliebigen Zeit in Zukunft, wann immer er sie begehren sollte, zur Verfügung stellen wollen. Wenn wir ihm versprechen, weniger zu geben als er uns gegeben hat, so zahlen wir ihm zu wenig. Wenn wir ihm mehr Arbeit versprechen, als er uns gegeben hat, so zahlen wir ihm zuviel. Wenn im täglichen Geschäftsleben, nach den Gesetzen der Nachfrage und des Angebots, zwei Menschen eine Arbeit tun wollen und nur einer sie will tun lassen, so unterbieten sie einander und derjenige, dem sie zugeschlagen wird, wird ungenügend bezahlt. Aber wenn zwei Menschen die Arbeit wollen tun lassen und nur  einer  da ist, sie zu verrichten, so überbieten die zwei ersteren einander und der Arbeiter wird überbezahlt.

Ich beabsichtige, diese beiden Punkte der Ungerechtigkeit nacheinander zu prüfen; aber ich möchte zunächst, daß der Leser den zwischen ihnen beiden liegenden Grundsatz der richtigen oder gerechten Bezahlung genau verstehe.

Wenn wir jemanden um einen Dienst bitten, so mag er ihn uns entweder freiwillig oder gegen Bezahlung gewähren. Eine Freiwillige Dienstleistung kommt jetzt nicht in Betracht, sie ist eine Sache der Liebe, nicht des Handels. Aber wenn er Bezahlung für ihn verlangt und wir mit absoluter Gerechtigkeit verfahren wollen, so ist es klar, daß diese Gerechtigkeit nur darin bestehen kann, daß wir Zeit für Zeit, Kraft für Kraft und Geschicklichkeit für Geschicklichkeit geben. Wenn jemand eine Stunde für uns arbeitet und wir nur versprechen, eine und eine halbe Stunde für ihn zu arbeiten, so erlangt er einen ungerechten Vorteil. Die Gerechtigkeit beruth auf dem vollkommenen Austausch oder falls überhaupt Rücksicht genommen wird auf die Lage der Parteien, so sollte sie gewiß nicht dem Arbeitgeber zuteil werden: sicherlich ist es kein vernünftiger Grund, daß ich jemanden, weil er arm ist, für ein Pfund Brot, das er mir heute gibt, morgen weniger als ein Pfund Brot zurückgeben sollte; und ebensowenig Grund, daß ich einem ungebildeten Menschen, der mir gewisse Kenntnisse und Geschicklichkeit gewidmet hat, meinerseits weniger Kenntnisse und Geschicklichkeit dafür widmen sollte. Vielleicht daß es wünschenswert oder wenigstens gnädig erscheinen dürfte, etwas mehr zu geben, als man empfangen hat. Aber gegenwärtig befassen wir uns nur mit dem Gesetz der Gerechtigkeit, das auf vollkommenem und gerechtem Austausch beruth. Nur ein Umstand widersetzt sich dieser einfachen Grundidee gerechter Bezahlung; insofern nämlich als (richtig geleitete) Arbeit fruchtbar wie Same ist, sollte die Frucht (oder wie man es nennt der "Zins") aus der zuerst geleisteten oder "vorgeschossenen" Arbeit in Betracht gezogen und ausgeglichen werden durch eine gewisse Mehrarbeit bei der darauffolgenden Rückzahlung. Nehmen wir an, die Rückzahlung fände am Ende des Jahres oder zu irgendeiner anderen Zeit statt, so könnte man annähernd genau diese Berechnung machen; aber da die Bezahlung in der Geldform als Bargeld keinerlei Bezug auf die Zeit hat (denn es steht dem Bezahlten frei, das Empfangene sofort oder erst nach einer Anzahl von Jahren zu verausgaben), so dürfen wir im allgemeinen nur annehmen, daß man demjenigen, der die Arbeit vorschießt, gerechterweise einen kleinen Vorteil gewähren sollte, so daß die typische Form des Handels die sein wird: Wenn du mir heute eine Stunde gibst, so gebe ich dir eine Stunde und 5 Minuten auf Verlangen zurück. Wenn du mir heute ein Pfund Brot gibst, so gebe ich dir 17 Unzen auf Verlangen zurück, usw. Alles was der Leser zu beachten hat, ist, daß der zurückerstattete Betrag billigerweise mindestens nicht geringer sei als der gegebene.

