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JOHANN FRIEDRICH HERBART
Lehrbuch zur Einleitung
in die Philosophie

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"Die Logik gibt die allgemeinsten Vorschriften, Begriffe zu sondern, zu ordnen und zu verbinden. Sie setzt die Begriffe als bekannt voraus; und bekümmert sich nicht um den eigentlichen Inhalt eines jeden derselben. Daher ist sie nicht eigentlich ein Werkzeug der Untersuchung, wo etwas Neues gefunden werden soll, sondern eine Anleitung zum Vortrag dessen, was man schon weiß."

Erster Abschnitt
Allgemeine Propädeutik

Erstes Kapitel
Vorläufige Übersicht

§ 1. Da verschiedene Erklärungen von der Philosophie im Umlauf sind: so kann die Frage nach der treffendsten unter denselben aufgeworfen werden; doch darf sie einstweilen unentschieden bleiben, indem zunächst die Philosophie als ein Zweig der Gelehrsamkeit betrachtet und beschrieben werden muß, der für die übrigen Wissenschaften und für die Kulturgeschichte ein vorzüglich Wichtigkeit besitzt. Zu dem gelehrten Fleiß aber, den alle auf gleiche Weise diesen Zweig der Studien zuzuwenden haben, kommt bei jedem nach eigener Art sein Nachdenken hinzu; und da hieraus manche Verschiedenheiten im Philosophieren entspringen, so sind deshalb einige Vorerinnerungen nötig.

In der Auswahl dessen, was von Jugend auf gelernt und eingeübt zu werden pflegt, findet eine ziemliche Gleichförmigkeit statt; Sprachen, Geschichte, Naturkunde werden bis zum Behalten gelernt; Grammatik und Mathematik werden überdies eingübt bis zum freien Gebrauch. Daneben aber geben Erfahrung und Umgang Anlaß zum Denken; und das Selbstgedachte, wie sehr es auch anfangs zerstreut liegt, wie sehr es auch abwechselnd bald so bald anders gestaltet wird, enthält dennoch Keime einer Wissenschaft, für die es als Wahrheit oder als Irrtum in Betracht kommen kann. Diese Wissenschaft ist die Philosophie.

Nicht minder liegen Keime, ja selbst Erzeugnisse derselben in den vorgenannten Wissenschaften; was aber von diesen gelernt und geübt wurde, das dringt bei Verschiedenen nicht gleichförmig vor bis zur Bestimmung ihres Selbstdenkens. Während nun jeder nach seinen Gedanken urteilt und handelt, äußern sich hierin die Mängel des Selbstgedachten; nämlich die Mängel an Richtigkeit, Genauigkeit, Vollständigkeit, Zusammenhang und Richtung auf bestimmte Zwecke. Unter Mehreren ensteht daraus oft  Streit seltener beim Einzelnen  Reue  über sein Handeln oder Unterlassen.

Wer die Reue kennt oder auch nur fürchtet: der pflegt sich, um sie zu vermeiden, zur anhaltenden Selbstbeobachtung zu entschließen. Er wird dadurch für sein Philosophieren viel gewinnen; denn die Philosophie beruth ebensosehr auf der  inneren  als auf der  äußeren Erfahrung;  und sie fordert, daß beide Arten von Erfahrung ins Gleichgewicht und in Verbindung gebracht seien.

Wer mit anderen dergestalt streitet, daß nicht bloß von reinen, der Beobachtung unmittelbar zugänglichen Tatsachen die Rede sei: der setzt voraus, es gebe in den strittigen Gegenständen, sofern die gedacht werden, eine  Notwendigkeit,  sie nur auf einerlei und nicht auf verschiedene Weise zu denken. Diese Voraussetzung macht auch die Philosophie.

Wenn die Streitenden wünschen, sich zu vereinigen: so suchen sie zuerst die Punkte auf, bis zu welchen sie einstimmig denken; indem sie voraussetzen, es gebe einen notwendigen  Fortschritt  im Denken, welcher, sobald er gefunden wäre, die gewünschte Einstimmung hervorbringen würde. Eben dieselbe Voraussetzung macht die Philosophie; und daß ein solches notwendiges Fortschreiten des Denkens gefunden werden könne, bestätigt die Mathematik durch ihr großes und gewichtvolles Beispiel; sie weist jedoch auch auf die Bedingung hin, nämlich auf äußerste  Genauigkeit  im Bestimmen und Erwägen derjenigen Begriffe, von welchen man ausgeht.

