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HERMANN LÜDEMANN
Die Verwendung der Werturteile
in der Philosophie

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"Es erhebt sich die Frage, ob die wertfreie Erfahrungswissenschaft wirklich ein absolutes Ideal der Erkenntnis ist. Tatsache ist, daß sie dies keineswegs ist, vielmehr gerade nach Kant diejenige Art des Erkennens darstellt, zu der uns lediglich die Lage nötigt, in die wir als Erkennende durch das besondere Wesen unserer Anschauungsformen Raum und Zeit versetzt sind. Die Kategorien, wie Kant sie will, sind ja in der Tat lediglich diejenigen Urteilsweisen, welche einer Logik entsprechen, die zum Zweck einer erkennenden Ordnung eines rein quantitativ vorzustellenden, aller Qualitätswerte beraubten Erkenntnismaterials in Anwendung zu bringen ist. Das aber ist keine absolute Logik, sondern die Logik angewandt auf eine besondere Lage und darum die Logik im Dienst eines besonderen Bedürfnisses des Subjekts, des Bedürfnisses nach endgültiger Orientierung innerhalb der zeiträumlichen Welt der Erscheinung."

Von den in unserem ersten Teil gewonnenen Ergebnissen aus haben wir nunmehr die Verwendung der Werturteile im Erkennen, wie dieselbe bei einer Reihe von Philosophen und bei einer Reihe von Theologen geübt wird, kritisch zu beleuchten.

Die doppelte Gegnerschaft, mit der wir es zu tun bekommen werden, ist in unseren bisherigen Ausführungen zwar tatsächlich ziemlich gleichmäßig berücksichtigt; ausdrücklicher aber ist allerdings mehr auf die theologische als auf die philosophische Gegnerschaft Bezug genommen - aus dem einfachen Grund weil unser Standpunkt von dem der Philosophen weniger abweicht als von dem der Theologen. Sind zwar beide Teile uns entgegengesetzt, sofern sie jede Metaphysik als wissenschaftlich unmöglich verwerfen, so sympathisieren wir doch mehr mit den kritischen Motiven der Philosophen als mit den unkritischen, eine Metaphysik auf außerwissenschaftlichen Wegen doch erstrebenden, in Wahrheit aber nur dogmatisch voraussetzenden Zirkelgängen der Theologen.

Insbesondere herrscht bezüglich der Werterkenntnis als solcher zwischen uns und den Philosophen darin Übereinstimmung, daß es sich für die ernste Wissenschaft nur um die Erkenntnis von Normwerten handeln kann, daß den Bedürfniswerten und -wertungen freilich eine eingehende Beachtung sowohl tatsächlich von großen Komplexen empirischer Wissenschaften geschenkt werde, als auch von der Philosophie zum Zweck eingehender Kritik zu schenken sei, daß aber eben diese Kritik das Zurückgehen von diesen Bedürfniswerten auf die Normwerte fordert, und hier nur in einer  a priori  begründeten Evidenz ein wissenschaftlicher Abschluß gefunden werden kann.

Sofern es sich dagegen um das Verhältnis der Werturteile zur Seinserkenntnis handelt, tritt ein dreifacher Gegensatz zwischen uns und den betreffenden Philosophen zutage. Allerdings wollen diese nicht etwa die Werturteile im Dienst von Seinserkenntnis verwenden, aber sie wollen sich dafür bei erlangter Werterkenntnis befriedigen; einesteils indem sie bezüglich des ganzen Bereichs der Sinnlichkeit sich mit  der  Erkenntnis begnügen, wie sie in ihrer  Wertung  desselben schon liegt, alle weitergehende  Seins erkenntnis auf diesem Gebiet aber gerade der "wertfreien" Naturforschung überlassen; andernteils indem sie bezüglich der "Welt der geistigen Werte" nur Werterkenntnis, nicht aber auch Seinserkenntnis für erreichbar halten und auszuüben glauben.

In diesem Stehenbleiben bei einer Werterkenntnis liegt dann als selbstverständlich eingeschlossen schon der zweite Gegensatz, nämlich der zu dem von uns durchgeführten Gedanken, daß wirkliche, objektiv gültige Werterkenntnis nur aufgrund von Seinserkenntnis möglich ist.

Endlich beruth wieder dieser Gegensatz auf der dritten Differenz, welche darin besteht, daß die betreffenden Philosophen den Wertbegriff in einer Art verselbständigen, welche davon absieht, daß er lediglich Qualitätsbegriff ist, während wir daran festhalten, daß er nur dies ist und daher jederzeit ein Sein voraussetzt, dem die von ihm ausgedrückte Qualität anhaftet. Ihnen gilt der "Wert" nicht als ein Seiendes, sondern nur als ein "Sein-sollendes" "Geltendes", während wir hierin nur den dem Subjekt gegenüber hervortretenden Wert der Norm ausgedrückt sehen können, der in ihrem unendlichen Sein wurzelt, das dem Subjekt als endlichem, in der Entwicklung begriffenem Sein als Grund, Kraft und Direktive immanent ist; ein Gesichtspunkt dessen Unvermeidlichkeit in allen Ausführungen der Philosophen hervortritt, wo sie in der Betonung des "absoluten Charakters" der Normen, wie in der Betonung der axiomatischen Evidenz, mit der er sich dem Bewußtsein aufdrängt, mit uns zusammentreffen.

"Absolute Geltung" können nicht Werte haben, die, nach subjektiven Interessen bemessen, immer auch nur relativ bleiben, sondern nur Werte, welche dem Subjekt aus dem mit Evidenz erkannten Wesen und Inhalt der Normen als objektive entgegentreten. Die dafür vorauszusetzende Erkenntnis der Normen steht und bewegt sich darum bereits auf dem Pivot [Angelpunkt - wp] derjenigen Metaphysik, welche allein nötig, aber auch möglich ist: der Metaphysik des Geistes. Was die betreffenden Philosophen hindert, zu sehen, daß sie mit ihrer Erörterung "absoluter Werte" tatsächlich eine Normerörterung und darum bereits Metaphysik treiben, ist die ihnen wie auch den mit ihnen verwandten Theologen meist eigene Unsicherheit, mit der sie der Frage gegenüber stehen, wo diejenige Realität zu suchen ist, die allein Gegenstand metaphysischer Erkenntnis sein kann; insbesondere, ob es sich auch bezüglich der "Natur" um Realität, oder nur um Phänomene handelt, woraus sich das fernere Schwanken darüber ergibt, ob es sich in "Natur" und "Geist" um zwei nebeneinanderstehende "Wirklichkeiten", oder um zwei nebeneinanderstehende Erscheinungsweisen eines verborgenen Dritten, des eigentlich Wirklichen handelt. Abgesehen davon, daß jede auch nur andeutungsweise Entscheidung dieser Fragen immer bereits eine latente Metaphysik voraussetzt, kann jedoch hier wohl kurz darauf hingewiesen werden, daß sowohl die Annahme von zwei Wirklichkeiten, wie auch die Herabsetzung des Geistes zu einer Erscheinungsweise neben der der Natur zu metaphysischem Nonsens führt; und da es voreilig ist, für diesen Nonsens die Metaphysik als solche verantwortlich zu machen und darum wissenschaftlich in Abgang zu dekretieren, da doch dieser Nonsens einfach wegfällt, wenn sich die Metaphysik, - unter Rückverlegung der "Natur" in die geistige Realität als phänomenales Produkt der Wechselwirkung geistiger Faktoren mit und füreinander, - zur reinen Metaphysik des Geistes gestaltet.

