cr-4 TetensMaine de BiranKant    
 
ARTHUR SCHOPENHAUER
(1788-1860)
Die Welt als
Wille und Vorstellung

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"Wer eine Sache, die nicht zu materiellem Nutzen führt, ernsthaft nimmt und betreibt, darf auf die Teilnahme der Zeitgenossen nicht rechnen. Wohl aber wird er meistens sehen, daß unterdessen der Schein einer solchen Sache sich in der Welt geltend macht und seinen Tag genießt: und das ist auch in Ordnung. Denn die Sache selbst muß auch ihrer selbst wegen betrieben werden: sonst kann sie nicht gelingen; weil überall jede Absicht die Einsicht bedroht. Demgemäß hat, wie die Literaturgeschichte durchweg bezeugt, jedes Wertvolle, um zur Geltung zu gelangen, viel Zeit gebraucht; zumal wenn es von der belehrenden, nicht von der unterhaltenden Gattung war: und unterdessen glänzte das Falsche."

"Kants  Lehre bringt in jedem Kopf, der sie gefaßt hat, eine fundamentale Veränderung hervor, die so groß ist, daß sie für eine geistige Wiedergeburt gelten kann. Sie allein nämlich vermag, den ihm angeborenen, von der ursprünglichen Bestimmung des Intellekts herrührenden Realismus wirklich zu beseitigen, wozu weder  Berkeley  noch  Malebranche  ausreichen; da diese zu sehr im Allgemeinen bleiben, während  Kant  ins Besondere geht und zwar in einer Weise, die weder Vorbild noch Nachbild kennt und eine ganz eigentümliche, man möchte sagen unmittelbare Wirkung auf den Geist hat, infolge welcher dieser eine gründliche Enttäuschung erleidet und fortan alle Dinge in einem anderen Licht erblickt."

"Was nun, in aller Welt, geht meine rücksichtslose und nahrungslose, grüblerische Philosophie, - welche zu ihrem Nordstern ganz allein die Wahrheit, die nackte, unbelohnte, unbefreundete, oft verfolgte Wahrheit hat und, ohne rechts oder links zu blicken, gerade auf diese zusteuert, - jene  alma mater,  die gute, nahrhafte Universitätsphilosophie an, welche, mit hundert Absichten und tausend Rücksichten belastet, behutsam ihres Weges daherlaviert kommt, indem sie allezeit die Furcht des Herrn, den Willen des Ministeriums, die Satzungen der Landeskirche, die Wünsche des Verlegers, den Zuspruch der Studenten, die gute Freundschaft der Kollegen, den Gang der Tagespolitik, die momentane Richtung des Publikums und was noch alles vor Augen hat?"


Vorrede statt der Einleitung

Wie dieses Buch zu lesen ist, um möglicherweise verstanden werden zu können, habe ich hier anzugeben mir vorgesetzt. - Was durch dasselbe mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke. Dennoch konnte ich, aller Bemühungen ungeachtet, keinen kürzeren Weg ihn mitzuteilen finden, als dieses ganze Buch. - Ich halte jenen Gedanken für dasjenige, was man unter dem Namen der Philosophie sehr lange gesucht hat, und dessen Auffindung, eben daher, von den historisch Gebildeten für so unmöglich gehalten wird, wie die des Steins der Weisen, obgleich ihnen schon PLINIUS sagte: "Quam multa fieri non posse, priusquam sint facta, judicantur? [Wie vieles hält man für unmöglich, bevor es ausgeführt ist?] (Hist. nat. 7, 1.)

Je nachdem man jenen einen mitzuteilenden Gedanken von verschiedenen Seiten betrachtet, zeigt er sich als das, was man Metaphysik, das, was man Ethik und das, was man Ästhetik genannt hat; und freilich müßte er auch dies alles sein, wenn er wäre, wofür ich ihn, wie schon eingestanden, halte.

Ein  System von Gedanken  muß allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, d. h. einen solchen, in welchem immer ein Teil den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel getragen wird, ohne zu tragen. Hingegen  ein einziger Gedanke  muß, so umfassend er sein mag, die vollkommene Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Zweck seiner Mitteilung, sich in Teile zerlegen; so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Teile ein organischer, d. h. ein solcher sein, wo jeder Teil ebensosehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Teil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden ist. - Ein Buch muß nun aber auch eine erste und eine letzte Zeile haben und wird insofern einen Organismus allemal sehr unähnlich bleiben, so sehr diesem ähnlich auch immer sein Inhalt bleiben mag: folglich werden Form und Stoff hier im Widerspruch stehen.

Es ergibt sich von selbst, daß, unter solchen Umständen, zum Eindringen in den dargelegten Gedanken kein anderer Rat ist, als  das Buch zweimal zu lesen  und zwar das erste Mal mit vieler Geduld, welche allein zu schöpfen ist aus dem freiwillig geschenkten Glauben, daß der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetzt, wie das Ende den Anfang, und ebenso jeder frühere Teil den späteren beinahe so sehr, als dieser jenen. Ich sage "beinahe": denn ganz und gar so ist es keineswegs, und was nur irgendwie zu tun möglich war, um das, welches am wenigsten erst durch das Folgende aufgeklärt wird, voranzuschicken, wie überhaupt, was nur irgendwie zur möglichst leichten Faßlichkeit und Deutlichkeit beitragen konnte, ist redlich und gewissenhaft geschehen: ja, es könnte sogar damit in gewissem Grad gelungen sein, wenn nicht der Leser, was sehr natürlich ist, nicht bloß an das jedesmal Gesagte, sondern auch an die möglichen Folgerungen daraus, beim Lesen dächte, wodurch, außer den vielen wirklich vorhandenen Widersprüchen gegen die Meinungen der Zeit und mutmaßlich auch des Lesers, noch so viele andere antizipierte und imaginäre hinzukommen können, daß sich dann als lebhafte Mißbilligung darstellen muß, was noch bloßes Mißverständnis ist, wofür man es aber umso weniger erkennt, als die mühsam erreichte Klarheit der Darstellung und Deutlichkeit des Ausdrucks über den unmittelbaren Sinn des Gesagten wohl nie zweifelhaft läßt, jedoch nicht seine Beziehungen auf alles übrige zugleich aussprechen kann. Darum also erfordert die erste Lektüre, wie gesagt, Geduld, aus der Zuversicht geschöpft, bei der zweiten vieles, oder alles, in ganz anderen Licht erblicken zu werden. Übrigens muß das ernsthafte Streben nach völliger und selbst leichter Verständlichkeit, bei einem sehr schwierigen Gegenstand, es rechtfertigen, wenn hier und dort sich eine Wiederholung findet. Schon der organische, nicht kettenartige Bau des Ganzen machte es nötig, bisweilen dieselbe Stelle zweimal zu berühren. Eben dieser Bau auch und der sehr enge Zusammenhang aller Teile hat die mir sonst sehr schätzbare Einteilung in Kapitel und Paragraphen nicht zugelassen; sondern mich genötigt, es bei vier Hauptabteilungen, gleichsam vier Gesichtspunkten des einen Gedankens, bewenden zu lassen. In jedem dieser vier Bücher hat man sich besonders zu hüten, nicht über die notwendig abzuhandelnden Einzelheiten den Hauptgedanken, dem sie angehören, und die Fortschreitung der ganzen Darstellung aus den Augen zu verlieren. - Hiermit ist nun die erste und, gleich den folgenden, unerläßliche Forderung an den (dem Philosophen, eben weil der Leser selbst einer ist) ungeneigten Leser ausgesprochen.

