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(1832 - 1904) Friedrich Christoph Schlosser und über einige Aufgaben und Prinzipien der Geschichtsschreibung [1/4]
Unter den zahlreichen Kunstanstalten von Paris findet sich eine speziell für die Kontinuität der französischen Malerei höchst merkwürdige Sammlung, in welcher die Preisbilder der französischen Akademie in Rom seit dem Jahre 1721 aufbewahrt werden, eine Reihe von Gemälden, welche bei der größten Mannigfaltigkeit eine wunderbare Gleichheit der künstlerischen Tradition erkennen lassen; man würde jedes für sich sofort als Bild der französischen Schule erkennen. Ich weiß nicht, ob man diesen selben Charakter nicht auch in der französischen Geschichtsschreibung nachzuweisen vermöchte; soviel aber ist gewiß, daß unsere deutsche Geschichtsliteratur das gerade Gegenteil einer solchen nationalen Tradition darbietet: die höchste Individualisierung in Betreff der politischen und historischen Auffassung, der wissenschaftlichen Aufgaben, des Stils und der Darstellung. Jeder deutsche Geschichtsschreiber steht äußerst vereinzelt und einsam wie ein besonderes Problem da, und es gehört fast immer zu den größten Schwierigkeiten, seine Stellung im größeren Zusammenhang der Wissenschaft zu bezeichnen, die Beziehungen aufzufinden, die er zu anderen Geschichtsschreibern vor und nach ihm, zu anderen Zweigen der Forschung, zu anderen Doktrinen, zur Philosophie und zu den Staatswissenschaften einnimmt. In einer solchen Vereinzelung und Besonderheit liegt heute auch das große schriftstellerische Leben des Mannes hinter uns, der zu den gelesensten und bekanntesten Geschichtsschreibern Deutschlands zählte. Seine eigenen Anknüpfungspunkte an die Entwicklung des geistigen Lebens der Nation, sein Ausgang von der großen Bewegung der Literatur, sein Eintritt in die Werkstätten der geschichtlichen Forschung sind so unsicher und liegen so wenig zutage, daß wir es für ein kritisches Unternehmen halten müssen, die Anregungen zu bezeichnen, von denen er erfüllt war, und die Keime zu erforschen, aus denen seine geistigen Blüten erwachsen sind. Wie er aber gleichsam ohne sichtbare Verbindung mit der vorangegangenen historischen Literatur erscheint, so bietet SCHLOSSER hinwieder schon heute vermöge seiner gesamten politischen und philosophischen Weltanschauung fast gar keine Anknüpfungspunkte dar, ist fast gänzlich von den Bücherbrettern der Gelehrten verschwunden, und wenn man ehrlich sein will, so darf uns die Hochachtung vor ihm nicht verhindern zu sagen, daß unser ganzes heutiges wissenschaftliches Denken und Forschen nur mit höchst unbedeutenden und schwachen Fäden zu ihm zurückführt. Kann man sich unter diesen Umständen wundern, daß gleich am Grab des Mannes, der sich als Achtzigjähriger den verbreitetetsten Historiker Deutschlands nennen durfte, ein gewaltiger Kampf um seine Bedeutung, ja selbst um seine Berechtigung leider in der Weise geführt wurde, daß seine Anhänger die abscheulichsten Angriffe gegen einige andere deutsche Geschichtsschreiber eröffnet haben (1). Und darf man sich wundern, daß nach dem weiteren Verlauf von fast zwei Jahrzehnten noch nicht der leiseste Versuch einer Verständigung gemacht worden ist und es den Anschein hat, als ob ein literarisches Bedürfnis für eine solche gar nicht vorhanden wäre? Ist es nicht ein Beweis der fortdauernden Zerfahrenheit der wissenschaftlichen Bestrebungen und Zielpunkte, wenn hier SCHLOSSER, dort der gleichaltrige NIEBUHR hundert Jahre nach ihrer Geburt einen gesicherten Standplatz in der Wissenschaft entbehren? Von SCHLOSSER konnte versichert werden, daß er den ersten Anforderungen, welche an einen Historiker zu stellen wären, nicht genügt und daß er nichts für die Ermittlung der Wahrheit zu leisten vermocht hätte (2). Und wenn GERVINUS glaubte, er könnte den Deutschen umgekehrt in der SCHLOSSERschen Geschichtsschreibung ein Normalmaß für alle zukünftige Historik aufdrängen, so blieb dies - man muß sagen glücklicherweise - ein fast vereinzelter Versuch, ein kühnes Abenteuer. Ein schönes und verständiges Wort war es aber, welches LÖBELL sagte, nachdem er der leidenschaftlichsten Verurteilung selbst die Zügel hatte schießen lassen:
Diese Selbstbiographie, im Jahre 1826 verfaßt, muß uns zunächst einen Augenblick beschäftigen (5). Gelehrte entschließen sich nicht allzu häufig zu einer über ihre eigene Entwicklung reflektierenden Darstellung (6). SCHLOSSER, der zur Angabe der Hauptumstände seiner Lebensgeschichte von außen her aufgefordert war, ergriff die Gelegenheit, sich einmal über sich selbst Rechenschaft zu geben. Er schrieb einen Aufsatz, der in mehr als einer Beziehung lehrreich war, und die Hauptquelle für unsere Kenntnis von seinem Innern geblieben ist. Obwohl es ihm eigentlich widerstrebte, sich selbst zu porträtieren, scheint es ihm doch unmöglich gewesen zu sein, eine Reihe von Lebensschicksalen in trockener Chronologie ohne den Nachweis des geistigen Zusammenhangs derselben zu verzeichnen. Indem er schrieb, gestaltete sich seine Selbstbiographie zu einer Erklärung seiner selbst, zu einer recht eigentlichen Bekenntnisschrift. Er verwahrt sich mit mehr als einem Wort gegen die Versuchungen, denen der Selbstbiographie zu unterliegen pflegt, er will nicht der Frosch in der Fabel sein, "der so groß werden will". Er möchte so wenig als möglich sagen und schüttet doch mächtig sein Herz aus. Er glaubt, durch tausend Rücksichten verhindert zu sein, den Gang seines Lebens aufzuschließen, und doch gibt er in jedem Satz ein markiges Urteil über sich selbst, über seine Umgebung, seine Zeit, seine Lehrer, seine Eltern.
