ra-1 Johannes FallatiF. A. LangeWilhelm OstwaldHermann Schwarz    
 
JULIUS FRAUENSTÄDT
Der Materialismus
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"Keine, aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht der Welt kann durchaus falsch sein; sondern sie ist, im schlimmsten Fall, nur einseitig: so z. B. der vollkommene Materialismus, der absolute Idealismus und anderes mehr. Sie alles sind wahr; aber sie sind es zugleich: folglich ist ihre Wahrheit nur eine relative."
                   - Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, § 13.

Einleitung

Das meistenteils Ungenügende des bisher gegen den Materialismus Vorgebrachten hat uns zu nachfolgender Kritik desselben bewogen, in der wir hauptsächlich an das BÜCHNERsche Buch anknüpften, weil dieses die Grundsätze des Materialismus übersichtlich zusammenstellt.

Nichts ist leichter und bequemer als einen Gegner zu widerlegen, den man sich zuvor zurechtgemacht, in den man  das  hineingelegt oder aus dem man  das  herausgeklügelt hat, wogegen man zu Felde zieht. Man braucht dann eigentlich nur mit dem Finger auf das Falsche, Verkehrte, Absurde, Lächerliche oder auf das Gemeine, Niedrige, Schlechte, Gefährliche hinzuweisen und siehe da, der Gegner ist vernichtet, er ist durch einen bloßen Fingerzeig totgeschlagen.

Den Eindruck einer solchen Widerlegungsweise hat in der letzten Zeit so manches auf uns gemacht, was von den Gegnern des Materialismus vorgebracht worden ist. So ist es z. B. als eine Gleichstellung des Gedankens mit dem Urin aufgefaßt und lächerlich gemacht worden, daß KARL VOGT sagt: "Die Gedanken stehen in demselben Verhältnis zum Gehirn, wie die Galle zur Leber und der Urin zu den Nieren." Auch hat man gesagt, daß der Materialismus, indem er die Produkte des Geistes, eine "Antigone" von SOPHOKLES, ein "Symposion" von PLATO aus Nervenreizen ableite, damit unseren tragischen Ernst und Schmerz, wenn wir jenes Drama schauen, mit Zahnschmerzen, und unsere freudige Erhebung, wenn wir das "Gastmahl" lesen, mit dem Gaumenkitzel einer Pastete in  eine  Klasse stelle, beide als Zwillings- oder nur als Milchschwestern betrachte. (1)

Und nicht bloß  lächerlich  hat man in dieser Weise den Materialismus zu machen gesucht, auch als  gefährlich  hat man ihn verschrien. Weil der Materialismus den Menschen ebenso wie das Tier als Naturprodukt betrachtet und zwischen Menschen- und Tierseele keinen  qualitativen,  sondern nur eine  graduellen  Unterschied statuiert, hat man ihm vorgeworfen, er proklamiere die  Brutalisierung der Menschheit.  (2) Weil der Materialismus die individuelle Unsterblichkeit leugnet, hat man ihm die Moral aufgebürdet: "Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot." (3) Endlich, weil der Materialismus die Freiheit des Willens leugnet und alle Handlungen des Menschen für streng notwendig erklärt, hat man ihn als staatsgefährlich denunziert, indem man Straflosigkeit des Verbrechens aus dieser den Menschen wie eine Dampfmaschine betrachtenden Lehre gefolgert.

