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HANS KLEINPETER
Vom Wesen des Begriffs

"Die Lehrbücher der Logik geben noch keine genügende Aufklärung über das Wesen des Begriffs. Mach hat recht, wenn er das Wesen eines jeden Begriffs in der Ausführung bestimmter Tätigkeiten erblickt und jede Identifizierung mit der Vorstellung ablehnt."

"Das sogenannte Abstraktionsvermögen entwickelt sich erst mit den Jahren. Kinder können gar nicht in Abstraktionen denken. Ein eigentlicher mathematischer Unterricht ist deshalb vor dem 14. Lebensjahr auch nicht möglich. Die ältesten Vorstellungen, die erworben werden, betreffen Einzeldinge, sind Individualvorstellungen. An sie kann sich ein Denken knüpfen, das des sprachlichen Ausdrucks gar nicht bedarf. Ein Denken dieser Art kann daher auch bei Tieren vokommen und kommt wohl auch vor."

"Wir können die Allgemeinvorstellung eines gleichseitigen Dreiecks haben, aber nicht mehr die eines Dreiecks schlechthin. Hier liegt also die Grenze. Die Allgemeinvorstellung wird bei weiterschreitender Abstraktion unvorstellbar, und das Problem beginnt. Gleichseitiges Dreieck ist noch Vorstellung, Dreieck ist keine Vorstellung mehr, sondern nur Begriff."

    "Und da muß ich mir die schulmeisterliche, aber unerläßliche Frage erlauben: was ist ein Begriff? Ist derselbe eine verschwommene, aber doch immer noch anschauliche Vorstellung? Nein! Nur in den einfachsten Fällen wird sich diese als Begleiterscheinung einstellen."

    "Oder ist der Begriff etwa ein bloßes Wort? Die Annahme dieses verzweifelten Gedankens, der kürzlich von geachteter mathematischer Seite (1) wirklich geäußert worden ist, würde uns nur um ein Jahrtausend zurück in die tiefste Scholastik stürzen." (2)

    "Der Begriff ist dadurch rätselhaft, daß derselbe einerseits in logischer Beziehung als das bestimmteste logische Gebilde erscheint, daß wir aber andererseits psychologisch, nach einem anschaulichen Inhalt suchend, nur ein sehr verschwommenes Bild antreffen." (3)
Diese Aussprüche MACHs beleuchten treffend die wissenschaftliche Situation in Bezug auf die Anschauungen über die Natur des Begriffs. Man kann sagen, daß eine befriedigende Antwort auf diese Frage streng genommen heute noch gar nicht existiert, ja daß in unseren Lehrbüchern der Logik direkt falsche oder doch ganz unzureichende Ansichten über das Wesen des Begriffs niedergelegt sind.

Ein Blick auf die bekanntesten Werke dieser Art mag das näher illustrieren.

HERBART hat in seiner "Einleitung in die Philosophie" als "Vorstellung" bezeichnet, "bei der wir von der Art und Weise abstrahieren, wie sie psychologisch entstanden ist". Zwei Momente liegen in dieser Auffassungsweise vereinigt: die Bezeichnung des Begriffs als einer Art Vorstellung und der Gegensatz zwischen psychologischer Unbestimmtheit und logischer Bestimmtheit, der hier in ganz vager Weise auszugleichen versucht wird. HERBART folgten seine Schüler, die Leitfäden für den Logikunterricht an den österreichischen Gymnasien schrieben; auch HÖFLER schreibt noch (1905): "Begriffe sind Vorstellungen von eindeutig bestimmtem Inhalt." Daß eine derartige Erklärung nicht angeht, folgt schon daraus, daß die Vorstellung etwas durch die Erfahrung Gegebenes, ein Sein, der Begriff aber etwas Sollendes, eine logische Forderung darstellt, von einem Gleichsetzen also niemals die Rede sein kann. Die Vorstellung ist ein in der Wirklichkeit auftretendes psychisches Gebilde, der Begriff hat eine vom Individuum unabhängige Bedeutung. Dazu kommt, daß sich leicht Begriffe anführen lassen, die einer Vorstellung überhaupt nicht zugänglich sind. Das hat schon BERKELEY ganz richtig erkannt und mit einfachen Beispielen belegt. Seine Polemik gegen die abstrakten Vorstellungen in der Einleitung zu seiner Abhandlung "Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" ist noch heute von aktuellster Bedeutung, nur daß zum sicheren Verständnis hinzuzufügen wäre, daß die Anfechtbarkeit beim zweiten Teil des Ausdrucks "abstrakte Vorstellung" gelegen ist. Begriffe entstehen durch Abstraktion, aber sie sind nicht Vorstellungen. "Dreieck" ist ein Begriff, aber keine Vorstellung. BERKELEY erkannte auch richtig, daß dieser Gegensatz nicht bei allen Begriffen, sondern eben nur bei den abstrakten (richtiger: abstrakteren) zutrifft. "Gleichseitges Dreieck" bedeutet beispielsweise Begriff und Vorstellung zugleich.

