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Zum Begriff des Individuellen
I. Ein kurzer geschichtlicher Rückblick zur Orientierung für die Gegenwart möge den Anfang machen. Am Anfang der griechischen Philosophie tritt uns eine doppelte naive Zuversicht entgegen, zur dinglichen Wirklichkeit der Naturerscheinungen einerseits und zu gewissen allgemeinen Wesenheiten oder Elementen andererseits, die den Grund oder die Ursache der Erscheinungswelt bedeuten. Das weitere Nachdenken führt alsdann zur Spaltung, indem die einen die Realität des Mannigfaltigen, Endlichen auf Kosten der Allgemeinbegriffe betonen, die anderen umgekehrt verfahren. Im Zusammenhang damit entsteht der Gegensatz von "Denken", das den Allgemeinbegriffen zustrebt und "Wahrnehmung", das immer nur das Einzelne zum Inhalt hat. Doch bleibt es in dieser ganzen ersten Periode nur bei einer Gärung, wie sie die keimende Erkenntnis der Fülle und Tiefe der Probleme von selbst mit sich bringt, und deren fast naturgemäßer Abschluß die Sophistik ist. Durch den ethischen Einschlag der sokratischen Philosophie gestärkt entsteht sodann als erste geschlossene Weltanschauung das System PLATOs, gekennzeichnet dadurch, daß es die Realität der Allgemeinbegriffe in inniger Verbindung mit ethischen und religiösen Erfahrungsinhalten bzw. "Werturteilen" in den Vordergrund stellt. Aber es ist kein schroffer Gegensatz zwischen den Ideen, die das Allgemeine darstellen, und dem Individuellen, sondern nur ein Stufenunterschied des Wirklichen. Und derselbe Stufenunterschied wiederholt sich innerhalb des Reichs der Ideen selbst, sofern die höchste Idee sich die "niederen" unterordnet. Die Skala des Höheren und Niederen ist identisch mit einer Skala des mehr oder weniger Wirkliche. Anders bei ARISTOTELES, dessen grundlegender logischer Entwurf von der Erkenntnis getragen ist, daß das Individuelle keineswegs weniger wahr sein kann als das Allgemeine, daß es vielmehr genau dieselbe Realität besitzt. Die Lösung wird gegeben im Begriff der Entelechie [sich im Stoff verwirklichende Form - wp], der durch die Anschauung des Organischen gewonnen wird. Der Organismus nämlich enthält das Allgemeine und das Besondere zugleich; das Einzelne - nämlich hier das Glied - dient dem Zweck der Verwirklichung des Allgemeinen. Das Wesen verwirklicht sich im Individuellen, und das letztere ist insofern ein Reales, als es zugleich an der formalen Bestimmtheit des Allgemeinen teil hat. Der Begriff des Wirklichen bleibt jedoch im Grunde auch hier, wie bei PLATO, dualistisch; denn einerseits sind die Allgemeinbegriffe das, was an den Dingen das Wirkliche ist, andererseits ist das Individuelle das Wirkliche am Allgemeinen. Zu einer Klärung dieses Widerspruches gelangt ARISTOTELES nicht. Über die Lösungen, die PLATO und ARISTOTELES gegeben haben, sind die nachfolgenden zwei Jahrtausende nicht hinausgekommen; weder die folgende Entwicklung auf griechischem Kulturboden, noch die in Anknüpfung an sie stattfindende Erneuerung der Philosophie innerhalb der katholisch-christlichen Kultur führen weiter. Der die mittelalterliche Scholastik kennzeichnende Streit zwischen Universalismus und Nominalismus bewegt sich im Rahmen platonisch-aristotelischer Substanzvorstellungen. Einen Ansatz macht erst die protestantische Philosophie,, so schon innerhalb der Orthodoxie z. B. bei MENTZER, obschon die Terminologie die alte bleibt. Es war sodann zuerst LEIBNIZ, der mit Deutlichkeit erkannt hat, daß die "allgemeinen Wahrheiten" ebensogut wie die Erfahrungstatsachen von intuitiver Gewißheit begleitet sind und so zwei primae veritas darstellen, die aber dann weiterhin von ihm wieder stufenmäßig als "notwendige" und "zufällige" Wahrheiten unterschieden wurden. Besonders LEIBNIZ' Substanzbegriff, der anstelle des starren Seins das Wirken setzt, und anstelle der logischen, dynamische Grundbegriff in die Metaphysik einführt, künden die neue Zeit an. Daß in allem Einzelnen das Ganze lebendig ist, daß in der Vielheit sich die Einheit offenbart, läßt ihn zwar zunächst noch in Anknüpfung an die aristotelische Entelechie erscheinen, doch aber wiederum bedeutend darüber hinausgehen, sofern das Individuelle, als "Monade" gefaßt und bestimmt, mit dem "Wirklichen" identifiziert wird. Indem dann freilich wieder das Monadenreich der obersten schöpferischen Monade der Gottheit untergeordnet wird, wird es doch wieder zur "Zufälligkeit" des Daseins verurteilt. Also auch hier kommt LEIBNIZ über das aristotelische Schwanken hinsichtlich des Individuellen nicht hinaus und zeigt darin nur seine Abhängigkeit von der bisherigen Geschichte der Philosophie. Eine wirklich neue Lösung des vorliegenden Grundproblems liegt dann erst in der Vernunftkritik KANTs vor. Die Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen kann allerdings kaum in dieser Form als das Problem bezeichnet werden, dessen Lösung KANT sich vorgesetzt hatte. Die Kritik der reinen Vernunft will in erster Linie die Grenzen der Vernunft festlegen, innerhalb dieser Grenzen aber auch wirkliche Vernunfterkenntnis darbieten. Selbstverständlich ist die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori identisch mit der Frage, wie Erfahrungstatsachen von Einzeldingen unter allgemeingültige Urteile