Wie die deutsche Welt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts beschaffen war, lag ihr nichts ferner, als die Grundfesten eines nationalen Staatsbewußtseins aufzusuchen, oder den Mangel davon zu bedauern. Man war von sehr allgemeinen Gesichtspunkten in der Wissenschaft, in der Kunst von sogenannten menschheitlichen Idealen erfüllt. Der konkrete Inhalt menschlicher, gesellschaftlicher, staatlicher Verhältnisse wurde in einer Zeit allgemeiner Erschütterung dem jungen Menschen absolut nur auf dem Weg wissenschaftlicher Theorien oder durch das Medium klassischer Bildung bekannt. Die Wirklichkeit bot nichts von alledem, was jemand, der sich mit ihr historisch oder politisch befassen wollte, brauchen konnte. Phänomenale Erscheinungen im Gebiet des Staates, der Wissenschaft, der Dichtkunst bei völliger Entwertung der kursierenden Ideen und Institutionen, bei zunehmender Geringschätzung herrschender Größen im Gebiet des Geistes und des Staates, forderten zu einer Kritik der Vergangenheit heraus, wie sie bis dahin für die geschichtliche Betrachtung der Dinge als unschicklich erschien. Die Beurteilung von einzelnen Ereignissen von einzelnen Menschen fehlte in keinem Zeitalter der Geschichtsschreibung, die entschiedensten Beispiele dafür lagen aus dem Altertum durch alle Jahrhunderte hindurch vor, daß man aber die Frage über den Wert ganzer Zeiträume der Geschichte aufwarf, war ein Produkt der neueren französischen Literatur, welche nach Deutschland herüberzüngelte (8). Das ganze Mittelalter mit Stumpf und Stiel und seinen bis in die Gegenwart dauernden Einrichtungen als einen baren Unsinn zu erklären, an welchem der denkende Mann kein edles Reis finden durfte, - eine Ansicht dieser Art war so wenig ungewöhnlich, daß es sich SCHILLER zum Ruhm rechnete, ermäßigend zu sprechen und den Versuch gemacht zu haben, den vergangenen Jahrhunderten einige ideale Seiten abzugewinnen (9). Gerade in dem Augenblick, als SCHLOSSER anfing, sich für geschichtliche Dinge zu interessieren, war ohne Zweifel die größte Verworrenheit in Bezug auf alle Beurteilung der Vergangenheit eingetreten. Der Einfluß SCHLÖZERs, GATTERERs, die alte Göttingische Tradition waren vollkommen überwunden, die offizielle wissenschaftliche Vertretung der Geschichte machte auf den jungen Schlosser einen unsäglich schlechten Eindruck. Er bedauerte später, daß er unter den Gelehrten Göttingens PLANCK Unrecht getan hat und versicherte, daß er bei diesem Einzigen kein Bedenken getragen hätte, sich ihm anzuschließen, wenn er ihn früher so gekannt hätte wie später. Von SCHLÖZER spricht er wie von einem abgetanen Mann, von SPITTLER achtungsvoll, doch ohne tiefes Interesse, von allen Anderen mit weniger als zweifelhafter Verehrung (10). Wo war ein Haltpunkt in dem Labyrinth einer aufgewühlten Literatur, die sich massenhaft dem Knaben schon erschloß und die der junge Mann mit einer fieberhaften Lesewut zu verschlingen fortfuhr. Alte und moderne, französische und deutsche Schriftsteller jeden Fachs hatte SCHLOSSER so frühzeitig und so vollständig durchgelesen, daß wir uns erinnern müssen, wie Ähnliches auch von anderen damaligen jugendlichen Geistern gemeldet wird, um es glaubhaft zu finden (11). Die Unterrichtsmethoden jener Zeit begünstigten im frühesten Knabenalter eine auf das Sachliche gerichtete kursorische Lektüre, die es möglich machte, daß junge Leute, wie RITTER, NIEBUHR in einer Zeit sich bereits einer ansehnlichen Kenntnis der klassischen Welt erfreuten, in welcher unsere heutigen Jünglinge gemeinhin noch nicht über die Einleitungen der philosophischen Gelehrsamkeit und kritischen Verständigung hinweggekommen sind. Daß aber die überhastete Aufnahme eines gewaltigen Stoffes auch manche geistige Nachteil schuf, wird nicht geleugnet werden können, und vielleicht hängt es damit auch bei SCHLOSSER zusammen, wenn ihn neuere Beurteiler so häufig eines Mangels scharfer kritischer Durchdringung seines Gegenstandes anklagten. Aus seiner Selbstbiographie ist man schlechterdings nicht imstande zu ersehen, von welchen Richtungen SCHLOSSER besonders angeregt war, welchen Autoren er mit Vorliebe gefolgt ist, wo er seine eigene Gedankenarbeit am liebsten eingesetzt hat. Seine Bücher und deren Vorreden, welche ohnehin erst in eine Zeit fallen, wo er zum fertigen Mann herangereift war, enthalten nicht das Mindeste, was uns auf die Spuren seiner inneren Entwicklung leiten könnte. Kein Buch, kein Gelehrter, kein Lehrer wurde je von SCHLOSSER irgendwo vorzugsweise als Leitstern seiner Bildung, seiner Weltanschauung bezeichnet. So überraschend indessen diese Erscheinung uns bei einem Schriftsteller von so ausgeprägten, festen und unbeugsamen Überzeugungen entgegentritt, so wenig ungewöhnlich ist dieselbe bei den meisten Historikern vom