Diese Deduktionen BERKELEYs sind am meisten in seinem Vaterland beachtet worden. JOHN STUART MILL fühlt die ganze Schwere derselben und gibt diesem Gefühl einen beredten Ausdruck mit den Worten: "Kann es recht sein, die ganze Logik, die ganze Theorie des Urteilens und Schließens auf ein Ding zu gründen, dem nur eine eingebildete und gefolgerte Existenz zukommt?". "Meiner Ansicht nach kann die Einführung des Ausdrucks Begriff in die Logik nur Verwirrung hervorrufen; man sollte statt vom Begriff immer nur von der Wortbedeutung sprechen." Dieser Argumentation hat sich offenbar auch JEVONS, der nur von "terms" spricht, und - trotz seiner Beanstandung dieses Verfahrens - anscheinend auch ERDMANN in seiner Logik angeschlossen, der zunächst das Wort "Begriff" ganz vermeidet - unter Gebrauch des Ausdrucks "Gegenstand des Denkens", es später aber eingeengt auf die Bedeutung solcher Worte, die eigentlich anstelle eines Urteils stehen. Er hält also die Reihenfolge ein: Gegenstand des Denkens, Urteil, Begriff. (4)

Eine ERDMANNs zweiter Erklärung vom Wesen des Begriffs ähnliche gibt auch WUNDT. Er erklärt als logischen Begriff "jeden Denkinhalt, der aus einem logischen Denkakt, einem Urteil durch die Zergliederung eines Urteils niemals auf den vollständigen Begriff eines Wortes kommen wird. Auch ist die ganze Definition eine viel zu unbestimmte, mit der es schwer fällt, einen wirklich präzisen Gedanken zu verbinden, wie es doch in der Logik zu erwarten ist. Ich meine, daß auch diese Erklärung WUNDTs aus der von JEVONS stammt, der "term" (terminus) als Begrenzungen eines Urteils erklärt.

Diese Stellungnahme führte zur Umgestaltung der Begriffs- und Urteilslehre; wird der Begriff aus dem Urteil erklärt, so ist es nur konsequent, die Darstellung der Logik mit der Urteilslehre zu beginnen. Diese Anordnung finden wir in der Logik von SIGWART eingehalten, die zunächst allgemeine Vorstellungen als Substrat der Urteile betrachtet und die Begriffe als hiervon durch "ihre Konstanz, durchgängige feste Bestimmtheit und die Sicherheit und Allgemeingültigkeit der Wortbezeichnung" unterschieden erklärt (5), dann aber noch eine zweite Erklärung der Begriffe gibt, derzufolge diese den "Zielpunkt unseres Erkenntnisstrebens" bedeuten. Geleitet oder verleitet durch die große Rolle, die einzelne Begriffe in der Wissenschaft spielen, sowie durch die Größe der Forscherarbeit, die zu ihrer Aufstellung geführt hat, ist SIGWART soweit gegangen, in der Aufstellung z. B. des Begriffs der Materie alle Probleme der Physik und Chemie gelöst zu erblicken. Es ist klar, daß es sehr viele Begriffe gibt, bei denen von vornherein jeder solche Anspruch undenkbar ist, während die erste Erklärung an den gleichen Mängeln wie die früher genannten Versuche leidet.