Die zweite Forderung ist diese, daß man vor dem Buch die Einleitung zu demselben lesen soll, obgleich sie nicht mit im Buch steht, sondern fünf Jahre früher erschienen ist, unter dem Titel: "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" - eine philosophische Abhandlung. - Ohne Bekanntschaft mit dieser Einleitung und Propädeutik ist das eigentliche Verständnis der gegenwärtigen Schrift ganz und gar nicht möglich, und der Inhalt jener Abhandlung wird hier also überall vorausgesetzt, als stände sie mit im Buch. Übrigens würde sie ihm, wenn sie diesem nicht schon um mehrere Jahre vorangegangen wäre, doch wohl nicht als Einleitung vorstehen, sondern dem ersten Buch einverleibt sein, welches jetzt, indem ihm das in der Abhandlung Gesagte fehlt, eine gewisse Unvollkommenheit schon durch diese Lücken zeigt, welche es immer durch ein Berufen auf jene Abhandlung ausfüllen muß. Indessen war mein Widerwille, mich selbst abzuschreiben, oder das schon einmal zur Genüge Gesagte mühselig unter anderen Worten nochmals vorzubringen, so groß, daß ich diesen Weg vorzog, ungeachtet dessen, daß ich sogar jetzt dem Inhalt jener Abhandlung eine etwas bessere Darstellung geben könnte, zumal ich sie von manchen, aus meiner damaligen zu großen Befangenheit in der kantischen Philosophie herrührenden Begriffen reinigte, als da sind: Kategorien, äußerer und innerer Sinn und dgl. Indessen stehen auch dort jene Begriffe nur noch, weil ich mich bis dahin eigentlich nie tief mit ihnen eingelassen hatte, daher nur als Nebenwerk und ganz außerhalb einer Berührung mit der Hauptsache, weshalb dann auch die Berichtigung solcher Stellen jener Abhandlung, durch die Bekanntschaft mit der gegenwärtigen Schrift, sich in den Gedanken des Lesers ganz von selbst machen wird. - Aber allein wenn man durch jene Abhandlung vollständig erkannt hat, was der Satz vom Grunde ist und bedeutet, worauf und worauf nicht sich seine Gültigkeit erstreckt, und daß nicht vor allen Dingen jener Satz, und erst infolge und Gemäßheit desselben, gleichsam als sein Korollarium [Zugabe - wp], die ganze Welt sei; sondern er vielmehr nichts weiter ist, als die Form, in der das stets durch das Subjekt bedingte Objekt, welcher Art es auch sei, überall erkannt wird, sofern das Subjekt ein erkennendes Individuum ist: nur dann wird es möglich sein, auf die hier zuerst versuchte, von allen bisherigen völlig abweichende Methode des Philosophierens einzugehen.

Allein derselbe Widerwille, mich selbst wörtlich abzuschreiben, oder aber auch mit anderen und schlechteren Worten, nachdem ich mir die besseren selbst vorweggenommen habe, zum zweitenmal ganz dasselbe zu sagen, hat noch eine zweite Lücke im ersten Buch dieser Schrift veranlaßt, indem ich all das weggelassen habe, was im ersten Kapitel meiner Abhandlung "Über das Sehen und die Farben" steht und sonst hier wörtlich seine Stelle gefunden hätte. Also auch die Bekanntschaft mit dieser früheren kleinen Schrift wird hier vorausgesetzt.

Die dritte an den Leser zu machende Forderung endlich könnte sogar stillschweigend vorausgesetzt werden: denn es ist keine andere, als die der Bekanntschaft mit der wichtigsten Erscheinung, welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie hervorgetreten ist und uns so nahe liegt: ich meine die Hauptschriften KANTs. Die Wirkung, welche sie in dem Geist, zu welchem sie wirklich reden, hervorbringen, finde ich in der Tat, wie wohl schon sonst gesagt wurde, der Staroperation am Blinden gar sehr zu vergleichen: und wenn wir das Gleichnis fortsetzen wollen, so ist mein Zweck dadurch zu bezeichnen, daß ich denen, an welchen jene Operation gelungen ist, eine Starbrille habe in die Hand geben wollen, zu deren Gebrauch also jene Operation selbst die notwendigste Bedingung ist. - So sehr ich demnach von dem ausgehe, was der große KANT geleistet hat; so hat dennoch eben das ernsthafte Studium seiner Schriften mich bedeutende Fehler in denselben entdecken lassen, welche ich aussondern und als verwerflich darstellen mußte, um das Wahre und Vortreffliche seiner Lehre rein davon und geläutert voraussetzen und anwenden zu können. Um aber nicht meine eigene Darstellung durch häufige Polemik gegen KANT zu unterbrechen und zu verwirren, habe ich diese in einen besonderen Anhang gebracht. So sehr nun, dem Gesagten zufolge, meine Schrift die Bekanntschaft mit der kantischen Philosophie voraussetzt; so sehr setzt sie also auch die Bekanntschaft mit jenem Anhang voraus: daher wäre es in dieser Rücksicht ratsam, den Anhang zuerst zu lesen, umso mehr als der Inhalt desselben gerade zum ersten Buch der gegenwärtigen Schrift genaue Beziehungen hat. Andererseits konnte, der Natur der Sache nach, es nicht vermieden werden, daß nicht auch der Anhang hin und wieder sich auf die Schrift selbst beriefe: daraus nichts anderes folgt, als daß er ebensowohl wie der Hauptteil des Werkes zweimal gelesen werden muß.

