p-4William SternMax WalleserRudolf WillyC. M. GießlerErnst Laas    
 
LUDWIG PONGRATZ
Persönlichkeitstheorien

Ichtheorien Die Person ist ein das Psychische und Physische übergreifendes Einheitsprinzip.

Der wahre Nachfolgebegriff der Seele ist die Person. In ihm erfüllt sich, was im alten Seelenbegriff vorgeahnt ist. Unter seinem Zeichen treffen sich alle Hauptströmungen der Psychologie der Gegenwart, wie verschieden sie den Personbegriff im einzelnen auch definieren mögen. Wie ist dieser Zentralbegriff der modernen Psychologie geschichtlich geworden? Was verstehen wir unter ihm? Was leistet er im Vergleich mit dem Seelenbegriff?

(1) Der Begriff "Person" leitet sich vom lateinischen  persona  her, das die Theatermaske, dann auch den Schauspieler und die von ihm dargestellte Charaktergestalt bedeutete. Die Ableitung:  persona  vom griechischen  prosopon  gilt als sehr unwahrscheinlich, die von  personare  hindurchtönen (durch die Maske) als nicht mehr vertretbar. Der wahrscheinlichste etymologische Ursprung von  persona  ist das etruskische  phersu,  der Name eines Unterweltgottes.

Der Schritt von der Theaterrolle zur Rolle im Leben läßt sich bei PLATO (Philebos), den Kynikern und Stoikern (EPIKTET) aufzeigen. CICERO versteht  persona  bereits in diesem Sinne, eben als die Rolle, die einer im Leben spielt (zum Beispiel die des Redners). Er zählt aber noch andere Bedeutungen auf: die für die Lebensrolle nötigen Eigenschaften, das, was einer zu sein scheint, aber nicht ist, die Besonderheit und Würde.

Der juristische Sprachgebrauch faßte  persona  als Rechtsträger. Auch Sklaven waren personae wie die Freien. Erst später werden sie rechtlos, verlieren damit auch die Bezeichnung  persona  und werden als  res  als Sache, als Ware, betrachtet. Man beachte den Wandel des Personenbegriffes: Person ist man nun nicht mehr als Mensch, sondern als Zugehöriger zu einer höheren sozialen Schicht.

Auf Anregung TERTULLIANs wurde die Bezeichnung Person auf Gott angewendet: Auf dem Konzil von Alexandrien (362) einigt man sich, Vater, Sohn und Geist als die drei göttlichen "Personen" anzusprechen. Dabei wurde  persona  gleichbedeutend mit dem griechischen  hypostasis  (lat. substantia) verwendet.

BOETHIUS (480-524), der eine wichtige Mittlerstellung zwischen Antike und Christentum einnimmt - man hat ihn den letzten Römer und den ersten Scholastiker genannt -, erhebt  persona  zum philosophischen Begriff; seine Definition lautet:  Persona est naturae rationalis individua substantia.  Die in dieser Bestimmung enthaltenen drei Wesensmomente von Person: Rationalität, Individualität und Substantialität, gehen in die scholastische Philosophie ein.

Die Scholastik prägt, ohne damit eine Bedeutungsänderung zu vollziehen, neben  persona  noch  personalitas.  In der deutschen Übersetzung " Persönlichkeit" finden wir diese spätlateinische Version bei den deutschen Mystikern; sie bezeichnet das Göttliche, das Ewige im Menschen, das "Fünklein". Von da an zieht das Wort "Persönlichkeit" alle werthafte Besonderheit und Würde immer mehr auf sich, während das ursprüngliche Wort "Person" zur Bedeutung von jedermann und niemand - wie im Französischen - entleert wird, ja in manchen Alltagswendungen sogar zum Schimpfnamen entartet. Noch heute kennt unsere Sprache diese Extrembedeutungen: Wenn wir von jemandem sagen, er sei eine Persönlichkeit, dann ist das Ausdruck hoher Achtung; und wenn man in manchem Dialekt sagt: "So eine Person!", "Diese unverschämte Person!", so ist das Ausdruck tiefster Verachtung.

Betrachtet man diese kurze Wortgeschichte im ganzen, dann erscheint "Person" als ein Urwort mit dem charakteristischen Gegensinn, den K. ABEL (1884) aufgewiesen hat. Wie weit dieser Gegensinn schon dem etruskischen  phersu  anhaftet, muß die Sprachwissenschaft entscheiden. Als philosophischer Terminus ist "Person" mit dieser Doppelsinnigkeit nicht belastet gewesen. Im Gegenteil: Durch LOCKE und LEIBNIZ kommt die scholastische Definition wieder voll zu Ehren. In der idealistischen Philosophie wird der Personbegriff vom Ichbegriff in den Schatten gerückt. Erst durch die Phänomenologie, durch EDMUND HUSSERL (1859-1938) und vor allem durch MAX SCHELER (1874-1928) und dann durch die Existenzphilosophie wird er wieder zu einem Zentralbegriff der Philosophie erhoben. Er wird um das In-der-Welt-Sein, das Im-Leibe-Sein und die grundständige Verwiesenheit der Person auf andere Personen bereichert.