Ich finde die meiste Aufklärung über das Wesen des Begriffs wieder in den Äußerungen MACHs.

An der oben bereits zitierten Stelle (6) heißt es weiter:
    "Wir dürfen nicht denken, daß die Empfindung ein rein passiver Vorgang ist. Die niedersten Organismen antworten auf dieselbe mit einer einfachen Reflexbewegung, indem sie die herangekommene Beute verschlingen. Bei höheren Organismen findet der zentripetale Reiz im Nervensystem Hemmungen und Förderungen, welche den zentrifugalen Prozeß modifizieren. Bei noch höheren Organismen kann - bei Prüfung und Verfolgung der Beute - der berührte Prozeß eine ganze Reihe von Zirkelbewegungen durchlaufen, bevor derselbe zu einem relativen Stillstand gelangt. Auch unser Leben spielt sich in analogen Prozessen ab, und alles, was wir Wissenschaft nennen, önnen wir als Teile, als Zwischenglieder solcher Prozesse ansehen. Es wird nun nicht mehr befremden, wenn ich sage: Die Definition eines Begriffes, und, falls sie geläufig ist, schon der Name des Begriffs, ist ein Impuls zu einer genau bestimmten, oft komplizierten, prüfenden, vergleichenden oder konstruierenden Tätigkeit, deren meist sinnliches Ergebnis ein Glied des Begriffsumfangs ist. Es kommt nicht darauf an, ob der Begriff nur die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sinn (Gesicht) oder die Seite eines Sinnes (Farbe, Form) hinlenkt, oder eine umständliche Handlung auslöst, ferner auch nicht darauf, ob die Tätigkeit (chemische, anatomische, mathematische Operation) muskulär, oder gar technisch, oder schließlich nur in der Phantasie ausgeführt, oder gar nur angedeutet wird. Der Begriff ist für den Naturforscher, was die Note für den Klavierspieler ist. Der geübte Mathematiker oder Physiker liest eine Abhandlung so, wie der Musiker eine Partitur liest. So wie aber der Klavierspieler seine Finger einzeln und kombiniert erst bewegen lernen muß, um dann der Note fast unbewußt Folge zu leisten, so muß auch der Physiker unter Mathematiker eine lange Lehrzeit durchmachen, bevor er die mannigfachen, feinen Innervationen seiner Muskeln und seiner Phantasie, wenn ich so sagen darf, beherrscht . . . Wohlgeübte Tätigkeiten, die sich aus der Notwendigkeit der Vergleichung und Darstellung der Tatsachen durcheinander ergeben haben, sind also der Kern der Begriffe."
An einer anderen Stelle (7) heißt es:
    "Ein Begriff ist überhaupt nicht eine fertige Vorstellung. Gebrauche ich ein Wort zur Bezeichnung eines Begriffes, so liegt in demselben ein einfacher Impuls zu einer geläufigen sinnlichen Tätigkeit, als deren Resultat sich ein sinnliches Element (das Merkmal des Begriffs) ergibt. Denke ich z. B. an den Begriff Siebeneck, so zähle ich in der vorliegenden Figur oder in der auftauchenden Vorstellung die Ecken durch; komme ich hierbei bis 7, wobei der Laut, die Ziffer, die Finger das sinnliche Merkmal der Zahl abgeben können, so fällt die gegebene Vorstellung unter den gegebenen Begriff."
Hält man sich recht gegenwärtig, daß das begriffliche Denken eine Reaktionstätigkeit ist, die wohl geübt sein will, so versteht man die bekannte Tatsache, daß sich niemand Mathematik oder Physik oder irgendeine Naturwissenschaft durch bloße Lektüre, ohne praktische Übung, aneignen kann. Das Verstehen beruth hier gänzlich auf dem Tun. "Die Worte der Vulgärsprache sind einfach geläufige Merkzeichen, welche ebenso geläufige Denkgewohnheiten auslösen." (8) An einer anderen Stelle (9) wird nach einer Beschreibung von Instinktbewegungen gesagt:
    "Diese konformen sinnlichen Merkmale, welche ja beide in irgendeiner Weise zu Bewußtsein kommen werden, halte ich für die physiologische Grundlage des Begriffs. Worauf in gleicher Weise reagiert wird, das fällt unter einen Begriff. So vielerlei Reaktionen, so vielerlei Begriffe."

