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ERNST BRATUSCHECK
Der Positivismus in der Wissenschaft
[Akademische Antrittsrede gehalten am 16. Januar 1875]

"Gerade die Naturwissenschaften haben noch immer einigen Grund zum Mißtrauen gegen die Philosophie; denn ein volles Menschenalter hindurch sind sie von der Naturphilosophie irregeführt worden und damals erklärten tonangebende Philosophen wie Hegel die exakte Naturforschung für unwissenschaftlich. Wie kann sich also jetzt die Philosophie beklagen, wenn ihr Gleiches mit Gleichem vergolten wird?"

"Infolge der Lostrennung der Einzelwissenschaften von der Philosophie ist eine höchst verderbliche Macht in sie eingedrungen, nämlich der Positivismus. Allerdings wird diese Gefahr noch nicht genügend gewürdigt, obgleich dadurch das Palladium des deutschen Geistes bedroht wird."

"Schon Demokrit hatte behauptet, die Bedeutung der Worte, wonach sie Ausdruck unserer Vorstellungen sind, beruhe nicht auf der Natur der Dinge, sondern auf Konvention, auf willkürlicher Satzung; die Sophisten erklärten ebenso das Recht, den religiösen Glauben, ja das Sittengesetz für posititv, konventionell. Als real und natürlich blieben zuletzt nur Lust und Unlust, Vorteil und Schaden bestehen."

"Der Grundfehler des Positivismus: er ist unkritisch und unhistorisch. Unkritisch, denn er bemerkt nicht, daß die Naturgesetze, die das eigentliche positive Wissen bilden sollen, auch nur Abstraktionen von den Erscheinungen, Formen des Naturgeschehens sind und daß weder Stoff noch Bewegung Erscheinungen, sondern beides gleichfalls Abstraktionen sind, die doch als konstituierende Momente der Erscheinungen angesehen werden."

"In der Naturwissenschaft, sagt Liebig, ist alle Forschung deduktiv oder apriorisch; das Experiment ist nur Hilfsmittel für den Denkprozeß ähnlich wie die Rechnung; der Gedanke muß ihm in allen Fällen und mit Notwendigkeit vorausgehen, wenn es irgendeine Bedeutung haben soll. Eine empirische Naturforschung im gewöhnlichen Sinn existiert gar nicht."

Der Grund, warum ich meine akademische Antrittsrede im dritten Semester meiner Amtstätigkeit halte, liegt darin, daß ich nach meiner Auffassung mein Amt erst in diesem Semester wirklich angetreten habe. Als ich im Herbst 1873 hierher berufen wurde, war der Lehrstuhl der Philosophie ein Jahr lang unbesetzt gewesen. Während dieser Zeit war eine Neuordnung des Examens für Aspiranten des höheren Schulamts in Angriff genommen worden und dabei die Frage hervorgetreten, ob es nicht an der Zeit ist, die Philosophie als obligatorischen Gegenstand dieses Examens zu streichen. Ich hatte unmittelbar nach meiner Herkunft die mißliche Aufgabe in die Beratung über diese Frage einzutreten, bei welcher es sich einfach darum handelte, ob das philosophische Studium an der hiesigen Universität überhaupt noch fortbestehen soll oder nicht. Ich meine damit nicht etwa, daß diese Studium nur künstlich durch eine Prüfungsordnung erhalten werden kann. Aber die Philosophie mit Einschluß der Pädagogik ist ein so wesentlicher Gegenstand der Lehrerprüfung, daß man ihre Ausschließung nicht anders begründen konnte, als indem man ihr den Charakter einer Wissenschaft absprach. Wie Ihnen allen bekannt ist, erschien in den Weihnachtsferien 1873 hier eine für die Komilitonen bestimmte anonyme Broschüre, worin in der Tat der Beweis dafür angetreten wurde, daß die Philosophie nie eine Wissenschaft gewesen ist. (1) Statt eine Antrittsrede zu halten mußte ich eine Gegenbroschüre schreiben, um für das mir anvertraute Fach den Kampf ums Dasein aufzunehmen (2). Denn hätte die Prüfungskommission, d. h. die Mehrheit der philosophischen Fakultät dem Verfasser der anonymen Broschüre beigestimmt, so wäre ich zumindest außerstande gewesen, ein so herabgewürdigtes Lehrfach zu vertreten. Ich betrachtete mich daher nur als provisorischen Inhaber meines Lehrstuhls. Bekanntlich hat die Prüfungskommission im Einklang mit der Ansicht der obersten Schulbehörde und des Hohen Ministeriums nunmehr die Notwendigkeit der philosophischen Prüfung anerkannt. Daher gebührt es sich, daß ich an dieser Stelle zuerst meinen Herren Kollegen öffentlich meinen tiefgefühlten Dank für die erreichte Verständigung ausspreche. Ich hoffe, die Philosophie wird auch fernerhin an unserer Hochschule in der Fakultät, die von ihr den Namen trägt, im regen Zusammenwirken mit den Einzelwissenschaften ihre Aufgabe erfüllen. Wie ich diese Aufgabe auffasse, habe ich in er erwähnten Broschüre auseinandergesetzt. Ich gestehe, gerade die Naturwissenschaften, deren gediegene Bearbeitung mit Recht der Stolz unserer Hochschule ist, haben noch immer einigen Grund zum Mißtrauen gegen die Philosophie; denn ein volles Menschenalter hindurch sind sie von der Naturphilosophie irregeführt worden und damals erklärten tonangebende Philosophen wie HEGEL die exakte Naturforschung für unwissenschaftlich. Wie kann sich also jetzt die Philosophie beklagen, wenn ihr Gleiches mit Gleichem vergolten wird? - Diese Frage wäre vor einem Menschenalter völlig berechtigt gewesen. Aber seitdem ist die Philosophie eine andere geworden; sie ist nicht verantwortlich für früher Geschehenes. Bereitwillig erkennt sie jetzt die volle Selbständigkeit der Einzelwissenschaften an und ist eifrig bestrebt, von ihnen zu lernen. Die Einzelwissenschaften selbst aber haben seit dem Sturz von HEGELs Philosophie eine Entwicklung durchgemacht, deren Resultate sie mahnen muß, sich fest mit der Philosophie zusammenzuschließen; denn es ist in sie infolge ihrer Lostrennung von der Philosophie eine höchst verderbliche Macht eingedrungen, nämlich der Positivismus. Allerdings wird diese Gefahr noch nicht genügend gewürdigt, obgleich dadurch das Palladium [Schutzmacht - wp] des deutschen Geistes bedroht wird. Es liegt im allgemeinsten Interesse, hierauf hinzuweisen, und ich benutze deshalb dazu die mir heute gebotene Gelegenheit.