Wir präzisieren hiernach vorläufig unser Verhältnis zu unserer doppelten Gegnerschaft kurz in folgenden Thesen:
    1. Beide Teile, die betreffenden Philosophen wie die betreffenden Theologen, sind einig über die wissenschaftliche Unmöglichkeit von Metaphysik.

    2. Die Philosophen suchen nach einem Ersatz für abschließende metaphysische Überzeugungen und finden ihn einerseits im mechanistisch-kausalen Weltbild der "wertfreien" Naturforschung, andererseits in der Erkenntnis letzter und höchster "Werte".

    3. Die Theologen suchen einen solchen Ersatz in dem auf außerwissenschaftlichem Weg erlangten und gesicherten Besitz von Glaubensüberzeugungen bezüglich letzter und höchster Realitäten, von welchem Besitz aus sie die mechanistisch-kausale Natur als untergeordnete Realität, als Welt der Mittel für die Zwecke des Geistes betrachten.

    4. Beide Teile fassen für ihre so bemessenen Ziele Fuß auf der psychischen Tatsache der vom menschlichen Subjekt nach in ihm selbst liegenden Richtpunkten, den Bedürfnissen, vollzogenen Wertungen.

    5. Die Philosophen unterscheiden unter diesen Bedürfniswertungen scharf die bloß relativen von den absoluten, sehen aber in letzteren nur den (für uns allein erfaßbaren) Reflex eines unerkennbaren Seins im subjektiven Erleben.

    6. Die Theologen suchen dagegen die Bedürfniswertungen überhaupt als zuverlässigen Aufschluß über Existenz und Beschaffenheit transzendenter Realitäten geltend zu machen.

    7. Aber dabei entgeht den Philosophen, daß sie mit der Erörterung der absoluten Werte bereits in metaphysischer Seinserkenntnis begriffen sind.

    8. während es den Theologen entgeht, daß sich aus Bedürfniswerturteilen überhaupt keine Seinserkenntnis ableiten läßt und auch aus Normwerturteilen nur scheinbar; daß sie vielmehr die Seinserkenntnis, welche sie suchen, schon voraussetzen, wenn sie überhaupt Werturteile für möglich halten, die auf eine Seinserkenntnis führen; daß sie sich daher in einem Zirkel bewegen.

    9. Beiden Teilen entgeht mithin, daß sich eine Wertbestimmung überhaupt nur aus einer Seinsvorstellung, zumal ber als wirklich allgemeingültige nur aus einer Seinserkenntnis ableiten läßt.

    10. Tatsächlich erstreben auch die Philosophen die Werterkenntnis aus der Seinserkenntnis und sind daher meines Erachtens auf einem richtigeren Weg.

    11. Die Theologen dagegen erstreben die Seinserkenntnis durch Werterkenntnis; sie kommen eben deshalb nicht mit Sicherheit zum Ziel und suchen diese Sicherheit dann schließlich auch nur in einer äußeren Offenbarung, über deren Erkenntniskriterien sie sich jedoch wiederum in größter Unklarheit befinden.
Treten wir hiernach in eine Auseinandersetzung mit den von beiden Seiten vorliegenden Äußerungen ein, so müssen wir uns freilich mit einer beschränkten Auslese begnügen. Auf philosophischem Gebiet handelt es sich für uns besonders um den von WINDELBAND und einigen ihm näherstehenden Philosophen vertretenen Standpunkt, auf theologischer Seite um die Gruppe der nach RITSCHL sich nennenden Theologen, unter diesen aber nicht so sehr um seine ursprünglichen Anhänger, sondern mehr um einige neuere Vertreter seines Standpunktes.


Windelband

WINDELBAND vertritt in seinen "Präludien" (zweite Auflage 1907) folgende Anschauungsweise:

Die Philosophie ist in Gefahr zu versanden, einerseits durch die Abzweigung der Spezialwissenschaften, sogar der Psychologie, andererseits durch die Erkenntnis von der Unmöglichkeit der Metaphysik, wenn sie sich nicht dadurch selbständige Aufgaben rettet, daß sie sich als Erkenntnistheorie, als Wissenschaft vom Erkennen, Wissenschaftslehre über die Spezialwissenschaften stellt, und so anstelle einer Metaphysik der Dinge zu einer Metaphysik des Wissens wird.

Und da dem Erkennen ein Wert zukommt, und den Resultaten unseres Erkenntnisbemühens ein Wert - der Wahrheitswert - entweder zu- oder abzusprechen ist, so kann die Erkenntnistheorie und Logik den in Ethik und Ästhetik ohnehin bestehenden "Wertwissenschaften" zugezählt, die Philosophie daher überhaupt als "Wertwissenschaft" definiert werden.

Der Begründer dieser neuen Form der Philosophie ist KANT durch seine drei Kritiken, als die Wissenschaften von den logischen, ethischen und ästhetischen Werten. Die "Kritik der reinen Vernunft" gerät bei WINDELBAND dadurch unter diese Betrachtungsweise, daß er KANT die Absicht vindiziert, unter den Begriffen, denen das vorwissenschaftliche Denken das Mannigfaltige der primitiven Erfahrung unterordnet, eine "Auswahl" zu treffen, und zwar nach dem Maßstab ihres Wahrheitswertes, wodurch diejenigen ausgesondert werden, denen für uns eine unmittelbare Evidenz innewohnt, so daß sie imstande sind, das unter sie gefaßte Besondere des Erfahrungswissens in einer Weise näher zu bestimmen, daß diesen Näherbestimmungen der "Wert" allgemeiner und notwendiger "Geltung" zuwächst, womit sie den Charakter wissenschaftlicher und endgültiger Aussagen über die Gegenstände unseres Erfahrungsbereiches und die unter ihnen obwaltenden Beziehungen bekommen. Diese Begriffe sind die "Kategorien", und zwar vor allem die Kategorien der Qualität (Affirmation und Negation) und der Relation (Substantialität und Kausalität). Sie alle sind "Wertbegriffe" und die sie aussagenden Urteile sind Werturteile ("Beurteilungen), und zwar, über die natürliche, lediglich psychologisch-individuell bedingte Assoziation unserer Vorstellungen charakteristisch hinausgreifend,  schon  die Kategorien der Qualität, sofern die Affirmation die im "Urteil" gegebene Verbindung von Subjekt- und Prädikatvorstellung "billigt", die Negation aber sie "mißbilligt". Diese Bestimmungen sind nach WINDELBAND von "höchster Wichtigkeit". Die Kategorien der Relation aber sagen aus, daß die Vorstellungsverbindungen von Subjekt und Eigenschaft, von Ursache und Wirkung nicht den Charakter der subjektiven Willkür oder der zufälligen Assoziation, sondern den Charakter der Notwendigkeit tragen und daher apodiktische [sichere - wp]  Geltung  haben.

