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HEINRICH RICKERT
Zur Theorie der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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"Auch nicht der kleinste Teil der Welt kann durch abbildende Vorstellungen, so wie er ist, erkannt werden. Sollen, um die Ausdrücke Humes zu gebrauchen, unsere Ideen im strengen Sinn des Wortes Kopien von Impressionen sein, so stehen wir auch bei größter Einschränkung des Erkenntnisgebietes wiederum vor einer prinzipiell unlösbaren Aufgabe."

"Für den wissenschaftlichen Menschen ist das theoretische Bedürfnis nach Erkenntnis maßgebend für seine Teilnahme am Anschaulichen. Er verläßt die Anschauung, sobald er sie sich soweit ausdrücklich zu Bewußtsein gebracht hat, daß er sich über ihr Verhältnis zum Inhalt der Begriffe, mit denen er an die Untersuchung geht, klar zu werden vermag. Er muß einen Maßstab dafür haben, wann er die Anschauung verlassen, d. h. in ihren Einzelheiten unbeachtet lassen darf. Sonst würde er mit der Untersuchung auch nur eines einzigen Objektes niemals fertig werden."

"In der Konstatierung einer jeden Tatsache steckt, weil es sich dabei immer um die Anerkennung einer über den individuellen Bewußtseinsinhalt hinausweisenden  Urteilsnotwendigkeit  handelt, ein erkenntnistheoretisches oder, wenn man will ein metaphysisches Problem. Tatsachen und ihre Beschreibung erscheinen noch in einem anderen Sinne  problematisch.  Versteht man nämlich unter Tatsache einen einzelnen wirklichen anschaulichen Vorgang in der Welt, so kann man sagen, daß für Tatsachen, so wie sie sind, in unseren Urteilen gar kein Platz ist. Verlangt man, daß eine Beschreibung der Welt genau das geben soll, was wir sehen, hören usw., so wird man sagen müssen, daß wir unseren Urteilen gar nicht beschreiben können."

"Natürlich wird das, was man Beschreibung nennt, nicht aus der Welt geschafft. Es kommt aber darauf an, daß man sich über das Wesen der Beschreibung klar wird und nicht meint, man sei imstande, in irgendeiner Untersuchung statt mit "abstrakten" Begriffen mit Tatsachen zu arbeiten, die etwas von den Abstraktionen prinzipiell Verschiedenes seien. Der Satz, daß eine Untersuchung statt von Abstraktionen vom unmittelbar Vorgefundenen ausgehen solle, verlangt streng genommen etwas Unmögliches."

Seit SIGWART in seinem, die neueren logischen Bewegungen beherrschenden Werk der Lehre vom Begriff den Platz an der Spitze des Systems genommen hat, den sie in der traditionellen Logik fast unbestritten besaß, ist es noch nicht wieder gelungen, der Begriffstheorie eine allgemein anerkannte Stellung und Gestaltung zu geben. Was ein Begriff sei oder wofür man diesen Ausdruck am passendsten zu verwenden habe, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Sowohl für die einfachsten Bestandteile des logischen Prozesses, als auch für die kompliziertesten Denkgebilde wird das Wort "Begriff" gebraucht. Die Elemente eines primitiven Urteils kann es bezeichnen, ebenso wie den Denkakt, in dem eine wissenschaftliche Untersuchung ihren Abschluß findet. Ja, die Vieldeutigkeit ist so groß, daß man neuerdings den Terminus auch wohl vollständig vermieden hat. Man freut sich, "ohne jede Hilfe auch nur des Wortes  Begriff" (1), Probleme erörtern zu können, die früher als die Hauptprobleme vom Begriff gegolten haben.

Es kommt selbstverständlich auf das Wort nicht an. Man möge es wegen seiner Unklarheiten führenden Vieldeutigkeit durch mehrere eindeutige Termini ersetzen. Trotzdem wird man sich wohl schwer entschließen können, die Ausdrücke  Begriff, begreifen, begrifflich  in der Logik gänzlich zu entbehren. Eine Erörterung der Frage, was ein Begriff sei, erscheint daher jedenfalls der Mühe wert. Die folgenden Zeilen beabsichtigen jedoch nicht, diese Frage nach irgendeiner Richtung hin erschöpfend zu behandeln, sondern unsere Aufgabe ist in folgender Weise beschränkt.