Man bezeichnet die Einzelwissenschaften im Gegensatz zur Philosophie jetzt immer allgemeiner als positive Wissenschaften. Man könnte meinen, daß die Philosophie dementsprechend eine negative Wissenschaft ist. Und in der Tat faßt man den Gegensatz häufig so auf. Wer nun freilich damit meint, negative Wissenschaft ist die Negation der Wissenschaft, also eben keine Wissenschaft, der müßte ebenso schließen, negative Elektrizität ist keine Elektrizität. Was soll man sich aber unter einem negativen Wissen denken? Am klarsten hat bis jetzt noch SCHELLING diesen Begriff definiert. Negativ ist nach SCHELLING das rationale, d. h. aus Vernunftprinzipien geschöpfte Wissen gegenüber dem empirischen aus der Erfahrung stammenden, das er positiv nennt. Denn das rationale Wissen ist die Erkenntnis dessen, was absolut notwendig ist; notwendig aber ist das, was nicht nicht sein kann. Also erkennt das rationale Wissen nur die negative Seite der Dinge; was sie wirklich sind, lehrt nur die Erfahrung. Bei dieser Erklärung liegt jedenfalls die Ansicht zugrunde, daß positives Wissen die Erkenntnis des Wirklichen, Tatsächlichen, empirisch Gegebenen, negatives Wissen aber das von der Erfahrung unabhängige apriorische Erkennen ist. Freilich sind bei SCHELLING diese beiden Arten der Erkenntnis keine ausschließenden Gegensätze; beide gehören nach ihm gleich notwendig zur Philosophie. Was aber SCHELLING so in der Zeit unmittelbar nach HEGELs Tod aussprach, ist jetzt - wenn auch in anderer Weise als er es sich dachte - zur Wahrheit geworden. Es geht zwar immer noch die Sage, daß die Philosophie nicht auf dem Boden der Erfahrung steht. Wäre dies der Fall, so könnte man sie in der Tat eine negative Wissenschaft nennen; denn sie würde verneinen, was die übrigen Wissenschaften bejahen, nämlich daß der Stoff unseres gesamten Erkennens in der Erfahrung liegt. Eine solche Philosophie gibt es nicht. Und jene negative Seite des Notwendigkeitsbegriffs, die Einsicht, daß etwas nicht anders sein kann, dürfte doch wohl auch nicht der philosophischen Erkenntnis eigentümlich, sondern das Ziel aller Wissenschaft sein. Kein Philologe wird die Stelle eines Schriftstücks für erklärt halten, wenn neben der von ihm angenommenen Erklärung noch viele andere möglich sind. Kein Naturforscher wird eine Tatsache, also die Wirklichkeit selbst, als festgestellt ansehen, wenn er nicht überzeugt ist, daß keine andere Deutung des vorlegenden Phänomens möglich ist. In der Philosophie wie in den übrigen Wissenschaften muß sich also positives und negatives Denken vereinen, jenes als Bejahung des Wirklichen, dieses als Ausschluß des Unmöglichen.

Wenn es hiernach keine negative Wissenschaft gibt, so fragt es sich, mit welchem Recht sich die Einzelwissenschaften positiv nennen. Vor nicht allzu langer Zeit wäre es höchst auffallend gewesen, wenn jemand die Naturwissenschaften und besonders die Mathematik als positive Wissenschaften bezeichnet hätte. Damals wurden nur Teleologie, Rechtswissenschaft und etwa Grammatik so genannt und zwar bekanntlich deshalb, weil die bestehende Religion, das historisch gegebene Recht, der Sprachgebrauch der einzelnen Sprachen auf Satzung, Übereinkunft, "positio" beruhen. Man setzte dem positiven Recht das Naturrecht, der positiven Religion die natürliche Religion entgegen. Es muß also in der Tat befremden, wenn man schließlich nun auch von einer positiven Naturwissenschaft spricht. Die Natur scheint ja eben das zu sein, was unabhängig von aller menschlichen Willkür besteht. Und doch - so sonderbar dies klingen mag - eine wirklich positive Naturwissenschaft ist nichts anderes als eine auf Satzung beruhende Naturwissenschaft. Gestatten Sie mir dies durch eine kurze historische Erörterung zu erläutern, welche zugleich das Wesen und die Wirkungen des wissenschaftlichen Positivismus überhaupt aufdecken wird.

Als sich in Griechenland die Wissenschaft von der Mythologie trennte, entwickelten sich zuerst Philosophie und Einzelwissenschaften im innigsten Zusammenhang. Aber bald traten philosophische Systeme einander gegenüber, die sich auszuschließen schienen und keines derselben wurden den Tatsachen der Erfahrung völlig gerecht. Da standen Männer auf, welche nachzuweisen suchten, daß das Grübeln über das Wesen der Dinge unfruchtbar und vergeblich ist; man müsse sich einfach auf die Kenntnis der Tatsachen, d. h. der Erscheinungen beschränken. Dies war die Ansicht der ältesten Sophisten. Sie trat von Anfang an in zwei Formen auf. Die Einen, wie GORGIAS, behaupteten, es gebe überhaupt nichts Reelles, sondern nur eine Welt des Scheins, und es kommt also nur darauf an, sich in diesem Schein zurechtzufinden. Wert hat hiernach alles nur, insofern es unser Wohlbefinden befördert, und dazu gehört, daß wir die Scheinvorstellungen anderer durch die Macht der Rede nach unserem Belieben zu wecken und zu beherrschen verstehen; der geschickte Redner muß bei jeder Behauptung das pro und contra gleich überzeugend darstellen können. Diesem Nihilismus gegenüber hielten anddere, wie PROTAGORAS, an der Wirklichkeit der materiellen Welt fest. Außer der Körperwelt - meinten sie - liegt uns tatsächlich nichts vor. Wir nehmen nur Stoff und Bewegung wahr und durch das Zusammenwirken der sich kreuzenden Bewegungen entstehen die Dinge mit ihren verschiedenen Formen und Eigenschaften. Auch der Mensch ist nichts als das Resultat eines solchen Zusammenwirkens von materiellen Bewegungen. Durch die Einwirkung äußerer Einflüsse auf unsere Sinnesorgane entstehen unsere Wahrnehmungen und daraus unsere Vorstellungen, die nur umgeformte Wahrnehmungen sind. Jede Wahrnehmung gilt aber nur für den Augenblick, wo unser Organismus in bestimmter Weise affiziert wird. Nichts hat für sich diese oder jene Qualität, sondern nur im Zusammenwirken mit dem affizierten Sinn; es gibt keine Farbe abgesehen vom sehenden Auge usw. Da nun die Dinge eben nur im Verhältnis der zusammenwirkenden Bewegungen bestehen, so sind sie für jeden das, als was sie ihm erscheinen und dies hängt von seiner Körperkonstitution und dem jedesmaligen Zustand seines Organismus ab. Folglich gibt es keine objektive Wahrheit, sondern nur subjektive Meinung; dasselbe ist für den einen wahr und für den andern falsch, ja für ein und denselben bald wahr bald falsch: der Mensch ist das Maß aller Dinge; er bestimmt, was ist und was nicht ist. Selbst die Mathematik ist hiervor nicht ausgenommen; ihre Subjektivität zeigt sich schon darin, daß in der Natur ihre Elementargebilde gar nicht vorhanden sind; es gibt in der Natur keine gerade Linie, keinen Kreis, keine Gleichheit usw. Aber wie in der Mathematik die subjektiven Meinungen der Menschen ausgeglichen sind, so kann doch ein Ausgleich dergestalt stattfinden, daß es eine auf relativer Ähnlichkeit der menschlichen Naturen und auf einer Ähnlichkeit der Erscheinungen beruhende teilweise Übereinstimmung der Meinungen gibt. Ein solcher Ausgleich wird wieder durch Überzeugung bewirkt, durch welche wir die Meinung anderer umzugestalten verstehen.