Diese Werturteile aber beziehen sich alle nur auf das Ziel des Erkennens. Sie sagen aus, daß dieses Erkennen ein richtiges, durchweg zutreffendes ist. Aber dieses Erkennen ist gerade als richtiges zugleich dasjenige, welches, als auf physische und psychische Naturobjekte und -Vorgänge gerichtet, eben deshalb auch ansich ein schlechthin  "wertfreies"  ist und sein muß, weil im Bereich des ganzen, unserer inneren und äußeren Anschaung sich darbietenden Erfahrungsmaterials Wertabstufungen fehlen und alle Wertvorstellungen, welche das naive Interesse des vorwissenschaftlichen Anschauens hier einmengt, gerade um der richtigen Erkenntnis dieses Materials willen eliminiert werden müssen. Und KANT> hatte nach WINDELBAND in seiner "Kritik der reinen Vernunft" auch nur dieses "wertfreie" Naturerkennen als das allein wissenschaftlich wertvolle im Auge und wollte ihm die Bahn freimachen durch den Aufweis seiner ansich evidenten (und deshalb wahrheitswertvollen) Prinzipien oder Kategorien. Daher hat auch vor allem die Naturforschung ihm ihre erkenntnistheoretische Begründung und damit ihre Legitimation als Wissenschaft zu verdanken.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich nun aber neben der Naturwissenschaft ein großer Komplex anderer Wissenschaften ausgestaltet, welcher einen ebenso großen Anspruch auf erkenntnistheoretische Anerkennung und Bearbeitung hat, obwohl er sich von jener, der wertfreien Wissenschaft, gerade dadurch unterscheidet, daß er durchaus auf die Erkenntnis von Werten gerichtet ist: der Kreis der Geschichtswissenschaften. Er hat ein Material zu beschreiben und zu erklären, welches vorzugsweise dem psychischen (menschlichen) Bereich angehört, entstammt, oder sich darauf bezieht, und zwar nicht nur in der Art, wie es als psychisches Naturgeschehen der Individualpsychologie zur Untersuchung vorliegt, sondern wie es durch die Lebensinteressen der  Gesellschaft  ins Dasein gerufen wird. Diese Interessen äußern sich in  "Bedürfnissen",  welche bezüglich der Lebensbedingungen, unter denen die Menschheit existiert,  Werturteile  hervorrufen, deren Objekte für das menschliche Bewußtsein dadurch zu "Werten" werden.

Als Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens sind diese Bewertungen alle gleichberechtigt und unterfallen gleichwohl der prüfenden Frage, ob sie oder welche von ihnen  mit Recht  vollzogen werden, einerlei, ob sie es nun zu allgemeiner Geltung bringen oder nicht und diese Frage stellt die  Philosophie.  Um sie richtig beantworten zu können, muß sie wiederum  diese Wertungen  einer sichtenden "Auswahl" unterwerfen, und für diese muß sie nach einem Maßstab suchen. Sie findet ihn aber nur, wenn sie die Frage nach  absoluten  Werten erhebt, und diese ergeben sich ihr wieder nur, wenn sie fragt, welche  Werte  uns als so geartet unmittelbar evident sind, daß wir den  Anspruch  erheben, sie vom "normalen Bewußtsein" jedes Menschen anerkannt zu sehen. Diese Frage soll dann auf die in unserem Bewußtsein liegenden  Normen  führen, welche ihre Verwirklichung von uns fordern und uns bezüglich jeder unserer wesentlichen Geistesbetätigungen zeigen, was wir "sollen". Indem wir uns als freie Persönlichkeiten vor diesen so gefundenen Normen beugen, schaffen wir "als autonome Vernunft" "frei" die ihnen entsprechenden "Werte" und unterstellen uns damit bewußt einem Gesetz, welches sich zwar durchaus wie im Verlauf eines Naturgeschehens in uns vollzieht, aber auf diese Weise seine Macht in unserem Geistesleben nur auszuüben vermag, oder sich den Ursachen, welche den Ablauf unseres psychischen Lebens gesetzmäßig bewirken und regeln, nur einfügt, wenn wir durch die Verantwortlichmachung unserer selbst wie anderer in uns wie in ihnen das  Normbewußtsein  wecken, welches als mächtigstes Motiv das richtige Wollen und Handeln hervortreibt.

Dieses Normbewußtsein ("Normalbewußtsein") hat nun die Philosophie als  Wissenschaft  von den logischen, ethischen und ästhetischen Werten auszugestalten und zu entwickeln und behauptet so neben den wertfreien "Gesetzeswissenschaften" ihre selbständige Stellung als  Wertwissenschaft,  indem sie aus dem von den Geschichtswissenschaften zu Gebot gestellten empirischen Material als "kritische Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten" ein "System der allgemeingültigen Werte", "ein System von Normen, welche objektiv gelten" herausarbeitet, welches das höchste und letzte Ziel wissenschaftlicher Forschung ist.

Indem sich so zwei Reihen von Vernunfttatsachen herausstellen, die einander als unmittelbar evident, unbeweisbar und unwiderlegbar gleichstehen: die  Gesetze  [winban} und die  Normen,  die letzten und höchsten Regeln des physischen und geistigen Geschehens, erhebt sich die Frage nach einer über ihnen stehenden höchsten Einheit - die Frage der Metaphysik, welche sich als unergründliches Geheimnis unserer Kompetenz entzieht.

So klar sich aus dieser Konstruktion erhellt, daß die Philosophie hier um der für notwendig erachteten Verwerfung der Metaphysik willen aus einer Seinswissenschaft, die sie bisher hat sein wollen, in eine Wertwissenschaft umgewandelt werden soll - so sehr dürfte sich doch fragen, nicht bloß ob es in der hier vorgeschlagenen Weise, sondern auch ob es überhaupt geschehen kann.

Und diese Frage erhebt sich wohl mit besonderer Dringlichkeit angesichts des Versuchs von WINDELBAND, KANTs Erkenntnistheorie, zu der er sich, natürlich in seiner Auffassung derselben, bekennt, als eine "Wertwissenschaft" aufzufassen und darzustellen, um sie so den übrigen "Wertwissenschaften" Logik, Ethik, Ästhetik anreihen, und die Philosophie insgesamt als "Wertwissenschaft" definieren zu können.

Als das Charakteristische dieses Versuchs müssen wir von vornherein auf das Entschiedenste die Tendenz hervorheben, die Begriffe "Norm" und "Wert" in einer Art zu identifizieren, welche, gerade weil sich beide Begriffe immer wieder dagegen sträuben, der Klarheit der Auseinandersetzung wenig dienlich ist. Diese Identifizierung und damit zugleich die gesamte Ausführung WINDELBANDs überhaupt gerät meines Erachtens in einen Konflikt mit der einfachen Tatsache, daß wohl Werte durch Werturteile nach Normen bemessen, aber nicht Normen durch eine psychologische Analyse gegebener Werturteile gefunden werden können; denn eine solche Analyse hat eben die Kenntnis der Normen schon zur Voraussetzung und kann die betreffenden Werturteile nur danach unterscheiden, ob sie bereits am Maßstab der Normen gebildet sind oder nicht. Und auch der Wert der Normen selbst kann nur nach Maßgabe ihres eigenen Wesens und Inhalts geschätzt werden; denn offenbar hängt der Wert der Normen an ihrer inhaltlichen Wahrheit, nicht aber ihre Wahrheit an ihrem Wert; wäre letzteres der Fall, so müßte dieser Wert nach einem anderen Maßstab bemessen sein, und dieser könnte dann nur im Bedürfnis des Subjekts liegen, mithin ein sehr relativer Maßstab sein. In verschiedener Weise aber zeigt sich, daß WINDELBAND in der Tat auf diesen Ausweg hingedrängt wird, wenn er zeigen will, daß die Normen durch Werturteile aus Werturteilen zu erkennen sind.