KANTs Philosophie also ist die einzige, mit welcher eine gründliche Bekanntschaft bei dem hier Vorzutragenden geradezu vorausgesetzt wird. - Wenn aber überdies noch der Leser in der Schule des göttlichen PLATON geweilt hat; so wird er umso besser vorbereitet und empfänglicher sein mich zu hören. Ist er aber gar noch der Wohltat der  Veden  teilhaftig geworden, deren uns durch die Upanischaden eröffneter Zugang, in meinen Augen, der größte Vorzug ist, den dieses noch junge Jahrhundert vor den früheren aufzuweisen hat, indem ich vermute, daß der Einfluß der Sanskrit-Literatur nicht weniger tief eingreifen wird, als im 14. Jahrhundert die Wiederbelebung der Griechischen: hat also, sage ich, der Leser auch schon die Weihe uralter indischer Weisheit empfangen und empfänglich aufgenommen; dann ist er auf das allerbeste bereitet zu hören, was ich ihm vorzutragen habe. Ihn wird es dann nicht, wie machen Anderen fremd, ja feindlich ansprechen; da ich, wenn es nicht zu stolz klänge, behaupten möchte, daß jede von den einzelnen und abgerissenen Aussprüchen, welche die Upanischaden ausmachen, sich als Folgesatz aus dem von mir mitzuteilenden Gedanken ableiten ließe, obgleich keineswegs auch umgekehrt dieser schon dort zu finden ist.

Aber schon sind die meisten Leser ungeduldig aufgefahren und in den mühsam so lange zurückgehaltenen Vorwurf ausgebrochen, wie ich doch wagen könne, dem Publikum ein Buch unter Forderungen und Bedingungen, von denen die beiden ersten anmaßend und ganz unbescheiden sind, vorzulegen, und dies zu einer Zeit, wo ein so allgemeiner Reichtum an eigentümlichen Gedanken ist, daß in Deutschland allein solche jährlich in dreitausend gehaltreichen, originellen und ganz unentbehrlichen Werken, und außerdem in unzähligen periodischen Schriften oder gar täglichen Blättern durch die Druckerpresse zuzm Gemeingut gemacht werden? zu einer Zeit, wo besonders an ganz originellen und tiefen Philosophen nicht der mindeste Mangel ist; sondern allein in Deutschland deren mehr zugleich leben, als sonst etliche Jahrhunderte hintereinander aufzuweisen hatten? wie man denn, frägt der entrüstete Leser, zu Ende kommen soll, wenn man mit  einem  Buch so umständlich zu Werke gehen muß? -

Da ich gegen solche Vorwürfe nicht das Mindeste vorzubringen habe, hoffe ich nur auf einigen Dank bei diesen Lesern dafür, daß ich sie bei Zeiten gewarnt habe, damit sie keine Stunde verlieren mit einem Buch, dessen Durchlesung ohne Erfüllung der gemachten Forderungen nicht fruchten könnte, und daher ganz zu unterlassen ist, zumal auch sonst gar Vieles zu wetten wäre, daß es ihnen nicht zusagen kann, daß es vielmehr immer nur  paucorum hominum  [Wenigen zugänglich] sein wird und daher gelassen und bescheiden auf die Wenigen warten muß, deren ungewöhnliche Denkungsart es genießbar fände. Denn, auch abgesehen von den Weitläufigkeiten und der Anstrengung, die es dem Leser zumutet, welcher Gebildete dieser Zeit, deren Wissen dem herrlichen Punkt nahe gekommen ist, wo paradox und falsch ganz einerlei sein, könnte es ertragen, fast auf jeder Seite Gedanken zu begegnen, die dem, was er doch selbst ein für allemal als wahr und ausgemacht festgesetzt hat, geradezu widersprechen? und dann, wie unangenehm wird Mancher sich getäuscht finden, wenn er hier gar keine Rede antrifft von dem, was er gerade hier durchaus suchen zu müssen glaubt, weil seine Art zu spekulieren zusammentrifft mit der eines noch lebenden großen Philosophen, welcher wahrhaft rührende Bücher geschrieben und nur die kleine Schwachheit hat, alles was er vor seinem fünfzehnten Jahr gelernt und approbiert hat, für angeborene Grundgedanken des menschlichen Geistes zu halten. Wer möchte dies alles ertragen? Daher ist mein Rat, das Buch nur wieder wegzulegen.

Allein ich fürchte selbst so nicht loszukommen. Der bis zur Vorrede, die ihn abweist, gelangte Leser hat das Buch für bares Geld gekauft und frägt, was ihn dann schadlos hält? - Meine Zuflucht ist jetzt, ihn zu erinnern, daß er ein Buch, auch ohne es überhaupt zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird. Oder er könnte es auch seiner gelehrten Freundin auf die Toilette oder den Teetisch legen. Oder endlich kann er ja, was gewiß das Beste von allem ist und ich besonders rate, es rezensieren.

*

Und so, nachdem ich mir den Scherz erlaubt habe, dem eine Stelle zu gönnen, in diesem durchweg zweideutigen Leben kaum irgendein Blatt zu ernsthaft sein kann, gebe ich mit innigem Ernst das Buch hin, in der Zuversicht, daß es früh oder spät diejenigen erreichen wird, an welche es allein gerichtet sein kann, und übrigens gelassen darin ergeben, daß auch ihm in vollem Maß das Schicksal wird, welches in jeder Erkenntnis, also umso mehr in der wichtigsten, allezeit der Wahrheit zuteil wurde, der nur ein kurzes Siegesfest beschieden ist, zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringeschätzt wird. Auch pflegt das erstere Schicksal ihren Urheber mitzutreffen. - Aber das Leben und die Wahrheit wirkt fern und lebt lange: sagen wir die Wahrheit.