fallen können, also mit dem Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen. Daß aber KANT das Problem in seiner ganzen Tragweite nicht im Auge hatte, daß er fast ausschließlich die Allgemeinbegriffe nach ihrem Geltungsbereich erwägt und sich zu wenig um die Bestimmung des Tatsächlichen und den diesem zukommendem Realitätsbegriff kümmert, zeigt die sofort entstehende Streitfrage nach dem "Ding-ansich" in dieser Philosophie. Die allgemeinen Begriff sind hier die Faktoren, die das Wirkliche machen; Anschauungsformen und Kategorien sind es, die den "Stoff" des sinnenfähig Gegebenen in die Sphäre der Erkenntnis erheben und damit "notwendig" machen. Einseitig mit der Frage beschäftigt, wie reine Naturwissenschaft und Mathematik als Wissenschaft von allgemeingültigen notwendigen Urteilen möglich sein können, unterläßt es KANT, die Kehrseite dieser Frage zu untersuchen, wie deren entgegengesetzte Urteile, also Irrtum und Jllusion möglich sind; mit anderen Worten: wie es möglich ist, daß das Irrationale in den Bereich des vernünftigen Urteilens eintreten kann. Nach KANT ist aber das Irrationale lediglich das in passiver Ruhe verharrende "Ding-ansich", als der gegebene sinnenfällige Inhalt der Erkenntnis, welcher erst durch die produktiven Kräfte und Formen des Geistes zur Welt der Wirklichkeit umgesetzt wird. Aber keine Erkenntnis charakterisiert den transzendentalen Kritizismus so sehr als diejenige, die das Wesen des Allgemeinen, Notwendigen reduziert auf die bestimmten "Formen" der Anschauungen und die Kategorien, während das davon unterschiedene Individuelle als irrationaler Inhalt beiseite geschoben wird. Indessen hat KANT noch einen anderen Begriff vom Individuellen, und zwar in der "Kritik der praktischen Vernunft" und dieser zweite Begriff hebt durch seinen Gegensatz gegen den ersten die Einheit des Systems auf. Hier nämlich ist es die selbstgesetzgebende Vernunft, welche das Allgemeine des sittlichen Urteils unmittelbar mit dem Inhalt desselben, also mit dem Individuellen verbindet. Die Vernunft, die sich selbst das Gesetz gibt, also frei ist, hat nur sich selbst zum Inhalt und ist unabhängig von allem Gegenständlichen in Raum und Zeit. Ihre Kategorien sind die Kategorien der Freiheit. Sie ist der isolierte, individuelle Punkt, Persönlichkeit genannt und untersteht keinem anderen Gesetz oder Allgemeinbegriff als nur dem eigenen. Und doch gilt diese sittliche Autonomie der Persönlichkeit als allgemeines Urteil für alle, die gleichen Wesens sind. Diese Persönlichkeit ist einerseits ein allgemeiner leerer Schemen, und andererseits das allerindividuellste was es gibt, das Ich selbst. Auf Einzelheiten können wir hier nicht eingehen. Es ist klar, daß diese Verschmelzung selbst kein klarer Gedanke ist, daß sie das Geheimnis des Persönlichen nur in paradoxer Form zum Ausdruck bringt. Sie ist ein logisches Urteil über eine logisch nicht faßbare Tatsache. Darum bleibt auch diesem Begriff des Individuellen das Irrationale anhaften, mit dem es in der Kritik der reinen Vernunft geradezu identifiziert war. Die These es radikalen Bösen, die Überleitung des ursprünglich rein materiellen Freiheitsbegriffs in den scholastischen des liberum arbitrium [Wahlfreiheit - wp] lassen es deutlich erkennen, daß das Individuum als handelnde Person eine irrationale Größe ist, - von noch schärferer Ausprägung sogar, als es das Individuelle in der empirischen Erscheinungswelt war. Der gewaltige Unterschied, bzw. Gegensatz zwischen den beiden irrationalen Größen ist aber der, daß das Individuelle in der "Kritik der praktischen Vernunft" eine produktive, schöpferische Größe ist, während es in der reinen Vernunft sich völlig passiv verhält. Die nachfolgende Entwicklung knüpft bekanntlich zuerst an den Individualbegriff der praktischen Vernunft an, als an das schöpferisch Irrationale des gegebenen Urdatums im Ich: so bei FICHTE. Die hier anhebende kritisch geschulte Spekulation vollendet sich im Panlogismus von HEGELs Metaphysik. HEGEL verhält sich zu KANT wie ARISTOTELES zu PLATO. Wie ARISTOTELES, so führt auch HEGEL den Entwicklungsgedanken in die Logik ein und macht ihn zum deus ex machina [Auftauchen einer Gottheit im Theater mit Hilfe einer Bühnenmaschine, durch die ein vorher unlösbares Problem plötzlich lösbar wird. - wp]. Den Zusammenhang mit der praktischen Vernunft verrät die Idee, daß das Wesen des Geistes die Identität des Allgemeinen und Besonderen ist; den Unterschied von ihr bezeugt der Entwicklungsgedanke, nach welchem das Allgemeine immer erst im Werdeprozeß identisch ist. Denken wir uns die Erscheinung eines Organismus in seinen einzelnen Stadien als vernünftigen Entwicklungsprozeß, so haben wir das Welt- und Geschichtsbild dieser Spekulation. Das Individuelle ist nun von allem Irrationalen befreit; es ist das Wirkliche, d. h. das Vernünftige, da es in der Totalität seiner Erscheinung ein bestimmtes Stadium in der Entwicklung der Vernunft bedeutet. Irration ist es höchstens sofern es nicht die Verwirklichung der ganzen Vernunft auf einmal ist. Für KANTs beide Kritiken haben Analogien mit dem Organismus keinen Raum; überhaupt Ideen der Entwicklung nicht. Diese mit deutlicher Sicherheit empfundene überlogische Betrachtungsweise führt KANT erst