Die abstrakte Idee in Bezug auf gerechte Arbeitslöhne ist somit die, daß sie einer Geldsumme gleichkomme, welche dem Arbeiter zu jeder beliebigen Zeit mindestens soviel Arbeit - eher mehr als weniger - verschafft, als er hergegeben hat. Und diese Anständigkeit und Gerechtigkeit bei der Bezahlung ist, wohlverstanden, ganz und gar unabhängig von der Anzahl Leute, die sich um die Arbeit bewerben. Ich brauche ein Hufeisen für mein Pferd. Es mögen 20 oder 20 000 dasselbe schmieden wollen; ihre Anzahl beeinflußt nicht um ein Jota die Forderung, daß derjenige, der es schmiedet, eine gerechte Bezahlung dafür erhalte. Es kostet ihn eine Viertelstunde seines Lebens und soviel Geschicklichkeit und Kraft der Arme, das Hufeisen für mich zu machen. Somit bin ich billigermaßen verpflichtet, ihm in zukünftiger Zeit eine Viertelstunde (und noch einige Minuten mehr) von meinem Leben (oder von dem eines anderen, der mir zur Verfügung steht) und ebensoviel oder noch etwas mehr Muskelkraft und Geschicklichkeit zu geben, um das zu tun, was der Schmied nötig haben mag.

Diese abstrakte Theorie der gerechten Bezahlung wird in der Praxis dadurch modifiziert, daß die in Zahlung gegebene Anweisung auf Arbeit eine allgemeine, die empfangene Arbeit hingegen eine spezielle ist. Das Geld der Währung in Metall oder Papier ist tatsächlich eine Anweisung an die Nation auf soviel Arbeit irgendwelcher Art; und diese allgemeine Anwendbarkeit für den sofortigen Bedarf macht sie um so viel wertvoller als spezielle Arbeit sein kann, weil eine Anweisung auf eine geringere Quantität allgemeiner Arbeit stets als ein gerechter Ersatz für eine größere Quantität spezieller Arbeit angenommen werden wird. Jeder einzelne Handwerker gibt jeder Zeit gerne eine Stunde eigener Arbeitskraft her, um eine halbe Stunde oder noch viel weniger nationale Arbeit verfügen zu können. Diese Quelle der Ungewißheit nebst der Schwierigkeit den Geldwert irgendeiner Geschicklichkeit zu bestimmen, machen es zu einer höchst verwickelten Sache, die Löhne für irgendeine Arbeit in Geld der Währung auch nur annähernd auszudrücken. Aber der Grundsatz des Austauschs wird davon nicht betroffen. Es mag der Wert einer Arbeit nicht so leicht festzustellen sein; aber sie hat ihren Wert, der gerade so bestimmt und wirklich als das spezifische Gewicht einer Substanz, wiewohl dieses spezifische Gewicht nicht leicht zu ermitteln ist, wenn die Substanz mit vielen anderen Substanzen verschmolzen ist. Auch liegt darin, sie zu bestimmen, weniger Schwierigkeit oder Zufall als in der Bestimmung der Maxima und Minima der gewöhnlichen Nationalökonomie. Es gibt wenige Geschäfte, bei welchen der Käufer es einigermaßen genau herausfinden könnte, daß der Verkäufer sich mit weniger nicht zufrieden geben hätte; oder der Verkäufer mehr als ein behagliches Trostgefühl erlangen könnte, daß der Käufer nicht mehr gegeben haben würde. Die Unmöglichkeit, dies genau zu wissen, hindert keinen von beiden am Bestreben, den andern möglichst zu peinigen und zu schädigen, noch daran, den Grundsatz, möglichst billig zu kaufen und möglichst teuer zu verkaufen, als einen wissenschaftlichen zu betrachten, wiewohl er nicht sagen kann, was das möglichst Geringste oder Höchste sein mag. Auf gleiche Weise legt ein gerechter Mensch es als einen wissenschaftlichen Grundsatz fest, daß er verpflichtet ist, einen gerechten Preis zu zahlen und ohne imstande zu sein, die Grenzen eines solchen Preises genau zu ergründen, wird er sich dennoch bemühen, ihm möglichst nahe zu kommen. Eine praktisch brauchbare Annäherung  kann  er erreichen. Es ist wissenschaftlich leichter festzustellen, was jemand für seine Arbeit haben  sollte,  als was seine äußersten Bedürfnisse ihn dafür zu nehmen zwingen. Seine äußersten Bedürfnisse kann man nur auf empirischen, aber was ihm gebührt nur auf analytischem Weg feststellen. Im einen Fall hält man die Antwort gegen die Summe wie ein verlegener Schuljunge, bis man eine passende findet; im anderen gelangt man mit Hilfe der Rechenkunst zu einem Resultat, das innerhalb gewisser Grenzen gilt.