Vorrede zur zweiten Auflage

Nicht den Zeitgenossen, nicht den Landgenossen, - der Menschheit übergebe ich mein nunmehr vollendetes Werk, in der Zuversicht, daß es nicht ohne Wert für sie sein wird; sollte auch dieser, wie es das Los des Guten in jeder Art mit sich bringt, erst spät erkannt werden. Denn nur für sie, nicht für das vorübereilende, mit seinem einstweiligen Wahn beschäftigte Geschlecht, kann es gewesen sein, daß mein Kopf, fast wider meine Willen, ein langes Leben hindurch, seiner Arbeit unausgesetzt obgelegen hat. Am Wert derselben hat mich, während der Zeit, auch der Mangel an Teilnahme nicht irre machen können; weil ich fortwährend das Falsche, das Schlechte, zuletzt das Absurde und Unsinnige (1) in allgemeiner Bewunderung und Verehrung stehen sah und bedachte, daß wenn diejenigen, welche das Echte und Reche zu erkennen fähig sind, nicht so selten wären, daß man einige zwanzig Jahre hindurch vergeblich nach ihnen sich umsehen kann, derer, die es hervorzubringen vermögen, nicht so wenige sein könnten, daß ihre Werke nachmals eine Ausnahme machen von der Vergänglichkeit irdischer Dinge; wodurch dann die erquickende Aussicht auf die Nachwelt verloren ginge, deren jeder, der sich ein hohes Ziel gesteckt hat, zu seiner Stärkung bedarf. - Wer eine Sache, die nicht zu materiellem Nutzen führt, ernsthaft nimmt und betreibt, darf auf die Teilnahme der Zeitgenossen nicht rechnen. Wohl aber wird er meistens sehen, daß unterdessen der Schein einer solchen Sache sich in der Welt geltend macht und seinen Tag genießt: und das ist auch in Ordnung. Denn die Sache selbst muß auch ihrer selbst wegen betrieben werden: sonst kann sie nicht gelingen; weil überall jede Absicht die Einsicht bedroht. Demgemäß hat, wie die Literaturgeschichte durchweg bezeugt, jedes Wertvolle, um zur Geltung zu gelangen, viel Zeit gebraucht; zumal wenn es von der belehrenden, nicht von der unterhaltenden Gattung war: und unterdessen glänzte das Falsche. Denn die Sache mit dem Schein der Sache zu vereinigen ist schwer, wenn nicht unmöglich. Das ist eben der Fluch dieser Welt der Not und des Bedürfnisses, daß diesen alles dienen und fröhnen muß: sie ist nicht so beschaffen, daß in ihr irgendein edles und erhabenes Streben, wie das nach Licht und Wahrheit ist, ungehindert gedeihen und seiner selbst wegen dasein dürfte. Sondern selbst wenn einmal ein solches sich hat geltend machen können und dadurch der Begriff davon eingeführt ist; so werden alsbald die materiellen Interessen, die persönlichen Zwecke, sich auch seiner bemächtigen, um ihr Werkzeug, oder ihre Maske daraus zu machen. Demgemäß mußte, nachdem KANT die Philosophie von Neuem zu Ansehen gebracht hatte, auch sie gar bald das Werkzeug der Zwecke werden, der staatlichen von oben, der persönlichen von unten; - wenn auch, genau genommen, nicht sie; so doch ihr Doppelgänger, der für sie gilt. Dies darf uns aber nicht befremden: denn die unglaublich große Mehrzahl der Menschen ist, ihrer Natur zufolge, durchaus keiner andern, als materieller Zwecke fähig, ja, kann keine andern begreifen. Demnach ist das Streben nach Wahrheit allein ein viel zu hohes und exzentrisches, als daß erwartet werden dürfte, daß Alle, daß Viele, ja daß auch nur Einige aufrichtig daran teilnehmen sollten. Sieht man dennoch einmal, wie z. B. eben jetzt in Deutschland, eine auffallende Regsamkeit, ein allgemeines Treibe, Schreiben und Reden in Sachen der Philosophie; so darf man zuversichtlich voraussetzen, daß das wirkliche  primum mobile  [erster Beweggrund], die versteckte Triebfeder einer solchen Bewegung, aller feierlichen Mienen und Versicherungen ungeachtet, allein reale, nicht ideale Zwecke sind, daß nämlich persönliche, amtliche, kirchliche, staatliche, kurz: materielle Interessen es sind, die man dabei im Auge hat, und daß folglich bloße Parteizwecke die vielen Federn angeblicher Weltweiser in so starke Bewegung setzen, mithin daß Absichten, nicht Einsichten, der Leitstern dieser Tumultuanten sind, die Wahrheit aber gewiß das Letzte ist, woran dabei gedacht wird. Sie findet keine Parteigänger: vielmehr kann sie, durch ein solches philosophisches Streitgetümmel hindurch, ihren Weg so ruhig und unbeachtet zurücklegen, wie durch die Winternacht des finstersten, im starrsten Kirchenglauben befangenen Jahrhunderts, wo sie dann nur als Geheimlehre wenigen Adepten mitgeteilt, oder gar dem Pergament allein anvertraut wird. Ja, ich möchte sagen, daß keine Zeit der Philosophie ungünstiger sein kann, als die, da sie von der einen Seite als Staatsmittel, von der andern als Erwerbsmittel schnöde mißbraucht wird. Oder glaubt man etwa, daß bei einem solchen Streben und unter einem solchen Getümmel, so nebenher auch die Wahrheit, auf die es dabei gar nicht abgesehen ist, zutage kommen wird? Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.

Machen nun die Regierungen die Philosophie zum Mittel ihrer Staatszwecke; so sehen andererseits die Gelehrten in philosophischen Professuren ein Gewerbe, das seinen Mann nährt, wie jedes andere: sie drängen sich also danach, unter der Versicherung ihrer guten Gesinnung, d. h. der Absicht, jenen Zwecken zu dienen. Und sie halten Wort: nicht Wahrheit, nicht Klarheit, nicht PLATON, nicht ARISTOTELES, sondern die Zwecke, denen zu dienen sie bestellt wurden, sind ihr Leitstern und werden sofort auch das Kriterium des Wahren, des Wertvollen, des zu Beachtenden und ihres Gegenteils. Was daher jenen nicht entspricht, und wäre es das Wichtigste und Außerordentlichste in ihrem Fach, wird entweder verurteilt, oder, wo dies bedenklich scheint, durch einmütiges Ignorieren erstickt. Man sehe nur ihren einhelligen Eifer gegen den Pantheismus: wird irgendein Tropf glauben, der gehe aus Überzeugung hervor? - Wie sollte auch überhaupt die zum Brotgewerbe herabgewürdigte Philosophie nicht in Sophistik ausarten? Eben weil dies unausbleiblich ist und die Regel "Wess Brot ich ess', dess Lied ich sing'" von jeher gegolten hat, war bei den Alten das Geldverdienen mit der Philosophie das Merkmal des Sophisten. - Nun kommt aber noch hinzu, daß, da in dieser Welt überall nichts als Mittelmäßigkeit zu erwarten steht, gefordert werden darf und für Geld zu haben ist, man mit dieser auch hier vorlieb zu nehmen hat. Danach sehen wir dann, auf allen deutschen Universitäten, die liebe Mittelmäßigkeit sich abmühen, die noch gar nicht vorhandene Philosophie aus eigenen Mitteln zustande zu bringen, und zwar nach vorgeschriebenem Maß und Ziel; - ein Schauspiel, über welches zu spotten beinahe grausam wäre.