in der "Kritik der Urteilskraft" ein, wo dann, wie wir noch sehen werden, ein dritter Begriff vom Individuellen auftritt; HEGEL aber nimmt diese Betrachtungsweise als Ausgangspunkt, vergewaltigt sie als rein logische durch das dreifache Schema der These, Antithese und Synthese und verbindet nun die beiden divergierenden Linien im Begriff des Individuellen bei KANT, durch dieses Schema. Es ist in der Tat der erstaunlichste Beweis spekulativen Tiefsinns, den die Geschichte aufzeigt. Das Allgemeine, Vernünftige ist das Individuelle in seiner Entwicklung. Der Grundfehler aber ist ein logischer: ist es logisch einzusehen, daß der Organismus in seiner Entwicklung eine vernünftige Erscheinung ist? Kann es aus allgemeinen Urteilen begriffen werden, daß diese Entwicklung, die so unendlich verschiedenartig verläuft, bei Pflanzen und Tieren und nun gar erst in der menschlichen Geschichte, daß sie nach logischen Kategorien verläuft? Die zeitliche und tatsächliche Entwicklung wird aber von HEGEL als dialektische Bewegung im Begriff verstanden. Ein kühner Versuch, Sinn und Zweck in alle Geschichte zu bringen, und von eminenter Fruchtbarkeit für die Geschichtsforschung, aber die Geschichte selbst und die Naturwissenschaft vor allem haben diesen Versuch als einen Ikarusflug erkannt. Man kann diese spekulative Philosophie, die der Kritizismus erzeugt hat, dadurch am besten charakterisieren, daß man auf die Rolle hinweist, die der Begriff des Individuellen im Sinn des Irrationalen, den er bei KANT hatte, bekommt. Der Begriff ist rationalisiert. Das Individuelle ist das Allgemeine, und umgekehrt, aber nicht als ruhende Wirklichkeit, sondern als Wirklichkeit in der Bewegung. Nun erst hat der Substanzbegriff, den LEIBNIZ zuerst aus seiner starren Fesselung loszumachen versucht hat, seine moderne Metamorphose im Sinn der Aktualität erlebt. Für eine sich unendlich entwickelnde Substanz ist nichts mehr unmöglich; nichts Einzelnes ist, das nicht als vernünftig könnte in Anspruch genommen werden. Immerhin ist die Rationalisierung des Individuellen durch HEGEL nicht die einzige Fortbildung des Kritizismus auf dem Boden der praktischen Vernunft. Ein interessanter Seitenarm ergibt sich durch die Betonung des Irrationalen, und zwar so, daß das schöpferische Prinzip des Geistes metaphysisch genommen die Ursache des ethisch Bösen und zuletzt des Daseins der Welt überhaupt wird. Was hier FICHTE und SCHELLING noch gemeinsam mit ethischer Betonung haben, wird von SCHOPENHAUER zum letzten Erklärungsprinzip der Welt als Wille und Vorstellung, abseits von HEGEL, dessen Vermittlung mit SCHELLING, oder als alogische Emanation der unbewußten Gottheit (HARTMANN). Was bei HEGEL Vernunft war, das Individuelle, wird nunmehr zuletzt die Unvernunft. Die dialektische Bewegung des Allgemeinbegriffs erzeugt eben nicht Vernünftiges, sondern Unvernünftiges - deswegen, weil sie selbst nichts Vernünftiges ist, sondern in der Freiheit, d. h. im Irrationalen wurzelt. Eine ganz andere Wendung nahm sodann der Neukantianismus, der die Kritik der praktischen Vernunft links liegen ließ und vielmehr an die Kritik der reinen anknüpfte, um von hier aus wenigstens - wenn auch keine hochfliegende Metaphysik zu erneuern - eine sichere Burg für die Philosophie gegenüber der Naturwissenschaft sich zu bauen. Man verfolgt hier die doppelte Aufgabe, allgemeine Urteil auf dem Weg der transzendentalen Methode im Gegensatz gegen den Positivismus zu sichern und sodann die damit zusammenhängende, das Gebiet der Geisteswissenschaften als ein besonderes abzugrenzen. Die von der Metaphysik HEGELs ausgelöste Geschichtswissenschaft selbst war es, die das Fundament abgegeben hat, die Tatsache der Geisteswissenschaften im Unterschied von aller Naturwissenschaft zum gegebenen Ausgangspunkt zu machen. So liefert die Geschichte für DILTHEY in seiner "Einleitung in die Geiseswissenschaft" das Substrat für dieselben und die Untersuchungen von WINDELBAND, RICKERT, SIMMEL u. a. nehmen dieselben als unzweifelhafte Voraussetzung hin. Das transzendentale Grunddogma, das hier zugrunde gelegt wird, ist die Gleichsetzung des Individuellen mit dem Irrationalen. Alle Allgemeinurteile sind lediglich formaler Natur, sie suchen das "Gesetz" der Erscheinungen festzustellen und sind insofern die Domaine der Naturwissenschaften. Hingegen hat die Geschichte es mit dem gegebenen, unableitbaren Individuellen zu tun. Also kurz: die Naturwissenschaften gehen auf das Allgemeine, die Geisteswissenschaften auf das Besondere. Freilich in dem Augenblick, wo das Individuelle im Gegensatz gegen das Vernünftige, d. h. Allgemeine verstanden wird, entzieht es sich jeglicher Feststellung. Ein schlechthin Individuelles kann ja gar nicht Gegenstand der Erkenntnis sein. Hat also KANT nicht doch recht, wenn er im Rahmen der Vernunftkritik das Individuelle dazu verurteilt, der unnahbare Hintergrund aller Erkenntnis zu bleiben? Ist dann eine "Geisteswissenschaft" überhaupt möglich? Hier hilft sich nun RICKERT, der dem Problem die größte Aufmerksamkeit zugewendet hat, mit dem Hilfsbegriff des Werturteils. Es gibt nach ihm etwas rein Individuelles, das als solches, wenn nicht klar erkannt, so doch deutlich empfunden wird. Das ist das Werturteil. Durch den