Das gemeinsame Merkmal der bezeichneten beiden Richtungen der Sophistik ist die Ansicht, daß unser Wissen nicht in der Natur der Dinge, im Wesen des Universums und unseres Geistes begründet (physei) ist, sondern in einer übereinstimmenden Satzung (nomo) nach subjektiven, oft willkürlichen Bedürfnissen. So steht hier dem Begriff der physis, der Natur, der Begriff des nomos, der Satzung gegenüber; nomos ist gleichbedeutend mit dem später in diesem Sinn gebräuchlichen thesis, welches die Römer durch positio übersetzt haben. Das Wort "positiv" hat also seinen ersten Ursprung in jener uralten Zeit und der Positivismus ist der Charakter des sophistischen Scheinwissens.

Schon DEMOKRIT, der Mitbegründer der Atomistik, hatte behauptet, die Bedeutung der Worte, wonach sie Ausdruck unserer Vorstellungen sind, beruhe nicht auf der Natur der Dinge, sondern auf Konvention, auf willkürlicher Satzung; die Sophisten erklärten ebenso das Recht, den religiösen Glauben, ja das Sittengesetz für posititv, konventionell. Als real und natürlich blieben zuletzt nur Lust und Unlust, Vorteil und Schaden bestehen. Dem positiven Recht gegenüber ist z. B. nach sophistischer Auffassung das natürliche Recht nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren und die nihilistische Rhetorik aus der Schule des GORGIAS fand ihr Hauptziel in der Verdrehung des positiven Rechts; wenn der geschicktere Redner siegt, wird der Vorteil des Stärkeren als Recht anerkannt. Nach der sensualistischen Ansicht bestand das natürliche Recht und ebenso die natürliche Religion in Vorstellungen, worin die Menschen ohne besondere Verabredung annähernd übereinstimmen; freilich sind dies nur schwache Anfänge, welche durch die bewußte Satzung erst ausgebildet werden müssen, und hier kann nun die Überredung die von Natur schwächere Sache zur stärkeren machen.

Bei einer solchen Anschauung konnte die Aufgabe der Wissenschaft nur darin gefunden werden, einerseits die Realien, andererseits Sprache und Literatur in ihren vorliegenden einzelnen Erscheinungen zu erforschen. Die Polymathie, d. h. die auf das Einzelne und Einzelnste gerichtete Erkenntnis drohte die Philosophie, welche das Wesen des Universums erkennen will, zu verdrängen.

Damals wurde diese Gefahr durch SOKRATES abgewendet, dessen Ansicht durch PLATON die bleibende Grundlage aller anti-sophistischen Wissenschaft geworden ist. SOKRATES gab den Sophisten zu, daß ihr vermeintliches Wissen allerdings ein bloßes Meinen, ein Glauben ist, weil es sich nur auf das Gebiet der schwankenden subjektiven Vorstellung beschränkt; aber er zeigte, daß man ein objektives Wissen erreichen kann, wenn man die Vorstellung in feste Begriffe faßt. Logisches, d. h. begriffsmäßiges Denken wurde durch PLATON für immer zum ersten Kriterium der Wissenschaft erhoben. Durch eine Untersuchung der menschlichen Erkenntnistätigkeit stellte PLATON ferner fest, daß wir in der Tat durch das begriffliche Denken imstande sind, in den Erscheinungen das Wesen der Dinge zu erfassen. In der menschlichen Vernunft war eine Tätigkeit entdeckt, welche bei allen Menschen in absolut gleicher Form, nach den Gesetzen der Logik, vor sich geht. Diese Tätigkeit äußert sich aber zugleich in Konstruktionen, die wir innerlich vollständig vom einfachsten Element bis zu den kompliziertesten Formen durchschauen, nämlich in der Konstruktion der mathematischen Gebilde: der Zahl und der ruhenden und bewegten Raumgestalt. Die mathematischen Gesetze sind wie die logischen durch ihre absolute Notwendigkeit über die Unsicherheit der subjektiven Vorstellung erhaben; sie können nicht durch Überredung und Satzung festgestellt, sondern müssen in ihren Gründen erkannt werden. Nun finden wir, daß die Erscheinungen in der Tat genau denselben Gesetzen unterworfen sind, daß in einem scheinbar zufälligen Wechsel der Phänomene doch alles logisch und mathematisch bestimmt ist. Aber in der Natur sind jene Formen nicht rein, sondern in unendlicher Komplikation vorhanden. Diese vermag der endliche Geist des Menschen nicht vollständig zu durchschauen; er erkennt sie jedoch im beständigen Fortschritt des Wissens, indem er sie auf die Prinzipien, die er in sich selbst trägt und daher wirklich versteht, zurückführt, d. h. indem er die Gesetze der Natur feststellt. Die Eindrücke, die unsere Sinnesorgane von den Dingen erhalten, stellen allerdings nur das Verhältnis unseres Körpers zur Außenwelt dar; aber dieses Verhältnis enthält eben Teilstücke der Formen der Gegenstände und die Vorstellungsbilder, welche wir aufgrund der Wahrnehmung erzeugen, sind eine vom Denken vollzogene Nachkonstruktion jener Formen, die dann durch Abstraktion, d. h. durch eine Auflösung in ihre elementaren Teile auf feste Gesetze und Prinzipien zurückgeführt werden. So ist die Sinneswahrnehmung nur eine Anwendung der geistigen Konstruktion auf die Erscheinungen. Unser Erkennen geht von den Erscheinungen aus und gelangt induktiv zu den Prinzipien, aus welchen dann deduktiv die Erscheinungen erklärt werden. Dabei entsteht aber auf dem Gebiet der Vorstellung der Irrtum, d. h. die falsche Interpretation der Tatsachen. PLATON leitet die Notwendigkeit des Irrtums selbst aus der Endlichkeit des menschlichen Geistes ab; selbst im Irrtum ist eine Logik und die subjektive Verschiedenheit der Meinungen, worauf der Positivismus der Sophissten sich stützte, ist nur eine unvollkommene Auffassung der ihrem Wesen nach vollkommen bestimmten Erscheinungen. Aber ohne den Irrtum würde der Geist auch nicht zur Erkenntnis seines eigenen Wesens, zur selbstbewußten Wahrheit gelangen, kraft deren er allein Freiheit und die Herrschaft über die Außenwelt erringt.