Dieser Art von Kampf gegen den Materialismus gedenken wir uns nicht anzuschließen. Wir leugnen nicht, daß  Unverstand  oder  Böswilligkeit  alle die angegebenen lächerlichen oder gefährlichen Konsequenzen ziehen kann; aber Konsequenzmacherei ist keine wissenschaftliche Widerlegung. Jene Folgerungen aus den Prinzipien des Materialismus lassen sich alle durch entgegengesetzte widerlegen. Der vorgeworfenen Brutalisierung des Menschen durch Gleichsetzung desselben mit dem Tier kann der Materialismus durch die einfache Bemerkung begegnen, daß, obwohl er den Menschen nur für ein höheres Tier halte, er darum doch nicht gemeint sei, der Mensch solle in die Klasse der niederen Tiere hinabsteigen, solle grunzen und sich im Kot wälzen wie ein Schwein. Der vorgeworfenen Gleichsetzung des Gedankens mit Urin oder des tragischen Mitleids mit Zahnschmerzen usw. kann der Materialismus einfach damit begegnen, daß, wenn er auch den Gedanken für ein Stoffprodukt halte, er darum noch nicht sage, der Gedanke sei kein besseres, edleres, höheres Stoffprodukt als Urin; oder, wenn er den tragischen Schmerz aus Nervenreizen ableite, er darum die des tragischen Schmerzes fähigen Nerven noch nicht für identisch halte mit den im Zahnschmerz gereizten. Überhaupt kann sich ja der Materialismus darauf berufen, daß, obgleich er alles, das Geistigste wie das Materiellste, als Stoffprodukt betrachte, den Gedanken nicht minder als die tierischen Exkremente, er darum noch nicht die höchsten mit den niedrigsten Stofferzeugnissen gleichsetze, vielmehr beide als Produkte höchst verschieden kombinierten Stoffs betrachte. Der aus der Leugnung der individuellen Unsterblichkeit gefolgerten Moral des Essens und Trinkens kann der Materialismus entgegensetzen: Nur für den Gemeinen, Viehischen, dem Fressen und Saufen der höchste Lebensgenuß ist, folge daraus jene Moral; wer hingegen in künstlerische, wissenschaftliche, politische oder sonstige höhere Tätigkeit seinen Lebensgenuß setze, der werde aus der Vergänglichkeit des Individuums eine ganz andere Moral ziehen. Endlich der vorgeworfenen Gefährdung der menschlichen Gesellschaft durch Erklärung aller Handlungen als  notwendinger  Akte kann der Materialismus damit begegnen, daß er die Bestrafung verbrecherischer Handlungen nicht minder für notwendig erkläre, also im Kampf des Gesetzes gegen dessen Übertretungen nur zwei gegeneinander kämpfende Notwendigkeiten sehe.

Kurz, alle die angegebenen lächerlichen oder schrecklichen Konsequenzen kann der Materialismus auf die leichteste Weise von sich abschütteln und ihnen richtigere und nützlichere entgegensetzen. Auch dieses hat der Materialismus sowohl in früherer Zeit als in der Gegenwart getan. So finden wir z. B. in den Schriften, die als klassischer Ausdruck des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts gelten können, in "L'homme machine" und im "Système de la nature", den Beweis geliefert, daß es, um tugendhaft zu sein, keines Glaubens an einen extramundanen Gott, an Himmel und Hölle bedürfe, sondern daß das Gesetz der Natur (la loi naturelle) und die gesellschaftliche Ordnung hinreiche, um zur Tugend anzuspornen und vom Laster abzuhalten. Ja diese französischen Materialisten beweisen sogar, daß der theologische Glaube von jeher moralisch verderblichere Folgen gehabt hat als der Atheismus. (4) Und hierin stimmen die neuesten Materialisten mit den früheren französischen überein. Namentlich hat LUDWIG FEUERBACH, ein entschiedener Materialist und daher von MOLESCHOTT, BÜCHNER u. a. so häufig und gern zitiert, in seinen Schriften über das Wesen des Christentums und über das Wesen der Religion die schadhafte Seite der theologischen Moral aufgedeckt. Er hat den großen Unterschied zwischen den theologischen und den rein menschlichen Tugenden, z. B. zwischen der theologischen und der natürlichen Menschenliebe, nachgewiesen und durch historische Beispiele belegt, sodaß wenn die Theologen die natürlichen Tugenden glänzende Laster nennen, die Materialisten dieses Prädikat den theologischen Tugenden zurückgeben, da FEUERBACH nachgewiesen hat, wie  egoistisch  die Motive sind, aus denen sie entsprungen und wie sehr der echt humanen Gesinnung entgegengesetzt.

Man sieht also, auf die angegebene Weise des moralischen Verdächtigens läßt sich dem Materialismus nicht beikommen. Haben einzelne Materialisten, wie z. B. BÜCHNER in der ersten Auflage seiner Schrift "Kraft und Stoff", unmoralische Konsequenzen gezogen (5), so ist das ihre Schuld und kann nicht dem Materialismus im Allgemeinen zur Last fallen, da die Erklärung aller Dinge aus "Kraft und Stoff" und deren notwendiger, gesetzmäßiger Wirkungsweise keineswegs die Moral ausschließt. Der Materialist kann ja, wie den Gedanken und alle geistigen Tätigkeiten, ebenso gut auch die moralischen Regungen und Forderungen der menschlichen Natur aus notwendigen und gesetzmäßigen Stoffwirkungen ableiten und es wäre dies also nur eine andere  Erklärung,  aber nicht eine  Leugnung  des moralischen Gewissens, sowie die Ableitung des Gedankens aus dem Gehirn nur eine materialistische Erklärung, aber nicht eine Leugnung des Gedankens ist.