Wert, den der Urteilende einem Ding beilegt, erhält das Ding einen individuellen, d. h. weiter nicht teilbaren Charakter. Woher kommt aber das Werturteil? Innerhalb der reinen Vernunft hat es keinen Platz, es ist tatsächlich eine kleine Anleihe aus der praktischen Vernunft. Das erkennende Subjekt in seiner Eigenart als eigentümlich individuelles Subjekt fällt eigentümliche individuelle Urteile. Es fällt sie nicht als vernünftiges Subjekt, sondern als irrationales - individuelles - Subjekt. Indem nun solche Werturteile in gewißem Maß allgemeine sind, entstehen die "Typen" in der Geschichte, und die sonst unübersehbaren Mannigfaltigkeit der bewerteten Geschichtsdaten ordnen sich nach Typen. So entsteht die "Geschichtswissenschaft". Naturgemäß erhebt sich die Frage, ob solche allgemeinen "typischen" Charaktere Anspruch haben auf Allgemeingültigkeit im strengen Sinn der Wissenschaft; ob es in der Geschichte und für die Geschichte "Normen" geben kann, so wie es Gesetze gibt in der Naturwissenschaft? Aber da der Ausgangspunkt im Gegensatz gegen die allgemeinen Formen gesetzlicher Erkenntnis im Begriff des Individuellen liegt, da dieser Grundbegriff streng irrational gefaßt wird, kann er unmöglich hinterher Rationalität bekommen. Auch dadurch nicht, daß er mit Hilfe des "Werturteils" überhaupt erst der Sphäre des erkennenden Subjekts nahe gebracht wird. Das tatsächlich oder gegenständlich Individuelle wird dadurch nur verbunden mit dem subjektiv Individuellen - eine verdoppelte Irrationalität! Vergeblich bemüht sich RICKERT und nach ihm der Theologe TROELTSCH, im Meer der "Typen" und der geschichtlichen Relativitäten festen Grund für den Aufbau der Geisteswissenschaften zu finden. Und so verläuft die kantische Lösung nach den beiden Seiten, zu denen sie Anregung gegeben hat, unfruchtbar. Die Spaltung des Wirklichen in ein Allgemeines nach der formalen Seite und in ein Individuelles nach der inhaltlichen Seite, die Trennung desselben in eine leere vernünftige und in eine inhaltsvolle, irrationale Hälfte führt nicht weiter. Aber auch der moderne Positivismus in allen Schattierungen, vom naturwissenschaftlichen naiven Empirismus bis hin zum "Pragmatismus", "Humanismus", "Psychologismus" usw. führen nicht zum Ziel. Die Stärke dieser Position ist lediglich die Schwäche der gegnerischen. Selbst Positives schaffen kann sie nicht, da sie grundsätzlich nur das Individuelle anerkennt, es aber verschmäht, in eine Erörterung erkenntnistheoretischer Art über den Begriff des Individuellen einzugehen. Harmlos verwendet sie Allgemeinbegriffe, besonders die Kausalität und anderweitige Abstraktionen, die zur Charakteristik des individuell Tatsächlichen notwendig scheinen. Sie erstickt im Material einzelner Daten und Tatsachen und statuiert jenen absoluten Relativismus, der vor läuter Baumen vom Wald nichts wissen will. Am konsequentesten verfuhr seinerzeit nach FEUERBACH, dem alles Wirkliche nur das sinnliche Einzelne war, während das Gemeine, Geistige ihm eine Jllusion bedeutet hat. Das war der "nominalistische Materialismus" wie WINDELBAND mit Recht diese Philosophie charakterisiert. Es lohnt sich wirklich nicht die Mühe, den modernen Psychologismus, der nicht ganz so radikal, d. h. aber konsequent sein will, ad absurdum zu führen. II. Der kurze geschichtliche Rückblick ergibt im Wesentlichen drei Typen des Individuellen: den platonischen, den aristotelischen und den kantischen; den letzten wieder in dreifacher Ausprägung bei KANT selbst, bei HEGEL und im Neukantianismus. Das Individuelle erscheint bei PLATO als niedere Form des allgemeinen Seins, bei ARISTOTELES als organische Verwirklichung desselben, bei KANT als die irrationale, inhaltliche Seite der Wirklichkeit. Der Fortschritt durch KANT ist klar: Das Individuelle ist für sich nichts, wenigstens nichts Erkennbares, es wird erst etwas durch die apriorischen Formen des Erkennens. Ebenso ist nun nach KANT auch das Allgemeine für sich nichts - ein Gedanke ohne Inhalt. Das ist entschieden ein Fortschritt gegenüber PLATO und ARISTOTELES, für die das Allgemeine wesentlich doch das Substanzielle war. ARISTOTELES zeigt in der Bestimmung des Allgemeinen seine schwächste Seite. War doch die ganze griechische Philosophie vom Allgemeinen ausgegangen, das sie suchte als Erklärungsprinzip, so daß sie zwar zur Unterscheidung vom Individuellen gelangte, aber nicht zur Gleichsetzung; immer galt das Individuelle als minderwertiges, untergeordnetes Sein. KANT hingegen faßt beides, das Allgemeine und das Individuelle als zwei gleichwertige Seiten derselben Wirklichkeit; er wendet die Kategorien von Form und Inhalt darauf an. Die drei Ausprägungen dieser kantischen Auffassung ergeben sich dann mit Notwendigkeit aus dieser Grundstellung. Das inhaltlich gegebene Sein des Individuellen erscheint zuerst selbständig neben dem Individuellen des Bewußtseins; sodann wird es verbunden, und war so, daß das irrationale Moment der Freiheit im letzteren zum Erklärungsprinzip des ersteren wird (HEGEL-SCHOPENHAUER) oder so, daß der Begriff des streng Individuellen durch die Tatsache des wertenden Bewußtseins geschaffen wird (Neukantianismus). Man könnte in diesem Aufriß SCHLEIERMACHER vermissen. Allein dessen singuläre Stellung bedeutet