Zunächst ist die Untersuchung nicht psychologisch, sondern  logisch,  d. h. sie fragt nicht, was der Begriff als Bestandteil unseres Seelenlebens betrachtet sei, sondern welche Bedeutung oder welcher Wert ihm als Bestandteil unseres auf Wahrheit gerichteten Denkens zukomme. Unter Wahrheit verstehen wir sodann die  wissenschaftliche  Wahrheit und lassen dabei die Frage, ob die Logik überhaupt noch eine andere Aufgabe habe, als das zum Zwecke wissenschaftlicher Untersuchung unternommene Denken zu behandeln, dahingestellt. Und endlich interessieren uns hier nicht einmal alle logischen oder wissenschaftlichen Begriffe, sondern nur die, welche in den  Naturwissenschaften,  d. h. in den auf die systematische Erkenntnis der Körperwelt gerichteten Bestrebungen eine Rolle spielen. Wir sind weit davon entfernt, vorauszusetzen, daß es nur  eine,  für alle Gebiete wissenschaftlicher Forschung maßgebende Art der Begriffsbildung gibt. Wir fragen vielmehr gar nicht, ob und wie weit das hier Gefundene und hier Gültige auch für andere Begriffe zutrifft. (2)


I.

Wir betrachten den Begriff, wie jedes logische Gebilde, als Mittel zu einem Zweck. Daraus ergibt sich, daß wir das "Wesen" des naturwissenschaftlichen Begriffs in einer ihm eigentümlichen  Leistung  suchen müssen, die er zur Erreichung der von der naturwissenschaftlichen Arbeit verfolgten Ziele erfüllt. Von vornherein ist hiermit klar, daß wir in diesem Zusammenhang das Wort Begriff niemals für Vorstellungen gebrauchen können, deren Bedeutung darin aufgeht, daß sie als Tatsachen in unserem Bewußtsein vorhanden sind, sondern nur für Gebilde, durch die schon etwas für den Zweck des wissenschaftlichen Erkennens getan ist. Denn eine Logik, die Wissenschaftslehre sein will, wird die logischen Terminie nur für wissenschaftlich bedeutsame Denkgebilde verwenden dürfen.

Um nun die Leistung des naturwissenschaftlichen Begriffs zu verstehen, gehen wir von einer jedem geläufigen Meinung aus. Der Mensch steht einer körperlichen Wirklichkeit gegenüber, auf die sich seine Erkenntnis richtet. Wir kümmern uns hier nicht darum, ob diese Wirklichkeit ein vom erkennenden Subjekt in jeder Hinsicht unabhängiges Sein bildet, das "im Bewußtsein" entweder ganz oder zum Teil sich ebenso darstellt, wie es unabhängig davon existiert oder ob diese Welt nur die "Erscheinung" oder die menschliche Auffassungsweise einer dahinterliegenden, uns völlig unbekannten,realen Welt von Dingen ansich ist oder endlich, ob die uns unmittelbar gegebene Wirklichkeit die einzige ist, die wir anzunehmen ein Recht haben und ihr daher ein anderes dahinterliegendes Sein nicht entsprechen kann. Wir begnügen uns mit der Tatsache, daß jeder eine Körperwelt kennt als eine in Raum und Zeit ausgebreitete Welt von anschaulichen Gestaltungen. Es ist in diesem Zusammenhang ganz gleichgültig, ob wir sie die erfahrbare, die vorgefundene, die gegebene Welt, oder ob wir sie den Inhalt des Bewußtseins nennen.

Wohl aber müssen wir uns eine, in einer anderen Richtung liegende Eigentümlichkeit dieser Erfahrungs- oder Bewußtseinswelt vergegenwärtigen, die damit zusammenhängt, daß es sich um eine anschauliche, in Raum und Zeit vorhandene Welt handelt. Diese Eigentümlichkeit wird uns am leichtesten klar werden, sobald wir den Versuch machen, die anschauliche Wirklichkeit dadurch zu erkennen, daß wir sie genau so, wie sie ist, mit unseren Vorstellungen abbilden und dann in Urteilen das, was wir vorstellen, aussagen. Wir müssen dabei nämlich auf Schwierigkeiten stoßen, die sich bald als unüberwindliche Hindernisse für eine derartige Erkenntnis der Welt herausstellen und in denen die von uns gemeinte Besonderheit der Körperwelt zum Ausdruck kommt.