Eben dies soll nun zunächst der Weg sein, auf welchem KANT zur Entdeckung der Kategorien gelangt ist. Nach WINDELBAND hat er sie nämlich dadurch gefunden, daß er die im vorwissenschaftlichen Bewußtsein vorgefundenen natürlichen Vorstellungsassoziationen einer "wertenden Auswahl" unterwarf und bei dieser Sichtung diejenigen Verbindungsweise aussonderte, deren "Wahrheitswert" als evident einleuchtet. Schon hierin läge, meines Erachtens, ein Hysteron-Proteron [das Spätere vor dem Früheren - wp]. Denn jenen Verbindungsweisen kann man einen Vorzug vor den andern und damit einen "Wert" erst beilegen,  nachdem  man festgestellt hat, daß sie diejenigen Verbindungen von Vorstellungen leisten, welche im Wesen der Dinge, bzw. nach KANT, im Wesen der menschlichen Geistesanlage, dem Verstand, begründet sind. Nur solchen Verbindungsweisen von denen uns dies mit unmittelbarer Evidenz einleuchtet, legt KANT vor allem "objektive Realität", d. h. normative Geltung für den Aufbau unserer Erfahrungswelt bei. Daß sich an dieses Ergebnis dann bei ihm auch die weitere Reflexion hätte knüpfen können, es sei ihnen auch der der Wahrheit anhaftende objektive  Wert  beizulegen, ist gewiß. Aber diese Reflexion würde so selbstverständliche Folgerungen aus dem festgestellten Wesen und Wirken der Kategorien gezogen haben, daß KANT sie gar nicht vollzieht, am allerwenigsten aber sie innerhalb seiner "Deduktion der Verstandesbegriffe" als ausschlaggebendes und leitendes Motiv hervortreten läßt.

Von einem anderen Gesichtspunkt aus aber frägt es sich allerdings noch sehr, ob sich an das Wesen der kantischen Kategorien, als der Kategorien gerade des  empirischen  Erkennens, überhaupt eine Reflexion knüpfen läßt, die ihnen einen  absoluten  Wahrheitswert beilegt. Sie sollen ja nämlich das logische Mittel sein, durch dessen Anwendung es allein gelingt, das Ideal einer vollkommen "wertfreien" Wissenschaft zu verwirklichen. Und hier erhebt sich die Frage, ob die "wertfreie" Erfahrungswissenschaft wirklich ein absolutes Ideal der Erkenntnis ist. Die Tatsache, daß sie dies keineswegs ist, vielmehr gerade nach KANT diejenige Art des Erkennens darstellt, zu der uns lediglich die Lage nötigt, in die wir als Erkennende durch das besondere Wesen unserer Anschauungsformen Raum und Zeit versetzt sind - diese Tatsache hat vielleicht auch bei WINDELBAND als latenter Grund gewirkt, daß er es möglich fand, die Beurteilung der Kategorien als Werte ihrer Beurteilung als Normen voraufgehen und über ihre "Auswahl" entscheiden zu lassen. Denn die Kategorien, wie KANT sie will, sind ja in der Tat lediglich diejenigen Urteilsweisen, welche einer Logik entsprechen, die zum Zweck einer erkennenden Ordnung eines rein quantitativ vorzustellenden, aller Qualitätswerte beraubten Erkenntnismaterials in Anwendung zu bringen ist. Das aber ist keine absolute Logik, sondern die Logik angewandt auf eine besondere Lage und darum die Logik im Dienst eines besonderen  Bedürfnisses  des Subjekts, des Bedürfnisses nach endgültiger Orientierung innerhalb der zeiträumlichen Welt der Erscheinung. Das Werturteil, welches die Kategorien so hoch einschätzt, hat also seinen Ursprung wie seinen Maßstab in der Tat nicht in einem ihnen zukommenden Charakter absoluter Normalität, sondern abseits davon in einem  Bedürfnis  des zum Erkennen unter zeiträumlichen Bedingungen genötigten Subjekts. Von diesem Bedürfnis aus ergeht also über die Kategorien das Werturteil, daß sie die Urteilsweisen sind, welche das unter jenen Bedingungen allerdings logisch erforderliche wertfreie Erkennen allein garantieren. Ein solches Bedürfniswerturteil könnte allerdings, als lediglich im Subjekt wurzelnd, der Erkenntnis der Sache selbst vorangehen. Doch hat es deshalb gleichwohl bei der Auffindung der Kategorien keine leitende Rolle gespielt, weil, wie die schwierigen Erörterungen in KANTs  Kritik  zur Genüge beweisen, schon die Konstatierung des betreffenden Bedürfnisses selbst eine solche Fülle tiefeindringender sachlicher Erwägungen erforderte, daß ein selbständiges Hervortreten jenes Werturteils als leitenden Motivs nicht wohl möglich war.

Während nun aber auch so die Kategorien zunächst nur  Gegenstände  von Werturteilen gewesen sein würden, geht WINDELBAND vielmehr noch dazu fort, in ihnen  selbst Werturteile  zu sehen, deren Gegenstände die natürlich, bzw. bloß psychologisch bedingten Vorstellungsassoziationen des vorwissenschaftlichen Bewußtseins sein soll, und dieser Gesichtspunkt verdrängt sogar den ersteren bald so sehr, daß WINDELBAND ihm eine ganz besondere Bedeutung beilegen will. Und zwar kommt dies vornehmlich in einer Betrachtung der Qualitäts-Kategorien zum Ausdruck. Die Kategorien der Affirmation [Zustimmung - wp] und Negation will WINDELBAND nämlich deshalb als  Werturteile  betrachtet wissen, weil jene die "im Urteil" gegebene Verbindung von Subjekts- und Prädikatsvorstellung "billigt", diese sie "mißbilligt". Allein, wie kann die bloße assoziative Zusammenstellung zweier Vorstellungen - und etwas weiteres bleibt ja nach Abzug der affirmativen oder negativen Kopula nicht übrig - überhaupt schon als "Urteil" bezeichnet werden, welches den Gegenstand von Billigung oder Mißbilligung bilden könnte? Ein Urteil entsteht doch überhaupt erst, wenn durch Hinzutritt der Kopula die eine Vorstellung den Charakter als Subjekt, die andere den als Prädikat eines Urteils  empfängt,  und diese Kopula kann, wo es sich bloß um die Qualität handelt, nur affirmativ oder negativ (oder unendlich) sein. Sowohl die Bejahung wie auch die Verneinung des Zusammenpassens von zwei Vorstellungen als Subjekt und Prädikat kann den Wahrheitsinhalt im kategorischen, assertorischen [als wahr behauptet - wp], apodiktischen [als notwendigerweise wahr behauptet - wp] Urteil bilden, der  einfach behauptet  wird. Von einem Werturteil, von "Billigung" oder "Mißbilligung" eines von einem affirmativen oder negativen Urteil noch zu unterscheidenden anderweitigen "Urteils" ist dabei gar keine Rede, denn eine bloß assoziative Zusammenstellung von zwei Vorstellungen ist, wie gesagt, noch kein "Urteil". Vergeblich bemüht sich WINDELBAND daher in unseren Urteilen, von denen er zugestehen muß, daß sie immer im vorwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Denken gleich affirmativ oder negativ gebildet sind, "Urteil" und "Beurteilung" zu unterscheiden und zu supponieren [unterstellen - wp] daß das "Urteil eigentlich nur in der Frage oder im problematischen Urteil gegeben ist". Wenn es so gestaltet wird, so hat das stets seine besonderen Gründe, sonst aber tritt das Urteil sofort in bestimmterer Gestalt als Behauptung auf, und zwar gerade im vorwissenschaftlichen Denken mit der ganzen Sicherheit der Naivität. Ob eine solche Behauptung dann zu billigen oder zu mißbilligen ist, darüber pflegt erst eine sachliche Kritik zu befinden; und einer solchen Kritik sind überhaupt alle Urteile ausgesetzt, ihre logische Form mag was auch immer sein. Wir können daher die Erwägungen "voluntaristischer" Art, welche manche neuere Logiker an die Kategorien der Qualität geknüpft haben, nicht als berechtigt erachten.