in dieser Hinsicht einen offenbaren Rückfall in eine platonische Denkweise. SCHLEIERMACHERs romantische Vorliebe für das Individuelle, welches immer das Ganze in besonderer Weise enthält, kommt zustand durch eine "Mischung" des Allgemeinen der Vernunft und der Vielheit der Materie. Es sind zwei verschiedene Wesenheiten des Realen und des Idealen, aus denen alles Dasein zusammengesetzt ist. Dieser Gegensatz aber darf nicht als absoluter gefaßt werden, sonst könnte eine Vereinigung nicht stattfinden; aber er ist doch auch ein realer, sonst wäre eine solche wiederum begrifflich undenkbar. Man kann Einheit und Mannigfaltigkeit nicht voneinander ableiten, sie sind eben da, und zwar stets in Verbindung. Das principium individuationis ist nach SCHLEIERMACHER das Mysterium aller Philosophie, aber der Beitrag, den er zur Lösung gegeben hat, kann als origineller nicht in Anspruch genommen werden. Eine wirkliche Lösung des Problems läßt sich natürlich auch nur in der Form denken, daß die Problemstellung selbst berichtigt wird. In dieser Hinsicht muß man den kritischen Weg verfolgen, den KANT eingeschlagen hat, ohne jedoch ihn zu Ende zu gehen. Danach haben wir es nicht mit zwei irgendwelchen selbständigen Wesenheiten zu tun, aber auch nicht mit einer Wesenheit des Idealen oder Vernünftigen, die sich im Einzelnen realisiert, sondern mit zwei tatsächlich verschiedenen Seiten an der einen Wirklichkeit. Nicht das Ideale und Reale, das Allgemeine und das Individuelle sind jedes für sich das Wirkliche, noch auch ist eins der beiden das Wirkliche, dem das andere untergeordnet wird, sondern das Wirkliche ist das Resultat beider, durch das Zusammenkommen beider. Es handelt sich also nicht um ein Wirkliches oder Substanzielles mehr, welches unabhängig vom Urteil oder der Erkenntnis existiert, welches in dieser nur sein Spiegelbild besitzt. Sondern das Wirkliche und die Erkenntnis desselben sind ein und dasselbe. Wir haben die Welt nur im Urteil und haben darum auch die Lösung der philosophischen Probleme nicht von der Metaphysik und Spekulation zu erwarten; sondern von der Logik in der Erneuerung der aristotelischen. Das logische Element derselben kommt bei KANT darin am deutlichsten zum Ausdruck, daß er das Allgemeine und Besondere als die zwei - logischen - Seiten am Begriff einer Sache erkannt hat und daß er weder das Allgemeine als Substanz, noch das Individuelle als für sich selbständig erkannte, sondern aus beiden das Wirkliche, d. h. die Erfahrung sich bilden ließ. Die griechische Denkweise haftete ehedem an der Substanzvorstellung der Allgemeinbegriffe und suchte sich von hier aus mit dem Individuellen abzufinden. KANT hingegen machte aus der Substanz derselben die bloße Form der apriorischen Anschauung und Verknüpfung. Am klarsten wird das beim letzten und höchsten Allgemeinen, bei Gottesbegriff, dessen substanzielles Dasein im Anschluß an das griechische Denken aus dem bloßen Denken selbst gefolgert wurde, während für KANT der ontologische Beweis, ebenso wie der kosmologische hinfällig wird. Es handelt sich eben bei der Verhältnisbestimmung des Allgemeinen zum Individuellen nicht um einen metaphysischen Vorgang, so daß "hinter" dem Urteil das "Ding-ansich" bestehen bleibt, als Allgemeines für sich oder als Besonderes für sich oder als beides, sondern es handelt sich um einen Vorgang der Erkenntnis. Was das Wirkliche "ansich" ist, ist eine irreführende Frage. Wir haben das Wirkliche nur in der Erkenntnis, im Urteil, womit durchaus kein Gegensatz gegen das Wirkliche außerhalb der Erkenntnis statuiert werden kann. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt ist nur ein verbaler. Das "Objekt" ist doch auch Gegenstand der Erkenntnis, also im "Subjekt"! Oder es ist es nicht, dann kann das "Subjekt" nichts davon wissen. Die Vorstellung, daß das Erkennen die Wirklichkeit "abbildet", ist darum unhaltbar. Das Wirkliche, das erkannt wird, ist eben die Wirklichkeit, die ohne Erkenntnis gar nicht da ist. Was wir nicht erkennen, existiert für uns nicht und was wir erkennen, haben wir nur als erkannte Wirklichkeit. Deswegen haben haben wir es im vorliegenden Problem schlechterdings nur mit einem Problem der Erkenntnis, der Logik, zu tun, nicht der Metaphysik, wie man vor und nach KANT immer wieder gemeint hat. Wenn aber nun KANT die beiden Seiten am Begriff des Wirklichen, des als wirklich geltenden allgemeinen Urteils, nach den Kategorien von Form und Inhalt unterschieden hat, so begab er sich damit doch in eine metaphysische Betrachtungsweise, die aus der reinen Logik herausfällt. Denn Form und Inhalt sind immer nur gegenständliche Vorstellungen, die auf das Wirkliche selbst angewandt, dieses gegenständlich machen. Nun kommt KANT tatsächlich dahin, daß er "hinter" der erkannten Wirklichkeit das "Ding ansich" gesetzt hat. Das Individuelle geht eben nicht restlos auf in ein Moment des Urteils, sondern es bleibt als Stoff oder Inhalt außerhalb des Subjekts bestehen. Nur die Form des Erkannten ist reine Funktion des Geistes, dadurch der Stoff erst zur Wirklichkeit erhoben wird. Es ist also deutlich, nach welcher Richtung KANT korrigiert werden muß. Es muß gezeigt werden, daß auch das Individuelle restlos zum Urteil selbst gehört, ebensogut wie das