Während solchermaßen schon lange die Philosophie durchgängig als Mittel dienen mußte, von der einen Seite zu öffentlichen, von der andern zu Privatzwecken, bin ich, davon ungestört, seit mehr als dreißig Jahren, meinem Gedankenzug nachgegangen, eben auch nur weil ich es mußte und nicht anders konnte, aus einem instinktartigen Trieb, der jedoch von der Zuversicht unterstützt wurde, daß was Einer Wahres gedacht und Verborgenes beleuchtet hat, doch auch irgendwann von einem anderen denkenden Geist gefaßt werden, ihn ansprechen, freuen und trösten wird: zu einem solchen redet man, wie die uns Ähnlichenzu uns geredet haben und dadurch unser Trost in dieser Lebensöde geworden sind. Seine Sache treibt man derweilen ihrer selbst wegen und für sich selbst. Nun aber steht es um philosophische Meditationen seltsamerweise so, daß gerade nur das, was einer für sich selbst durchdacht und erforscht hat, nachmals auch Anderen zugute kommt, nicht aber das, was schon ursprünglich für Andere bestimmt war. Kenntlich ist jenes zunächst am Charakter durchgängiger Redlichkeit; weil man nicht sich selbst zu täuschen sucht, noch sich selber hohle Nüsse darreicht; wodurch dann alles Sophistizieren und aller Wortkram wegfällt und infolge hiervon jede hingeschriebene Periode für die Mühe sie zu lesen sogleich entschädigt. Dem entsprechend tragen meine Schriften das Gepräge der Redlichkeit und Offenheit so deutlich auf der Stirn, daß sie schon dadurch grell abstechen von denen der drei berühmten Sophisten der nachkantischen Periode: stets findet man mich auf dem Standpunkt der  Reflexion d. h. der vernünftigen Besinnung und redlichen Mitteilung, niemals auf dem der  Inspiration,  genannt intellektuelle Anschauung, oder auch absolutes Denken, beim rechten Namen jedoch Windbeutelei und Scharlatanerie. - In diesem Geist also arbeitend und währenddessen immerfort das Falsche und Schlechte in allgemeiner Geltung, ja Windbeutelei (2) und Scharlatanerie (3) in höhcster Verehrung sehend, habe ich längst auf den Beifall meiner Zeitgenossen verzichtet. Es ist unmöglich, daß eine Zeitgenossenschaft, welche, zwanzig Jahre hindurch, einen HEGEL, diesen geistigen Kaliban [Primitivling - wp], als den größten der Philosophen ausgeschrien hat, so laut, daß es in ganz Europa widerhallte, den, der  das  angesehen hat, nach ihrem Beifall lüstern machen könnte. Sie hat keine Ehrenkränze mehr zu vergeben: ihr Beifall ist prostituiert, und ihr Tadel hat nichts zu bedeuten. Daß es hiermit mein Ernst ist, ist daraus ersichtlich, daß, wenn ich irgendwie nach dem Beifall meiner Zeitgenossen getrachtet hätte, ich zwanzig Stellen hätte streichen müssen, welche allen Ansichten derselben ganz und gar widersprechen, ja, zum Teil ihnen anstößig sein müssen. Allein ich würde es mir als Vergehen anrechnen, jenem Beifall auch nur eine Silbe zum Opfer bringen. Mein Leitstern ist ganz ernsthaft die Wahrheit gewesen: ihm nachgehend durfte ich zunächst nur nach meinem eigenen Beifall trachten, gänzlich abgewendet von einem, in Hinsicht auf alle höheren Geistesbestrebungen, tief gesunkenen Zeitalter und einer, bis auf die Ausnahmen, demoralisierten Nationalliteratur, in welcher die Kunst, hohe Worte mit niedriger Gesinnung zu verbinden, ihren Gipfel erreicht hat. Den Fehlern und Schwächen, welche meiner Natur, wie jeder die ihrigen, notwendig anhängen, kann ich freilich nimmermehr entgehen; aber ich werde sie nicht durch unwürdige Akkomodationen vermehren.