Unser Geist bringt vermöge seiner produktiven Tätigkeit Wirkungen auf die Außenwelt hervor, die eine Fortsetzung seiner inneren Konstruktionen sind und darin bestehen, daß er sein gegebenes Verhältnis zur Außenwelt ändert. Diese seine praktische Tätigkeit steht ebenfalls unter unwandelbaren Gesetzen; er handelt stets nach der Idee des Guten. Dieselbe wird jedoch auch zuerst nur durch ihre Vorstellung aufgefaßt, und hiernach ist das Gute allerdings das Angenehme. Erst bei fortschreitender Erkenntnis tritt es mehr und mehr als Prinzip eines Sittengesetzes hervor, das im empirischen Handeln selbst allmählich induktiv erkannt, aber dann begriffsmäßig als innerstes Wesen der Vernunft eingesehen wird. Auch in Bezug auf das Sittengesetz führt also der Weg zur vollen Klarheit durch den Irrtum hindurch, über den wir uns nur durch Vernunfterkenntnis erheben. Durch diese Ansicht PLATONs ist auf praktischem Gebiet Natur und Satzung ausgeglichen. Das Naturrecht ist hiernach das Recht, das sich aus den Vernunftprinzipien des menschlichen Handelns ableiten läßt; das positive Recht, welches sich auf tatsächlich gegebene Verhältnisse bezieht, ist allerdings Satzung, aber aus der Natur des menschlichen Geistes hervorgegangen und naturgemäß, soweit es vernünftig ist. Wenn es sich demnach darum handelt, das positive Recht wissenschaftlich zu gestalten, so kann dies nicht wieder durch eine auf bloßer Übereinkunft beruhende Wissenschaft geschehen; dies wäre eben nur eine Scheinwissenschaft. Die Wissenschaft des positiven Rechts darf also nicht positiv, sie muß wie jede Wissenschaft auf den logos, die ratio der gegebenen Verhältnisse begründet, also rational sein.

In gleicher Weise faßt PLATON das Verhältnis der natürlichen Religion zur positiven auf. Das Bewußtsein ist wesentlich verschieden von den körperlichen Phänomenen; es ist weder Stoff noch Bewegung. Im Wesen des Stoffs und der Bewegung liegt es keineswegs, daß sie denselben logischen Gesetzen unterworfen sind, welche das Wesen unserer Vernunft bilden. Die Vernunft in den Dingen, die vollkommene Gesetzmäßigkeit der Natur ist daher nur als Wirkung eines allmächtigen schöpferischen Geistes zu erklären, der zu seiner Wirksamkeit nicht wie der endliche Geist des Sinnesorgane und des Gehirns bedarf, sondern vielmehr ewig und allgegenwärtig die Körperwelt ebenso frei konstruiert, wie wir die mathematischen Gebilde konstruieren. Wir erkennen das Wesen dieser göttlichen Vernunft, weil sie mit der unsrigen identisch ist, d. h. nach denselben Gesetzen wirkt; weil wir also Gott ähnlich sind. Auch die Gottheit schafft alles nach der Idee des Guten und das Übel muß daher im Weltplan Gottes mit inbegriffen sein wie der Irrtum. Aber diesen Weltplan können wir nicht aus Vernunftprinzipien konstruieren; denn er bezieht sich auf die Unendlichkeit, deren vollständige Durchdringung dem endlichen Geist unmöglich ist. Wir können also das Wesen Gottes nur in beständig fortschreitender Annäherung aus der empirischen Betrachtung der Welt, aus Natur und Geschichte erkennen. Auch hier beginnt die Erkenntnis auf dem Gebiet der Vorstellungen mit unvollkommenen Glaubensmeinungen. In diesem positiven Glauben liegt aber Wahrheit, denn er bildet sich selbst aus dem Bedürfnis der menschlichen Natur unter dem Einfluß göttlicher Begeisterung. Die positive Religion hat demnach ebenso ihre Berechtigung wie das positive Recht, soweit sie der Vernunftidee von Gott nicht widerspricht. Und so stellt denn die platonische Philosophie überhaupt dem Positivismus den Rationalismus entgegen, der das Positive in der Geschichte anerkennt, soweit es vernünftig ist, aus der Begründung der Wissenschaft aber jede menschliche Satzung ausschließt.