Werden also die Kategorien weder als Gegenstände von Werturteilen entdeckt, noch selbst als Werturteile über primitivere Vorstellungsverbindungen vollzogen - sind sie vielmehr die in unserem geistigen Wesen gelegenen und deshalb für uns erkennbaren logischen Normen, denen all unser Erkennen - und zwar keineswegs bloß das "wertfreie" der Naturwissenschaft - unterstellt ist, so ist auch die Erkenntnistheorie nicht "Wertwissenschaft", sondern Normwissenschaft, welche eine Seinserkenntnis ausübt, die aller sonstigen Seinserkenntnis deshalb legitim präjudiziert, weil sie auf unserer Selbstanschauung beruth, eine Normwissenschaft, aus welcher sich fordernde Normwerturteile, denen alle Erkenntnisbemühung unterliegt,  erst ergeben. 

Anders verhält es sich aber auch mit den übrigen "Wertwissenschaften" nicht, welche sich nach WINDELBAND durch eine "wertende Sichtung" eines durch die Geschichtswissenschaft zu Gebote gestellten Rohmaterials herausgestalten sollen.

Dieses Rohmaterial sind nämlich, wie wir nach unseren eigenen Ausführungen im ersten Teil und unter Berufung auf den von WINDELBAND selbst gebrauchten Ausdruck kurz sagen dürfen, die im menschlichen Gemeinschaftsleben vorwissenschaftlicher Art spontan hervortretenden bloßen  "Bedürfniswerturteile"  über Kulturfaktoren und Kulturprodukte. Wir erkennen die Ausführungen WINDELBANDs und seines Anhangs über die Leistung der Geschichtswissenschaften, die ohne selbst über Wahrheit und Recht dieser Bedürfniswerturteile endgültig entscheiden zu wollen oder zu können, ihrerseits diese Wertungen und ihre Konsequenzen als vorliegende kulturgeschichtliche Tatsachen lediglich induktiv konstatieren, beschreiben und kausal (pragmatisch) erklären - wir erkennen diese Ausführungen als durchaus richtig und außerordentlich klärend an, und werden ein doch nötiges näheres Eingehen auf sie hier noch verschieben.

Wenn nun aber die Philosophie ihrerseits die Aufgabe haben soll, diese Werturteile wieder zum Gegenstand von "sichtenden" Werturteilen zu machen, und wenn daraus sich die "Wertwissenschaften" der Logik, Ethik und Ästhetik herausgestalten sollen, so fragen wir wieder, wie diese letzteren Werturteile überhaupt möglich sein sollen, ohne daß ihnen die Erkenntnis der über den bloßen Bedürfnissen liegenden Maßstäbe, nämlich der Normen,  vorausgeht,  und ohne daß mit Hilfe dieser Erkenntnis auch die "ausgewählten" Werturteile selbst als solche erkannt werden, die schon ihrerseits nur unter dem Einfluß einer vorausgehenden Normerkenntnis möglich gewesen sind.

Das Eigentümliche der Art, wie WINDELBAND das Herantreten der Philosophie an ihre Aufgabe der "Sichtung" jenes Materials, "jenes Chaos individueller oder tatsächlich allgemeiner Werte" schildert, besteht nun aber darin, daß er es zunächst als ein rein empirisches Konstatieren von gewissen psychologischen Merkmalen beschreibt, durch welche sich einige jener Werturteile von den übrigen abheben sollen, und erst sukzessive hervortreten läßt, daß diese Werturteile innerlich und sachlich ganz anders motiviert sind als der zurückbleibende Rest.

Wählen wir als Beispiel fürs erste einmal die Erörterung im Aufsatz "Was ist Philosophie?".

Hier wird zunächst die Aufgabe der Philosophie sehr verheißungsvoll und selbstvertrauend dahin bestimmt, daß sie als "die Wissenschaft von den notwendigen und allgemeingültigen Wertbestimmungen" fragt, ob es ein Denken, ein Wollen und Handeln, eine Kunst, ein Anschauen und Fühlen  "gibt",  das bzw. den Wert der Wahrheit, der Güte, der Schönheit  "besitzt".  Bei dieser Ausdrucksweise drängt sich dem Leser der Gedanke auf, daß dies Probleme einer  Seins erkenntnis sind, sofern sie Fragen nach objektiv bestehenden Werten stellen, die nur beantwortet werden können,  nachdem  die Wissenschaft erkannt hat, daß es ein Denken usw. gibt, welches dem  Wesen  der Wahrheit der Güte, der Schönheit entspricht.

Dieser Gedanke samt der besonderen Beziehung auf Wahrheit, Güte, Schönheit tritt aber dann zunächst wieder ganz zurück, und es wird erst einmal konstatiert, daß die Philosophie "ihre Kritik auf  sämtliche allgemeingültige  Wertbestimmungen des vernünftigen Geistes ausdehnt", wobei jene Werturteile über wahr, gut und schön vorläufig wieder unterschiedslos mit denen über angenehm und unangenehm zusammengestellt und ferner alle zu kritisierenden Werturteile auf das Deutlichste als solche beschrieben weren, die als Wert bestimmungen  vom Subjekt ausgehen, wobei die Kriterien "Zwecke" sind, deren subjekte Herkunft unzweifelhaft ist, weil sie "gültig sind nur für den, der sie anerkennt". Wir erkennen in der Beschreibung des Werturteils überhaupt, welche WINDELBAND gibt, keine andere Form des Werturteils wieder, als die, welche wir in unserem ersten Teil als apriori-analytisches Bedürfniswerturteil bestimmen mußten und dann wird auch geradezu der "Bedürfniszustand" des Subjekts als Quelle des Werturteils bezeichnet; es werden die Zwecke des Individuums mit seinen Bedürfnissen unmittelbar zusammengestellt; ebendaselbst ist ferner von der "spezifischen Gestaltung" die Rede, "die  wir  den höchsten Zwecken gegeben haben", wobei die  Relativität  all dieser Wertbestimmungen noch dadurch zweifellos wird, daß sie nur geschichtlich aus der "Bewegung der Gesellschaft" zu erklären sein sollen.  So wäre also das Material beschaffen,  das der Philosophie zur Sichtung vorliegt: durchwegs subjektive und relative Bedürfniswerturteile. - Des weiteren aber treten nun immer deutlicher Symptome hervor, die auf eine Umwandlung dieser Vorstellung vom betreffenden Material hindeuten. Während vorher die "Allgemeingültigkeit" der Werturteile ein Zurücktreten des Individuums hinter die Gesellschaft zu bedingen schien, treten nun die Individuen wieder neben der Gesellschaft als werturteilend auf, und dann wird vollends versichert, wir seien "unerschütterlich überzeugt, daß es gewisse Beurteilungen gibt, welche absolut gelten, auch wenn sie gar nicht oder nicht allgemein tatsächlich zur Anerkennung gelangen". Fällt hier schon auf, daß nicht gesagt wird, diese "gewissen Beurteilungen" seien  unter  den bisher besprochenen vorhanden, so wird völlig klar, daß die bisher beschriebene Gattung von Werturteilen im Begriff steht verlassen zu werden, wenn die jetzt in Betracht gezogenen "absolut gelten" auch abgesehen von allgemeiner Anerkennung. Gleichwohl werden sie unter obige "sämtliche" Werturteile noch einmal zurückversetzt durch den Hinweis, daß auch sie tatsächlich bloß relativer Natur sein können, wie alle anderen auch. Dafür sollen sie sich aber dadurch von den übrigen abheben, daß sie mit dem  Anspruch auf allgemeine Anerkennung  auftreten und sich hierdurch namentlich von den hedonischen Werturteilen über "angenehm oder unangenehm", die nur auf Lust oder Unlust gegründet sind, unterscheiden; denn diese letzteren sollen nur individuelle Geltung beanspruchen.