    "Die Definition des Begriffs, bzw. der Name des Begriffs löst eine bestimmte Tätigkeit, eine bestimmte Reaktion aus, die ein bestimmtes Ergebnis hat. Sowohl die Art der Reaktion als auch das Ergebnis derselben muß im Bewußtsein einen Ausdruck finden, und beide sind charakteristisch für den Begriff." (10)
Im letzten Werk MACHs heißt es (11):
    "Diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, daß der Begriff kein Augenblicksgebilde ist, wie eine einfache konkrete sinnliche Vorstellung, wenn wir bedenken, daß jeder Begriff seine zuweilen recht lange und ereignisreiche psychologische Bildungsgeschichte hat und daß sein Inhalt ebensowenig durch einen Augenblicksgedanken explizit dargelegt werden kann."
Diese Äußerungen treffen darin zusammen, daß als Kern der Begriffe ein System bestimmter Tätigkeiten, Reaktionen angesehen wird, zu dem noch die Vorstellung in eine gewisse Verbindung tritt.

Eine ähnliche Auffassung tritt uns noch entgegen bei RICKERT (12) und MARTIN KEIBEL (13) und bis zu einem gewissen Grad bei HEINRICH GOMPERZ (14) und THÉODULE RIBOT (15). Nahe verwandt, d. h. in eigenartiger Weise weiter ausgeführt ist die Erklärung von ADOLF STÖHR (16):
    "Der Begriff A ist weder ein Ding A noch eine Vorstellung A noch ein Bild von A; er ist eine charakterisierte Form der Reproduktionsbahn von einem B nach vielen A."
Diese Erklärung stimmt mit dem Vorausgehenden insofern überein, als sie das Wesen des Begriffs in einer bestimmten geistigen Tätigkeit erblickt. Auch KANT kann in gewissem Sinn hier genannt werden. Er unterläßt es zwar leider zu erklären, was er unter Begriff verstanden wissen will, aber das eigentliche Wesen desselben liegt bei ihm im Schematismus der Verstandesbegriffe. "Man vgl. z. B.:
    "In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zugrunde. Dem Begriff von einem Triangel würde gar kein Bild jemals adäquat sein."
Soviel kann also als feststehend betrachtet werden: Das Wesen des Begriffs liegt in einer Operationsfolge. Systeme von Begriffen, wie sie in den systematischen Darstellungen eines Wissensgebietes uns entgegentreten, erfordern also eine Ausübung bestimmter geistiger, in den experimentellen Wissenschaften auch manueller Tätigkeiten (wobei letztere auch bloß gedacht bleiben können). Die Fragen, die damit noch offen bleiben, sind die nach der Art der Tätigkeiten, die den einzelnen Begriffen entsprechen, nach der Art ihres Zusammenhangs und nach dem Verhältnis zur Vorstellung, die sich ja in bald mehr, bald weniger inniger Weise so vielen Begriffen hinzugesellt.