Als sich nach ARISTOTELES die Einzelwissenschaften von der Philosophie mehr und mehr absonderten, blühten letztere, solange sie im philosophischen Geist, d. h. als logische Systeme des Wissens betrieben wurden. Aber die logische und metaphysische Mitgabe, welche sie von der Philosophie erhalten hatten, genügte nicht, sie vor dem Verfall zu schützen, weil sie allmählich durch den Positivismus verdrängt wurde, dem die immer einseitiger werdende Philosophie bald nicht mehr gewachsen war. Eine alles zersetzende Skepsis führte zu den Ansichten der Sophisten zurück und die Versumpfung der alexandrinischen Gelehrsamkeit zeigt, welchen Gang die Wissenschaft nimmt, wenn sie positiv wird. Zugleich aber erscheint in dieser Zeit der Positivismus in einer neuen Gestalt, nämlich als Vergötterung der Menschensatzung. PLATON hatte gelehrt, daß in der Satzung durch göttliche Fügung (theia moira) richtige Vorstellungen (orthe doxa) enthalten sein können. Ein Zerrbild dieser Ansicht ist die Orthodoxie, welche positive Religionsvorstellungen als direkte göttliche Offenbarungen über die Vernunfterkenntnis stellt. Hierzu nahm man in Alexandrien seine Zuflucht, als man das Übersinnliche nicht mehr durch Vernunftgründe gegen die Skepsis sichern konnte. Das Christentum verfiel sehr früh diesem Positivismus, welcher das ganze Mittelalter hindurch die Theologie beherrschte. Die Scholastiker des Mittelalters waren ursprünglich überzeugt, daß die Philosophie PLATONs, später daß die des ARISTOTELES, die sie freilich beide nur sehr ungenau kannten, mit der positiven Kirchenlehre vollkommen im Einklang ist. Als man aber schließlich einsah, daß dies nicht der Fall ist, kam man auf den Positivismus der alten Sophisten zurück. Zum Ende des Mittelalters, wo die Ansicht siegte, daß das Allgemeine stets nur ein nach menschlichem Bedürfnis gesetzter Kollektivname für das allein wirkliche Einzelne ist, erklärte man die Kirchenlehre, ja selbst die Existenz und Einheit Gottes als völlig unbeweisbar und beschränkte die Wissenschaft auf die Erkenntnis des in der Anschauung gegebenen Einzelnen. Die aristotelische Logik wurde jetzt in den scholastischen Disputationen rein formal dazu angewandt, die widersinnigsten Sätze zu beweisen; man suchte wie die Sophisten die höchste Kunst darin, alles beweisen und widerlegen zu können. Diese Disputationen waren logische Turniere, die nach bestimmten Regeln ausgefochten wurden. Da objektiv nichts als sicher galt, so mußte als Grundlage des Streites irgendeine These subjektiv anfechtbar sein. Eine solche Festsetzung nannte man positio und verstand darunter einen Satz, an den man sich so lange gebunden erklärte, bis der Gegner die Verbindlichkeit aufhob; es wurde also hier in der Tat vertragsmäßig und nach subjektivem Bedürfnis festgesetzt, was zeitweilig als wahr gelten sollte. Von diesem Sprachgebrauch aus erhielt das lateinische Wort positivus nebst den entsprechenden Formen der romanischen Sprachen eine neue Bedeutung; es bezeichnete zunächst Behauptungen als ausgesprochen, bestimmt, subjektiv verbürgt, also zuverlässig. Dann aber werden Tatsachen positiv genannt, und man meint damit, aß sie durch eine übereinstimmende Auffassung "ausgemacht" sind. Im Deutschen ist das Wort positiv in diesem Sinn wahrscheinlich erst seit dem Anfang des vorigen Jahrhunders gebräuchlich. Es entspricht aber ganz der Anschauungsweise des ältesten griechischen Positivismus, wenn man heutzutag die Kenntnis der Tatsachen positives Wissen nennt.

Die Einzelwissenschaften haben sich in der Neuzeit wieder in beständiger Wechselwirkung mit der Philosophie entwickelt. Die Philologie und Geschichte verdanken ihre jetzige streng wissenschaftliche Form wesentlich der deutschen, auf den Platonismus gegründeten Philosophie; sie sind sich dieses Zusammenhangs auch stets bewußt geblieben; ihre Koryphäen erkennen, daß das historische Studium nur gedeihen kann, wenn es in einem philosophischen Geist betrieben wird. Aber auf dem Gebiet des Rechts und der Theologie, jener Wissenszweige, die es mit dem Positiven im eigentlichen Sinn zu tun haben, machte sich mit der Abwendung von der Philosophie sofort der mittelalterliche konservative Positivismus geltend. Der Buchstabenglaube der protestantischen Theologie und der Jesuitismus in der katholischen Kirche stimmen beide darin überein, daß sie die Vernunft unter eine Satzung beugen wollen, gleichviel ob diese Satzung von einem unfehlbaren Pabst ausgeht oder in einem unfehlbaren Buch enthalten ist. Die historische Kritik, welche dieser verderblichen Richtung entgegengetreten ist, hat ihren philosophischen Ursprung nie verleugnet. In die Rechtswissenschaft war mit der politischen Reaktion eine einseitig historische Auffassung eingedrungen, welche den Rationalismus als unhistorisch verwarf. Allein gerade die wahrhaft geschichtliche Rechtswissenschaft konnte bei einer solchen Auffassung nicht lange stehen bleiben. Die Geschichte lehrt nicht, daß das Wirkliche stets vernünftig ist, aber wohl, daß es die Vernunft ist, die sich im Kampf ums Recht verwirklicht. Wer diese ewige Quelle des Rechts verkennt, der muß entweder in der kirchlichen Satzung die einzige Stütze des Rechtsbewußtseins suchen oder er verfällt dem anderen Extrem, einem zerstörenden Positivismus. Dieser ist auch in unserer Zeit wieder, wie zur Zeit der Sophisten, in doppelter Gestalt aufgetreten, indem er sich entweder auf einen Nihilismus oder auf einen Sensualismus stützt. Als man an der Möglichkeit der Vernunfterkenntnis verzweifelte, kehrten viele durch eine wahrhaft sophistische Dialektik zur Ansicht des GORGIAS zurück, daß ansich Nichts sicher und wahr ist. So wurden dann Religion und Recht wieder als willkürliche Erfindung angesehen, hervorgegangen aus einem Interessenkampf und man hielt sich daher für berechtigt, die heiligsten Güter der Menschheit in einem eigennützigen Interesse auszubeuten. So verteidigten viele Theologen die positive Kirchenlehre nur, weil die Macht und der Vorteil des Klerus auf dem Aberglauben beruth und andererseits huldigen französische Freidenker der steigenden Macht der Kirche, weil diese den politischen Fanatismus gegen Deutschland predigt. Wir haben im französischen Kaiserreich den Grundsatz der alten Sophisten verwirklicht gesehen, daß das Recht der Vorteil des Stärkeren ist und Deutschland hat damals teilgenommen an der Vergötterung der Macht. Mit Gottes Hilfe haben wir diesen Positivismus überwunden. Der Staat, in welchem einst ein großer philosophischer König die Vernunft zum höchsten Prinzip erhob, hat gezeigt, daß dieses Prinzip weder unhistorisch, noch ohnmächtig ist; es ist gelungen im deutschen Reich die stärkste Macht Europas rational zu organisieren und weil diese Macht zum Schutz der Gesinnung und des Rechts aufgerichtet ist, hat unsere Zeit auch den Beruf zur Gesetzgebung wiedergefunden, welche danach strebt, das historische Recht aufgrund der tatsächlich gegebenen Verhältnisse rational umzugestalten.