Die Wirkung gerechter und ungerechter Bezahlung.

Angenommen, der gerechte Lohn für eine gewisse Arbeit sei festgestellt und wir prüfen alsdann die nächsten Folgen gerechter und ungerechter Bezahlung zugunsten des Arbeitgebers, d. h. wenn zwei Leute die Arbeit tun wollen und nur  einer  sie will tun lassen.

Der ungerechte Arbeitgeber zwingt die beiden, sich zu unterbieten, bis er ihre Forderungen auf den niedrigsten Punkt herabgedrückt hat. Nehmen wir an, der billigste von ihnen wäre bereit, die Arbeit für die Hälfte des gerechten Preises zu tun.

Der Arbeitgeber beschäftigt diesen und nicht den andern. Die unmittelbare Folge hiervon ist, daß einer der beiden unbeschäftigt bleibt oder dem Verhungern preisgegeben ist, genauso wie das aus dem gerechten Verfahren folgt, wonach der bessere Arbeiter einen anständigen Lohn erhält. Die verschiedenen Gegner, die sich bemühen, die Aufstellungen meines ersten Artikels zu entkräften, sahen das nicht ein und setzten voraus, daß der ungerechte Arbeitgeber  beide  beschäftigt. Er beschäftigt beide ebensowenig wie der gerechte Arbeitgeber. Der einzige Unterschied (von Anbeginn) ist der, daß der Gerechte genügend, der Ungerechte ungenügend für die Arbeit des einen, der beschäftigt wird, bezahlt.

Ich sage "von Anbegin", denn dieser erste und klar hervortretende Unterschied ist nicht der tatsächliche. Durch das ungerechte Verfahren verbleibt die Hälfte des rechtmäßigen Arbeitslohns in Händen des Arbeitgebers; und das setzt ihn in den Stand, einen anderen Mann zum selben ungerechten Preis für irgendeine andere Arbeit zu verdingen. Das Endergebnis ist das, daß zwei Leute zum halben Preis für ihn arbeiten und zwei ohne Beschäftigung sind.

Durch das gerechte Verfahren gelangt der ganze Lohn für das erste Stück Arbeit in die Hände dessen, der sie schafft. Da kein Mehrertrag in den Händen des Arbeitgebers verbleibt, so kann er keinen andern Menschen für eine zweite Arbeit anstellen. Aber genau um so viel, als seine Macht verringert wird, wächst die Macht des von ihm beschäftigten Arbeiters; d. h. um die zweite Hälfte des empfangenen Lohns. Diese zweite Hälfte gibt diesem die Macht, einen anderen Menschen in  seinem  Dienst zu beschäftigen. Nehmen wir für den Augenblick den ungünstigsten, wiewohl ganz wahrscheinlich Fall an, daß er, obgleich selber gerecht behandelt, es gegen seinen Untergebenen nicht ist und ihn, wenn er kann, zum halben Lohn verdingen wird. Aus all dem folgt schließlich, daß ein Mann für den Arbeitgeber um einen gerechten ein zweiter für den Arbeiter um den halben Lohn arbeitet und zwei Leute wie im ersten Fall ohne Beschäftigung sind. Diese zwei Leute bleiben in beiden Fällen ohne Beschäftigung. Der Unterschie zwischen dem gerechten und dem ungerechten Verfahren liegt nicht in der Anzahl der gedungenen Menschen, sondern im ihnen gezahlten Lohn, wie in den Personen, die ihn zahlen. Der wesentliche Unterschied, den ich dem Leser einschärfen möchte, ist der, daß im ungerechten Fall zwei Menschen für einen, den ersten Arbeitgeber, arbeiten. Im gerechten Fall arbeitet einer für den ersten Arbeitgeber, einer für dessen Arbeiter und so fort, abwärts oder aufwärts an den verschiedenen Stufen der Dienstleister entlang, wobei der Einfluß durch Gerechtigkeit gefördert, durch Ungerechtigkeit gehemmt wird. Die allgemeine und stetig Wirkung der Gerechtigkeit ist die, daß sie die Macht des in der Hand des Individuums liegenden Reichtums über Menschenmassen verringert und sie an eine Reihe von Menschen verteilt. Die durch den Reichtum tatsächlich ausgeübte Macht ist in beiden Fällen die gleiche; aber durch die Ungerechtigkeit wird alle Macht in die Hände eines einzigen Menschen gelegt, so daß er zugleich und mit gleichem Druck die Arbeit vieler ihn umgebender Menschen leitet. Bei gerechtem Verfahren darf er nur die Nächsten beeinflussen; von denen die durch neue Geister bestimmte Macht des Reichtums mit verminderter Kraft zu anderen übergeht, bis sie schließlich erschöpft.