Diese Bedingung pflegt verletzt zu werden, wenn sich der Streit erhitzt. Sucht nun einer den andern bloß zu besiegen: so vergißt er, daß sich auf der entgegenstehenden Seite die Spannung ebenfalls, wo nicht sogleich, doch künftig vermehren wird. Diejenigen Aber, welche sich lieber vom Strittigen zurückziehen und es unentschieden lassen, überlegen oft nicht genug, daß anderswo der Streit fortdauert und fortfahren wird, auch solche Angelegenheiten zu beunruhigen, in welche er seiner Natur nach eingreift, während man sie vor ihm in Sicherheit zu bringen wünscht.

Es ist daher ratsam, daß man eben sowohl das Strittige, als das einstimmig Zugestandene kennen zu lernen sucht; und daß man im letzteren besonders genau diejenigen Punkte auffaßt, welche hart an der Grenze des Streits liegen und von denen also auch die künftige Einstimmung wird ausgehen müssen.

Nicht ratsam aber ist es, das Selbstgedachte mit solchem Zutrauen festzuhalten, als ob es nicht bestritten werden könnte; oder gar vollends, als ob der Unterricht der Philosophie, welche seit ungefähr 3500 Jahren die größten Geister beschäftigt hat, nur dazu diente, dem Selbstdenken einige Anregung zu geben, wie wenn es alsdann leicht und sicher seine eigenen Wege verfolgen könnte. Vielmehr fordert die Philosophie vom Anfänger ein ebenso strenges und anhaltendes Lernen, wie das bei jeder anderen Wissenschaft der Fall ist.

§ 2. Da die Philosophie seit langer Zeit auf alle Wissenschaften gewirkt hat: so lassen sich die Spuren derselben auch teils in der Form, welche jede Wissenschaft angenommen hat, teils in deren Inhalt oder wenigstens in dem, was davon absichtlich ausgeschlossen wird, nachweisen; und hiermit bieten sich für das Studium der Philosophie manche Anknüpfungspunkte an, welche von jedem in dem Maß, wie er sich mit einer Wissenschaft vertraut gemacht hat, mögen benutzt werden. Hier folgen einige kurze Erinnerungen an Sprachen, Geschichte, Mathematik und Naturkunde.
    1) In den Sprachen, als Zeichen der Gedanken, spiegeln sich die Gedanken selbst, also auch deren Bestandteile samt ihren Verhältnissen. Nimmt man aus der Sprache die  nomina propria  [Eigennamen - wp] weg: so bleiben Worte von sehr allgemeinem Gebrauch. Bestimmt nun der Sprachforscher die Bedeutung der einzelnen Worte: so ist er im Gebiet der  allgemeinen Begriffe und steht hier mit dem Philosophen auf gleichem Boden. Teilt der die Worte in verschiedene Klassen: so erhebt er sich zu höheren Allgemeinbegriffen. Ableitung und Biegung der Worte zeigen ihm eine Bewegung in den Begriffen zum Zweck mannigfaltiger Zusammensetzungen, welche durch die syntaktischen Regeln vollständiger bestimmt werden. Insofern nun die Begriffe selbst solche Verknüpfungen erlauben, geben sie Anlaß zu logischen Betrachtungen; insofern aber die Regsamkeit des menschlichen Geistes dabei zum Vorschein kommt, offenbaren sich psychologische Tatsachen. Logik also und Psychologie sind diejenigen Teile der Philosophie, in welche derjenige zunächst versuchen mag, den Eingang zu finden, der von der Seite des Sprachstudiums herkommt.

    Von einer einfachen Benennung oder Ausrufung, die nur ein Anknüpfen einer neuen Anschauung an ältere Vorstellungen verrät, bis zum Bau der Periode, worin einzelne Urteile bald aneinander reihend, bald einschiebend, bald entgegensetzend auf die mannigfaltigste Weise verbunden werden, zeigt sich hier ein merkwürdiger Fortschritt und Rückschritt, welchen die Vergleichung älterer und neuerer Sprachen genauer zutage legt.

    Indem die Philologie zum Studium der Autoren übergeht, verbreitet sich durch jeden Autor Licht über die Ansichten seiner Zeit. Anderen Zeiten fehlt eine solche Beleuchtung; nun sucht der Philosophierende den  Zusammenhang  durch Vermutungen zu ergänzen; mit ihm wetteifert der Philologe durch mühsames Aufsuchen und Verknüpfen der Fragmente, der hingeworfenen Notizen bei Scholiasten und Kompilatoren [Autoren von Schulstückchen und andere Sammler - wp] der Münzen und Ruinen. Die  Kritik  erwacht; ihr Geist ist nicht minder wirksam in der Philosophie als in der Philologie.