Die Mathematik war seit dem Altertum eine Hauptstütze des Rationalismus gewesen, weil ihre Sätze den Charakter der strengen Notwendigkeit und Allgemeinheit tragen, der keinem Erfahrungsurteil zukommt. Es ist daher merkwürdig, daß der sensualistische Positivismus in unserer Zeit seinen klassischen Ausdruck durch einen Mathematiker erhalten hat, allerdings durch einen Mathematiker, der in seiner Spezialwissenschaft nichts Bedeutendes geleistet hat. Schon zu Anfang der zwanziger Jahre, wo die Spekulation noch unbeschränkt herrschte, sprach AUGUSTE COMTE, ein Zögling der polytechnischen Schule zu Paris und später (seit 1832) Repetent der Mathematik an derselben, die Ansicht aus, welche in den Naturwissenschaften im Gegensatz zur spekulativen Philosophie um sich zu greifen begann und welcher er den bezeichnenden Namen Positivismus gab. COMTEs Schüler, LITTRÉ, erklärt in seinem Wörterbuch der französischen Sprache "positiv" seiner Grundbedeutung nach als das, worauf man sich verlassen kann (sur quoi l'on peut poser, compter (3). Worauf kann man sich nun verlassen? Nur auf Tatsachen, lautet die Antwort COMTEs. Positive Wissenschaft ist die Erkenntnis der reinen Tatsachen. Daher stellt LITTRÉ als zweite Bedeutung des Wortes positiv auf, daß es eine Erkenntnis a posteriori bedeutet. Wir haben nach COMTE eine solche Erkenntnis nur von sinnlichen Phänomenen und diese ist eine relative, keine absolute. Also in der Tat genau der Gedanke des PROTAGORAS! Wie kommt es nun, daß wir uns auf die Tatsachen verlassen können, wenn unser Wissen nur relativ, also von unserer subjektiven Organisation abhängig ist? Hier zeigt sich nun, daß der Positivismus auch in seiner mathematischen Form das auf Satzung, d. h. auf subjektiver Übereinkunft beruhende Denken ist. Die Erscheinungen und unter ihnen auch die Organisationen der verschiedenen Menschen stimmen zum Teil überein, und die Feststellung der Tatsachen besteht nur darin, daß sie abgemacht werden, d. h. daß eine übereinstimmende Ansicht darüber erreicht wird. Wir erkennen nichts vom inneren Wesen der Tatsachen, sondern nur ihre Beziehungen zu anderen infolge der Ähnlichkeit und der zeitlichen Aufeinanderfolge. Wir nehmen jedoch wahr, daß diese Beziehungen konstant, d. h. unter denselben Umständen stets dieselben sind. Die konstanten Ähnlichkeiten erlauben uns, die Phänomene zu klassifizieren, die konstante Aufeinanderfolge ähnlicher Erscheinungen, wonach sie sich als Antezedens [Vorhergehendes - wp] und Konsequenz [Nachfolgendes - wp] verknüpfen, nennen wir ihre Gesetze und diese Gesetze sind alles, was wir von ihnen wissen; wir kennen weder wirkende Ursachen, noch Zweckursachen. Gerade darin besteht nach COMTE der Begriff der positiven Wissenschaft, daß sie die Gesetze der Erscheinungen erforscht. Daher ist sie die Feindin der Theologie und Metaphysik. Die theologische Weltanschauung betrachtet die Phänomene als Wirkungen eines menschenähnlichen Willens, sei es, daß man diesen Willen fetischartig in die unbewußten Naturphänomene selbst verlegt, oder die einzelnen Gebiete der Natur unter eine Schar von Göttern stellt, oder die ganze Natur von einer Gottheit regiert werden läßt. Die Metaphysik aber ist ein Kompromiß zwischen der Theologie und der positiven Naturwissenschaft. Wenn man sich nicht mehr denken kann, daß die Erscheinungen unmittelbar aus irdischen oder himmlischen Willensakten hervorgehen, setzt man an deren Stelle natürliche Agentien, die die Körper beseelen. Dahin gehört es, wenn man die Phänomene des Lebens auf eine vegetative und animalische Seele, eine plastische Kraft oder Lebenskraft zurückgeführt hat, wenn man dem Gesetz der Schwere eine Schwerkraft zugrunde legt. Alle Kräfte und Prinzipien sind nur Abstraktionen von Erscheinungen, die man als wirkliche Wesen neben die Erscheinungen setzt. Dieser Irrtum hat besonders darum so verwirrend gewirkt, weil er von PLATON in ein System gebracht worden ist, das dann von ARISTOTELES weiter ausgebaut wurde und der späteren Metaphysik zum Muster gedient hat. Seit DESCARTES werden dagegen alle Naturerscheinungen nur durch Stoff und Bewegung und die in beiden erscheinenden Naturgesetze erklärt; die Metaphysik ist mehr und mehr zum Nebelbild geworden gegenüber der mechanischen Naturforschung.

In diesen Aufstellungen zeigt sich sofort der Grundfehler des Positivismus: er ist unkritisch und unhistorisch. Unkritisch, denn er bemerkt nicht, daß die Naturgesetze, die das eigentliche positive Wissen bilden sollen, auch nur Abstraktionen von den Erscheinungen, Formen des Naturgeschehens sind und daß weder Stoff noch Bewegung Erscheinungen, sondern beides gleichfalls Abstraktionen sind, die doch als konstituierende Momente der Erscheinungen angesehen werden. Die platonischen Ideen sind aber, wie der Name sagt, ebenfalls nichts anderes als die Formen der Dinge und Vorgänge. Allein weil der Positivismus unhistorisch ist, weiß er nicht, daß der Begriff des absolut gültigen Naturgesetzes gerade aus der Metaphysik stammt, während dieser Begriff im vollen Widerspruch mit einer Ansicht steht, welche nur eine relative Erkenntnis für möglich hält. Aber COMTE hat von PLATON und ARISTOTELES nicht viel richtigere Begriffe als man von ihnen zur Zeit der Scholastik hatte und ahnt daher auch nicht, daß der Positivismus, den er für die Vollendung der Wissenschaft hält, schon vor SOKRATES als Zersetzung der derselben aufgetreten ist. Daß von einem solchen Standpunkt aus die sogenannten "Gesetze" nur willkürliche Verallgemeinerungen sein können, zeigt die Art, wie COMTE die Geschichte auf ein Entwicklungsgesetz bringt. Während die wirkliche Geschichtswissenschaft längst festgestellt hatte, daß Kunst und Wissenschaft aus der Mythologie hervorgehen und in der Wissenschaft die Metaphysik sich gleichzeitig mit den Einzelwissenschaften entwickelt, hält sich COMTE für den NEWTON der Geschichtswissenschaft, weil er entdeckt zu haben glaubt, daß nicht nur jede Einzelwissenschaft, sondern die ganze Geschichte der Menschheit sich von einem ursprünglich theologischen Standpunkt durch den metaphysischen zum positiven erhebt.