Fach. Philosophen, Juristen, Medizinern liegt es viel näher, und es ist unter ihnen ein althergebrachter Gebrauch, die Beziehungen zu nennen, in welchen sie zu ihren Vorgängern stehen, das System zu bezeichnen, an welches sie sich halten. Der moderne Historiker dagegen wird in sich selbst eine gewisse Abneigung erziehen, sich von irgendetwas Anderem abhängig zu machen, als von dem, was er seine Quellen nennt. Man wird nicht gerade behaupten wollen, daß er darauf angewiesen ist, den Urgrund seiner Überzeugungen und Urteile zu verstecken, aber sicher widerstrebt es der Natur seiner Wissenschaft, sich wie der Mediziner als einen Homöopathen, wie der Philosoph als Hegelianer kurzweg zu bezeichnen. Zugleicht liegt es in der Entwicklung der historischen Wissenschaft, als solcher, daß sie die Krücken vollends ablehnt, die sie nur zu lange Jahrhunderte hindurch teils der Theologie, teils der Jurisprudenz entnommen hatte und die sie verhinderten, völlig frei und selbständig einherzuwandeln. Wenn man SCHLOSSER zuweilen damit zu bezeichnen glaubte, daß man ihn zum Vertreter einer sogenannten subjektiven Richtung der Geschichtsschreibung machte, so hat er mit den Objektiven doch jedenfalls das gemein, daß er für seine historische Arbeit auch seinerseits nichts als historische Quellen und nur diese anzunehmen gestattete. Liegt hierin aber nicht eine gewisse Täuschung? Sollten jene geistigen Zuflüsse, welche aus anderen Reihen von Gedanken zur historischen Quellenarbeit hinzugekommen sind, nicht einer sehr aufmerksame Beachtung verdienen, und setzt nicht jede geschichtliche Mitteilung einen persönlichen Geist voraus, der aus den mannigfaltigsten Eindrücken, Erfahrungen und Urteilen zusammengesetzt und zu einem Individuum gestaltet worden ist? Nun ist es wahr, daß die Ansichten darüber wie der historische Geist beschaffen sein soll, eben sehr auseinander gehen, und während die einen sich ihn lieber als einen glatten Spiegel denken, werden Andere von ihm die prismatische Gestalt fordern, welche die Strahlen der Sonne kritisch zerlegt. Aber für die Einen wie für die Anderen muß es doch feststehen, daß es gutes und schlechtes Glas gibt und daß jenes, welches aus schlechter Fabrik kommt, sich weder zum Spiegel noch Prisma eignet. Unter den dürftigen und dabei sehr ungeordneten Angaben, die uns über SCHLOSSERs Lektüre vor jener Zeit, in welcher er schriftstellerisch aufgetreten ist, belehren könnten, fällt die mehrfache Betonung seiner Beschäftigung mit der spekulativen Philosophie auf. Es ist nicht zufällig, daß er seine geschichtlichen Studien häufig in Verbindung mit seiner Lektüre der philosophischen Werke erwähnt: "neben der Geschichte hat er besonders Plato und Aristoteles gelesen". Ein andermal hebt er hervor, daß er die deutsche Philosophie recht ab ovo [vom Ei weg - wp] studieren wollte. Bevor er an KANT ging, wollte er sich von CRUSIUS für das Verständnis desselben vorbereiten lassen. Endlich heißt es:
Der Fortschritt der neueren Wissenschaft liegt darin, daß sie im Gegensatz zu der theologisch, politisch und sozial stark unterbundenen mittelalterlichen Geschichtsauffassung alle Fragen des historischen Werdens, so wie die des geschichtlichen Wertes als Probleme behandelt, die erst noch zu lösen sind. Die begriffliche Veränderung, welche die Philosophie des vorigen Jahrhunderts im ganzen Gebiet der menschlichen Ideen und Handlungen hervorgebracht hat, ist auch die Grundlage der neueren Geschichtsschreibung, und hier ist es Schlosser, der das Verdienst hat, am allerdurchgreifendsten die Beseitigung der alten Vorstellungen der Geschichte anhand der Philosophie in praktischer und pragmatischer Erzählung veranlaßt zu haben. (15) Daß man über diese Stellung SCHLOSSERs in der deutschen Historiographie nicht schon früher in unbefangener Weise eine allgemeinere Verständigung zu erzielen vermochte, liegt zum Teil darin, daß die Chronologie seiner Werke, seines Lebens überhaupt, nicht ganz parallel mit der entsprechenden allgemeinen Entwicklung der Literatur läuft, sondern um einige Jahre zurückbleibt. Indem er sich in verhältnismäßig späten Lebensjahren zu schriftstellerischer Produktion durcharbeitete, in ungewöhnlich vorgerückten Jahren eine akademische Lehrtätigkeit begann und zur Vollendung seiner Hauptwerke erst in einer Zeit gelangte, wo auf den Höhen bereits ein sehr verschiedener Luftstrom herrschte, geschah es, daß man sich über seine Stellung und Bedeutung nicht leicht zu orientieren vermochte, und daß um seine Seele gewissermaßen ein Kampf zwischen einer älteren und einer jüngeren Generation der Geister entstand, der zu den unpassendsten Vergleichungen, zu den unseligsten Mißverständnissen führte. Hätte SCHLOSSERs Lebensgang sich nicht einigermaßen verspätet, so hätte seine Universalgeschichte in