Die eine dieser Schwierigkeiten ist jedem bekannt. Die körperliche Welt hat keinen für uns erreichbaren Anfang in der Zeit und keine für uns erreichbare Grenze im Raum. Sie bietet sich uns als eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Einzelgestaltungen und Vorgängen dar. Ja, wir werden, wenn wir unendlich das nennen wollen, womit das Bewußtsein notwendig verbunden ist, daß wir es niemals zu erschöpfen vermögen, diese Mannigfaltigkeit der Welt geradezu als eine unendliche bezeichnen müssen. Auch wenn man geneigt sein sollte, das Quantum von Materie, aus dem die Welt besteht, endlich zu denken, so daß in dieser Hinsicht nur von vorläufiger Unübersehbarkeit und nicht von Unendlichkeit die Rede sein könnte, so nötigt uns doch auch ein endliches Quantum von Materie in einem unendlichen Raum und in einer unendlichen Zeit, eine unendlich Anzahl von Kombinationen und damit eine unendliche Anzahl von verschiedenen anschaulichen Einzelgestaltungen anzunehmen. (3)

Was sich daraus für eine Erkenntnis des körperlichen Weltganzen ergibt, ist klar. Die Welt dadurch zu erkennen, daß man lle Einzelgestaltungen, so wie sie sind, einzeln vorstellt, ist eine für den endlichen Menschengeist prinzipiell unlösbare Aufgabe. Jeder Versuch in dieser Richtung wäre geradezu widersinnig; denn wie groß wir auch die Anzahl der Einzelgestaltungen annehmen mögen, die mit unseren Vorstellungen abzubilden uns gelingen könnte, es stände ihnen noch immer eine unendliche Mannigfaltigkeit von unerkannten gegenüber und es dürfte unter diesen Voraussetzungen niemals von einem Fortschritt in der Erkenntnis der Welt gesprochen werden. Wer also unter Erkenntnis der Welt ein wirkliches Abbild der Welt versteht, der muß auf eine auch nur annäherungsweise Erkenntnis des Weltganzen von vornherein verzichten.

Aber auch ein Verzicht dieser Art und eine Beschränkung der Erkenntnis auf einen Teil der Welt würde wenig helfen. Und damit stoßen wir auf eine zweite Schwierigkeit, die sehr viel weniger beachtet worden ist, als die eben dargestellte. Jede einzelne Anschauung nämlich, die wir aus der unendlichen Fülle herausgreifen, bietet uns, so einfach wir sie auch wählen mögen, immer eine Mannigfaltigkeit dar und wir werden, wenn wir uns an eine nähere Untersuchung machen, finden, daß diese Mannigfaltigkeit um so größer wird, je mehr wir uns in sie vertiefen. Wir meinen damit nicht nur die Mannigfaltigkeit, die jedem einzelnen Ding dadurch anhaftet, daß es in einer unübersehbaren Fülle von Beziehungen zu anderen Dingen steht. Auch wenn wir eine einzelne Anschauung von allen ihren Beziehungen loslösen und sie ganz für sich betrachten, werden wir bei einiger Überlegung zu der Überzeugung kommen müssen, daß auch im kleinsten Teil der Wirklichkeit, den wir noch vorzustellen vermögen, implizit wieder eine niemals zu erschöpfende, also unendlich Mannigfaltigkeit steckt. Achten wir bei irgendeinem Gegenstand z. B. nur auf das, was wir von ihm sehen, auf die Oberfläche, die er unserem Auge darbietet, so haben wir in jedem optischen Eindruck eine unendliche Mannigfaltigkeit sogar in zweifacher, in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht vor uns. Jede Fläche nämlich können wir einerseits in beliebig viele Teile zerlegen und wenn wir auch den kleinsten Teil, den wir wahrnehmen können, genau untersucht haben, so bürgt nichts dafür, daß wir bei noch genauerer Zerlegung nicht etwas entdecken, das sich uns bisher entzog. Andererseits müssen wir, weil jede Fläche eine Farbe hat und es eine absolut gleichmäßige Färbung auch der kleinsten Fläche nicht gibt, eine unendliche Anzahl von Farbnuancen auf ihr annehmen, die alle einzeln zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, unmöglich ist. Daraus ergibt sich, daß auch der kleinste Teil der Welt nicht durch abbildende Vorstellungen, so wie er ist, erkannt werden kann. Sollen, um die Ausdrücke HUMEs zu gebrauchen, unsere Ideen im strengen Sinn des Wortes Kopien von Impressionen sein, so stehen wir auch bei größter Einschränkung des Erkenntnisgebietes wiederum vor einer prinzipiell unlösbaren Aufgabe.