(2) Etwa gleichzeitig kommt das Persondenken in der Psychologie auf. Träger dieses Gedankens waren in erster Linie die damaligen Outsiderrichtungen, die Charakterkunde und die Tiefenpsychologie. Das Verdienst aber, die Person zu einem Systembegriff in der Psychologie gemacht zu haben, gebührt WILLIAM STERN (1871-1938).

a) STERN geht von der Frage aus, die uns hier unmittelbar beschäftigt: "Hat das Seelische überhaupt ein Substrat? Also ein Etwas, woran es existiert und abläuft?" Weiter: "ist das Substrat als substantielle Seele zu denken? "Die erste Frage wird bejaht, weil "die psychischen Erscheinungen Vorgänge und Beschaffenheiten nur da sind als zugehörig zu einem jeweiligen individuellen Ich, welches sie  hat.  Nicht die Existenz des Substrats, sondern nur seine Art kann in Frage stehen."

Die zweite Frage wird verneint: "Die Annahme einer substantiellen Seele würde fordern:
  • daß die seelischen Tatbestände eines Menschen, Erzeugnisse seiner Seele, einen in sich geschlossenen Zusammenhang bilden;
  • daß der Mensch eine substantielle Zweiheit, Seele und Leib, darstelle;
  • daß die Beziehungen zwischen Seelischem und Leiblichem im Individuum sekundären Charakter haben, gegenüber den primären Zusammenhängen, die innerhalb jeder der beiden Substanzen obwalten;
  • daß sich alles, was am Menschen besteht und geschieht, ohne Rest in Seelisches einerseits, Körperliches andrerseits aufteilen lasse."
Deshalb muß das Substrat des Seelischen etwas sein, "das jenseits oder vor der Scheidung zwischen Psychischem und Physischem liegt und daher die ursprüngliche Einheit des menschlichen Individuums gewährleistet".

b) Dieses Substrat ist die Person. Sie ist "nicht nur - metaphysisch gesehen ein psychophysisch neutrales Wesen, sondern wird auch charakterisierbar und empirisch faßbar durch Merkmale, die jenseits der Unterscheidung von Physischem und Psychischem liegen: "Die Person ist eine individuelle, eigenartige Ganzheit, welche zielstrebig wirkt, selbstbezogen und weltoffen ist, lebt und erlebt." Die Psychologie ist "die Wissenschaft von der erlebenden und erlebensfähigen Person".

(3) Wir lassen die nähere Untersuchung des STERNschen Erlebnisbegriffes, die dem gegenwärtigen Stand unserer Eröterung schon vorgreifen würde, beiseite und wenden unser Augenmerk dem Personbegriff und seinem Verhältnis zum Seelenbegriff zu.

a) Folgende Merkmale sind beiden Begriffen gemeinsam: Ganzheit, Individualität, Zielstrebigkeit und Substantialität. Dazu führt Stern aus: "Jede Person ist als Ganzes Substanz, das heißt etwas selbständig Existierendes. Sie ist als Ganzes Kausalität, das heißt etwas von innen heraus Wirkendes; sie ist als Ganzes Individualität, das heißt etwas, das nach Wesenheit und Bedeutung sich der Welt gegenüber absondert". Für die Seele sind diese Wesensmerkmale am klarsten von LEIBNIZ herausgestellt worden; ARISTOTELES und THOMAS stehen seiner Konzeption am nächsten.

Einen Augenblick müssen wir noch bei der Substantialität verweilen.  Substanz  meint immer ein begründendes, beharrendes und vorgegebenes Sein im Wechsel der Erscheinungen und Tätigkeiten. Dieser Seinsgrund ist aber durch die Kennzeichnung "zielstrebig" einer statischen Auffassung entrückt; er ist kein Substanzklotz, sondern Aktivitätszentrum. Substanz im personalistischen Sinne ist weiterhin kein absolut einfaches Sein, was besonders gegen den HERBARTschen Substanzbegriff zu betonen ist. Vielmehr ist Person eine  unitas multiplex,  eine Vieleinheit: "All das Viele, das in der Person enthalten ist, an Zuständen, Geschehnissen, Teilen, Phasen, Schichten, gehört zur Ganzheit, ist ihr nicht nur äußerlich angeklebt, stützt und bedingt sich gegenseitig; dies Zusammenklingen des Vielen zum personalen Ganzen, und der Person mit der Welt macht das menschliche Leben möglich." Person als Substanz transzendiert den Bereich der Erfahrung, sie verweist in die Metaphysik.