Allein diese Merkmale genügen offenbar nicht, die Aussonderung der gesuchten Werturteile aus der Masse der übrigen sicher zu leiten. Denn "Anspruch auf allgemeine Anerkennung machen die in tatsächlicher allgemeiner Geltung stehenden Werturteile alle und verdanken gerade die letztere wesentlich dem Umstand, daß sie sie unentwegt beanspruchen; und hedonische Werturteile, die das gleiche tun, gibt es tatsächlich sehr viele, einfach weil es viele generell wirksame hedonische Motive gibt; und selbst diejenigen unter ihnen, welche zwar nicht verlangen, allgemein  geteilt  zu werden, fordern in der Regel umso mehr, gestützt auf das Recht der Individualität, allgemein  respektiert  zu werden.

Der Anspruch auf allgemeine Anerkennung besagt also zu wenig; es stellt sich vielmehr doch wieder heraus, daß wir es jetzt mit einer ganz anderen  Gattung  von Werturteilen zu tun haben, als es diejenigen waren, welche vorher geschildert wurden; es sind jetzt solche, welche faktisch von Minoritäten, ja von Individuen votiert und trotzdem allgemeingültig sein können, während diejenigen, welche faktisch allgemein gelten, sich ihnen gegenüber als falsch herausstellen können. Auf sie paßt vielmehr ein Merkmal, welches jetzt dann auch sukzessiv freier heraustritt, nämlich dieses, daß sie einen "absoluten Maßstab voraussetzen" oder "die Möglichkeit einer absoluten Beurteilung voraussetzen". Wenn diese Werturteile gleichwohl immer noch mit unter die Kategorie der vorher beschriebenen Bedürfniswerturteile gehören sollen, so erkennen wir sie doch leicht als die besondere Klasse deren, die wir in unserer vorausgesandten Untersuchung als Werturteile bezeichneten, welche auf  "Normbedürfnissen"  beruhen, und die sich von den übrigen dadurch abheben, daß bei ihnen schon eine unmittelbare Erkenntnis und Anerkennung von Normen mit wirksam ist, aber freilich noch infiziert durch subjektive Interessen, daher noch einer reinigenden Kritik bedürftig, welche nun aber ihrerseits eine rein transzendentale Erkenntnis der Normen zur unumgänglichen Voraussetzung hat.

Das Auftreten dieser besonderen Art von Werturteilen wird bei WINDELBAND dann durch eine deutliche  metabasis eis allo genos  [Sprung auf eine andere logische Ebene - wp] bemerkbar. Vor allem wird die so viel erwähnte Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit nunmehr aus der bloß faktischen und relativen in die absolute und "ideale" umgewandelt; und dann heißt es unumwunden, daß in jener bloß faktischen "kein Kriterium dessen, was gelten soll" zu finden ist. Damit ist aber klar, daß der "Anspruch", mit dem diese Werturteile auftreten, überhaupt nicht direkt auf Allgemeingültigkeit geht - darin würden sie sich von den übrigen gar nicht unterscheiden -, sondern auf eine höher gelegene Art von  inhaltlicher Wahrheit,  von der das Recht auf Allgemeingültigkeit erst als Folge abgeleitet wird; und dieser Anspruch erklärt sich nur, wenn das Subjekt überzeugt ist, von einer objektiven Norm abhängig zu sein. Eine Betrachtungsweise, welche mit dieser Tatsache rechnet, tritt dann auch bei WINDELBAND schließlich klar heraus. Richtig heißt es hier: "die Philosophie ist die Wissenschaft vom Normalbewußtsein"; richtig, "sie fußt auf der (doch wohl apriorischen) Überzeugung von einer höheren Notwendigkeit mitten in den naturnotwendigen Bewegungen des empirischen Bewußtseins"; richtig, es handelt sich um ein "System von Normen, welche objektiv gelten" ... "nach ihnen erst bestimmt sich der Wert des Wirklichen" ... "sie machen erst die allgemeingültigen Beurteilungen möglich" ... "die Philosophie ist die Wissenschaft von den Prinzipien der absoluten Beurteilung" - aber  falsch  inmitten all dieser Sätze: "sie (die Philosophie) ist selbst ein Erzeugnis des empirischen Bewußtseins", und wenn es da weiter heißt: "sie tritt ihm nicht als eine fremde Eingebung gegenübe", so ist das zwar wiederum richtig, sofern dem Menschen das Normbewußtsein immanent ist; aber WINDELBAND selbst weiß dann doch auch: "der menschliche Geist st mit diesem idealen Bewußtsein nicht identisch" und konstatiert damit die Gegenwart eines überindividuellen transzendentalen Faktors in unserem Geistesleben, bezüglich dessen  wir  unsererseits daran festhalten, daß er sich dem Menschen innerhalb der ihm möglichen Selbstanschauung zu einer Erkenntnis darbietet, der wir das Prädikat "metaphysisch" nicht glauben vorenthalten zu müssen. Bei WINDELBAND freilich folgt im Gegenteil nunmehr gerade eine resignierte Reflexion über die wenig hoffnungsvolle Arbeit der Philosophie. Und obwohl er noch einmal zur Betonung von "Überzeugungen" betreffs einer bestehenden "normativen Notwendigkeit" zurückkehrt, die wieder sehr metaphysisch anmuten, schließt er doch endlich mit einem skeptischen Stoßseufzer, in welchem er jener philosophische "Timidität" [Zaghaftigkeit - wp] Rechnung trägt, die er vorher selbst als Zeichen unserer Zeit mit offensichtlichem Bedauern charakterisiert hat.

Obgleich lso, wie die Analyse dieses Abschnittes zeigt, WINDELBAND durch die Sachlage selbst tatsächlich genötigt wird, die Erkenntnis der Normen als der Maßstäbe von den Wertbeurteilungen, die nach ihnen geschehen, zu trennen - obgleich sich mithin die Unmöglichkeit herausstellt, Normen durch eine werturteilendes Analyse empirisch vorliegender Wertungen zu finden; obgleich es zwar gelingt, unter diesen Wertungen neben rein subjektiven Bedürfniswerturteilen das Auftreten von solchen Werturteilen, bei denen die Norm als Maßstab mitwirkt, zu konstatieren, aber nur weil der Unterscheidende selbst dabei schon über die Kenntnis von Dasein und Wesen der Normen verfügt: - so sehen wir doch bei WINDELBAND das Bestreben immer wiederkehren, durch werturteilendes Erwägungen zur Eruierung von Normen zu gelangen.

In sehr charakteristischer Weise tritt uns dies z. B. in dem Aufsatz "Normen und Naturgesetze" (Präludien, Seite 278f) entgegen. Hier finden wir auf den ersten Seiten zunächst ganz den Begriff der Norm, der sie zum Maßstab macht, ohne dessen Kenntnis Werturteile nicht möglich sind: "ein Bewußtsein von Regeln, welche den Wert dessen, was mit kausaler Notwendigkeit gedacht wurde, bestimmen". Und weiter: "das Bewußtsein, einem Gebot unterworfen zu sein und von dessen Erfüllung den  Wert  der eigenen Tätigkeit  abhängig  zu wissen". Und dann: "der Mensch lernt eine Norm über sich als um ihrer selbst willen geltend anzuerkennen". Seite 286: "ideale Normen, nach denen der Wert dessen, was naturnotwendig geschieht, beurteilt wird. Diese Normen sind also Regeln der Beurteilung" und ebenda: "Aus den Naturgesetzen begreifen wir die Tatsachen,  nach den Normen  haben wir sie zu billigen oder zu mißbilligen". Bis hierher herrscht Klarheit.