unmittelbarem Anschluß an HERDERs Ideen erscheinen müssen und sein 18. Jahrhundert wäre zu der Zeit, wo es im Gedanken konzipiert war, auch nach jeder Richtung hin von epochemachender Bedeutung gewesen. Als seine Werke aber wirklich erschienen, konkurrierten sie bereits mit Erscheinungen von solchen, die unter anderen Sternen herangewachsen waren. Wohl aber ist es ganz begreiflich, daß jemand, der die Entwicklung der Historiographie recht lebendig nachempfunden und gewissermaßen von der Zeit abstrahiert hat, indem er den alten Meister immer noch an der Wende des Jahrhunderts stehen sah, ganz erfüllt von der epochemachenden Bedeutung seiner Werke wurde, und den ungeheuren Schritt in der Geschichtswissenschaft mit nichts Anderem vergleichbar finden mochte. War es unter diesen Umständen nicht eine leicht zu verstehende und beherzigenswerte Wahrheit, wenn SCHLOSSERs letzte Äußerungen wie eine Erklärung geklungen haben, daß er die Welt nicht mehr versteht, und wenn er das offene Eingeständnis machte, die moderne Zeit sei ihm und er der Zeit ganz fremd geworden? Doch kehren wir zurück zum Anfang von SCHLOSSERs geschichtsschreibender Tätigkeit und zu seinen ersten Werken. Ganz genau läßt sich zwar nicht ermitteln, wie er zu seinem "Abälard und Dulcin" im Jahre 1807 gekommen ist, aber daß er durchaus mit philosophischen Studien beschäftigt gewesen ist, erzählt er in seiner Selbstbiographie. Eine sehr merkwürdige Bemerkungen über das Verständinis des Mittelstandes, zu welchem niemand ohne genaue Kenntnis des ARISTOTELES befähigt sein kann, dürften uns, nach dem früher Gesagten, nicht überraschen, werden aber schwerlich auf den heutigen Betrieb unserer Geschichtsstudien des Mittelalters einen sehr großen Einfluß nehmen (16). Es kommt uns hier nur darauf an, zu zeigen, wie im Kleinen und Kleinsten sich die Ausgangspunkte von SCHLOSSERs Geschichtsschreibung nachweisen lassen und wie sie überall auf ihre philosophische Grundlage zurückzuführen sind: Von der Kirchenhistorie und den Scholastikern zu ARISTOTELES, von ARISTOTELES zu ABÄLARD. Gewissenhaftigkeit und Ernst wird wenigstens diesem Studiengang auch von unserenn heutigen sogenannten exakten Forschern des Mittelalters nicht abgesprochen werden können, welche die Idee gewiß recht sehr belächeln mögen, daß man den ARISTOTELES erst lesen sollte, um Autoren des 12. Jahrhunderts zu behandeln. Für uns mag diese methodische Frage vorläufig offen gelassen werden, das geschichtliche Bedürfnis der klassischen Literaturepoche aber war unzweifelhaft philosophischer Natur und spekulativen Ursprungs; sich speziell bei SCHLOSSER über diese allgemeine Grundstimmung historischer Denker zu verwundern, hieße wahrlich einen Beweis der Unkenntnis des literarischen Geistes in Deutschland in der kantischen und nachkantischen Epoche geben. Auch die zunächst in Angriff genommenen Arbeiten über THEODOR BEZA und PETER MARTIR VERMILI tragen das Gepräge eines vorwiegend auf die sittlichen und religiösen Fragen gerichteten Interesses ansich, obwohl SCHLOSSER zu diesem Stoff nicht auf dem Weg des eigenen Studiengangs, sondern durch äußere Anregung gelangt war. Er erhielt durch den Generalsuperintendenten LÖFFLER in Gotha "den kostbaren Band handschriftlicher Briefe der Reformatoren", welchem er das bis dahin fast gänzlich unbekannte Material entnommen hat. Seine theologische Vorbildung machte ihm mögliche, den Gegenstand in außerordentlich kurzer Zeit zu erledigen, seinen Standpunkt bei der Darstellung desselben aber zu begreifen, wird wieder nur dann gelingen, wenn man sich an das lebhafte Eindringen des kantischen Rationalismus in die Theologie jener Zeit erinnert. So heißt es in der Einleitung zum "Beza":
Ganz anders schon tritt die Natur und Persönlichkeit des Geschichtsschreibers in der "Geschichte der bilderstürmenden Kaiser des oströmischen Reichs" hervor, welche SCHLOSSER noch in seinen späten Jahren gerne als sein bestes Werk bezeichnet hat. Betrachten wir zunächst die Art der Beurteilung der Personen, so zeigt sich hier schon die ganze Strenge und Unerbittlichkeit eines fortwährend tätigen Sittenrichteramts. Die ethischen Gesichtspunkte drängen sich in der bekannten Manier SCHLOSSERs in den Vordergrund. Wie LEO der Isaurier zurechtgewiesen wird, erinnert an die Strafreden der Geschichte des 18. Jahrhunderts. Es ist das ewig wiederkehrende Richtmaß, welches keine menschliche Handlung ungemessen, ungeahndet läßt. Richten wir aber unsere Blicke mehr auf die allgemeine geistige Atmosphäre, in welcher die "Geschichte der bilderstürmenden Kaiser" sich bewegt, so mag es vielleicht als ein verwegender Gedanke erscheinen, wenn wir auch in der Auffassung dieser entlegenen Materie Anklänge an die Philosophie des vorigen Jahrhunderts zu hören meinen, doch verdient es