Gegen einen selbstgeschaffenen Gegner, wie ihn die meisten Antimaterialisten sich aus dem Materialismus zurechtgemacht haben, läßt sich freilich leicht kämpfen und leicht über ihn siegen. Aber ein solcher Kampf und Sieg ist auch weder ehrlich, noch rühmlich. Wir unsererseits gedenken uns einer solchen Kampfesweise nicht anzuschließen, denn wir sind der Meinung, daß man einem wissenschaftlichen Gegner erst noch alle Stärke leihen und ihm selbst noch Waffen in die Hände geben muß, ehe man ihn angreift. Nur wer die  Wahrheit  einer Lehre anzuerkennen unparteiisch genug ist, der ist berechtigt, ihren  Irrtum  zu widerlegen. Wir werden daher im Folgenden, ehe wir zur Widerlegung des Materialismus übergehen, zuerst seine  starke Seite  nachweisen. Der Materialismus ist einer gewissen Weltanschauung gegenüber, die lange genug ein Hindernis unbefangener Beobachtung und Betrachtung der Dinge war und dadurch dem Kulturfortschritt der Menschheit hemmend im Wege stand, wohl berechtigt, notwendig und heilsam; er hat große  negative  Verdienste, da er so manche alte und durch das Alter ehrwürdig gewordene Vorurteile zerstört und dadurch der Wahrheit die Bahn gebrochen hat. Dieses also gedenken wir zunächst im Folgenden hervorzuheben, ehe wir zur Widerlegung des Materialismus übergehen.
LITERATUR: Julius Frauenstädt, Der Materialismus - Seine Wahrheit und sein Irrtum [Eine Erwiderung auf Büchners "Kraft und Stoff"], Leipzig 1856
    Anmerkungen
    1) LAZARUS, Das Leben der Seele, Berlin 1856, Seite 225
    2) Vgl. BÜCHNER, Kraft und Stoff, 3. Auflage, Seite XXIII.
    3) Vgl. RUDOLF WAGNER, Über Menschenschöpfung und Seelensubstanz, Seite 23
    4) Das "Systeme de la nature" beweist in Teil 2, Kap. 9, daß die theologischen Begriffe nicht der Moral zur Basis dienen können, daß die Moral einer festen, unveränderlichen Basis bedürfe, die theologischen Systeme aber wechseln. Die Moral müssen von bekannten, klaren, unwidersprechlichen Gründen ausgehen; die Theologie hingegen gehe vom Unbekannten, Unklaren, Widerspruchsvollen aus. Eine Parallele ziehend zwischen der theologischen und der natürlichen Moral, zeigt das "Systeme de la nature" die Vorzüge der letzteren. Es zeigt, wie die theologische Moral von jeher nur ein Werkzeug in den Händen der Priester war zum Verderben der Fürsten und Völker. Indem man der Moral keine sichere Basis gab, sondern sie von einem mysteriösen übernatürlichen Wesen herleitete, das, der Vernunft Schweigen gebietend, nur durch Inspirierte seinen Willen erklärte, durch Fanatiker, die eine ihren eigenen Leidenschaften entsprechende Moral für göttlich geoffenbart ausgaben. Die atheistische Moral sei minder gefährlich als die theologische, denn der Atheist oder Fatalist gründe sein System auf die Notwendigkeit der Dinge, daher seien auch seine auf die Notwendigkeit gegründeten moralischen Prinzipien wenigstens fester und unveränderlicher als die auf einen wandelbaren Gott, der sich mit den Dispositionen und Leidenschaften der Gläubigen ändert, gegründeten. Die Natur der Dinge und ihre Gesetze seien unveränderlich, der Atheist sei also immer genötigt, dieselben Handlungsweisen als tugendhaft oder lasterhaft zu bezeichnen. Nicht so der religiöse Enthusiast.
    5) In der dritten Auflage ist BÜCHNER von diesen "Exzentritäten", wie er es selbst (Seite XIV) nennt, schon zurückgekommen.