Allein dann erfolgt eine merkwürdige logische Verschiebung, welche alsbald dazu führt, daß die "Normen" nicht mehr als Maßstäbe erscheinen, von deren Kenntnis Werturteile abhängig sind, sondern vielmehr als Gegenstände von Werturteilen, die ihren Maßstab anderswo haben. So heißt es weiter "die Regeln des Denkens ...  sind  bestimmte Arten der Verknüpfung, welche in einem naturnotwendigen Prozeß neben den anderen möglich sind und sich von diesen eben durch den Wert der Normalität unterscheiden." Die Regeln  sind  solche Verknüpfungen? Man sollte denken, sie als die Normen  fordern  solche Verknüpfungen, die, wenn sie im natürlichen Verlauf eintreten, nach jenen Regeln als solche beurteilt werden können, die ihrer Forderung entsprechen. Diese Verknüpfungen  "sind"  offenbar nichts als gegebene  Gegenstände  von Wertbeurteilungen, welche nach Maßgabe der Normen erfolgen, aber sie selbst sind nicht etwa die Normen - als höchstens in dem  abgeleiteten Sinn,  daß man nach ihrem Vorbild, weil sie sich an der Norm bewährt haben, wiederum andere Verknüpfungen richtig gestaltet werden können. Es wird also hier der als normal beurteilte Gegenstand an die Stelle der Norm selbst gesetzt, und das über ihn gefällte Werturteil dann als normkonstatierend betrachtet.

Diese Darstellungsweise gewinnt von da an immer mehr die Oberhand. "Die Gebote des sittlichen Gewissens  sind  gewisse Formen der Motivation ...", "Die ästhetische Norm  ist  eine unter den vielen Gefühlsweisen ..." "Jede Norm  ist  eine solche Verbindungsweise psychischer Elemente ..." "Eine Norm  ist  eine bestimmte, durch die Naturgesetze des Seelenlebens herbeizuführende Form der psychischen Bewegung. So  ist  ein Denkgesetz ... eine bestimmte Verbindungsweies der Vorstellungselemente ..." "So  ist  jedes Sittengesetz eine bestimmte Form der Motivation ... So  ist  jede ästhetische Regel eine bestimmte Art zu fühlen ...", "Alle Normen  sind  also besondere Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen". Nachdem so die Normen hinter den Gegenständen verschwunden sind, die durch Werturteil als normal gewürdigt werden, kann es nicht mehr verwundern, daß auch das "System der Normen" durch Werturteile festgestellt werden soll. So heißt es dann wieder: "Das System der Normen stellt eine  Auswahl  dar aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Kombinationsformen, unter denen sich ... die Naturgesetze des psychischen Lebens entfalten können. Die Gesetze der Logik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Vorstellungsassoziation, die Gesetze der Ethik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Motivation; die Gesetze der Ästhetik sind eine Auswahl aus den möglichen Formen der Gefühlstätigkeit".

Da aber so die "Normen" aus Maßstäben der Wertbeurteilung in Gegenstände der Wertbeurteilung verwandelt sind, regt sich naturgemäß im Leser die Begierde zu erfahren, wo denn nun wohl der Maßstab zu suchen ist, nach welchem die so viel erwähnte Auswahl zu treffen ist. Und so wenig ist sich WINDELBAND des geschehenen Wandels bewußt, daß er aufs sorgloseste meint: "Es ist auch nicht schwer, sogleich das Prinzip aufzustellen, wonach in allen drei Fällen diese Auswahl aus der Mannigfaltigkeit der naturnotwendigen Entwicklungsformen zu geschehen hat." Und darauf erfolg dann die uns schon anderweitig bekannte Antwort, daß dieses Prinzip "der Zweck der Allgemeingültigkeit" ist. Diese Antwort ist unklar; sie leidet unter dem Doppelsinn des Wortes  Zweck sofern unentschieden bleibt, ob dieser Zweck ein objektiver ist, d. h. ein Ideal, oder nur ein subjektiver, d. h. die Befriedigung eines Bedürfnissess, hier des Bedürfnisses nach einer allgemeinen Verständigungsmöglichkeit der Menschen untereinander. Nun sahen wir schon oben, daß Allgemeingültigkeit ansich gar kein Ideal ist, sofern sie faktisch geradezu auf Kosten der Wahrheit eintreten und bestehen kann. Wird sie aber als Ideal gefordert, so wird sie nicht um ihrer selbst willen gefordert, sondern nur, weil sie als legitime Konsequenz derjenigen Forderung erscheint, die in Wirklichkeit allein gemeint ist: das aber ist nichts anderes als die Forderung der Wahrheit im Sinn der Konformität mit der Norm. Nur was ihr entspricht soll auch allgemeingültig sein; sie also entscheidet über Recht oder Unrecht dieser letzteren Forderung, nicht umgekehrt der Anspruch auf Allgemeingültigkeit über Normalität. Und so stellt sich doch wieder die Norm als derjenige Maßstab heraus, der sowohl über jene "Auswahl" wie auch über die Legitimität des "Zwecks" entscheidet, nach dessen Maßgabe sie erfolgen soll. Sie erfolgt aber nicht  über  Normen, sondern  nach  Normen  über  Gegenstände welche durch ein Normwerturteil aus eine Menge minderwertiger Gegenstände auszusondern sind. Jene Auswahl hat das "System der Normen" nicht zum Resultat, sondern sie hat es und seine Erkenntnis zu ihrer Voraussetzung. Werterkenntnis kann, soll sie einen Erkenntniswert haben, nur aus Seinserkenntnis abgeleitet werden; wird sie aber aufgrund von Bedürfnissen oder subjektiv gesetzten "Zwecken" ausgeübt, so hängt ihr Erkenntniswert erst wieder vom Werturteil über die Berechtigung dieser Bedürfnisse und Zwecke ab, und dieses Werturteil kann wieder nur nach einer Normerkenntnis, d. h. nach einer Seinserkenntnis erfolgen.

Das Zurückgleiten WINDELBANDs in die gegenteilige Betrachtungsweise, ja hier ganz besonders in diejenige, nach welcher die "Normen" sich schon durch den kausalen Naturverlauf tatsächlich immer verwirklichen und erst nachträglich durch ein Werturteil nach Maßgabe von "Zwecken" als "Normen" erkannt werden - das alles ist umso auffälliger, als gerade er andererseits mit besonderer Emphase die Normen als "Gesetze" geltend macht, denen der Mensch sich "unterworfen" weiß, und die ihm alle ohne Unterschied mit "sittlich verpflichtender" Kraft entgegentreten sollen.

Hieraus leitet er selbst das Problem ab, wie sich diese ideale und teleologische Notwendigkeit der Normen mit der kausalen Notwendigkeit des tatsächlichen psychischen Verlaufs verträgt. Ich halte nun aber diese Art der Ableitung des Problems für eine ungerechtfertigte Überspannung desselben. Gleichwohl dürfte es sich mit aus dieser Art, das betreffende Problem zu stellen, erklären, daß dem Philosophen auch von dieser Seite her die Versuchung nahetrat, die Begriffe "Norm" und "Wert" in der Weise ineinanderfließen zu lassen, wie es bei ihm immer wieder begegnet und wovon seine Neigung, die Normen statt als Maßstäbe vielmehr als Gegenstände von Werturteilen erscheinen zu lassen, nur eine Folge ist.