Was nunmehr diese zweite Auflage betrifft, so freut es mich zuvörderst, daß ich nach 25 Jahren nichts zurückzunehmen finde, also meine Grundüberzeugungen sich zumindest bei mir selbst bewährt haben. Die Veränderungen im ersten Band, welcher allein den Text der ersten Auflage enthält, berühren demnach nirgends das Wesentliche, sondern betreffen teils nur Nebendinge, größtenteils aber bestehen sie in meist kurzen, erläuternden, hin und wieder eingefügten Zusätzen. Bloß die Kritik der kantischen Philosophie hat bedeutende Berichtigungen und ausführliche Zusätze erhalten; da solche sich hier nicht in ein ergänzendes Buch bringen ließen, wie die vier Bücher, welche meine eigene Lehre darstellen, jedes eines, im zweiten Band, erhalten haben. Bei diesen habe ich letztere Form der Vermehrung und Verbesserung deswegen gewählt, weil die seit ihrer Abfassung verstrichenen 25 Jahre in meiner Darstellungsweise und im Ton des Vortrags eine so merkliche Veränderung herbeigeführt haben, daß es nicht wohl anging, den Inhalt des zweiten Bandes mit dem des ersten in ein Ganzes zu verschmelzen, als bei welcher Fusion beide zu leiden gehabt haben würden. Ich gebe daher beide Arbeiten gesondert und habe an der früheren Darstellung oft selbst da, wo ich mich jetzt ganz anders ausdrücken würde, nichts geändert; weil ich mich hüten wollte, nicht durch die Krittelei des Alters die Arbeit meiner jüngeren Jahre zu verderben. Was in dieser Hinsicht zu berichtigen sein möchte, wird sich, mit Hilfe des zweiten Bandes, im Geist des Lesers schon von selbst darstellen. Beide Bände haben, im vollen Sinn des Wortes, ein ergänzendes Verhältnis zueinander, sofern nämlich dieses darauf beruth, daß das eine Lebensalter des Menschen, in intellektueller Hinsicht, die Ergänzung des andern ist: daher wird man finden, daß nicht bloß jeder Band  das  enthält, was der andere nicht hat, sondern auch, daß die Vorzüge des einen gerade in  dem  bestehen, was dem andern abgeht. Wenn demnach die erste Hälfte meines Werkes vor der zweiten  das  voraus hat, was nur das Feuer der Jugend und die Energie der ersten Konzeption verleihen kann; so wird dagegen diese jene übertreffen durch die Reife und vollständige Durcharbeitung der Gedanken, welche allein den Früchten eines langen Lebenslaufes und seines Fleißes zuteil wird. Denn als ich die Kraft hatte, den Grundgedanken meines Systems ursprünglich zu erfassen, ihn sofort in seiner vier Verzweigungen zu verfolgen, von ihnen auf die Einheit ihres Stammes zurückzugehen und dann das Ganze deutlich darzustellen; da konnte ich noch nicht imstande sein, alle Teile des Systems, mit der Vollständigkeit, Gründlichkeit und Ausführlichkeit durchzuarbeiten, die nur durch eine vieljährige Meditation desselben erlangt werden kann, die erforderlich ist, um es an unzähligen Tatsachen zu prüfen und zu erläutern, es durch die verschiedenartigsten Belege zu stützen, es von allen Seiten hell zu beleuchten, die verschiedenen Gesichtspunkte danach kühn in einen Kontrast zu stellen, die mannigfaltigen Materien rein zu sondern und wohlgeordnet darzulegen. daher, wenngleich es dem Leser allerdings angenehmer sein müßte, mein ganzes Werk aus  einem  Guß zu haben, statt daß es jetzt auf zwei Hälften besteht, welche beim Gebrauch aneinander zu bringen sind; so wolle er bedenken, daß dazu erforderlich gewesen wäre, daß ich in  einem  Lebensalter geleistet hätte, was nur in zweien möglich ist, indem ich dazu in  einem  Lebensalter hätte die Eigenschaften besitzen müssen, welche die Natur an zwei ganz verschiedene verteilt hat. Demnach ist die Notwendigkeit, mein Werk in zwei einander ergänzenden Hälften zu liefern, der zu vergleichen, infolge welcher man ein achromatisches Objektivglas, weil es aus einem Stück zu verfertigen unmöglich ist, dadurch zustande bringt, daß man es aus einem Konvexglas von Krownglas zusammensetzt, deren vereinigte Wirkung allererst das Beabsichtigte leistet. Andererseits jedoch wird der Leser, für die Unbequemlichkeit zwei Bände zugleich zu gebrauchen, einige Entschädigung finden in der Abwechslung und Erholung, welche die Behandlung desselben Gegenstandes, vom selben Kopf, im selben Geist, aber in sehr verschiedenen Jahren, mit sich bringt. Inzwischen ist es für den, welcher mit meiner Philosophie noch nicht bekannt ist, durchaus ratsam, zuvörderst den ersten Band, ohne Hinzuziehung der Ergänzungen, durchzulesen und diese erst bei einer zweiten Lektüre zu benutzen; weil es ihm sonst zu schwer sein würde, das System in seinem Zusammenhang zu erfassen, da es allein durch den ersten Band dargelegt wird, während im zweiten die Hauptlehren einzeln ausführlicher begründet und vollständig entwickelt werden. Selbst wer sich zu einer zweiten Durchlesung des ersten Bandes nicht entschließen sollte, wird besser tun, den zweiten erst nach demselben und für sich durchzulesen, in der geraden Folge seiner Kapitel, welche allerdings in einem, wiewohl loseren Zusammenhang miteinander stehen, dessen Lücken ihm die Erinnerung des ersten Bandes, wenn er ihn wohl gefaßt hat, vollkommen ausführen wird: zudem findet er überall die Zurückweisung auf die betreffenden Stellen des ersten Bandes, in welchem ich, zu diesem Zweck, die in der ersten Auflage durch bloße Trennungslinien bezeichneten Abschnitte in der zweiten mit Paragraphenzahlen versehen habe. -

Schon in der Vorrede zur ersten Auflage habe ich erklärt, daß meine Philosophie von der kantischen ausgeht und daher eine gründliche Kenntnis dieser voraussetzt; ich wiederhole es hier. Denn KANTs Lehre bringt in jedem Kopf, der sie gefaßt hat, eine fundamentale Veränderung hervor, die so groß ist, daß sie für eine geistige Wiedergeburt gelten kann. Sie allein nämlich vermag, den ihm angeborenen, von der ursprünglichen Bestimmung des Intellekts herrührenden Realismus wirklich zu beseitigen, wozu weder BERKELEY noch MALEBRANCHE ausreichen; da diese zu sehr im Allgemeinen bleiben, während KANT ins Besondere geht und zwar in einer Weise, die weder Vorbild noch Nachbild kennt und eine ganz eigentümliche, man möchte sagen unmittelbare Wirkung auf den Geist hat, infolge welcher dieser eine gründliche Enttäuschung erleidet und fortan alle Dinge in einem anderen Licht erblickt. Erst hierdurch aber wird er für die positiveren Aufschlüsse empfänglich, welche ich zu geben habe. Wer sich hingegen nicht der kantischen Philosophie bemeistert hat, ist, was er auch sonst getrieben haben mag, gleichsam imstande der Unschuld, nämlich in demjenigen geblieben, in welchem wir alle geboren sind, und der zu allem Möglichen, nur nicht zur Philosophie befähigt. Folglich verhält ein Solcher sich zu jenem Ersteren wie ein Unmündiger zum Mündigen. Daß diese Wahrheit heutzutage paradox klingt, was ein den ersten dreißig Jahren nach dem Erscheinen der Vernunftkritik keineswegs der Fall gewesen wäre, kommt daher, daß seitdem ein Geschlecht herangewachsen ist, welches KANT eigentlich nicht kennt, da hierzu mehr, als eine flüchtige, ungeduldige Lektüre, oder ein Bericht aus zweiter Hand gehört, und dies wieder daher kommt, daß dasselbe, infolge schlechter Anleitung, seine Zeit mit den Philosophemen gewöhnlicher, also unberufener Köpfe oder gar windbeutelnder Sophisten, die man ihm unverantwortlicherweise anpries, vergeudet hat. Daher die Verworrenheit in den ersten Begriffen und überhaupt das unsäglich Rohe und Plumpe, welches aus der Hülle der Pretiosität [Ziererei - wp] und Prätensiosität [Wichtigtuerei - wp], in den eigenen philosophischen Versuchen des so erzogenen Geschlechts, hervorsieht. Aber in einem heillosen Irrtum ist  der  befangen, welcher meint, er könne KANTs Philosophie aus den Darstellungen Anderer davon kennen lernen. Vielmehr muß ich vor dergleichen Relationen, zumal aus neuerer Zeit, ernsthaft warnen: und gar in diesen allerletzten Jahren sind mir in Schriften der Hegelianer Darstellungen der kantischen Philosophie vorgekommen, die wirklich ins Fabelhafte gehen. Wie sollten auch die schon in frischer Jugend durch den Unsinn der Hegelei verrenkten und verdorbenen Köpfe noch fähig sein, KANTs tiefsinnigen Untersuchungen zu folgen? Sie sind früh gewöhnt, den hohlsten Wortkram für philosophische Gedanken, die armseligsten Sophismen für Scharfsinn und läppischen Aberwitz für Dialektik zu halten und durch das Aufnehmen rasender Wortzusammenstellungen, bei denen etwas zu denken der Geist sich vergeblich martert und erschöpft, sind ihre Köpfe desorganisiert. Für sie gehört keine Kritik der Vernunft, für sie keine Philosophie: für sie gehört eine  medicina mentis  [Arznei für den Geist], zunächst als Kathartikon [Genesungsauslöser - wp] etwas  un petit cours des senscommunologie  [ein kleiner Unterricht in gesundem Menschenverstand], und dann muß man weiter sehen, ob bei ihnen überhaupt noch von Philosophie die Rede sein kann. - Die kantische Lehre also wird man vergeblich irgendwo anders suchen, als in KANTs eigenen Gedanken: diese aber sind durchweg belehrend, selbst da wo er irrt, selbst da wo er fehlt. Infolge seiner Originalität gilt von ihm im höchsten Grad was eigentlich von allen echten Philosophen gilt: nur aus ihren eigenen Schriften lernt man sie kennen; nicht aus den Berichten anderer. Denn die Gedanken jener außerordentlichen Geister können die Filtration durch den gewöhnlichen Kopf hindurch nicht vertragen. Geboren hinter den breiten, hohen, schön gewölbten Stirnen, unter welchen strahlende Augen hervorleuchten, kommen sie, wenn versetzt in die enge Behausung und niedrige Bedachung der engen, gedrückten, dickwändigen Schädel, aus welchen stumpfe, auf persönliche Zweck gerichtete Blick hervorspähen, um alle Kraft und alles Leben, und sehen sich selber nicht mehr ähnlich. Ja, man kann sagen, diese Art Köpfe wirken wie unebene Spiegel, in denen sich alles verrenkt, verzerrt, das Ebenmaß seiner Schönheit verliert und eine Fratze darstellt. Nur von ihren Urhebern selbst kann man die philosophischen Gedanken empfangen: daher hat wer sich zur Philosophie getrieben fühlt, die unsterblichen Lehrer derselben im stillen Heiligtum ihrer Werke selbst aufzusuchen. Die Hauptkapitel eines jeden dieser echten Philosophen werden in ihre Lehren hundertmal mehr Einsicht verschaffen, als die schleppenden und schielenden Relationen darüber, welche Alltagsköpfe zustande bringen, die noch zudem meistens tief befangen sind in der jedesmaligen Modephilosophie, oder ihrer eigenen Herzensmeinung. Aber es ist zum Erstaunen, wie entschieden das Publikum aus zweiter Hand greift. Hierbei scheint in der Tat die Wahlverwandtschaft zu wirken, vermöge welcher die gemeine Natur zu ihresgleichen gezogen wird und demnach sogar was ein ein großer Geist gesagt hat lieber von ihresgleichen vernehmen will. Vielleicht beruth dies auf demselben Prinzip mit dem System des wechselseitigen Unterrichts, nach welchem Kinder am besten von ihresgleichen lernen.