Es gibt ohne Zweifel Urteile, die direkt an gegebene Vorstellungen anknüpfen. Dazu gehören alle Beurteilungen vorgefundener Gegenstände der äußeren Wahrnehmung. Andererseits gibt es ebenso bestimmt Urteile, in denen Vorstellungen überhaupt nicht vorkommen. In diese Klasse gehören alle mathematischen Urteile, die vielfach - insbesondere in den höheren Teilen dieser Wissenschaft - eine anschauliche Vorstellung gar nicht zulassen (Eigenschaften von Kurven und Flächen höherer Grade, mehrdimensionale Geometrie, Funktionentheorie, Idealzahlen, Gruppentheorie u. a.). In der Mathematik stehen Anschauung und Kalkül vielfach nebeneinander, das Gebiet des letzteren reicht jedoch weiter; Gebilde, von denen kein Mathematiker (wegen ihrer Kompliziertheit oder sogar Unfaßbarkeit wie in der mehrdimensionalen Geometrie) eine Vorstellung besitzt, lassen sich noch rechnend weiter verfolgen.

Zwischen diesen Extremen gibt es Übergänge aller Grade. Das Denken beginnt mit der Anschauung, braucht aber an ihr nicht haften zu bleiben, sondern kann sich sogar weit über dieselbe erheben.

Die Betrachtung dieses Entwicklungsganges wird uns die den Begriffen zufallende Rolle erkennen lassen.

Das sogenannte Abstraktionsvermögen entwickelt sich erst mit den Jahren. Kinder können gar nicht in Abstraktionen denken. Ein eigentlicher mathematischer Unterricht ist deshalb vor dem 14. Lebensjahr auch nicht möglich. Die ältesten Vorstellungen, die erworben werden, betreffen Einzeldinge, sind Individualvorstellungen. An sie kann sich ein Denken knüpfen, das des sprachlichen Ausdrucks gar nicht bedarf. Ein Denken dieser Art kann daher auch bei Tieren vokommen und kommt wohl auch vor.

Das Prinzip der Ökonomie zwingt zum Gebrauch eines Zeichens für verschiedene Gegenstände, die nur teilweise ähnlich sind. Darin sowie auch wohl in einer (uns nicht näher bekannten) physiologischen Veranlagung liegt Anlaß und Grund zur Entstehung allgemeiner typischer Vorstellungen. Der Übergang läßt sich in einzelnen Fällen verfolgen. Ein Kind, das einmal einen Löwen in einer Manege gesehen hat, wird bei jedem späteren Anlaß, an dieses Tier zu denken, sich immer wieder des Tieres in der Manege erinnern; es besitzt zunächst nur eine Individualvorstellung "Löwe", die erst mit der Zeit in die typische Vorstellung "Löwe" übergeht. Die Argumentation BERKELEYs gegen die Existenz allgemeiner Vorstellungen trifft hier noch nicht zu; wir haben die Allgemeinvorstellung eines Löwen, ebenso einer Giraffe, eines Elefanten oder Krokodils. Etwas schwieriger wird die Sache schon beim Hund wegen seiner zahlreichen Varietäten. Je nach Stand und Beruf ist bei den Menschen jedenfalls das Hunde-Ideal verschieden. Wir können, um an BERKELEYs Beispiel anzuknüpfen, gewiß die Allgemeinvorstellung eines gleichseitigen Dreiecks haben, aber nicht mehr die eines Dreiecks schlechthin.

Hier liegt also die Grenze. Die Allgemeinvorstellung wird bei weiterschreitender Abstraktion unvorstellbar, und das Problem beginnt. "Gleichseitiges Dreieck" ist noch Vorstellung, "Dreieck" ist keine Vorstellung mehr, sondern nur Begriff.

Was scheidet also Vorstellung und Begriff?