    2) Der Pragmatismus der Geschichte sucht in den Veränderungen der Staaten und der Kultur das Folgende aus dem Nächst-Vorhergehenden zu erklären; er sucht das  Verhältnis der Ursachen und Wirkungen.  Diese Betrachtung wird in der Philosophie erweitert, vertieft und wieder beschränkt und bezweifelt. Man redet vom Weltgeist, der sich im Ganzen der Geschichte offenbart. Man redet von den notwendigen Stufen seiner Entwicklung und von seinem Recht bei allem Unrecht der Menschen. Es gibt aber auch eine andere Ansicht und Forschung, die nicht sowohl eine Zeit aus der andern, als vielmehr jede aus dem eben vorhandenen Zusammenwirken der Kräfte nach den Umständen zu erklären sucht. Man hebt ferner den Kausalbegriff im Allgemeinen hervor; und es entsteht die Frage, ob überhaupt die Ursache früher, die Wirkung später sein könne oder ob nicht vielmehr Ursache und Bewirktes eben dann ihren Namen verdienen, wenn eins aus dem andern entspringt? Endlich wird sogar gezweifelt, ob wir überhaupt eine solche Notwendigkeit, womit aus der Ursache die Wirkung hervorgehen soll, mit Recht annehmen oder hierbei einem angewöhnten Vorurteil huldigen? Diese Frage gehört zur Metaphysik, welchen den Kausalbegriff nicht bloß zu verteidigen, sondern auch zu berichtigen hat.

    3) In weiter Entfernung von der Philologie und Geschichte, die einander unentbehrlich sind, scheint die Mathematik ein eigenes Reich der Gedanken für sich zu bilden. Wegen ihrer Pünktlichkeit, die nichts Schwankendes aufnimmt, wegen der Bestimmtheit, womit ihre Sätze und Formeln den Grad von Allgemeinheit, womit ihre Sätze und Formeln den Grad von Allgemeinheit, der ihnen zukommt, selbst angeben, wegen der Strenge ihrer Beweise, wegen des Fleißes, womit sie das  Leere  (Raum, Zahl, Zeit, Bewegung) selbst ohne Rücksicht auf  reale  Gegenstände untersucht, wegen der Gewandtheit, womit sie alle ihre Hilfsmittel in Verbindung benutzt, ist sie schon längst der Philosophie zum Muster aufgestellt worden; daß aber die letztere auch nur versuchen kann, jener nachzueifern, bezeugt schon eine Verwandtschaft beider; welche umso wichtiger ist, da ohne Philosophie die Mathematik auf ihrer Höhe einsam steht und in die menschlichen Angelegenheiten nicht weiter eingreift als durch ihre Anwendungen auf mechanische Künste. Die tägliche Erfahrung zeigt, wie sehr das Interesse derjenigen sich zu teilen pflegt, welche in der Philologie nebst der Geschichte und in der Mathematik zugleich unterrichtet werden, während die Philosophie, welche das Verbindungsglied dieser Studien ausmachen sollte, vernachlässigt ist. Die Verbindung selbst aber ist umso unleugbarer, da Raum und Zeit gerade so bestimmt wie das Geistige und dessen Wirksamkeit zu den wichtigsten Gegenständen der Philosophie gehören.

    4) Eben diese Verbindung umfaßt endlich auch sämtliche Naturwissenschaften, von der Naturbeschreibung bis zur Physiologie und Astronomie hinauf. Diejenigen Begriffe, durch welche man versucht hat, die  leblose  und  lebende  Natur als ein Ganzes zusammenzufassen, sind entweder aus der Philosophie und namentlich aus der Metaphysik (wenn auch unter anderem Namen) entsprungen: oder sie fallen einer philosophischen Kritik anheim.

    Von den gegenseitigen Abneigungen, die sich zuweilen hervortun, wie wenn z. B. der Mathematiker die Philosophie ungeschickt und schwärmerisch, der Philosoph dagegen die Mathematik leer und tot nennt oder wenn der Historiker jene beide beschuldigt, sie wüßten nichts von dem was wirklich geschieht, der Philosoph dagegen erwidert, die Geschichte zeige nur eine Zeitreihe von Erscheinungen ohne Realität: - hiervor ist weiter nichts zu sagen, als daß sich darin, wenn nicht Anmaßung, so doch eine starke Einseitigkeit verrät, die allemal entweder auf mangelhaften oder schlechten oder schlecht benutzten Unterricht zurückweist.
Nur allzuwahr ist es dagegen, daß in der Vielseitigkeit der Philosophie, die ihr als dem Verbindungsglied der verschiedensten Wissenschaften notwendig bleiben muß, eine der Hauptursachen der Schwierigkeit liegt, Einstimmung unter denjenigen zu erlangen, die sich ihr von verschiedenen Seiten her zugewendet haben.