Trotzdem nun alle Realität in die Gesetze der Natur, also in das Allgemeine der Erscheinungen verlegt wird, gerät der Positivismus meist in logische Verwirrung, wenn es sich um den Begriff des Allgemeinen handelt. Dies zeigt sich z. B. bei COMTEs Einteilung der Wissenschaften. Er unterscheidet sie in abstrakte und konkrete; jene sollen Vorgänge, diese Wesen oder Objekte behandeln. Abstrakte Wissenschaften sind aufsteigend vom Allgemeinen und Einfachen zum Besonderen und Zusammengesetzten: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie; die übrigen sind konkrete. Danach würden also z. B. die Botanik und Zoologie die konkreten Wissenschaften sein, deren abstraktes Gegenstück die Biologie bildet. COMTE erklärt nämlich die "Gegenstände", hier Pflanzen und Tiere, für das wirklich Existierende; die Gesetze der Biologie bestimmen die Gesetze ihrer Existenz. Hier werden also zunächst die Gesetze als Abstraktionen, als das Allgemeine anerkannt. Aber auch Botanik und Zoologie abstrahieren von den konkreten Pflanzen und Tieren die gemeinsamen Formen; sie beschäftigen sich mithin mit den Objekten in derselben Weise wie die Biologie. Eine solche Verwirrung der Begriffe weist auf einen logischen Mangel des Positivismus hin. COMTE spricht sich in der Tat auch entschieden gegen die allgemeine Logik aus. Jede Wissenschaft soll ihre besondere Logik haben; der Gedanke, die Logik anders als in ihren speziellen Anwendungen zu studieren, gilt ihm als Hirngespinst. Er stützt sich darauf, daß die Methoden der Einzelwissenschaften außerordentlich ausgebildet sind; aber wie er den logischen Verfall seines eigenen Denkens nicht bemerkt, so ahnt er nicht, daß diese immanente Logik durch den Positivismus ebenso zerstört werden muß, wie sie in der alexandrinischen Gelehrsamkeit zerstört worden ist. Bei COMTE selbst nahm der logische Verfall mit den Jahren in erschreckender Weise zu. Er sprach zuletzt offen den Grundsatz aus, die Wissenschaft könne nur von einem subjektiven Standpunkt, d. h. nach den menschlichen Bedürfnissen systematisiert werden; er sah seine subjektiven Einfälle z. B. über die Phrenologie als Naturgesetze an, und ihm, dem Mathematiker, war nichts mehr zuwider als das Beweisen. Unter allen Verirrungen der Wissenschaft schien ihm die größte die "pedantische Sorge um Vollständigkeit des Beweises und um die vollkommene Rationalisierung der wissenschaftlichen Prozesse." Ein strenges Verdammungsurteil spricht er über diejenigen aus, welche durch allzu haarscharfe Forschung bereits gewonnene Verallgemeinerungen umstoßen, ohne andere an deren Stelle setzen zu können.

Im gleichen Grad tritt bei ihm die Zersetzung der Erkenntnistheorie hervor. Da nur sinnliche Wahrnehmungen als Phänomene gegeben sind, läßt er die innere Erfahrung, die Tatsachen des Bewußtseins, nicht als Phänomene gelten; das Urteilen, Schließen usw. können wir nicht sehen. Eine auf innere Beobachtung gegründete Psychologie ist ihm daher ein Unding; die Psychologie geht in der Biologie auf. Wir können nur bei den Menschen wie bei den Tieren die äußeren Lebenserscheinungen beobachten und vermöge der Physiologie Rückschlüsse auf die Vorgänge ihm Gehirn machen. Freilich ist hierbei außer Acht gelassen, daß wir die Lebensäußerungen bei den Menschen stets nach unserer inneren Erfahrung auslegen. Da die Seele für COMTE ein nichtiger metaphysischer Begriff ist, so ist der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft unzulässig. Alle Wissenschaft ist Naturwissenschaft, vor allem auch die Ethik, die nichts anderes als Soziologie, d. h. naturwissenschaftliche Sozialtheorie ist. Die Gesetze dieser Theorie sind also positiv, wie die der Physiologie festzustellen - eine Ansicht, welche notwendig zum statistischen Aberglauben führt. Die Moralstatistik kann feststellen, wie die Moralität einer Bevölkerungsmasse im Durchschnitt beschaffen ist und welche äußeren Bedingungen dabei mitwirken. Aber zu einer richtigen Beurteilung der statistischen Daten gehört die Einsicht in das Wesen des menschlichen Willens, d. h. in die Gesetze der Motivation und in die Natur des Sittengesetzes, und diese Einsicht gewinnne wir wieder nur durch innere Erfahrung.

COMTE hat die moralischen Konsequenzen seiner Ansicht von Anfang an klar vor Augen gehabt und legt gerade darauf den größten Wert Wenn die positive Sozialtheorie durchgeführt und anerkannt ist, muß die Gewissensfreiheit aufhören. Es gibt keine Gewissensfreiheit in der Astronomie, Physik, Chemie, selbst in der Physiologie, d. h. alle Welt fände es ungereimt, wenn sich jemand weigern wollte, die in jenen Wissenschaften durch die sachverständigsten Personen aufgestellten Grundsätze vertrauensvoll aufzunehmen. Die positive Naturwissenschaft der Moral wird dieselbe Macht in Anspruch nehmen; ihre Vertreter werden in ihrem Urteil aüber alle moralischen Gegenstände die Achtung und den bereitwilligen Gehorsam finden, welchen man in astronomischen Dingen dem einmütigen Ausspruch der Astronomen zollt. Diese Ansicht ist in der Tat notwendig, wenn man im Sittengesetz die kompliziertest Verbindung von Naturgesetzen sieht. Die Sozialtheorie setzt ja nach COMTE die genaue Kenntnis der Biologie, diese wieder die voraufgehenden Stufen der Wissenschaft: die Chemie, Physik, Astronomie und Mathematik voraus. Wenn man daher wohl durch den Unterricht allen die Elemente mitteilen kann, so kann die höchste Naturwissenschaft selbst doch nur das Eigentum Weniger sein. Diese bestimmen also durch ihre Autorität das positive Recht. Und es ist unleugbar, daß der Staat der Zukunft so aussehen muß, wie ihn COMTE beschreibt: eine völlig mittelalterliche Hierarchie, nur daß die weltliche Macht in den Händen der großen Industrie, die geistige in den Händen der positiven Gelehrten läge; statt des unfehlbaren Pabstes der unfehlbare Fachgelehrte.