erwähnt zu werden, daß KANT in seiner Weise einmal im "Streit der Fakultäten" auf die Dreieinigkeitslehre und ihre dogmatischen Abwandlucnen zu sprechen kommt. In der Abhandlung "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", welche zu dem bekannten scharfen Reskript [amtliche Verfügung - wp] König FRIEDRICH WILHELMs II. Anlaß gegeben hat, war zuerst der durchgreifende Unterschied von Kirchenglauben und Religionsglauben, die Wertlosigkeit jenes für das Praktische, der absolute Wert von diesem für die Gesellschaft, für den Staat nachgewiesen (17). Länger als eine Generation hindurch war das Gewissen der philosophischen Fakultät - um mit KANT zu reden - durch diese kritische Sonderung eines, wie es schien, sich selbst widersprechenden Begriffs beruhigt. Eine aufrichtige, man könnte sagen, fromme Verehrung für das, was "innerhalb der Grenzen der Vernunft" die Religion zu leisten vermochte, und eine scharfe Opposition gegen das, was der Kirchenglaube in seinen Abwandlungen fordert, waren die Resultate dieser kantischen Lehre in der Grundstimmung der meisten und hervorragendsten Männer der Zeit. Die Entschiedenheit, mit welcher KANT im "Streit der Fakultäten" die Wertschätzung der fundamentalsten Glaubenssätze auf ihre Wirkung für das jeweilig Praktische und Moralische zurückführte, ist, wenn man die Geschichtsschreibung in jener Zeit ins Auge faßt, auf die Urteile SCHLOSSERs in den "bilderstürmenden Kaisern" übergegangen. Was wollte SCHLOSSER mit der Darstellung einer entlegenen Zeitperiode, welche durch den größten Meinungskampf in der spekulativen Dogmatik ausgezeichnet ist, eigentlich gesagt haben? Was war seine eigene Ansicht über die dogmatische Spekulation? Charakteristisch genug für ihn ist es, daß er sich fast nie mit der begrifflichen Deduktion der streitigen Lehren des 7. und 8. Jahrhunderts lange aufhält; er verweist die Lehre nicht nur aus Bequemlichkeit auf die gangbaren Kirchen- und Dogmengeschichten, es widerstrebt ihm, sich in die Irrgänge der dogmatischen Spekulation zu verlieren, aber er vernichtet sie durch die Erzählung der Tatsachen und durch ein rücksichtsloses Urteil über die handelnden Personen. Wenn man die Geschichte der "bilderstürmenden Kaiser" auf ihren allgemeinen philosophischen Gehalt zurückführen wollte, so könnte man das Werk vielleicht als den Nachweis bezeichnen, daß der religiöse Lehrsatz an und für sich so gut wie gar keine Bedeutung besitzt, sondern daß nur aus dem moralischen Sinn, welcher in die Glaubenssätze hineingelegt und aus dem sittlichen Erfolg, der durch ihre Verbreitung gewonnen wird, auf ihren Wert oder Unwert geschlossen werden kann.
Hier ist also die Quelle der von GERVINUS so oft und so volltönend gepriesenen "sittlichen Kritik", welcher "ganz innerliche mit seinem Charakter tief zusammenhängende Motive" zugrunde liegen sollten. Hätte man sich bemüht, unseren Geschichtsschreiber weniger wie einen aus sich selbst herauswachsenden Baum, als vielmehr wie einen mitten in der Literatur und Bewegung seiner Zeit stehenden Denker zu betrachten, so konnte man sich viel Streit ersparen. Es war ein allgemeiner Vorzug, oder, wie Andere sagen würden, ein allgemeines Übel, daß fast alle Gelehrte seiner Zeit in der kritischen Philosophie wie festgewurzelt waren, mit welcher Disziplin der Wissenschaft sie auch sonst beschäftigt gewesen sein mögen. Auch SCHLOSSERs zäher, festhaltender und ausdauernder Sinn hielt das, was ihm jede Ader einst in der Jugend erfüllte, bis in sein spätestes Alter fest, als in der Philosophie der Andern der kritische Formalismus, in der Theologie der Rationalismus, in der Jurisprudenz das Vernunftrecht längst überwundene Standpunkte und in der Geschichtswissenschaft selbst das Hervorkehren prinzipieller Fragen und kategorischer Urteile kaum mehr verständlich gewesen waren. Wenn sich aber mehr als fünfzig Jahre danach die Jüngeren über den Mann entzürnten, den sie sich "persönlich als eine mürrischen Sauertopf von kleinmeisterlicher Grämlichkeit" vorgestellt haben, und wenn sie in seinen Schriften nichts "als eine moralischen Splitterrichter" erkennen wollten,
Es mag uns gestattet sein, später noch einmal auf diese Dinge zurückzukommen; wollen wir hier die Betrachtung von SCHLOSSERs eigenster Entwicklung und Leistung nicht allzusehr unterbrechen, so ist zunächst nach einer anderen Seite ein Blick auf den Stand der historischen Literatur gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, zu werfen. Wenn sich in den ersten selbständigen Werken SCHLOSSERs Probleme religiöser und dogmatischer Art mit Vorliebe behandelt finden, so trat die Frage, wie er sich zu den universalhistorischen Systemen verhält, umso bestimmter an ihn heran, je mehr er sich auch äußerlich und berufsmäßig dem historischen Fach zugewendet hat.