§ 3. Im Vorhergehenden ist bemerkbar gemacht, daß die Philosophie, zugleich auf äußere und innere Erfahrung sich beziehend, im Kreis der allgemeinen Begriffe eine notwendige Anordnung und Fortschreitung und somit unter den Grundgedanken aller Wissenschaften eine Verknüpfung hervorbringt; wodurch sich einem jeden nicht bloß die Übersicht des menschlichen Willens erleichtert, sondern auch seine eigenes Wissen gleichsam verdichtet und zu größerer Wirksamkeit erhoben wird.

Eine natürliche Folge ist, daß mehr Ernst ins Leben, mehr Entschiedenheit ins Wollen kommt und daß alle Gegenstände des Vorziehens und Verwerfens sich einer strengeren  Auswahl  unterwerfen müssen. In dieser Beziehung heißt die Philosophie  praktisch;  im Hinblick auf die Logik, welche die allgemeinsten Verhältnisse der Begriffe und der Metaphysik, welche den Zusammenhang unserer Kenntnisse im Auge hat, heißt sie  theoretisch.  Beim Wort Metaphysik aber ist sogleich auch Psychologie für innere und Naturphilosophie für die äußere Erfahrung hinzuzudenken.

Nach solchen Vorerinnerungen kann nun von den einzelnen Teilen der Philosophie eine vorläufige Übersicht folgen.


A. Von der Metaphysik

Der Deutlichkeit wegen benutzen wir den Faden der Geschichte und nennen schon deshalb zuerst einmal die Metaphysik, als die älteste der philosophischen Wissenschaften. Sie ist nämlich älter als ihr Name, der zuerst einer Sammlung von Aufsätzen des ARISTOTELES gegeben wurde. Vorzugsweise ist hier von der Metaphysik bei den Griechen zu reden; an welche sich größtenteils auch die neueren Forschungen anschließen.
    a) Das Werden eines Dings aus dem andern führt auf den Begriff eines Stoffes (THALES, ANAXIMANDER, usw.)

    b) Daran knüpft sich die Frage nach der Kraft, welche den Stoff umwandelt.

    c) Es ist aber auch sehr frühzeitig eine Meinung enstanden, zur Umwandlung sei keine Kraft nötig, sondern das Werden sei etwas Ursprüngliches.

    d) Diese Meinung hat sich geteilt; zunächst zweifach. Entweder suchte man das Werden in einer bloßen Bewegung (dahin gehört LEUKIPPs Atomlehre); oder

    e) Man betrachtete das Werden als innere Natur der Dinge (nach HERAKLIT).

    f) Beide Meinungen sind von anderen mit der Annahme, welche der Religion näher angehört, verbunden worden: daß Mischung und Einmischung durch den Geist zur Zweckmäßigkeit gelangt (ANAXAGORAS); oder daß die Vorsehung das Werden bestimmt (Stoiker).

    g) Noch andere fühlten das Schwankende in diesen Meinungen. Sie näherten sich der Überlegung, daß erst bestimmte Begriffe als Stützpunkte der Untersuchung nötig seien, bevor ein sicheres Denken über die Erfahrungsgegenstände gelingen kann. Man wendete sich an die mathematischen Begriffe; so kam der seltsame Satz zum Vorschein: Zahlen seien die Prinzipien der Dinge (Pythagoräer).

    h) Zum Streben nach festbestimmten Begriffen gesellte sich in den besten Denkern die Überzeugung: die Sinnendinge können wegen ihrer Veränderlichkeit nicht für das wahrhaft Seiende gehalten werden (Eleaten).

    i) In der Vergleichung der Sinnendinge mit mathematischen Begriffen erscheinen jene als Nachahmungen von diesen. Aber die Sinnendinge ahmen nicht bloß Größenbegriffe nach, sondern es gibt für sie noch höhere und schönere Muster (PLATONs Ideen).

    k) Die Betrachtung der Sinnendinge führt, wenn sie nicht wahrhaft sind, sondern nur erscheinen, auf die Frage:  wem  erscheinen sie? Doch wohl uns! (PROTAGORAS mit dem Satz: Aller Dinge Maß ist der Mensch.)

    l) Hieran schließen sich einerseits die Zweifler oder Skeptiker (AENESIDEMUS bis HUME);

    m) Andererseits neuerlich die Kritiker des Erkenntnisvermögens (LOCKE und KANT);

    n) Aber auch die Idealisten (BERKELEY, FICHTE).
Demnach wird in der Metaphysik vom Sein und Werden der Dinge geredet, von den Begriffen, durch welche die Dinge gedacht werden müssen und von unserer beschränkten Kenntnis der Dinge.