Beachten wir, wie Vorstellungen (oft gebraucht man in diesem Sinn das Wort Anschauungen und stellt es in einen Gegensatz zum Begriff; vgl. den bekannten Ausspruch von KANT) zustande kommen, wie sie etwa im Unterricht erworben werden. Es ist ein alter (nämlich von COMENIUS stammender) wenn auch allerdings noch immer zu wenig befolgter Grundsatz der Didaktik, daß Vorstellungen (=Anschauungen) nur durch die eigene aktive Arbeit des Zöglings erworben werden können. Das bloße Vorzeigen von Bildern, Naturkörpern, Apparaten usw. tut es nicht. Durch bloßes Anschauen erwirbt man keine Anschauungen. Erst das Einüben gewisser Tätigkeiten führt zu solchen. Erst wer eine Form selbst nachbildet, gewinnt eine Vorstellung von ihr. Und nun halten wir dazu, was vordem über die Natur der Begriffe gesagt worden ist. Hier wie dort handelt es sich um Tätigkeiten, Operationen. Der Unterschied ist, daß die Vorstellung ihrer mehr bedarf. Eine gewisse Summe derselben ist nötig, um ein Vorstellungsbild zu schaffen, ein Teil davon bildet nur das, was wir als Begriff bezeichnen. Deshalb brauchen die Begriffe nicht anschaulich zu sein, können es aber auch (in anderen Fällen) sein. Der Begriff eines Löwen schafft auch eine Vorstellung, der des Dreiecks oder Selbstinduktionskoeffizienten noch nicht. Aber auch diese Begriffe können zu Anschauungen führen, wenn sie mit anderen passenden kombiniert werden. "Dreieck" ist nur ein Begriff, nicht vorstellbar; "gleichseitig" ebenfalls; aber die Kombination dieser zwei Begriffe ergibt wieder eine anschauliche Vorstellung: "gleichseitiges Dreieck", wie man zu sagen pflegt, oder "dreieckiges Gleichseit", wie man mit logisch gleichem Recht auch sagen könnte.

Die Begriffe sind gleichsam die Atome des Denkens. So wie sich der Chemiker die sichtbare und greifbare Welt zusammengesetzt denkt aus unsichtbaren und ungreifbaren Atomen, so kann der Denker die Vorstellungswelt aus lauter Begriffen konstruieren. Einzeln, für sich, sind sie unanschaulich, fast könnte man sagen, imaginär; aber einzeln gebraucht sie auch nicht der Denker, sondern nur in Kombinationen, Zusammenhängen.

Am klarsten lassen diesen Sachverhalt jene Begriffe erkennen, die von allen die vollkommensten sind, die mathematischen. Dem einzelnen mathematischen Symbol entspricht keine anschauliche Vorstellung, das Resultat einer Rechnung aber wird wieder greifbar und läßt sich mit der Wirklichkeit vergleichen. Alle Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaften ist von dieser Art. Nicht jeder einzelne Schritt findet sein Analogon in der physischen Wirklichkeit, aber die Rechnung wäre sinnlos, wenn ihr Ergebnis sich nicht in Empfindungen ausdrücken ließe. Eine Vorausberechnung von Empfindungen (nicht allein zukünftiger, wie HERTZ annahm, sondern auch vergangener, wie z. B. historischer Sonnenfinsternisse) ist Ziel und Zweck der mathematischen Naturwissenschaft.

Daß die mathematischen Begriffe Operationen darstellen, wird von den angesehensten Mathematikern schon seit längerer Zeit betont. Früher lehrte man allerdings die Entstehung der Kardinalzahlen als Abstraktion von einer Zahl gleichartiger Gegenstände, später führte man die Ordnungszahlen als eigentlichen Ausgangspunkt der Zahlenlehre ein, sprach von einer ordnenden Tätigkeit des menschlichen Geistes und basierte alle Entwicklungen auf die Grundlage gesetzmäßiger Zahlenfolgen. Durch GRASZMANN und vielleicht noch mehr durch die Entwicklung der modernen Gruppentheorie wurde man immer mehr dazu geführt, in den multiplikativen Zahlwörtern den Ausgangspunkt des Zahlbegriffs zu erblicken. Unter 7 m versteht man demnach keine Abstraktion mehr aus einer Reihe gleicher Gegenstände, die mit einem Maß in Verbindung gebracht wird, sondern man liest 7 m = 7 mal 1 m und mißt so die Größe durch die Ausführung einer bestimmten Operation. ¾ l einer Flüssigkeit liegen vor, wenn die Einheitsgröße 1 l zuerst in vier Teile geteilt wird und dann durch dreimaliges Ausschöpfen mit dieser neuen Einheit die vorliegende Größe erschöpft wird. Eine negative Zahl unterscheidet sich von der positiven durch eine Ausführung derselben Operation in gerade entgegengesetzter, eine komplexe durch eine solche in einer anderen Richtung.