Von den beiden angegebenen Besonderheiten der Körperwelt, die es hier nur ausdrücklich hervorzuheben galt, hat eine Theorie der Begriffsbildung auszugehen. Wir wollen, um bequeme Ausdrücke zu haben, die Eigentümlichkeit der Welt, die in Frage kommt, wenn unsere Erkenntnis auf das Ganze gerichtet ist, als die  extensive  und die Eigentümlihkeit, die jede einzelne anschauliche Gestaltung uns darbietet, als die  intensive  Mannigfaltigkeit oder Unendlichkeit der Dinge bezeichnen. (4) Wir können nun, um das Resultat dieser Überlegungen zusammenzufassen, sagen, daß, wenn es überhaupt eine Erkenntnis der Körperwelt für den endlichen Menschengeist geben soll, sie nur so zustande kommen kann, daß durch sie die extensive und die intensive Mannigfaltigkeit der Dinge irgendwie beseitigt oder überwunden wird.

Wodurch ist diese Überwindung möglich? Sie würde überhaupt nicht möglich sein, wenn unser geistiges Leben nur aus Vorstellungen bestände, deren Bedeutung darin aufgeht, sich auf irgendeine Einzelgestaltung der Welt zu beziehen. Das ist aber nicht der Fall. Lange vielmehr, bevor wir an eine wissenschaftliche Erforschung der Welt gehen, haben sich in uns geistige Gebilde von völlig anderer Art entwickelt, die man als Allgemeinvorstellungen zu bezeichnen pflegt. Ob diese Bezeichnung passend ist, lassen wir dahingestellt. Es genügt hier, auf die Tatsache hinzuweisen, daß wir Worte besitzen, mit denen wir nicht nur je eine einzelne konkrete Anschauung, sondern mit denen wir eine Mehrheit verschiedener Einzelgestaltungen der Wirklichkeit zugleich bezeichnen können. Die Worte kann man insofern "allgemein" nennen. Aber diese Allgemeinheit der Worte kann nicht auf dem Klang des Wortes selbst beruhen, das ja als Wort betrachtet ein ganz individueller akustischer oder optischer Eindruck ist, sondern es muß zu den Lautkomplexen noch etwas hinzutreten, wodurch wir die Worte "verstehen", d. h. die Worte müssen  Bedeutungen  haben.

Auf diese Wortbedeutungen kommt es uns an. Sie sind es, in denen bereits die natürliche psychologische Entwicklung begonnen hat, das Mittel zu schaffen, mit dem wir zunächst zwar noch nicht die Unendlichkeit der Welt wirklich zu überwinden, doch aber einen Teil der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge in hohem Grade zu vereinfachen imstande sind. Jeder Mensch macht von diesem Mittel fortwährend Gebrauch. Die extensive Mannigfaltigkeit der uns umgebenden Welt wird dadurch verringert, daß wir mit  einem  Wort eine Mehrheit von Anschauungen bezeichnen. Die intensive Mannigfaltigkeit jeder einzelnen Anschauung wird dadurch überwunden, daß wir, ohne uns ein Objekt seinem ganzen anschaulichen Inhalt nach ausdrücklich vergegenwärtigt zu haben, was unmöglich wäre, es doch mit Sicherheit einer Wortbedeutung unterordnen. Wir nehmen also durch die Wortbedeutung mit einem Schlag eine Mehrheit von anschaulichen Gestaltungen gewissermaßen in uns auf und stellen doch zugleich nur einen kleinen Teil, vielleicht sogar nichts von ihrem unendlichen anschaulichen Inhalt vor. Wodurch diese Wortbedeutungen entstanden sind und worauf ihre Fähigkeit, die Welt zu vereinfachen, beruth, danach fragen wir jetzt nicht. Daß sie vorhanden ist, davon kann sich jeder in jedem Augenblick überzeugen. (5)