Jetzt noch ein Wort für die Philosophieprofessoren. - Die Sagazität [Scharfblick - wp], den richtigen und feinen Takt, womit sie meine Philosophie, gleich bei ihrem Auftreten, als etwas ihren eigenen Bestrebungen ganz Heterogenes, wohl gar Gefährliches, oder, um populär zu reden, etwas das nicht in ihren Kram paßt, erkannt haben, so wie die sichere und scharfsinnige Politik, vermöge derer sie das ihr gegenüber allein richtige Verfahren sogleich herausfanden, die vollkommene Einmütigkeit, mit der sie dasselbe in Anwendung brachten, schließlich die Beharrlichkeit, mit welcher sie ihm treu geblieben sind, - habe ich von jeher bewundern müssen. Dieses Verfahren, welches sich nebenbei auch durch die überaus leichte Ausführbarkeit empfiehlt, besteht bekanntlich im gänzlichen Ignorieren und dadurch im Sekretieren, - nach GOETHEs maliziösem Ausdruck, welcher eigentlich das Unterschlagen des Wichtigen und Bedeutenden besagt. Die Wirksamkeit dieses stillen Mittels wird erhöht durch den Korybantenlärm [Ritualtänzer - wp], mit welchem die Geburt der Geisteskinder der Einverstandenen gegenseitig gefeiert wird, und welcher das Publikum nötigt hinzusehen und die wichtigen Mienen gewahr zu werden, mit welchen man sich darüber begrüßt. Wer könnte das Zweckmäßige dieses Verfahrens kennen? Ist doch gegen den Grundsatz  primum vivere, deinde philosophari  [erst leben, dann philosophieren - wp] nichts einzuwenden. Die Herren wollen leben und zwar von der  Philosophie  leben: an  diese  sind sie, mit Weib und Kind, gewiesen, und haben, trotz dem  povera e nuda vai filosofia  [arm und nack gehst du dahin, Philosophie - wp] des PETRARCA, es darauf gewagt. Nun ist aber meine Philosophie ganz und gar nicht darauf eingerichtet, daß man von ihr leben kann. Es fehlt ihr dazu an den ersten, für eine wohlbesoldete Kathederphilosophie unerläßlichen Requisiten, zunächst gänzlich an einer spekulativen Theologie, welche doch gerade - dem leidigen KANT mit seiner Vernunftkritik zum Trotz - das Hauptthema aller Philosophie sein soll und muß, wenngleich diese dadurch die Aufgabe erhält, immerfort von dem zu reden, wovon sie schlechterdings nichts wissen kann; ja, die meinige statuiert nicht einmal die von den Philosophieprofessoren so klug ersonnene und ihnen unentbehrlich gewordene Fabel von einer unmittelbar und absolut erkennenden, anschauenden oder vernehmenden Vernunft, die man nur gleich Anfangs seinen Lesern aufzubinden braucht, um nachher in das von KANT unserer Erkenntnis gänzlich und auf immer abgesperrte Gebiet jenseits der Möglichkeit aller Erfahrung, auf die bequemste Weise von der Welt, gleichsam mit vier Pferden einzufahren, woselbst man sodann gerade die Grunddogmen des modernen, judaisierenden, optimistischen Christentums unmittelbar offenbart und auf das schönste zurechtgelegt vorfindet. Was nun, in aller Welt, geht meine, dieser wesentlichen Requisiten ermangelnde, rücksichtslose und nahrungslose, grüblerische Philosophie, - welche zu ihrem Nordstern ganz allein die Wahrheit, die nackte, unbelohnte, unbefreundete, oft verfolgte Wahrheit hat und, ohne rechts oder links zu blicken, gerade auf diese zusteuert, - je  alma mater,  die gute, nahrhafte Universitätsphilosophie an, welche, mit hundert Absichten und tausend Rücksichten belastet, behutsam ihres Weges daherlaviert kommt, indem sie allezeit die Furcht des Herrn, den Willen des Ministeriums, die Satzungen der Landeskirche, die Wünsche des Verlegers, den Zuspruch der Studenten, die gute Freundschaft der Kollegen, den Gang der Tagespolitik, die momentane Richtung des Publikums und was noch alles vor Augen hat? Oder was hat mein stilles, ernstes Forschen nach Wahrheit gemein mit dem gellenden Schulgezänke der Katheder und Bänke, dessen innerste Triebfedern stets persönliche Zwecke sind ? Vielmehr sind beide Arten der Philosophie sich von Grund aus heterogen. Darum auch gibt es mit mir keinen Kompromiß und keine Kameradschaft, und findet bei mir keiner seine Rechnung, als nur der, welcher nichts als die Wahrheit sucht; also keine der philosophischen Parteien des Tages: denn sie alle verfolgen ihre Absichten; ich aber habe bloße Einsichten zu bieten, die zu keiner von jenen passen, weil sie eben nach keiner gemodelt sind. Damit aber meine Philosophie selbst kathederfähig würde, müßten erst ganz andere Zeiten heraufgezogen sein. - Das wäre also etwas Schönes, wenn so eine Philosophie, von der man gar nicht leben kann, Luft und Licht, wohl gar allgemeine Beachtung gewönne! Mithin war dies zu verhüten und mußten dagegen alle für einen Mann stehen. Beim Bestreiten und Widerlegen aber hat man nicht so leichtes Spiel: auch ist dies schon darum ein mißliches Mittel, weil es die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Sache hinlenkt, und diesem das Lesen meiner Schriften den Geschmack an den Lubrikationen [Schlüpfrigkeiten - wp] Philosophieprofessoren verderben könnte. Denn wer den Ernst gekostet hat, dem wird der Spaß, zumal von der langweiligen Art, nicht mehr munden. Demnach ist also das so einmütig ergriffene schweigende System das allein richtige, und ich kann nur raten, dabei zu bleiben und damit fortzufahren, solange es geht, solange nämlich bis einst aus dem Ignorieren die Ignoranz abgeleitet wird: dann wird es zum Einlenken gerade noch Zeit sein. Bis dahin bleibt ja doch jedem unbenommen, sich hier und da ein Federchen zu eigenem Gebrauch auszurupfen, da zuhause der Überfluß an Gedanken nicht gerade sehr drückend zu sein pflegt. So kann dann das Ignorier- und Schweigesystem noch eine gute Weile vorhalten, zumindest die Spanne Zeit, die ich noch zu leben haben mag; womit schon viel gewonnen ist. Wenn auch dazwischen hie und da eine indiskrete Stimme sich hat vernehmen lassen, so wird sie doch bald übertäubt vom lauten Vortrag der Professoren, welche das Publikum von ganz anderen Dingen, mit wichtiger Miene, zu unterhalten wissen. Ich rate jedoch, auf die Einmütigkeit des Verfahrens etwas strenger zu halten und besonders die jungen Leute zu überwachen, da diese bisweilen schrecklich indiskret sind. Denn selbst so kann ich doch nicht verbürgen, daß das belobte Verfahren für immer vorhalten wird, und kann für den schließlichen Ausgang nicht einstehen. Es ist nämlich eine eigene Sache um die Lenkung des im Ganzen guten und folgsamen Publikums. Wenn wir auch so ziemlich zu allen Zeiten die  Gorgiasse  und  Hippiasse  [Sophisten - wp] oben auf sehen, das Absurde in der Regel kulminiert und es unmöglich scheint, daß durch den Chorus der Betörer und Betörten die Stimme des Einzelnen je durchdränge; - so bleibt dennoch jederzeit den echten Werken eine ganz eigentümliche, stille, langsame, mächtige Wirkung, und wie durch ein Wunder sieht man sie schließlich aus dem Getümmel sich erheben, gleich einem Aerostaten, der aus dem dicken Dunstkreis dieses Erdenraums in reinere Regionen emporschwebt, wo er, einmal angekommen, stehen bleibt und keiner mehr ihn herabzuziehen vermag.