Allgemeine. Nicht die Kategorie von Form und Inhalt kann uns hier etwas nützen, sondern es müssen zwei verschiedene Funktionen im Urteil selbst sein, die das Wirkliche im Urteil konstruieren. Nun ist leicht zu zeigen, daß alles Urteilen tatsächlich aus zwei entgegengesetzten Funktionen besteht. Das Urteil nämlich, das in jedem einfachen "Begriff" bereits enthalten ist, besteht aus einer doppelten Aussage: einmal wird etwas unterschieden von etwas anderem, sodann wird es verbunden mit demselben. Die Unterscheidung setzt immer nur Individuelles, von dem unterschieden wird; die Verbindung hingegen nur Allgemeines. Nehmen wir z. B. den Begriff "blau". Gäbe es überall nur blau und keine andere Farbe, von der wir es unterscheiden, so hätten wir nicht den Begriff davon. Wir hätten nur den Begriff "Farbe", nicht den der blauen Farbe. Und andererseits: stünde blau völlig isoliert da und nicht in Verbindung mit anderen Farben eben als Farbe, so könnte es ebenfalls nicht begrifflich apperzipiert werden. Jeder Begriff eines Wirklichen gehört als einer Gattung an und wird in derselben Gattung unterschieden. Aus Unterscheiden und Verbinden setzt sich zuletzt alle denkende, urteilende Geistestätigkeit zusammen. Beides aber fordert einander; bloßes Unterscheiden ist im absoluten Sinn logisch unmöglich, bloßes Verbinden desgleichen. Wir können immer nur unterscheiden, was irgendeinen gemeinsamen Charakter hat, als Sinnesqualität etwa in einer sinnlichen Wahrnehmung, oder auch als voneinander verschiedene Sinnesqualitäten in einem Bewußtsein. Ich kann blau und süß nicht unterscheiden, es sei denn im Sinne von Farbe und Geschmack, aber nicht unmittelbar als bestimmte Farbe und bestimmten Geschmack. Aber ich kann blau und rot, süß und bitter unterscheiden. So also setzt die Unterscheidung eine Verbindung voraus; aber nicht weniger gilt der Satz umgekehrt. Denn eine Beziehung setzt voraus, daß etwas von etwas anderem unterschieden ist. Identisches kann nicht auf sich selbst bezogen werden. Steht diese doppelte Funktion im Denken oder Urteilen fest, so ist es nun nicht mehr schwer, das Verhältnis des Allgemeinen und Besonderen zu bestimmen. Das Allgemeine bedeutet nichts anderes als die verbindende Funktion im Denken, während das Individuelle die unterscheidende betrifft. Dann enthält jedes Urteil, jeder Begriff einen allgemeinen Bestandteil und einen besonderen. Das Wirkliche ist dann immer sozusagen ein Kreuzungspunkt der divergierenden logischen Funktionen. Jeder Begriff, d. h. jedes Wirkliche in einer Erfahrung nimmt also an diesen zweifachen Funktionen teil. Seine Besonderheit und seine Allgemeinheit, d. h. seine Unterscheidung und seine Verbindung gehört zum Wesen des Begriffs oder der Erfahrung. Es gibt also nichts für sich Isoliertes, rein Individuelles; das wäre schlechthin irrational. Aber genau ebenso schlechthin irrational ist das Allgemeine für sich. Es ist so wenig denkbar als jenes. Es ist auch völlig verkehrt, sich die Sache so vorzustellen, als seien die Allgemeinbegriff leere Abstraktionen aus gegebenen individuellen Wirklichkeiten, wie der Nominalismus und Psychologismus meint. Vielmehr setzen alle individuellen Wirklichkeiten das Allgemeine ebenso gut voraus, wie das Allgemeine umgekehrt das Besondere voraussetzt. Immer da, wo wir gleichzeitig unterscheiden und in Beziehung setzen können, entsteht eine konkrete Erfahrung. Natürlich darf das nicht so verstanden werden, als gäbe es bestimmte Allgemeinheiten und innerhalb derselben lauter Unterschiedenheiten. Das liefe auf den griechischen Realismus hinaus. Vielmehr ist auch das Allgemeine wiederum individualisierbar; es muß als Individuelles einen größeren Kreis sich einfügen können. Dieselbe Seite an einem Begriff kann ein Allgemeinbegriff sein, die an einem anderen Begriff das Individuelle bezeichnet. Allgemeines und Besonderes existiert ja nirgends ansich, also auch als allgemeines Sein nicht, sondern nur als Urteilsfunktion. Nehmen wir wieder den Begriff blau: an ihm ist die Farbe zunächst das Allgemeine, die unterschiedene Farbe das Besondere. Aber es kann auch wieder die bestimmte Farbe als Allgemeinbegriff gelten als Summe unendlich vieler Nuancen von "blau" und eine bestimmte Nuance kann dadurch bezeichnet werden, dann allerdings mit Hilfe einer näheren Unterscheidung. So sind auch die Sinnesqualitäten selbst nichts "ansich" Gültiges, sondern Bestimmtheiten einer einheitlichen Sinneswahrnehmung, während jede Sinnesqualität für sich als Allgemeinbegriff für vielfache Nuancen zu gelten hat.. Wiederum ist der Allgemeinbegriff der Sinneswahrnehmung ein bestimmter Begriff in Anbetracht der Erfahrung, nämlich des Bewußtseins überhaupt, während er sonst eben ein Allgemeinbegriff ist. Als höchsten Allgemeinbegriff nehmen wir den Begriff der "Erfahrung", d. h. das Urteilen als Funktion überhaupt, aber in demselben ist eo ipso [schlechthin - wp] die doppelte Funktion in abstracto mitgedacht. Also an dem Punkt, wo der letzte Allgemeinbegriff keine Individualisierung mehr zuläßt, geht er in den abstrakten Begriff des urteilenden Subjekts überhaupt über und hört auf sowohl Allgemeinbegriff zu sein wie auch Individualbegriff. Das urteilende Subjekt ist die Indifferenz dieser Funktionen selbst. Es