2) Vom Orient ist eine Vorstellungsart ausgegangen, welche, weit entfernt, die Beschränktheit unseres Wissens anzuerkennen, vielmehr einige Ähnlichkeit hat mit dem Verfahren der Astronomen, sich in die Sonne zu versetzen, um in Gedanken von dort aus das Sonnensystem und dessen Bewegungen zu überschauen. Durch eine Anschauung, welche von der sinnlichen völlig verschieden, die mystische genannt wird, soll angeblich unmittelbar das Urwesen aller Dinge erkannt werden. Es versteht sich von selbst, daß alsdann das wahre Sein den einzelnen Dingen abgesprochen wird. (PHILO, die Kabbala, PLOTIN usw.)

3) Empiriker, die sich auf sinnliche Erfahrung und Beobachtung  allein  verlassen, haben sich, um die Natur zu erforschen, mit künstlichen Werkzeugen, dem physikalischen Apparat, versehen und dadurch unsere Erkenntnis sinnlicher Gegenstände ungemein bereichert (seit BACO von VERULAM).

Vorläufig kann man als wahrscheinlich annehmen, daß zwischen den einander gerade entgegenstehenden Mystikern und Empirikern die von den Griechen ausgegangene Metaphysik wohl die richtige Mitte halten möge.


B. Von der Psychologie

1) In der Psychologie sucht man dsa Mannigfaltige der inneren Erfahrung auseinanderzusetzen, zu ordnen, auf bestimmte Begriffe zu bringen und zu erklären. Die Voraussetzung dieser Wissenschaft ist also die Selbstbeobachtung. Hierdurch würde jedoch jeder Einzelne nur einen sehr zufälllig beschränkten Erfahrungskreis besitzen. Zur Bereicherung desselben bietet sich alles dar, was wir an anderen beobachten; nicht bloß an solchen, die mit uns auf gleicher Stufe der Bildung, des Alters, der äußeren Lage stehen: sondern an Personen jeden Standes, verschiedener Nationen, früher Zeiten, soweit wir davon Nachricht haben; besonders an Kindern, weil an diesen der allmähliche Übergang von einer Bildungsstufe zur anderen und die mehr und mehr hervortretende Ungleichheit der geistigen Naturen am deutlichsten erscheint: aber auch an historischen Personen, welche die Verschiedenheit der Personen in den größten Umrissen zeigen; endlich an den Unglücklichen, deren Geist zerrüttet ist. In die Vergleichung müssen aber auch die Tiere, soweit wir sie kennen, mit aufgenommen werden; und überdies ist noch immer zu bemerken, daß uns die Erfahrungen fehlen, welche uns beseelte Wesen auf anderen Weltkörpern darbieten würden; und daß später zu erreichende Bildungsstufen des Menschen uns heute noch unbekannt sind.

2) Was wir in uns beobachten, das ist überhaupt genommen eine sehr große Veränderlichkeit unserer Gedanken und Gemütszustände; ein beständiges Werden und Wechseln. Diesem gegenüber scheint das  Ich,  welches jedem jederzeit gegenwärtig ist, einen festen Punkt zu bilden. Bei genauerer Betrachtung jedoch finden wir selbst hier noch große Unterschiede, nicht bloß indem wir uns bald stark bald schwach, bald erhoben bald erniedrigt fühlen, sondern im Kampf der Vernunft und der Begierde ist der Mensch zuweilen so sehr mit sich entzweit, daß er sich ein doppeltes Ich zuschreiben möchte; im Wahnsinn hält der Mensch sich für einen anderen; von dem was einer in Krankheitszuständen tut oder sagt, weiß er oft später nicht mehr das Geringste. Den Tieren aber vollends ein Ich beizulegen, als ob solches jedem beseelten Wesen notwendig zugehört, scheint sehr bedenklich.