Die Früchte der Gerechtigkeit

Die Gerechtigkeit hat darum in dieser Hinsicht die unmittelbare Wirkung, die Macht des Reichtums zu verringern, erstens beim Erwerb von Luxusgegenständen und zweitens bei der Ausübung eines sittlichen Einflusses. Der Arbeitgeber kann so weder Massenarbeit im eigenen Interesse verwenden noch der Geist einer Masse seinem eigenen Willen unterordnen. Aber die mittelbare Wirkung der Gerechtigkeit ist nicht minder wichtig. Die ungenügende Bezahlung einer Gruppe für  einen  Arbeitgeber schaffender Leute bringt jeden Einzelnen von ihnen in die denkbar größte Schwierigkeit, sich über seine eigene Stellung hinaus erheben zu können. Es liegt in der Natur des Systems, jedes Fortschreiten zu hemmen. Aber die genügende oder gerechte Bezahlung über eine absteigende Reihe von Arbeits- oder Dienstleistung verteilt, bietet jeder untergeordneten Person eine billige und genügende Gelegenheit, auf der gesellschaftlichen Leiter emporzuklimmen, wenn er es tun will und vermindert somit nicht nur die unmittelbare Macht des Reichtums, sondern räumt auch die schlimmsten Übelstände der Armut aus dem Weg. Von diesem zentralen Problem hängt schließlich das ganze Geschick des Arbeiters ab. Zweitens sind scheinbar manche minder wichtige Interessen damit verknüpft, aber sie alle lassen sich daraus ableiten. So ruft es z. B. unter der niederen Klasse oft beträchtliche Aufregung hervor, wenn sie gewahr wird, welchen Steueranteil sie nominell und allem Anschein nach tatsächlich aus ihren Löhnen zahlt (ich glaube 35 oder 40%). Das klingt sehr hart, aber in Wirklichkeit zahlt es nicht der Arbeiter, sondern der Arbeitgeber. Wenn der Arbeitgeber sie nicht zu zahlen hätte, so würde sein Lohn genau um dieselbe Summe geringer sein; der Wettbewerb würde ihn auf den niedrigsten Satz herabdrücken, der zum Leben eben noch möglich ist.

Das Schicksal der Armen hängt vor allem immer von der  einen  Frage ab: welcher Lohn ihnen gebührt. Ihr Elend (als Folge von Trägheit, Vergehen oder Verbrechen freilich ausgenommen) entsteht im Großen und Ganzen aus den zwei wechselseitig aufeinander wirkenden Kräften: dem Wettbewerb und der Bedrückung. Weder gibt es eine wirkliche Übervölkerung in der Welt, noch wird es eine in Jahrhunderten geben; aber es gibt eine örtliche Übervölkerung oder genauer ausgedrückt, eine Bevölkerung, die unter den bestehenden Umständen aus Mangel an Voraussicht und infolge unzulänglicher Verwaltung an den einzelnen Orten unlenkbar ist und sich vom Druck des Wettbewerbs betroffen zeigt; das Ausnützen dieses Wettbewerbs seitens des Käufers, um die Arbeit ungerecht billig zu bekommen, beschleunigt sowohl das Elend dieser Bevölkerung als sein eigenes; denn bei dieser - und wie ich glaube bei jeder Art Sklaverei leidet der Unterdrücker schließlich mehr als der Unterdrückte und jene herrlichen Worte POPEs bleiben trotz aller ihrer Macht hinter der Wahrheit zurück:
    "Geldsäcke lieben - seien wir gerecht -
    Nicht minder sich als ihren Nachbarn schlecht.
    Zum Schacht verdammt, ein gleiches Schicksal harrt
    Des Sklaven, der da gräbt und dessen der da scharrt."