1) Als Ausgangspunkt der heftigen Gegensätze, welche die Geschichtsschreiber Deutschlands eine Zeitlang in zwei Parteien teilten, gilt gewöhnlich Gervinus' Schrift über die "Grundzüge der Historik", Leipzig 1837, worin weniger der Seite 82 vorkommende Satz: daß man Schlossers Werke allein in der Literatur als Früchte des allgemeinen europäischen Lebens nennen kann, als vielmehr das, was er über die pragmatische Geschichtsschreibung Seite 53f bemerkte, Anlaß zu einem leidenschaftlichen Streit gab. Darüber wurde dann nur zu sehr übersehen, wie vieles Vortreffliche in der kleinen Schrift steht. Nur darf man darin kein konsequentes System suchen. Gervinus windet sich mühsam von den ästhetisierenden Gesichtspunkten Humboldts los und steckt überall in der apriorischen Philosophie, die er aber verwirft, tief drin. Im Jahr 1844 hat Wuttke im Grenzboten, Nr. 18 einen wenig unterrichteten Artikel über Schlosser geschrieben, zu dessen Verurteilung damals auch Buchhändlerspekulationen in abscheulichster Weise mitwirkten. 2) Als nach dem Tod Schlossers Gervinus' seinen "Nekrolog", Leipzig 1862, veröffentlichte, in welchem ohne ein tieferes Eingehen auf die Prinzipienfragen eine weit über ein billiges Maß hinausgehende Vergleichung zwischen Schlosser und Ranke in der Art geliefert wurde, als hätte die heutige Geschichtsschreibung nichts Anderes zu tun, als in den Bahnen Schlossers fortzuwandeln, antwortete Löbell, leider anonym, wodurch die Gehässigkeit des Streits noch mehr hervortrat. (Briefe über den "Nekrolog" Friedrich Christoph Schlossers von G. G. Gervinus.) Die bezeichnete Verurteilung besonders im neunten Brief, Seite 33f. Einen ruhigeren Artikel lieferte dagegen Rudolf Haym im "Preußischen Jahrbuch", Bd. IX, Heft 4, im April 1862. 3) "Zur Beurteilung Friedrich Christoph Schlossers" in Sybels "Historischer Zeitschrift", Bd. 8, Seite 117-140; vgl. auch Bernhardt über Löbell in der neuen Ausgabe "Zehn Bücher Geschichten" des Gregor von Tours. 4) "Friedrich Christoph Schlosser", der Historiker. Erinnerungsblätter aus seinem Leben und Wirken, eine Festschrift zu seiner hundertjährigen Geburtstagsfeier, Leipzig 1876. Auch Weber kommt nochmals auf den Vergleich von Schlosser und Ranke zurück, erinnert an den Goethe- und Schiller-Streit und tröstet sich, wie es scheint, nicht in glücklichster Analogie damit, daß die heutige Zeit beide verehrt. Allein die Geschichtswissenschaft hat in ihren Produktionen gewiß wenig Ähnlichkeit mit der Unvergänglichkeit der Poesie, obwohl man immer wieder in Humboldt-Gervinus'scher Weise gerne von der Kunst spricht, wenn man das Geschäft der Geschichtsschreiber beschreibt. Der von Weber im Jahre 1862 in "Unsere Zeit" ebenfalls als Nekrolog veröffentlichte Artikel ist sachgemäß und lehrreich und unterschied sich damals wohltuend von den leidenschaftlichen Ausbrüchen der anderen Nekrologisten. 5) Weber, a. a. O. wieder abgedruckt aus den "Zeitgenossen" 1826. Wir sind weit entfernt, hier auf das Biographische irgendwie eingehen zu können, oder zu wollen. Nur was die innere geistige Entwicklung Schlossers betrifft, so gehört es zu unserem Gegenstand; doch möge es gestattet sein, einer Mitteilung des Herrn August Oncken hier zu gedenken, welcher mir versicherte, daß in Varel, wo Schlosser Hofmeister bei Bentinck-Knyphausen war, die Tradition vorhanden war, die Bürger der Stadt hätten Schlosser als Domestiken des Grafen die Aufnahme in den Club verweigert, was vielleicht Ursache zu dessen plötzlichen Abbruch seiner Verhältnisse in Varel gegeben haben mochte. 6) Gervinus führt auf diesen Umstand (Grundzüge der Historik, Seite 13) sehr schön die Tatsache zurück, daß über Historik und Historiographie gerade von den bedeutendsten Historikern am unliebsten und seltensten geschrieben wird. Hier ist der Vergleich mit dem Künstler vielleicht passender angebracht als sonst. Vollends beistimmen muß man ihm aber, wenn er sagt: "Der Geschichtsschreiber liebt das Nachdenken über sein Geschäft so wenig wie der Künstler. Und dennoch ist es unserer neuesten Zeit so natürlich, über ihre Bestrebungen sich Rechenschaft zu geben, das was sie tut, mit Bewußtsein tun zu wollen, daß man nimmer mehr zweifeln darf, ob es heute noch Jemandem gelingen wird, in Kunst und Wissenschaft große Produktionen zu liefern, ohne sich über seine Leistungen und sein Verfahren von Zeit zu Zeit klar zu machen." Wie viel mehr muß man heute diesen Satz wiederholen, wo es an den meisten Orten in Deutschland Mode geworden ist, solche Dinge, wie sie in der Historik abgehandelt werden, als Allotria [Albernheiten - wp] zu behandeln. 7) Weber, Schlosser, Seite 4. Er erwähnt aber gar nicht, daß Jever nicht zu Deutschland gehörte, was gleichwohl vollkommen sicher ist, vgl. Berghaus, "Deutschland seit hundert Jahren", Bd. 2, Seite 210f. Ich lege Wert auf diesen Umstand, weil Gervinus sich Mühe gibt, es zu erklären, warum Schlosser "das ganze Gebiet der Geschichte durchwandert und nur der deutschen den Rücken gekehrt" hat. Gervinus weiß die seltsamsten prinzipiellen und wissenschaftlichen Erklärungen hierfür. Aber daß es dem Kosmopoliten des vorigen Jahrhunderts schon seiner Geburt nach an eigentlich nationaler Anregung fehlen mußte, ist nicht bemerkt. 