3) Aus diesem und vielen anderen Gründen, - besonders auch, weil uns für die innere Erfahrung keine künstlichen Werkzeuge des Beobachtens zu Gebote stehen, - haben in die Psychologie verschiedene Meinungen Eingang gefunden, die so sehr von der Metaphysik abhängen, daß sie sich ohne dieselbe kaum verstehen lassen. Nach dem zuvor Gesagten aber läßt sich eine dreifache Vorstellungsart unterscheiden.
    a) An die Metaphysik der Griechen schließt sich eine Art der psychologischen Forschung an, weclhe auf festbestimmte Grundbegriffe ein regelmäßig fortschreitendes Denken folgen läßt; und dem Verschiedenartigen der inneren Erscheinungen eine gleichmäßige Aufmerksamkeit widmet.

    b) Eine mystische Ansicht behauptet angeborene Vernunfterkenntnis durch intellektuelle Anschauung; während die Sinnlichkeit die Quelle des Irrtums und des Bösen sein soll.

    c) Eine dritte Vorstellungsart entsteht gerade umgekehrt daraus, daß man der äußeren Erfahrung und der sinnlichen Beobachtung, wodurch wir vom Gehirn und den Nerven einige Kenntnis besitzen, mehr Vertrauen schenkt, als der eigentlichen Untersuchung des Geistigen; wobei man sich darauf beruft, daß uns in der Erfahrung kein bloß geistiges Leben, sondern nur ein mit dem leiblichen Leben verbundenes und von diesem sehr abhängiges, gegeben ist.
Von den oft sehr sonderbaren Vermengungen dieser drei verschiedenen Hauptansichten, kann hier ebensowenig als vorhin bei der Metaphysik gehandelt werden.


C. Von der Naturphilosophie

1) Die äußere Erfahrung, sehr viel reicher als die innere, macht wenig Mühe wegen des Auseinandersetzens; denn man findet in ihr schon viele und deutlich verschiedene Dinge auseinander. Die Naturforscher nehmen vielerlei Stoffe (Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff usw.) und verschiedene Kräfte (Kohäsion, Attraktion, Expansion usw.) gewöhnlich an, um sich daraus die Eigenschaften der Körper zu erklären. Die Stoffe sollen in aller Umwandlung am Gewicht zu erkennen sein. Aber Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus haben kein Gewicht; daher schwanken die Meinungen in Anbetracht dieser sogenannten Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp] zwischen der Annahme, sie seien Stoffe oder sie seien Kräfte. Überdies zeigt die äußere Erfahrung Pflanzen und Tiere, deren Leben aus ihrem ponderablen Stoff zu erklären ebenso unmöglich scheint, als den Stoff aus dem Leben abzuleiten.

2) Man pflegt nun einstweilen das am meisten Rätselhafte beiseite zu lassen und - wie es natürlich ist - eine reglemäßige Untersuchung dadurch einzuleiten, daß man sich das Bekannteste, uns was noch am klarsten scheint, zuerst vornimmt, um hiervon auszugehen. Man beginnt also mit der Materie und man fragt, ob dieselbe wohl aus nebeneinander liegenden Teilen bestehen möge, wie etwa der Sandstein aus Sandkörnern und ein Haus aus einzelnen Steinen? Dann müßten die Sandkörner aus feinerem Sand bestehn, wobei der feinere und feinste Sand auch noch einen Mörtel nötig hätte, wie die Bausteine des Hauses, um zusammenzuhalten. Sowohl wegen der feinsten Teile als auch wegen des Zusammenhangs gerät man nun in die Verlegenheit, daß die Lehre von der Materie sehr schnell dahin gelangt, wohin, wie oben gezeigt, die Metaphysik allmählich gekommen ist, nämlich zu der Meinung, die Materie sei nur Erscheinung.

3) Nicht bloß aus dieser, sondern auch aus den neuen Verlegenheiten, welche entstehn, wenn jemand die Materie als Erscheinung versucht aus dem Ich, welchem sie erscheint, zu erklären, - muß man sich eigentlich schon herausgearbeitet haben, ehe man die Naturphilosophie überall nur ernsthaft beginnen kann. Das heißt mit anderen Worten: die Naturphilosophie bezieht sich zwar auf die äußere, wie die Psychologie auf die innere Erfahrung, aber die beiden Wissenschaften beruhen eigentlich auf der Metaphysik.

4) Diejenigen jedoch, welche eine mystische Anschauung annehmen, erblicken in der äußeren Erfahrung nur Stufen der Emanation oder Äußerung des Urwesens und bezeichnen den Stoff als das Nichtseiende.