ist die "Einheit" der zweifachen Differenzierung im Urteil. Es war aber der zweite Fehler des transzendentalen Kritizismus, daß er den Individualbegriff noch besonders auf das Subjekt als "Individuum" kat exochen [ansich - wp] anwandte und von hier aus eine besondere Klasse von Individualurteilen hergeleitet hat, die nicht auf Gegenständliches bezogen, als "Werturteile" eine besondere Art der Geisteswissenschaften begründen sollten. Hatte KANT selbst diese Werturteile, wie jenen Subjektbegriff mit ausdrücklicher Beschränktheit auf die Ethik gedacht, als das eigentümliche Gebiet der selbstgesetzgebenden Vernunft, so hat der Neukantianismus beides als einen Gefühlswert konstruiert, dem gerade die Idee der Gesetzmäßigkeit abhanden geht. Es ist aber ebenso verkehrt, das "Individuum" im Sinn eines urteilenden Subjekts auch im logischen Sinn als Individuelles zu denken. Die Irrationalität dieses letzten Begriffs darf kein Deckmantel sein, das ebenfalls Irrationale im urteilenden Subjekt dadurch zu bezeichnen. Irrational ist dieses vielmehr in einem besonderen Sinn, eben als Indifferenz gegenüber dem Allgemeinen und Besonderen, während die Irrationalität der beiden Funktionsbegriffe, des Individuellen und Allgemeinen für sich wiederum eine andere ist. Das Bewußtsein gilt nur als die Voraussetzung des Urteilens oder des Wirklichen überhaupt; es ist der paradoxe Beziehungspunkt zweier entgegengesetzter Funktionen. Diese beiden aber für sich sind irrational im Sinne der Unwirklichkeit überhaupt. Es ist meines Erachtens nichts so dringend nötig, als die Begriffe des Irrationalen im obigen doppelten Sinn zu klären. Ein anderes ist das Irrationale als gegebene tatsächliche Voraussetzung aller Wirklichkeit und ein anderes als deren eine Seite für sich genommen! Und doch pflegt man unbedenklich in der Nachfolge KANTs für beide Begriffe des Irrationalen dasselbe Wort zu gebrauchen! Man hat deshalb absolut kein Recht, die Einzelpersönlichkeit im logischen Begriff als Individuum zu denken und die Irrationalität dieses Begriffs darf am wenigsten dazu führen, das "Geheimnis" des Persönlichen damit zu bezeichnen. Die Einzelpersönlichkeit ist der Beziehungspunkt der beiden Funktionen im Denken, das auf Unterscheiden und Verbinden hinausläuft. Diese Beziehungspunkte sind aber keineswegs isoliert gegeneinander; stehen nicht als abgeschlossene "Weltsysteme" einander gegenüber, eben weil sie nicht "Individuen" sind in einem logischen Sinn. Vielmehr stehen sie als Beziehungspunkte auch in Beziehungen zueinander und diese Beziehungen sind wesentlich für die Subjekte. Allerdings sind die Beziehungen der einzelnen Subjekte zueinander andersartige, als die Beziehungen der Urteilsfunktionen zueinander. Die letzten sind eben Funktionen des Urteils, deren gegensätzliche Bestimmtheit des Unterscheidens und Verbindens das Wirkliche konstituiert. Das Urteil, das bereits in einem Begriff zum Ausdruck kommt, setzt sich zusammen aus diesen zwei Bestimmungen des Wirklichen. Aber der Urteilende selbst ist nicht als Individuelles, auch nicht als Allgemeinwesen zu betrachten, sondern als Voraussetzung des Urteils, als Indifferenzpunkt des Besonderen und Allgemeinen. Deshalb nun verhalten sich die urteilenden Subjekte zur Gesamtheit ihrer "Geschichte" auch nicht als Individuen zum Allgemeinen, auch nicht als Allgemeinheiten zur Besonderung. Die Geschichte kann weder in Allgemeinurteile zerlegt werden, noch kann sie als bloßes Tatsachenmaterial von Einzelheiten angesehen werden. Vielmehr ist das Verhältnis der urteilenden Subjekte zueinander ein völlig eigenartiges. Und gerade das ist das "Intelligible" menschlicher Geschichte mit KANT zu reden, das in diesen Beziehungen derselben zum Ausdruck kommt. Zwar ist nicht die Individualpersönlichkeit als Freiheit diese intelligible Wirklichkeit in der empirischen Welt, sondern die Geschichte selbst ist es in ihrer Eigenart als reale Größe. Das "In-Beziehung-Stehen" ist die logische Eigentümlichkeit des Geschichtlichen; ein Stehen in Beziehungen nicht von selbständigen Individuen, sondern von Subjekten, die in diesen Beziehungen überhaupt erst Subjekte sind. Es ist zweifellos rein empirisch betrachtet das Besondere der geschichtlichen Wirklichkeit, im Unterschied von der Wirklichkeit im Urteil des Subjekts. Die Geschichte entsteht mit den urteilenden Subjekten und umgekehrt entstehen diese erst in ihr und durch sie. Weder hat die heroische, noch die sozialistische Geschichtsauffassung in dieser Einseitigkeit recht, sondern es ist das Wesen der Geschichte, daß sie Subjekte erzeugt, die doch wieder die Voraussetzung aller Geschichte sind. Eine eigentümliche Realität hat darum alle Geschichte nur im Begriff der Beziehungen urteilender Subjekte und es ist jedem Nachdenkenden sofort klar, daß wir damit einen metaphysischen Anfang aller Geschichte setzen, d. h. einen Anfang, wie er niemals als End- oder Höhepunkt einer naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsreihe möglich ist. Denn irgendein Anfang dieser Realität als besonderer Realität muß postuliert werden, weil er unvergleichbar ist mit dem Realen des Urteils selbst. Es ist unmöglich, in der Geschichte mit denjenigen Funktionen des Denkens auszukommen, wie wir sie selbst