Geschrieben in Frankfurt a. M. im Februar 1844.



Vorrede zur dritten Auflage

Das Wahre und Echte würde leichter in der Welt Raum gewinnen, wenn nicht die, welche unfähig sind, es hervorzubringen, zugleich verschworen wären, es nicht aufkommen zu lassen. Dieser Umstand hat schon manches, das der Welt zugute kommen sollte, gehemmt und verzögert, wo nicht gar erstickt. Für mich ist seine Folge gewesen, daß, obwohl ich erst dreißig Jahre zählte, als die erste Auflage dieses Werkes erschien, ich diese dritte nicht früher, als im 72-sten erlebe. Darüber jedoch finde ich Trost in PETRARCAs Worten:  si quis, tota die currens, pervenit ad vesperam, satis est  [Wenn jemand, der den ganzen Tag gewandert ist, am Abend ankommt, so ist damit genug getan.] (de vera sapientia, Seite 140). Bin ich zuletzt doch auch angelangt und habe die Befriedigung, am Ende meiner Laufbahn den Anfang meiner Wirksamkeit zu sehen, unter der Hoffnung, daß sie, einer alten Regel gemäß, in dem Verhältnis lange dauern wird, als sie spät angefangen hat. -

Der Leser wird in dieser dritten Auflage nichts von dem vermissen, was die zweite enthält, wohl aber beträchtlich mehr erhalten, indem sie, vermöge der ihr gegebenen Zusätze, bei gleichem Druck, 136 Seiten mehr hat, als die zweite.

Sieben Jahre nach dem Erscheinen der zweiten Auflage habe ich zwei Bände "Parerga und Paralipomena" herausgegeben. Das unter letzterem Namen Begriffene besteht in Zusätzen zur systematischen Darstellung meiner Philosophie und würde seine richtige Stelle in diesen Bänden gefunden haben: allein ich mußte es damals unterbringen wo ich konnte, da es sehr zweifelhaft war, ob ich diese dritte Auflage erleben würde. Man findet es im zweiten Band besagter  Parerga  und wird es an den Überschriften der Kapitel leicht erkennen.

Frankfurt a. M. im September 1859
LITERATUR - Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, München 1912 [Nachdruck der Ausgabe von 1819]
    Anmerkungen
    1) HEGELs Philosophie
    2) FICHTE und SCHELLING
    3) HEGEL