KANT unterscheidet neben der Fähigkeit begrifflichen Denkens ein besonderes Anschauungsvermögen. In der Tat kommt der Mathematiker häufig in die Lage, etwas Ähnliches zu konstatieren. Manche Begriffe haben die Eigentümlichkeit, zu anschaulichen Vorstellungen zu führen, andere wieder nicht. Wir haben die Anschauung eines Dreiecks, nicht ebenso mehr die eines Tausendecks und noch weniger die einer komplizierten Fläche höherer Ordnung. Eine Kugel im vierdimensionalen Raum, entsprechend der Gleichung

x² + y² + z² + t² = r²

ist vollends unvorstellbar. Das Anschauliche tritt in der Mathematik als etwas Akzessorisches, als ein Begleitumstand auf. Viele mathematische Wahrheiten gestatten eine doppelte Deduktion, durch Anschauung und durch Rechnung allein ohne Berufung auf die Anschauung.

Die moderne exakte Mathematik bemüht sich, die Anschauung in diesem Sinn als Erkenntnisquelle überflüssig zu machen; sie trachtet sich von der Anschauung zu emanzipieren und alle Beweise auf rein begrifflicher Grundlage zu führen. Zahlreiche Irrtümer sind auf diese Weise aufgedeckt worden. Die begriffliche Analyse ist eben schärfer, exakter als die gewöhnliche Anschauung. Beispielsweise schien nach der Anschauung jede stetig Funktion differenzierbar zu sein; die streng begriffliche Analyse lehrte erst, daß dies nicht der Fall zu sein braucht.

Das Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung liegt daher nicht so wie bei KANT. Die Anschauung bildet kein Mittel, wodurch der Begriff erst in Tätigkeit treten könnte, sondern sie stellt ein besonderes - und zwar dem begrifflichen Denken gegenüber beschränktes - Vermögen unserer Organisation vor. Wir haben die Fähigkeit, nach einiger Übung die Resultate begrifflicher Operationen wie mit einem Blick in einem Bild anzunehmen. Dieses Vermögen ist aber beschränkt. Dort wo es fehlt, kann uns das begriffliche Denken noch weiter führen. Die Anschauung in diesem Sinne bietet eine bequeme Stütze des Denkens, die es zu kontrollieren und auch zu erleichtern vermag, aber keine Bedingung, ohne deren Erfüllung ein Denken unmöglich wäre.

Diese Ausführungen wollen nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob es ein reines Denken ohne Berufung auf Anschauung und Erfahrung gäbe. Die Sache verhält sich vielmehr so, daß unsere Begriffe durch die Analyse (was hier ungefähr so viel bedeutet wie Abstraktion) entstehen. Aus diesen Elementen baut dann das begriffliche Denken wieder auf. Sein Verfahren unterscheidet sich daher von einem auf bloßer gewöhnlicher Anschauung basierten dadurch, daß es sich nicht auf den ungefähren Augenschein verläßt, sondern auf einer tiefergreifenden Analyse desselben beruth.