Solange nun diese Vereinfachung des Gegebenen durch die Wortbedeutungen lediglich das Produkt einer nicht von bewußten logischen Zwecken begleiteten psychologischen Entwicklung ist, geht sie uns hier nichts an. Wird die Wortbedeutung aber zum Zweck wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt verwendet, so haben wir darin die primitivste Form des Denkvorgangs, den wir als die dem wissenschaftlichen Begriff eigentümliche Leistung ansehen wollen. Der Begriff bringt die anschauliche Wirklichkeit in eine Form, in der sie in unsere Erkenntnis einzugehen vermag.  Die Überwindung der "extensiven" und "intensiven" Mannigfaltigkeit der Dinge zum Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis der Körperwelt,  das ist seine Aufgabe. Darin erfassen wir also das logische "Wesen" des naturwissenschaftlichen Begriffs.

Wenn wir die Ausdrücke der traditionellen Logik gebrauchen wollen, so können wir die Leistung des Begriffs auch so charakterisieren. In seinem Umfang wird die extensive Mannigfaltigkeit, in seinem Inhalt dagegen die intensive Mannigfaltigkeit der Dinge überwunden. Was unter Überwindung der extensiven Mannigfaltigkeit durch den Umfang des Begriffs zu verstehen ist, bedarf wohl keiner näheren Erklärung. Was die Überwindung der intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge durch den Begriffsinhalt bedeutet, kann man sich vielleicht nicht besser klar machen, als wenn man das Verhalten des wissenschaftlichen Menschen mit dem Verhalten vergleicht, das der künstlerische Mensch einer Einzelgestaltung der Wirklichkeit gegenüber an den Tag legt. Wir haben dabei insbesondere den bildenden Künstler im Auge. Er haftet mit seinem Interesse an der anschaulichen Gestaltung der Dinge, auch er fühlt sich der Mannigfaltigkeit der Anschauung gegenüber ohnmächtig; ein Gefühl, das jeder kennt, der einmal nach der Naturzu zeichnen auch nur versucht hat. Auch er weiß, daß diese Anschauung für ihn unerschöpflich ist, aber so weit wie möglich wenigstens sucht er die Anschauung zu entwickeln und festzuhalten und er glaubt, sich seinem Ziel umso mehr zu nähern, je mehr er sich in die Anschauung vertieft. (6) Ganz anders der wissenschaftliche Mensch. Bis zu einem hohen Grad sind ihm Einzelheiten der anschaulichen Gestaltung völlig gleichgültig. Alle, die nicht künstlerisches Interesse an der Wirklichkeit nehmen, wissen von der anschaulichen Gestaltung selbst der Dinge, mit denen sie täglich umgehen, nur sehr wenig; denn nur so weit praktische Bedürfnisse dafür vorhanden sind, merken sie darauf. Für den wissenschaftlichen Menschen ist das theoretische Bedürfnis nach Erkenntnis maßgebend für seine Teilnahme am Anschaulichen. Er verläßt die Anschauung, sobald er sie sich soweit ausdrücklich zu Bewußtsein gebracht hat, daß er sich über ihr Verhältnis zum Inhalt der Begriffe, mit denen er an die Untersuchung geht, klar zu werden vermag. Er muß einen Maßstab dafür haben, wann er die Anschauung verlassen, d. h. in ihren Einzelheiten unbeachtet lassen darf. Sonst würde er mit der Untersuchung auch nur eines einzigen Objektes niemals fertig werden.