5) Die Empiriker dagegen begaben die Stoffe mit so vielerlei Kräften, als ihnen nötig scheint; oder sie versuchen, einige dieser angenommenen Kräfte auf andere zurückzuführen (z. B. auf die Elektrizität); jedoch mit dem Bekenntnis, daß sie eigentlich nicht wissen, was sie sich bei dem Wort  Kraft  denken sollen; besonders da es, wie man gewöhnlich glaubt, auch noch Seelenkräfte geben soll, die ohne Zweifel von chemischen, mechanischen und Lebenskräften sehr verschieden sein müssen.


D. Übergang von der Metaphysik zur Ethik

1) Auch ohne mystische Anschauung betrachtet man das Zweckmäßige, welches in unserem Erfahrungskreis so bewunderungswürdig als unerklärbar hervortritt, als den Finger Gottes in der Natur.

2) Unsere Begriffe von Gott aber sind so mangelhaft, daß wir sie nur als Erweiterungen und Erhöhungen dessen ansehen können, was uns die Selbstbeobachtung oder vielmehr die Betrachtung der besten Menschen, die wir kennen, vom geistigen Dasein und von der Persönlichkeit gelehrt hat.

3) Die Begriffe der Menschen von Gott stehn auch nach dem Zeugnis der Geschichte nicht höher, als ihre sittlichen Ideen weit entwickelt und gereinigt worden sind.

4) In Ansehung der Erkenntnis Gottes teilen sich die Meinungen zwischen Glaubensgründen, Schlüssen aus dem Gegebenen auf das Übersinnliche und mystischen Anschauungen.

5) Es ist ein großer Irrtum, den Glauben darum, weil er vom Wissen unterschieden wird, für schwächer zu halten. Wir glauben schon im geselligen Leben auch da noch an Menschen, wo wir längst vom eigentlichen Wissen verlassen sind und können diesen Glauben weder entbehren, noch uns von ihm lossagen.


E. Von der Ethik
oder der praktischen Philosophie

1) Die Ethik hängt mit Psychologie und Religionslehre zusammen. Entweder im Vertrauen auf sich selbst, oder auf die Vorsehung, oder auf beides zugleich (Freiheit und Weltordnung) unterzieht man sich schwierigen Pflichten, ohne davor zu erschrecken.

2) Es fragt sich aber, ob die Pflichten verschwinden würden, wenn der Erfolg sehr unwahrscheinlich wäre? - Auch hier ist eine richtige Mitte zu suchen zwischen einem schwärmerischen Enthusiasmus, der von gar keiner Frage nach der Möglichkeit des Erfolgs sich warnen läßt und einer feigen Klugheit, die selbst bei ganz klarer Pflicht noch Bürgschaft des Erfolgs im Voraus verlangt.

3) Als bekannt aus dem gewöhnlichen sittlichen Bewußtsein jedes Gebildeten, ist vorauszusetzen, daß sowohl bei äußeren geselligen Verhältnissen als im Innersten der Gesinnung Pflichten vorkommen; daher, solang die genaueren Unterscheidungen innerer und äußerer Verhältnisse unbemerkt bleiben (und hier wäre zu früh davon zu reden), muß es als ganz natürlich erscheinen, daß in den üblichen Vorträgen die Ethik in zwei Teile zerfällt, nämlich in Naturrecht und Moral.


I. Vom Naturrecht

a) Von allen schon vorhandenen geselligen Verhältnissen abstrahierend, denken sich manche einen Naturzustand, worin der Mensch schon ursprüngliche Rechte hat. Mindestens ein Recht zu leben; also auch auf Nahrung und freie Bewegung. (Knechtschaft? Armut?)

b) Erworbene Recht sollen hinzukommen; Rechte auf Sachen, durch Okkupation und Formation. (Beute? Verjährung? Testamente?)

c) Auch Vertragsrechte, aufzuheben  mutuo consensu  [in gegenseitigem Einvernehmen - wp] (Ehe?)

d) Aus Verträgen leitet man Gesellschaften her; unter ihnen den Staat (Macht? Ansehen? Zwang? Strafe?)

e) Ist es willkürlich, im Staat zu leben? Darf der Staat angesehen werden als eine auf gemeinsamen Gewinn berechnete Gesellschaft, die man im Falle des Verlustes auflösen würde?

Hier stößt das Naturrecht dergestalt an höhere Pflichten auf der einen Seite und an unvermeidliche Notwendigkeit von der anderen Seite, daß seine Trennung von Moral und Psychologie verdächtig wird.