Wird nämlich das Moment sittlich verpflichtender Kraft der Normen so in den Vordergrund gerückt, wie es von WINDELBAND geschieht, so tritt naturgemäß das, was erst ein  Ergebnis  der Normerkenntnis sein kann, nämlich ihr Wertcharakter, von vornherein ihrem Seinscharakter so entschieden voran, aß es ganz natürlich erscheint, wenn sie zunächst und vor allem als Gegenstände einer Wertbeurteilung, zumal  sittlichen  Wertbeurteilung, in Betracht gezogen werden.

Jene Ausdehnung des verpflichtenden Charakters von der sittlichen Norm auch auf die logische und ästhetische ist aber psychologisch unwahr. Mit Recht reserviert das populäre Bewußtsein, welches WINDELBAND dafür tadelt, den verpflichtenden Charakter der sittlichen Norm allein, einfach weil derselbe bei den anderen Normen überflüssig ist, da ihnen das Wollen des Subjekts von selbst entgegenkommt: jeder, so sagten wir schon früher, will, möchte logisch richtig denken, ästhetisch richtig empfinden: es fehlt zunächst nur am Können. Nur der sittlichen Norm gegenüber fehlt mit dem Können auch das Wollen und muß daher besonders gefordert und herbeigeführt werden. Es ist daher nicht so, daß sich das Subjekt logische oder ästhetische Irrtümer wie sittliche Delikte als Schuld anrechnet. Dies findet bei logischen und ästhetischen Wahrheitsfragen nur dann statt, wenn sich in ihre Behandlung eine sittliche Verfehlung einmischt, d. h. wenn entweder das Denken oder Empfinden durch ein unsittliches Wollen beeinflußt die Wahrheit verfehlt, der Irrtum also in einer unreinen Nebenabsicht begründet ist, oder wenn erkannte Wahrheit pflichtwidrig verleugnet wird. Beides ist dann aber ein Konflikt mit der  sittlichen  Norm; die andern liefern nur dem unsittlichen Verhalten das Material, an dem es sich vollzieht. Es findet sich freilich bei WINDELBAND gelegentlich die Gleichstellung aller drei Normen auch in entgegengesetzter Weise vor, sofern er bei den anderen Normen das Einssein des Wollens mit ihnen zugesteht, dann aber auch bei der sittlichen Norm mit der Normerkenntnis zugleich den Willen, sie zum Motiv des Handelns zu machen, eintreten läßt. Doch hat die erstere Form der Gleichstellung bei ihm die Oberhand. Und diese muß, wie gesagt, den Wertcharakter der Normen stark in den Vordergrund drängen. Es bedarf aber dieser Überspannung gar nicht, um das Werturteil des Subjekts über sie sicherzustellen; es ist genügend gesichert, auch wenn es sich erst aus der Erkenntnis ihres Wesens ergibt, und auch wenn dabei die logische und ästhetische Norm nicht als einen widerstrebenden Willen verpflichtend, sondern einen bereitwillig entgegenkommenden Willen leitend erkannt werden, so daß ihnen das Subjekt vielmehr den Wert verheißungsvoller Direktiven gern und hoffnungsfreudig beilegt.

Es bedarf aber jener Überspannung auch nicht, um das Problem zu konstituieren, wie sich psychisches Naturgesetz und ideale Norm vertragen. Denn dieses Problem besteht auch, wenn nur der sittlichen Norm ein verpflichtender Charakter zukommt, nicht aber den anderen; denn auch diese erheben schon ohnedies ideale Forderungen, welche über den Stand eines kausal notwendigen psychischen Geschehens hinübergreifen. Aber das ganze Problem besteht überhaupt in der Schärfe, wie WINDELBAND es formuliert, deshalb gar nicht, weil jener Stand des psychischen Geschehens nie ein definitiv abgeschlossener ist, sondern nur ein stets relativ und fortbildungsfähig bleibendes bloßes Entwicklungsstadium des Geisteslebens darstellt, zu dessen Weiterführung und Höhergestaltung eben die Normen anleiten und antreiben. Mit diesem Umstand rechnet dann auch WINDELBAND selbst in weitestgehender Weise; aber die gleichwohl bestehende Schwierigkeit, welche er mit Recht darin sieht, daß sich eine ideale Forderung an den Willen richtet, den eine kausale Notwendigkeit auszuschließen scheint, kann keinesfalls in der von ihm vorgeschlagenen Art gelöst werden. Diese läuft nämlich darauf hinaus, daß zur Sicherstellung bzw. Ermöglichung der Normvollziehung an das Subjekt eine  präliminare  Forderung gestellt wird, deren Erfüllung aber offenbar die kausale Notwendigkeit des einmal bestehenden psychischen Verlaufs die gleichen Schwierigkeiten bereiten müßte wie der Forderung der Normvollziehung selbst: nämlich die Forderung, sich selbst, sein Wesen, seinen Charakter für das eigene psychische Geschehen "verantwortlich zu machen", um dadurch das Normbewußtsein zu wecken und so die ihm eigentümliche Kraft unter die kausativ wirksamen psychischen Faktoren einzuschalten. WINDELBAND vergißt dabei ganz anzugeben, wie das Subjekt es anfangen soll, nun eben den psychischen Akt der "Verantwortlichmachung", der nach seiner Darstellung der alles entscheidende wäre, von sich aus in den kausal-notwendigen psychischen Verlauf, dem es unterliegt, einzuschalten. Er rekurriert so, wie uns scheint, in widerspruchsvoller Weise selbst auf ein außerhalb der psychischen Kausalkette stehendes formales Freiheitsvermögen, das er eben zuvor in einem etwas anderen Zusammenhang als ein Produkt "unglaublicher Unklarheit" verurteilt hatte.

Doch liegt eine nähere Erörterung dieser Probleme nicht im Bereich unserer gegenwärtigen Aufgabe. Sonst würden wir hier etwa auszuführen haben, daß die theologische Wissenschaft aufgrund religiös-psychologischer Empirie die Erkenntnis gewinnt, daß jener Akt des "Sichverantwortlichmachens" gar nicht besonders gefordert zu werden braucht, sondern in einem ganz regulären psychischen Verlauf, ohne dessen kausalen Zusammenhang im geringsten zu stören, sich in jedem "normal" veranlagten Menschen von selbst einstellt, und dann als der günstigste Einschaltungspunkt zu Gebote steht für eine Wendung der psychischen Entwicklung, welche das Normbewußtsein - zwar nicht etwa erst erweckt, das ist schon Voraussetzung des Verantwortlichmachens - aber allerdings sehr verstärkt, dann aber nicht etwa (antik-intellektualistisch) seiner selbständigen psychisch-wirksamen Kraft vertraut, sondern Motive entbindet, welche im Subjekt dessen hingebendes Selbstwollen der Norm herbeiführen: die christlich-religiösen Motive. Dabei hat sich freilich das Subjekt nicht als "autonomer" Urheber dieser Wendung seiner Entwicklung und Bestimmer ihrer Ziele zu betrachten, sondern vielmehr seine Abhängigkeit von der in den Normen ihm entgegentretenden heiligen Ordnung zu gewahren, kraft deren sein Heil eben in dieser Ordnung beschlossen liegt, deren Verleugnung oder Verletzung dagegen seine Selbstvernichtung nach sich zieht. Doch auf die, im Kreis dieser Philosophen und Theologen immer wieder begegnende mißverständliche Betonung der "Autonomie der sittlichen Persönlichkeit", zu der bei ihnen die dazu nötige metaphysische Voraussetzungslosigkeit KANTs doch nun einmal fehlt, werden wir noch öfter und ausführlicher zurückgeführt werden.
LITERATUR - Hermann Lüdemann, Das Erkennen und die Werturteile, Leipzig 1910