Ohne "Begriffe" im angegebenen Sinn wäre also jede Erkenntnis der Welt, jede Aufnahme der Wirklichkeit in unserem Geist unmöglich. Diese Begriffsbildung ist daher notwendig verknüpft schon mit dem ersten logischen Schritt überhaupt. Es gibt allerdings Urteile, die sich auf einzelne Anschauungen beziehen. Verständlich sind sie aber nur, wenn sie von hinweisenden Gebärden begleitet werden, wenn man also die gemeinte Anschauung direkt aufzeigen kann. Jedes Urteil, das für sich verständlich ist - und die Urteile, die wissenschaftlichen Wert haben sollen, müssen das ausnahmslos sein -, verwendet stets allgemeine Wortbedeutungen, d. h. psychische Gebilde, in denen sowohl eine Anzahl verschiedener Anschauungen zusammengefaßt, als auch immer nur ein Teil des Inhalts der zusammengefaßten Anschauungen enthalten ist. (7) Auch der Umstand, daß es Urteile gibt, in denen die Worte nur ein einzelnes Ding bezeichnen wollen, hebt diese Behauptung nicht auf. Die Allgemeinheit in unserem Sinne ist nicht dadurch bedingt, daß das Wort auf mehrere, an verschiedenen Stellen des Raums befindliche  Dinge  bezogen werden kann, sondern eine Vereinfachung der Wirklichkeit liegt auch vor, wenn mit Hilfe der Wortbedeutung nur das zusammengefaßt wird, was ein einzelnes Ding uns an Mannigfaltigkeit in verschiedenen  Einzelanschauungen  unter verschiedenen Umständen darbietet. Ja, sollte sogar mit einem Wort nur eine einzige, vollkommen individualisierte, anschauliche Gestaltung der Wirklichkeit gemeint sein, so würde das betreffende Urteil, wenn es ohne eine auf die betreffende Anschauung hinweisende Gebärde verstanden werden soll, doch lediglich aus allgemeinen Begriffen bestehen und könnte uns nur durch eine bestimmte Kombination von Wortbedeutungen dazu auffordern, an eine einzelne wirkliche Anschauung zu denken, d. h. mehr zu denken, als das Urteil selbst enthält. (8) Doch brauchen wir auf diese Fälle hier nicht näher einzugehen, weil solche Urteile im Zusammenhang einer naturwissenschaftlichen Untersuchung kaum vorkommen werden. Auch Begriffe, welche die verschiedenen Gestaltungen nur eines einzelnen Dinges vertreten, dürften in der Naturwissenschaft recht selten sein und kein wesentliches Interesse für diesen Teil der Wissenschaftslehre bieten. (9)

Hier kommt es nun darauf an, festzustellen, daß die dem Begriff eigentümliche Leistung, die Überwindung der anschaulichen Mannigfaltigkeit, sich als ein jedem wissenschaftlichen Denken wesentliches Moment erweist. Jedes wissenschaftliche Denken ist begriffliches Denken und damit ist es schon etwas ganz Anderes, als ein einfaches Vorstellen der Wirklichkeit. Auch in den Urteilen, in denen wir, wie man zu sagen pflegt, eine Tatsache konstatieren oder die Wirklichkeit beschreiben, nehmen wir immer bereits eine logische Bearbeitung, eine weitgehende Vereinfachung der Wirklichkeit vor. Gewissen Bestrebungen der neueren Erkenntnistheorie gegenüber, welche die Wissenschaft auf ein Konstatieren von Tatsachen oder auf eine Beschreibung der Welt einschränken möchten, ist es notwendig, das auf das Bestimmteste hervorzuheben. In einem anderen Zusammenhang habe ich zu zeigen versucht, daß eine "Tatsache", erkenntnistheoretisch betrachtet, durchaus nicht eine so einfache Sache ist, wie man vielfach meint. In der Konstatierung einer jeden Tatsache steckt, weil es sich dabei immer um die Anerkennung einer über den individuellen Bewußtseinsinhalt hinausweisenden "Urteilsnotwendigkeit" handelt, ein erkenntnistheoretisches oder, wenn man will ein metaphysisches Problem. (10) In dem hier ausgeführten Zusammenhang erscheinen die Tatsachen und ihre Beschreibung noch in einem anderen Sinne "problematisch". Versteht man nämlich unter Tatsache einen einzelnen wirklichen anschaulichen Vorgang in der Welt, so kann man sagen, daß für Tatsachen, so wie sie sind, in unseren Urteilen gar kein Platz ist. Verlangt man, daß eine Beschreibung der Welt genau das geben soll, was wir sehen, hören usw., so wird man sagen müssen, daß wir unseren Urteilen gar nicht beschreiben können.