8) In dieser großen Revolution der Geschichtsschreibung, welche zu Urteilen über ganze Zeiträume sich aufschwang, meiner Ansicht nach die tiefgreifendste Veränderung gegenüber der gesamten Chronistik und Epochengeschichtsschreibung des Mittelalters, ging bekanntlich Voltaire voraus: "de voir par quels degrés on est parvenü de la rusticité barbare de ces temps à la politesse du nôtre" [um zu sehen, in welchem Maße wir von der barbarischen Rustikalität jener Zeit zur Höflichkeit unserer Zeit gelangt sind - wp] heißt es in den "Fragmentes sur l'histoire, oeuvre XXVII, Seite 214. Verfolgt man ferner den Gedankengang in dem "Essai sur les moeurs", so wird man (insbesondere oeuvres XVI, Seite 412) die Auseinandersetzung über das Lehenswesen und seinen Verfall, leicht den Übergang zu Schillers bezüglichen Abhandlungen finden. Voltaire las Schlosser hauptsächlich in der Frankfurter Zeit - und zwar eben dessen historische Schriften vorzugsweise. 9) Vgl. Tomaschek, "Schiller in seinem Verhältnis zur Wissenschaft", Seite 92f, wo die Analyse des Aufsatzes über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter trotz der Bemerkungen Janssens "Schiller als Historiker", Seite 134 in allen Punkten aufrecht stehen wird. Herr Janssen kann es freilich nicht begreifen, wie man im Mittelalter von Finsternis reden kann, - weil sich dieser überhaupt einen Standpunkt des menschheitlichen Fortschrittes, von dem eben jene Leute ausschließlich die Geschichte betrachtet wissen wollten, nicht denken kann. Wir sind unsererseits auch nicht der Ansicht, daß dieser Standpunkt der historisch brauchbare ist, aber wir begreifen schon recht gut, warum Schiller mit den vulgären Ansichten über das Mittelalter übereinstimmte, jedenfalls war dieser Bruch mit der bisherigen Historiographie, wie er von Schiller bezeichnet ist, das einzige Mittel, um aus dem Mittelalter herauszukommen und eine moderne Geschichtswissenschaft möglich zu machen. 10) Bekanntlich studierte Schlosser Theologie; ich glaube aber auf diesen Umstand in Bezug auf seine innere geistige Entwicklung gar kein Gewicht legen zu sollen, da dies ja noch der gewöhnliche Studiengang vieler Lehrer und Gelehrter zu sein pflegte. Nachwirkung theologischer Art findet sich nur einigermaßen in Hinsicht auf die später gewählten Themata historischer Arbeiten, was im Übrigen die enorme Mißachtung, in welcher die Göttinger Professoren "de Kerls" standen, betrifft, so kann man Eilers "Meine Wanderungen", Bd. 1, Seite 86f lesen. Auch Voss verachtete insbesondere Heyne. 11) Die Lesewut der jungen Leute im vorigen Jahrhundert kann man aus der Biographie Schlözers, Ritters, Alexander von Humboldts, Niebuhrs wie Schlossers ersehen, doch hatte Niebuhr in späteren Jahren sehr häufig geklagt, daß es ihm an einer richtigen Leitung seiner Studien gefehlt hat, daß er dadurch auf viele Irrwege geraten ist ("Lebensnachrichten", Bd. 1, Seite 24). Über das rasche und kursorische Lesen der Klassiker - nebenbei bemerkt, gerade die entgegengesetzte Methode von jener, die heute bewirkt, daß man nicht gut lateinisch und griechisch lernt - vgl. Schlossers eigene Angaben und Weber, a. a. O., Seite 14, wo auch behauptet wird, daß Schlosser in der Zeit von drei Jahren über viertausend Bücher durchlaufen hat. 12) Recht im Gegensatz zu Niebuhrs Urteil muß man Schlosser in den Briefen (Weber, a. a. O., Seite 201) über Schiller lesen. Merkwürdig ist dann freilich, daß Gervinus vom Urteil seines Meisters so wenig akzeptiert hat (Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. 5, Seite 338; vgl. Tomaschek, a. a. O., Seite 131 und Janssen, a. a. O., Seite 125). 13) Besonders zu beachten ist auch die Stelle bei Weber, a. a. O., Seite 29: "In dieser Zeit las ich alle berühmten neueren Historiker von Hume und Rapin an bis auf Heinrich, Schmidt, Voltaire und Johann von Müller. Ich lernte vom Letzteren zwar sehr viel, konnte jedoch an dem Gekünstelten, am Mangel aller Einfalt und Natur, so wenig als an Herders poetischem Schwulst in den Ideen zur Geschichte der Menschheit je ein wahres Vergnügen finden". Wir kommen auf diese Äußerung besonders mit Rücksicht auf Herder noch mehrfach zurück. 14) Historische Zeitschrift, Bd. VIII, Seite 134. Es geht aber viel zu weit, wenn hier ein Vorwurf darin gesehen wird, daß nicht an und für sich das Faktum ein Interesse erregen will. Es ist ja richtig: die geschichtliche Tatsache muß den historischen Sinn unbedingt fesseln, aber welches ist denn die geschichtlich fesselnde Tatsache? Hier fängt ja eben der Streit an. Vollends sonderbar ist es aber, wenn auch der Verfasser des Artikels eine Seite zuvor auf Wilhelm von Humboldt rekurriert, der der wahre Anwalt jener Tatsachen allein ist, die durch seine vielgepriesenen Ideen erst konsekriert [geweiht - wp] sind. - Was davon zu denken ist, bemerke ich später. 15) Wie so viele andere Differenzen und Unklarheiten auf dem Gebiet der Historiographie, so herrschen auch die verschiedensten Meinungen darüber, wo die moderne Geschichtsschreibung gegenüber der mittelalterlichen Auffassung denn eigentlich einsetzt; und man hört in dieser Beziehung die mannigfachsten Meinungen aussprechen. Man spricht gern von Bossuet, von Giambattista Vico, aber auch von Lord Bolingbroke, von Voltaire. Nach meiner Ansicht liegt ein Fehler darin, daß man eine so allgemeine Erscheinung, wie die moderne Wissenschaftlichkeit durchaus auf einen einzelnen Menschen zurückführen will, eine Angewohnheit, die man eigentlich von der Religionsgeschichte überkommen hat. Weil die Religionen gerne vorgeben, daß sie einen offenbarenden Stifter haben, so ist es in Sachen der Wissenschaft auch üblich geworden, gewisse Dinge immer auf Einen zurückzuführen, während doch jeder nur einer war. In nichts ist