Das Verhältnis zwischen Begriff und Vorstellung, das bisher zu so vielen schiefen Auffassungen Veranlassung gegeben hat, erscheint damit geklärt. Die Vorstellung kann, aber muß nicht den Begriff begleiten. Der Begriff bzw. sein Zeichen stellt eine Anweisung auf die Ausführung gewisser Operationen dar, das Urteil stellt dann eine Beziehung zwischen diesen Operationen fest. (a + b) · (a - b) = a² - b² stellt wie alle durch mathematische Gleichungen ausdrückbaren Urteile fest, daß die Operationenfolge auf der linken Seite der Gleichung gleichwertig ist mit jener auf der rechten. Ganz analog steht es mit jedem anderen Identitätsurteil. "Wie ist die Hauptstadt von Österreich", will sagen, daß das Denken stets zum gleichen Ding führt, mag es den durch das Subjekt oder den durch das Prädikat vorgezeichneten Weg einschlagen. "Der Schimpanse ist ein Menschenaffe", will sagen, daß, wenn ein Tier derart beschaffen ist, daß es unter dem Begriff Schimpanse gedacht werden muß, es auch unter den Begriff "Menschenaffe" fällt, jedoch nicht umgekehrt. Ganz allgemein findet man, daß das Wesen eines jeden Begriffs darin besteht, daß bestimmte, durch das Subjekt vorgezeichnete Denkoperationen in ein bestimmtes Verhältnis (beispielsweise das der Identität oder Subsumption) zu der durch das Prädikat vorgezeichneten gesetzt werden.

Es besteht also durchaus keine Notwendigkeit, mit den im Urteil vorkommenden Worten bestimmte Vorstellungen, will sagen Vorstellungen eines bestimmten Gegenstandes oder Vorgangs zu verbinden. Die Verbindung einer Vorstellung kann, aber muß nicht hinzutreten, in ihr liegt nicht das Wesen eines Begriffs.

Es mag noch erwähnt werden, daß zwischen Begriff und Vorstellung noch das Verhältnis eintreten kann, daß die begleitende Vorstellung nur einem Teil des Begriffs entspricht. Hierzu gehören beispielsweise die Begriffe aller chemischen Stoffe. "Natrium" ist Vorstellung und Begriff zugleich, aber die Vorstellung "Natrium" umfaßt bei weitem nicht alle Merkmale des Begriffs "Natrium", sondern nur die sinnenfälligen der silberweißen Farbe, Leichtigkeit, Weichheit u. a., während das Wesen dieses Begriffs auf der Gesamtheit aller chemischen Reaktionen dieses Metalls beruth. Ähnlich verhält es sich auch mit den Naturkörpern der organischen Natur. Die Vorstellung eines Lebewesens erschöpft noch lange nicht dessen Begriff. Jedes Urteil über ein solches kommt durch die Formel aufzulösen: Wenn ein Ding unter den Begriff dieses Wesens fällt, so gilt von ihm auch das und jenes.

Ich glaube, daß diese Auffassungsweise vom Wesen des Begriffs sich in allen Fällen durchführen läßt, und daß sie durch eine Klarstellung des Verhältnisses zur Vorstellung genügend Licht verbreitet über das Wesesn des Begriffs, womit wieder ein wichtiger Teil der Logik die ihm bisher noch mangelnde Klärung erfährt.
LITERATUR - Hans Kleinpeter, Vom Wesen des Begriffs, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, 33. Jhg., Neue Folge VIII
    Anmerkungen
    1) Paul Dubois-Reymond, 1890
    2) Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, dritte Auflage, Seite 278
    3) Mach, Wärmelehre, Seite 419.
    4) Erdmann, Logik, erste Auflage, Seite 184.
    5) Sigwart, Logik I, dritte Auflage, Seite 324.
    6) Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Seite 278.
    7) Analyse der Empfindungen, dritte Auflage, Seite 245.
    8) ebd. Seite 248
    9) Wärmelehre, Seite 416
    10) Wärmelehre, Seite 420
    11) Erkenntnis und Irrtum, Seite 126f.
    12) Heinrich Rickert, "Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [rick7a]", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, 1894, Seite 277
    13) Martin Keibel, Die Abbildtheorie und ihr Recht in der Wissenschaftslehre, Zeitschrift für immanente Philosophie, Bd. 3, 1898
    14) Heinrich Gomperz, Zur Psychologie der logischen Grundtatsachen, Wien 1897
    15) Ribot, L'evolution des idées générales, Paris 1897.
    16) Adolf Stöhr, Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung, Wien 1905, Seite 3