Dem Verdienst seine Krone

Sollten jedoch gewisse Schlüsse, die sich aus unserer Untersuchung ergeben, dem Leser Furcht einflößen, als nähmen sie gegen die Macht des Reichtums gemeinsam mit dem Kommunismus Stellung, so möchte ich ihn über einige Hauptpunkte, die mir vorschweben, aufklären.

Ob der Kommunismus in der Armee und der Flotte, (wo nach meinen Grundsätzen bezahlt wird) oder unter den Fabrikarbeitern, (die nach den Grundsätzen meiner Gegner bezahlt werden), größere Fortschritte gemacht hat. Dies zu ergründen und sich darüber auszusprechen überlasse ich meinen Gegnern. Zu welchem Schluß sie auch kommen mögen, ich glaube nur Folgendes erwidern zu müssen: Wenn ich während meiner ganzen literarischen Tätigkeit mehr Nachdruck auf einen Punkt als auf einen andern gelegt habe, so ist es der, daß Gleichheit unmöglich ist. Mein Augenmerk war stets darauf gerichtet, die Überlegenheit gewisser Menschen über andere, zuweilen sogar eines einzelnen Menschen über alle andern hervorzuheben; wie auch auf das Ratsame hinzuweisen, solchen Menschen oder einem solchen Menschen die Macht zu übertragen, nach ihrem besseren Wissen und vernünftigerem Willen die weniger Tüchtigen zu lenken und zu leiten, ja diesen gelegentlich Zwang aufzuerlegen und sie zu unterwerfen. Meine volkswirtschaftlichen Grundsätze waren alle in einem einzigen Satz enthalten, den ich vor drei Jahren in Manchester ausgesprochen Habe:  "Soldaten des Pflugs sowohl als Soldaten des Schwerts"  und sie waren alle zusammengefaßt in einem einzigen Satz des letzten Bandes der "Modern Painters":  "Regieren  und Zusammenwirken sind in allen Dingen die Gesetze des Lebens, Anarchie und Wettbewerb diejenigen des Todes."

Und was die Art betrifft, wie die Sicherheit des Besitzes von diesen allgemeinen Grundsätzen betroffen wird, so bin ich so weit davon entfernt, diese Sicherheit zu schwächen, daß mein Büchlein, wie sich zeigen wird, vielmehr schließlich darauf ausgeht, den Bereich des sicheren Besitzes auszudehnen; und während man schon lange wußte und erklärte, daß die Armen kein Anrecht auf das Eigentum der Reichen haben, wünschte ich, daß man ebenfalls wisse und erkläre, daß die Reichen kein Anrecht auf das Eigentum der Armen haben.


Die Apotheose des Mammon

Aber ich leugne nicht, daß das System, dessen Entwicklung ich mir zur Aufgabe gemacht habe, auf vielfache Weise die offenbare und mittelbare, wenn auch nicht die ungesehene und unmittelbare Macht des Reichtums als Götting des Genusses wie als Herrin der Arbeit kürzen werde: vielmehr gebe ich dies mit aller Freudigkeit zu, weil ich weiß, daß die Anziehungskraft des Reichtums bereits zu stark und seine Autorität für die Vernunft der Menschen bereits zu mächtig geworden ist. Ich sagte in meinem letzten Aufsatz, daß nichts in der Geschichte für den menschlichen Geist so schmachvoll gewesen sei wie die Tatsache, daß wir diese gewöhnlichen Lehren der Nationalökonomie als Wissenschaft aufgenommen haben. Ich habe viele Gründe, das zu sagen, aber einen der hauptsächlichsten will ich mit wenigen Worten aussprechen. Mir ist kein früheres Beispiel in der Geschichte einer Nation bekannt, wobei diese ein System des Ungehorsams gegen die ersten Grundsätze ihrer anerkannten Religion begründet hätte. Die Bücher, die wir in Worten als göttlich achten, brandmarken die Liebe zum Geld nicht nur als die Quelle jeglichen Übels und als ein von der Gottheit verabscheutes Götzentum, sondern sie erklären den Mammondienst als den geraden und unversöhnbaren Gegensatz des Dienstes Gottes; und wo immer sie von absolutem Reichtumg und absoluter Armut sprechen, verkünden sie Weh dem Reichen und Heil dem Armen. Woraufhin wir ohne weiteres eine Wissenschaft vom Reichwerden als den kürzesten Weg zur nationalen Wohlfahrt begründen.
LITERATUR - John Ruskin, Wie wir arbeiten und wirtschaften müssen, Straßburg 1898