diese Zurückführung der Wissenschaften auf ihre Stifter verkehrter, als in Bezug auf die Aufklärungsperiode, wo man noch viel weniger als bei der Reformation von Stiftern und Gründern reden sollte. Es kommt dazu, daß man bei der Geschichtswissenschaft erst noch das charakteristische Merkmal für die moderne Zeit zu bezeichnen hätte. Natürlich besteht aber auch darin keine Übereinstimmung, indem einige das Merkmal des modernen Geistes in reinen Äußerlichkeiten suchen können und daher den pedantischen Gatterer als Vater der Geschichtsschreibung preisen werden. Sieht man dagegen auf das Innere, so muß man schon andere Faktoren aufsuchen. Was man heute Wissenschaft überhaupt, und im Besonderen Geschichtswissenschaft nennt, beruth dem Mittelalter gegenüber auf dem Unglauben und auf der Verwerfung der Postulate als wirkender Mächte - fasse ich die Geschichte unter diesen Gesichtspunkt, so weiß ich keinen anderen Einschnitt und Abschnitt zu machen, als in der Philosophie des vorigen Jahrhunderts überhaupt, und ich verwahre mich gleich jetzt ein- für allemal gegen den Gedanken, daß ich es darauf abgesehen hätte, speziell an Kant als den Reformator der Geschichte in der Weise anzuknüpfen, wie dies etwa übertrieben Buckle mit Voltaire, Andere mit Anderen gemacht haben. 16) "Ich hatte mich gerade damals mit der Kirchenhistorie und mit den Scholastikern, neben diesen mit dem Aristoteles, ohne dessen Studium niemand das Mittelalter und die Scholastiker richtig beurteilen wird, viel beschäftigt." Durch diesen Ausspruch allein schon steht Schlosser hoch über dem heutigen allgemeinen Betrieb der mittelalterlichen Geschichtsforschung, welche über Otto von Freising Bücher schreibt, ohne auch nur die dunkelste Ahnung von Aristoteles zu haben, der, da er auf der Schule nicht gelesen wird, nach meiner vieljährigen Erfahrungen den meisten Studierenden der Geschichte meistens nicht bekannter als Konfuzius ist. 17) Kant, Werke Bd. VII (Ausgabe Hartenstein) Leipzig 1865-69, Seite 323. "Der Streit der Fakultäten in drei Abteilungen". Was Kant in der Abhandlung "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", VI, Seite 95, schreibt, muß man ganz lesen, um sich auf Schritt und Tritt in Schlossers Büchern wiederzufinden. Die ganze Zurückführung der eigentlichen Religionsfundamente auf die Begriffe von gut und böse bildet die Grundanschauung von Schlossers Beurteilung; er ist daher auch in seinem praktischen Leben ein entschiedener Beförderer von Religion unter der Jugend, ob er sich darüber mit Mosche (siehe Weber, a. a. O., Seite 31) und Eilers ("Wanderungen", Bd. 1, Seite 312) nicht verständigen kann. Was die Ansichten Schlossers in Religionssachen betrifft, so macht er einen Unterschied zwischen Kirchenglauben und Religionsglauben und sieht in der Geschichte überall den Übergang von jenem zu diesem. In der alten Geschichte wie in der neueren setzt seine Auffassung einen Chiliasmus [Lehre von der Erwartung des Tausendjährigen Reiches nach der Wiederkunft Christi - wp] der Herrschaft des reinen Religionsglaubens voraus. Auf Kants "Religion innerhalb der Grenzen etc." dürfte wohl auch Schlossers Bekämpfung des Rousseauschen Prinzips der Herrschaft des Guten in der Natur und der Verschlechterung durch die Kultur zurückzuführen sein. Ganz im Sinne Kants hat Schlosser zuerst die bis auf den heutigen Tag fast von allen Historikern gewissermaßen heilig gehaltene anti-rousseausche Ansicht vertreten, daß die Herrschaft des guten Prinzips auf Erden nur in der historischen Entwicklung begründet ist. Wie sehr nun die Verwertung der Religionsvorstellungen für die Moral dem Kirchengeschichtsschreiber nahe gelegen ist, kann man aus einem Vergleich Schlossers in den "bilderstürmenden Kaisern" über die Trinitätsstreitigkeiten mit folgender Stelle im "Streit der Fakultäten" (Kant, Werke VII, Seite 356) erkennen. "Aus der Dreieinigkeitslehre, nach dem Buchstaben genommen, läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenngleich man sie zu verstehen glaubte, noch weniger, wenn man inne wird, daß sie gar alle unsere Begriffe übersteigt. Ob wir in der Gottheit drei oder zehn Personen zu verehren haben, wird der Lehrling mit gleicher Leichtigkeit aufs Wort annehmen, weil er von einem Gott in mehreren Personen gar keinen Begriff hat, noch mehr aber, weil er aus dieser Verschiedenheit für seinen Lebenswandel gar keine verschiedenen Regeln ziehen kann. Dagegen, wenn man in Glaubenssätzen einen moralischen Sinn hereinträgt (wie ich es "Religion innerhalb der Grenzen etc." versucht habe) er nicht einen folgeleeren, sondern auf unsere moralische Bestimmung bezogenen verständlichen Glauben enthalten würde. Ebenso ist es mit der Lehre der Menschwerdung einer Person der Gottheit bewandt. Denn wenn dieser Gottmensch nicht ... so ist aus diesem Geheimnis gar nichts Praktisches für uns zu machen, weil wir doch von uns nicht verlangen können, daß wir es eine Gott gleich tun sollen, ... ein Ähnliches kann von der Auferstehungs- und Himmelfahrtsgeschichte ebendesselben gesagt werden." Die Verwandtschaft der Ideen Schlossers mit Kant ist so groß, daß ich übrigens noch vorsorglich die Bemerkung machen muß, daß ich nicht etwa glaube, Schlosser habe einen Satz wie den zitierten speziell sich abgeschrieben und immer vor Augen gehalten, als er seine "bilderstürmenden Kaiser" verfaßte; allein um die Fäden handelt es sich in Sachen des Geistes, die von einem zum andern hinüberleiten. 18) Kant, Werke a. a. O. Bd. VII, Seite 359. |