Das ist eine echt romanische Idee; aber sie ist durchaus folgerichtig: der Positivismus hebt die Gewissensfreiheit auf, und ich hatte also ein Recht zu behaupten, daß er das Palladium des deutschen Geistes bedroht. Die Sterne, welche unser Handeln leiten, strahlen nur in unserem eigenen Innern. Durch die freie Bildung allein lernen wir ihre Gesetze deuten, die über aller Satzung stehen.

COMTE hat seine Ansicht positive Philosophie genannt, weil er dadurch die gesamten positiven Wissenschaften in ein System bringen wollte. Er erkannte richtig die Gefahr der Zersplitterung, welche in einem unphilosophischen Betrieb der Einzelwissenschaften liegt. Allein der Positivismus ist nur eine Scheinphilosophie; denn er ist keine Wissenschaftslehre, sondern nur eine enzyklopädische Zusammenstellung der Wissenschaften. COMTE ging ursprünglich darauf aus, eine positive Sozialwissenschaft zu gründen und geriet dabei auf seine Ansicht von der Geschichte als Naturwissenschaft. Wie jeder einseitige Fachgelehrte verachtet er dann seinem vermeintlichen Fach, der Soziologie, gegenüber mehr und mehr alle anderen; da sie für jene Hilfswissenschaften sind, sollen sie sich nach ihren Bedürfnissen richten, sich von ihr systematisieren lassen, d. h. die Sozialtheorie wird über die positiven Wissenschaften herrschen und sie vor der Zersplitterung bewahren, indem sie ihnen die Probleme vorschreibt, die sie im Interesse der Gesellschaft zu lösen haben. In der Tat, wenn kein höheres Prinzip die Wissenschaften eint, so muß ihr Betrieb sich schließlich nach praktischen Rücksichten regeln. So bemächtigt sich am Ausgang des Altertums der Klerus der positiven Wissenschaft und führt sie im kirchlichen Interesse auf den armseligsten Umfang zurück. Und ganz ebenso soll nach COMTE in der Hierarchie der Zukunft die Gelehrtenzunft von der Sozialwissenschaft gemaßregelt werden. Das nennt er Philosophie: die Herrschaft einer positiven Einzelwissenschaft über die anderen. Besser hat er sein System zuletzt als Religion bezeichnet. Die Sozialwissenschaft schafft einen "neuen Glauben", dessen Gottheit die Menschengattung ist, und es ist dies in seinen Grundzügen bei COMTE genau derselbe Glaube, welchen FEUERBACH und zuletzt STRAUSS in Deutschland verkündet haben; der Mensch wir hier im großartigsten Stil zum Maß aller Dinge. Nun hat COMTE auch hier eine Organisation ersonnen, um seinen Glauben an die Stelle des "alten" zu setzen; er hat hierzu einen sehr verwickelten Kultus mit Tempeln, Festen, Andachten, Zeremonien aller Art vorgeschrieben. Eine solche Satzung, die sich auf die ganze Menschheit bezieht, führt zu einer wahrhaft "katholischen" Religion und erfordert ein einziges Oberhaupt, das natürlich nicht in Rom, sondern in Paris seinen Sitz haben muß. Nie ist das Wesen des Positivismus in einem grelleren Licht hervorgetreten, als durch diese merkwürdige Konzeption eines mathematischen Kopfes: man denke sich die gesamte Wissenschaft auf Erden in Naturwissenschaft verwandelt und dabei der Satzung eines Pariser Sozialisten unterworfen.

In Deutschland berufen sich die sozialistischen Umsturzparteien auf "die Resultate der Naturwissenschaft", wonach der Klassenkampf, der Egoismus ein Naturgesetz ist; denn daß nicht - wie FEUERBACH, STRAUSS und COMTE behaupten - in der sinnlichen Natur des Menschen das Gesetz liegt, den Egoismus zu überwinden, das wissen die Massen aus eigener Erfahrung "positiv" und lassen sich das Gegenteil nicht einreden. In Wahrheit aber findet der Positivismus in Deutschland seine Stütze nur noch in der sogenannten "populären" Naturwissenschaft. Die hervorragendsten Vertreter der deutschen Naturforschung haben trotz der Verirrungen der Philosophie ihre Wissenschaft stets in einem philosophischen Geist betrieben. Dieser besteht nicht darin, daß die Naturforschung Metaphysik treibt, sondern darin, daß sie sich der apriorischen Natur der logischen Gesetze, ferner ihrer Grenzen gegenüber der Geisteswissenschaft und des metaphysischen Charakters ihrer letzten Prinzipien bewußt bleibt. Ohne Logik und Erkenntnistheorie gibt es keine exakte Wissenschaft und damit diese Grundbedingungen erhalten bleiben, müssen jene Disziplinen auf der Hochschule auch ferner die Grundlage des Studiums aller Einzelwissenschaften bilden. Dies kommt jetzt immer allgemeiner zu Bewußtsein, und der Positivismus, der in Deutschland allerdings eine Zeit lang als Fortschritt gegolten hat, wird bald auch bei allen Naturforschern als reaktionär angesehen werden.

Ich schließe mit den mahnenden Worten eines der Koryphäen der Naturwissenschaft, dessen Name mit den Traditionen unserer Hochschule für alle Zeiten verwachsen ist. "In der Naturwissenschaft", sagt LIEBIG, "ist alle Forschung deduktiv oder apriorisch; das Experiment ist nur Hilfsmittel für den Denkprozeß ähnlich wie die Rechnung; der Gedanke muß ihm in allen Fällen und mit Notwendigkeit vorausgehen, wenn es irgendeine Bedeutung haben soll. Eine empirische Naturforschung im gewöhnlichen Sinn existiert gar nicht."
LITERATUR - Ernst Bratuscheck, Der Positivismus in der Wissenschaft, Philosophische Monatshefte, Bd. 11, Leipzig 1875
    Anmerkungen
    1) Entwurf einer Prüfungsordnung für Aspiranten des Gymnasial- und Realschullehramts mit Motiven, Gießen.
    2) Die Philosophie als obligatorischer Gegenstand der Schulamtsprüfung, Gießen.
    3) Die Etymologie ist offenbar unrichtig; poser vom lateinischen pausare hat im Französischen allerdings die Bedeutung von ponere angenommen; aber positif ist jedenfalls das lateinische positivus und hat nichts mit poser im neutralen Sinn zu tun.