in jedem Urteil eines Gegenständlichen anwenden, indem wir hier nur eine unterscheidende und verbindende Tätigkeit ausüben. Das hat der Neukantianismus deutlich herausgefühlt, wenn er die Geschichte als eigentümliches Tatsachengebiet des Individuellen aufgefaßt hat; seine Definition des Individuellen ist jedoch fehlerhaft sowohl in logischer Hinsicht, wie auch besonders in Anbetracht des Subjekts. Selbstverständlich kann man auch die Geschichte gegenständlich beurteilen als in Raum und Zeit vor sich gehende Wirklichkeit. Aber damit trifft man das Unterscheidende der Geschichte nicht. Dieses besteht in der eigentümlichen Aufeinanderbeziehung derjenigen Subjekte, welche für sich die Voraussetzung allen Denkens nach Begriffen sind, die selbst weder als Individuum (KANT) noch als Allgemeinwesen (HEGEL) zu verstehen sind, sondern eben anders; und in dieser andersartigen Beziehung, die in Wirklichkeit von grundlegender Überordnung für sich ist, erblicke ich das Wesen der Ethik, welche für alle Geschichte konstitutiv ist. Übergeordnet ist die Ethik, da in ihr erst Subjekte überhaupt entstehen, die ein Urteil haben, wie andererseits dieselben Subjekte diese Wirklichkeit möglich machen. Man könnte nur hier mit einer Parallele des Organischen kommen, in der auch das Einzelne wie das Ganze zugleich entsteht, und es ist kein Zweifel, daß - wie schon KANT zuerst deutlich erkannt hat - das Organische nicht in eine logische Betrachtung aufgeht. Aber da es auch nicht die Realität der selbstgesetzgebenden Vernunft hat, gab ihm KANT eine Zwitterstellung, so daß es ununterschieden geblieben ist, ob es eine neue Wirklichkeitsweise darstellt, oder nur eine neue Betrachtungsweise. Es läßt sich an dieser Stelle leicht nachweisen, daß KANT bei dieser Gelegenheit einen dritten Begriff des Individuellen einführt, so daß er also für seine drei Kritiken drei verschiedene Begriffe des Individuellen hat. Dieser dritte Begriff kommt in dem Satz zum Ausdruck, der die Definition des Organismus sein will, wonach das Ganze eher ist als seine Teile. Damit wird das Individuelle im Sinne des ARISTOTELES und im Sinne HEGELs definiert; es ist nicht mehr das Irrationale, es ist das Vernünftige, Zweckmäßige, da in ihm das Ganze zur Selbstverwirklichung gelangt. Der Zweckbegriff ist nun konstituierend für das Individuelle und der Zweck ist das Allgemeine, der - wenn auch nicht transzendent - so doch immanent gedacht - das Wesen des Lebendigen ausmacht. Ich halte nach allem Gesagten diese Definition, obgleich sie die populäre geworden ist, und in fast allen Philosophien auch der Neuzeit wiederkehrt, für logisch unhaltbar. Sie operiert wiederum mit der alten metaphysischen Betrachtung des Besonderen und Allgemeinen und verbindet ansich vorgestellte, logisch entgegengesetzte Wesenheiten durch den Zweckgedanken. Was aber heißt das anderes, als seine Zuflucht nehmen zu einer rein psychologischen Größe, d. h. zu einem "Werturteil", das ausschließlich Eigentum des urteilenden Subjekts ist? Im Urteil selbst, in der Logik, findet der Zweck keine Unterkunft; er ist das willkommene Refugium [Zufluchtsort - wp] für alles, was man logisch nicht erklären kann. Damit stört man die reine logische Analyse unserer komplizierten Begriffe und Urteile, aus denen alle Probleme der Philosophie letztlich hervorgehen. KANTs Begriff vom Organischen ist ein Mischbegriff aus Bestandteilen der reinen und praktischen Vernunft. Wohl aber ergibt es einen richtigen Begriff, wenn das Organische vorgestellt wird aus Bestandteilen, die in Beziehung zueinander stehen, die aber selbst erst aus diesen Beziehungen erwachsen. Selbstverständlich ist das ein circulus, aber nicht mehr als es der obige Begriff auch ist. Meine Auffassung läßt nur den Zweckgedanken aus dem Spiel und betrachtet das Wesen allen Lebendigen als eine Wirklichkeit anderer Ordnung, nicht als den Kreuzungspunkt des Individuellen und Allgemeinen, sondern als die Beziehung beider. Dabei bleibt jede metaphysische Substanzvorstellung des Individuellen und Allgemeinen ausgeschlossen, und das ist der enorme Gewinn. Insofern kann man auch alle Geschichte nach Analogie des Organischen ansehen, nur mit dem großen Unterschied, daß hier nicht Individuelles und Allgemeines zueinander in Beziehung steht, sondern daß hier urteilende Subjekte, die Urdata aller Vorstellungen vom naturhaft Wirklichen und vom organisch Wirklichen, zueinander in Beziehung stehen. Der weitere Gewinn ist der, daß hier ein einziger Begriff vom Individuellen einheitlich in Anwendung gebracht wird, während der Begriff des Irrationalen, sonst das bequeme Ruhekissen für alle Rätsel die übrig bleiben, ebenfalls in seiner Doppelsinnigkeit klar umgrenzt wird. Inwiefern aber auf dieser Basis eine neuartige Theorie der Geschichte entsteht, in der auch das große Problem des modernen Historismus, das Problem der Normen, seine Lösung findet, muß anderen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Daß aber ein solches System keine "spekulative" "Lösung" aller "Welträtsel" gibt, das soll - so selbstverständlich es ist - doch nicht unerwähnt bleiben. Genug, wenn uns die Philosophie zur Klärung und Entwirrung unserer Begriffe und Urteile verhilft; denn das vermag keine andere Wissenschaft. |