Hieraus ergibt sich, daß das einzelne Gesehene oder Gehörte, das Faktum, in ein Urteil immer nur als Glied einer Klasse eingeht. Jedes Urteil setzt daher bereits eine Klassifikation voraus, eine Klassifikation natürlich, die bei den ursprünglichen Urteilen nur das Produkt eines unwillkürlichen psychologischen Prozesses sein kann und die mit der Bildung der Wortbedeutungen Hand in Hand geht. Aus diesem Grunde ist es ganz möglich, daß einer Klassifikation des Gegebenen der Entwurf eines nach Raum und Zeit vollständigen Weltbildes im Ideal der Erkenntnis vorangehen müsse. (11) Das Ideal einer allumfassenden Kenntnis des Einzelnen kann vielmehr in der Logik überhaupt keine Stelle haben.

Natürlich wird damit das, was man Beschreibung nennt, nicht aus der Welt geschafft. Es kommt aber darauf an, daß man sich über das Wesen der Beschreibung klar wird und nicht meint, man sei imstande, in irgendeiner Untersuchung statt mit "abstrakten" Begriffen mit Tatsachen zu arbeiten, die etwas von den Abstraktionen prinzipiell Verschiedenes seien. Der Satz, daß eine Untersuchung statt von Abstraktionen vom unmittelbar Vorgefundenen ausgehen solle, verlangt streng genommen etwas Unmögliches. Nur gewisse Arten von Abstraktionen kann man vermeiden wollen, aber mit Begriffen muß man immer arbeiten. Soll das Wort Beschreibung als Bezeichung für den ersten Schritt zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge im Gegensatz zum zweiten Schritt, der Klassifikation überhaupt einen Sinn haben, so darf man darunter nur die Art der Klassifikation verstehen, welche die Gestaltungen der Wirklichkeit lediglich mit Hilfe der ohne bewußte logische Absicht entstandenen Wortbedeutungen vereinfacht. Das ist als erster Schritt immer notwendig; aber warum diese Vereinfachung vor anderen einen Vorzug haben soll, ist nicht einzusehen. Die Wissenschaft auf Beschreibung von Tatsachen in diesem Sinne einschränken, würde heißen, daß sie bei der ursprünglichen, durch äußerliche Ähnlichkeiten entstandenen Ordnung der anschaulichen Mannigfaltigkeit stehen bleiben müsse. Das wird niemand im Ernst wollen. Ja, wir können sagen, daß in einem wissenschaftlichen Zusammenhang Urteile, die nur unwillkürlich entstandene Wortbedeutungen benutzen, nur ganz vereinzelt und nur als erster Ansatz vorkommen werden. Fast niemals greifen wir beliebig irgendeine Wortbedeutung heraus. Wir  wählen  sie zu einem bestimmten Zweck und benutzen die in ihr vollzogene Vereinfachung der anschaulichen Mannigfaltigkeit so, daß durch diese Benutzung die Wortbedeutung einen logischen Wert erhält, den sie als unwillkürlich entstandenes psychologisches Produkt nicht besitzt. Urteile, in denen solche Wortbedeutungen vorkommen, sind dann immer schon mehr als bloße Beschreibung im oben angegebenen Sinne.