II. Von der Moral

a) Die Moral dringt ins Gewissen. Ihre Absicht geht auf die Gesinnung; hiermit zunächst auf Tugend; dann auf Pflicht.

b) Da die Tugend schwer ist: so erzeugt sich leicht der Mißverstand, die Schwierigkeit sei das Maß der Tugend; und Selbstpeinigung gebe Anspruch auf Lob. Aber das rein Sittliche ist ein solches, welchem der Mensch nicht widerstrebt; indem dieses Widerstreben das Gegenteil des Sittlichen bezeugen würde.

c) Es entstehen hier Fragen nach der Ursache eines solchen Widerstrebens; also nach dem Ursprung des Bösen. Dadurch wird es nötig, Moral mit Psychologie zu verbinden.

d) Es entstehen ferner Fragen, ob der Mensch seine Kraft, das Böse zu besiegen, durch gute Werke dergestalt dartun kann, daß ihm eine höhere Unterstützung nicht nötig ist? Die Kirche warnt vor Übermut und es zeigt sich hier eine Verbindung zwischen Moral und Religion.


III. Von Politik und Pädagogik

Diese beiden Wissenschaften können hier nur genannt werden, um anzumerken, daß mit Hilfe der Psychologie und der Erfahrung die Ethik in Anwendungen sowohl auf den Staat als auf den Einzelnen, insbesondere auf die Jugend übergeht.


F. Von der Ästhetik

1) Unter dem Namen Ästhetik stellt man die verschiedenen Betrachtungen über das Schöne und Häßliche zusammen, deren Veranlassungen sich in ganz ungleichartigen Künsten finden; als in der Poesie, der Plastik, der Musik. Sogar der Eindruck, welchen der gestirnte Himmel auf uns macht oder das Gewitter und das brausende Meer, wird ästhetisch genannt.

2) Da Naturgegenstände ebensowohl schön als häßlich gefunden werden, als Kunstwerke: so kann die Künstlichkeit einer Nachahmung nicht den Maßstab ihres ästhetischen Werts abgeben. Überdies sieht man, daß die Künstler sich über bloße Nachahmung zu erheben suchen. Wo ist denn das Schöne, welches sie zu erreichen sich bemühen?

3) Diese Frage führt wiederum dahin, eine richtige Mitte zu suchen zwischen mystischer Anschauung und Empirismus.
    a) Erwägt man, daß verschiedene Künstler, wo der eine oft wenig Geschmack zeigt an der Kunst des anderen (z. B. Dichter und Musiker oder Musiker und Maler) auf ganz ungleiche Weise nach dem Schönen streben: so unternimmt man es nicht, auf die Frage, was ist das Schöne? einerlei Antwort für alle Fälle zu geben, sondern man teilt die Frage, bis man zu mehreren einfachen Urteilen des unmittelbaren Vorziehens und Verwerfens gelangt. Diese sucht man vollständig zu gewinnen und in völliger Genauigkeit zu erkennen, um sie den Künstlern als dasjenige Musterhafte darzubieten, womit sie ihre Produktionen zu vergleichen haben.

    b) Die mystische Anschauung dagegen setzt voraus, das Schöne sei nur Eins und finde sich beim Urwesen dergestalt, daß mit der unmittelbaren Erkenntnis des letzteren uns auch das Schöne selbst zugänglich sei.

    c) Die Empiriker halten sich an vorhandene Werke der Natur und Kunst, welche sie zwar untereinander, aber mit keiner Art von allgemeinen Musterbegriffen verglichen wissen wollen.

G. Von der Logik

1) Die Logik gibt die allgemeinsten Vorschriften, Begriffe zu sondern, zu ordnen und zu verbinden.

2) Sie setzt die Begriffe als bekannt voraus; und bekümmert sich nicht um den eigentlichen Inhalt eines jeden derselben.

3) Daher ist sie nicht eigentlich ein Werkzeug der Untersuchung, wo etwas Neues gefunden werden soll, sondern eine Anleitung zum Vortrag dessen, was man schon weiß.

4) Dennoch weist sie auch bei Untersuchungen auf deren erste Bedingungen hin und leistet große Dienste, um auf begangene Fehler aufmerksam zu machen.

5) Unter dem Namen der angewandten Logik pflegt eine Verbindung der Logik und Psychologie vorgetragen zu werden, die jedoch sehr mangelhaft ausfällt, wo die Psychologie nicht schon vorausgegangen ist.
LITERATUR - Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Königsberg 1834