Das ist auch der Grund, warum wir schon Gebilde, die psychologisch betrachtet, sich von bloßen Wortbedeutungen nicht unterscheiden, als Begriffe bezeichnen. Wir setzen damit Wortbedeutungen und Begriffe durchaus nicht gleich. Die Allgemeinheit allein genügt nicht, um ein psychisches Gebilde zu einem Begriff zu machen. Darin stimmen wir mit SIGWART vollkommen überein. Wir nennen die Wortbedeutungen nur Begriffe, wenn die durch sie vollzogene Vereinfachung der Anschauung in der angegebenen Weise in den Dienst des Erkennens tritt und so durch die Allgemeinheit ein logischer Zweck erreicht wird. Wir glauben zu dieser Bezeichnung umso mehr Recht zu haben, als auch die ausgebildeten wissenschaftlichen Begriffe ihren Wert zum größten Teil derselben Leistung verdanken, die wir als das wesentliche Charakteristikum schon der primitivsten Begriffsbildung ansehen, nämlich der Überwindung der intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge. Dies im Folgenden zu zeigen, wird unsere Aufgabe sein.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd XVIII, Heft 3, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) BENNO ERDMANN, Logik I, Seite 184
    2) Es sei bemerkt, daß die vorliegende Abhandlung, obwohl sie einen in sich geschlossenen Gedankengang darzustellen versucht, nur einen Teil einer größeren Arbeit bildet, in der ich die  Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung  aufzuzeigen beabsichtige, d. h. nachweisen will, auf welchen Gebieten wissenschaftlicher Forschung die naturwissenschaftliche Art der Begriffsbildung nicht angewendet werden kann.
    3) Vgl. hierzu ALOIS RIEHL, Kritizismus II, Seite 281 - 317, wo überzeugend nachgewiesen ist, daß aus der Annahme der Endlichkeit der Masse in Verbindung mit der zeitlichen Unendlichkeit der Welt nicht gefolgert werden darf, daß sich die nämlichen Erscheinungen der Welt wiederholen.
    4) Das Wort  intensiv  wird in diesem Zusammenhang nicht mißverstanden werden. Es soll nicht nur die qualitative, sondern auch die quantitative Mannigfaltigkeit der Einzelanschauung bezeichnen. Gewiss ist es immer bedenklich, ein Wort in einer Bedeutung zu gebrauchen, die sich mit der herkömmlichen nicht ganz deckt, aber andere Ausdrücke, etwa äußerliche und innerliche Mannigfaltigkeit, die wir hätten wählen können, schienen nicht weniger bedenklich.
    5) Den Psychologen ist Gelegenheit gegeben, das moderne Allheilmittel des "Darwinismus" auch zur "Erklärung" der allgemeinen Wortbedeutungen zu verwenden. Es kann kein Zweifel sein, daß die Vereinfachung der Wirklichkeit die Orientierung in der Welt erleichtert und dadurch zu einer wichtigen Waffe im Kampf ums Dasein wird. Dann würde die Allgemeinheit, auch psychologisch betrachtet, ein Mittel zur Überwindung der anschaulichen Mannigfaltigkeit sein. Doch soll diese Bemerkung durchaus nicht zur Stütze unserer logischen Theorie dienen.
    6) Vgl. die sehr interessanten Schriften von CONRAD FIEDLER "Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst" und "Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit".
    7) Daß hierbei die Sätze gar nicht in Frage kommen, in denen als Subjekt oder Prädikat die Wörter als solche, als diese bestimmten Lautkomplexe gemeint sind, versteht sich von selbst. Vgl. SIGWART, Logik I, 2. Auflage, Seite 27f
    8) Es ist ein Verdienst VOLKELTs in seinen Ausführungen über den Begriff ("Erfahrung und Denken", Seite 317f), mit denen ich auch im Folgenden (allerdings mehr im Resultat, als in der Begründung) in wesentlichen Punkten übereinstimme, wieder entschieden darauf hingewiesen zu haben, daß der Begriff allgemein oder, wie er sagt, eine Vorstellung vom Gemeinsamen ist. Die Frage, inwiefern sich Subjekts- und Prädikatsvorstellung in Bezug auf die Allgemeinheit unterscheiden, ist für unseren Zusammenhang ohne Bedeutung.
    9) Umso wichtiger sind diese "Begriffe" für die historischen Wissenschaften, die wir hier jedoch ausdrücklich von der Behandlung ausschließen.
    10) Vgl. HEINRICH RICKERT, Der Gegenstand der Erkenntnis. Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transzendenz (Freiburg 1892), Seite 71. Daß auch von dem mit jeder Anschauung notwendig verknüpften Bewußtsein ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit ein Weg ins Überindividuelle führt, ist sehr wahrscheinlich.
    11) CHRISTOPH SIGWART, Logik II, 2. Auflage, Seite 8 f