Eine Gemeinsamkeit ist noch zu erwähnen: Wie die Beseeltheit nach ARISTOTELES, THOMAS, LEIBNIZ, FECHNER, so ist nach STERN auch das Personsein kein Vorrecht des Menschen. Auch die tierischen Individuen sind Personen. In dieser Auffassung hat er wenig Zustimmung gefunden. Die weitaus größte Zahl der psychologischen Forscher wendet die Begriffe Person und Persönlichkeit nur auf den Menschen an.

b) In welchen Punkten aber unterscheiden sich Seele und Person? Erstens in der Beziehung zum Leib. In der Personlehre gibt es kein Leib-Seele-Problem im tradierten Sinne, das man bald dualistisch, bald monistisch, bald kausalistisch, bald parallelistisch zu lösen suchte. Die Person ist ein das Psychische und Physische übergreifendes Einheitsprinzip, kein bloßes "zugleich Seelisches und Leibliches" wie die Substanz bei SPINOZA.

Wenn die Person aber den Leib als Wesenskonstitutiv einbegreift, dann ist sie keine rein geistige Entität wie die immaterielle Seele; das ist der zweite Unterschied. Es gibt zwar auch einen rein geistigen Personbegriff, dann nämlich, wenn er in der christlichen Theologie auf Gott angewendet wird. Von der menschlichen Person indes kann reine Geistigkeit nicht in diesem Sinne ausgesagt werden. So ist nach HANS-EDUARD HENGSTENBERG die Geistigkeit zwar ein Kennmal auch der menschlichen Person, doch kommt ihr ein Sondercharakter zu: "Der Mensch besitzt keine rein geistige Natur, sondern eine solche, die durch die Verbindung des Geistes mit der Vitalsphäre in physischer und psychischer Hinsicht bestimmt ist. Beim Menschen decken sich Geist und Personsein keineswegs. Der menschliche Geist ist nur Konstituens der Person".

Drittens unterscheiden sich Person und Seele in der Beziehung zur Welt. Dies ist gegen die binnenhafte Seele bei DESCARTES, gegen die fensterlose Seelenmonade bei LEIBNIZ hervorzuheben. Person und Welt stehen in einer natürlichen Wechselbeziehung, die so innig ist, "daß eine rein kausale Betrachtung nicht imstande ist, im einzelnen Fall herauszusondern, was Ursache, was Wirkung sei". STERN spricht von Konvergenz und vom Konvergenzprinzip. Diese Termini besagen: "Im ständigen Austausch des Geschehens zwischen Person und Welt formt sich nicht nur die Person, sondern auch deren Welt." Die Person könnte keine ihrer Dispositionen verwirklichen, ohne daß "die Umweltsituation ihnen Anstoß und Material bietet". Und die Welt ist immer personale, individuelle Umwelt; denn sie ist stets zugleich Schicksal und Werk der Person.

STERNs  Personbegriff  ist demnach kein bloßer Ersatzbegriff für den traditionellen Seelenbegriff. Er ist vielmehr so angelegt, daß er alle Sektoren des erweiterten Forschungsfeldes der modernen Psychologie zu umfassen vermag. Er ist, wie wir eingangs sagten, die Erfüllung des Seelenbegniffes. Was an diesem zu eng und zu spekulativ war, ist im Personbegriff überwunden. Die gültigen Merkmale der Seele aber sind in ihm aufgehoben.

(4) Von der Person ist die Persönlichkeit zu unterscheiden. a) Nach STERN wird Person zur Persönlichkeit, indem sie sich Werte aneignet, einverleibt, "einschmilzt" oder, mit seinem Ausdruck, "introzipiert": "Die einheitliche sinnvolle Lebensgestalt, der die Introzeption zustrebt, heißt Persönliclikeit". Der Persönlichkeitsbegriff ist somit enger als der Personbegriff. Person ist - in der STERNschen Lehre - auch das Tier, Persönlichkeit einzig der Mensch. Persönlichkeit ist in dieser Fassung kein nur psychologischer Terminus; er trägt eine deutliche wertphilosophische und normative Note.

b) Eine der STERNschen verwandte Auffassung von Persönlichkeit vertritt WILHELM ARNOLD in seinem Buch "Person, Charakter, Persönlichkeit" (1962) Person ist die Einheit von Leib, Seele, Geist; die individuelle Ausprägung des hic et nunc sich darstellenden Personseins ist das Kriterium des Charakters, der in seiner Hochform als Persönlichkeit gilt. Das Personsein ist grundlegend und allgemein; Persönlichkeit wird man, sie ist ein hohes Ziel, wird von wenigen erreicht: "Je wertvoller der Mensch, um so mehr ist er Persönlichkeit".

Im allgemeinen hat sich heute bei den deutschsprachigen Forschern eine wertneutrale Definition der Persönlichkeit durchgesetzt. So versteht AUGUST VETTER (geboren 1887) die Persönlichkeit als das Insgesamt des seelisch-charakterlichen Gefüges. Dafür aber versieht er die Person mit einem Wertakzent: Sie ist lebens- und geistbestimmt, ist das Ewige im Menschen, die Mitte seines Wesens; sie transzendiert den Naturbereich.

Eine ähnliche Auffassung trägt WILHELM J. REVERS (geboren 1918) vor: Er bestimmt die Person als "das menschliche Einzelwesen, als Einheit von Geistseele und Leib in seiner unmittelbaren Einmaligkeit, das in sich selbst und über sich selbst verfügt". "Insofern sie in einem konkret historischen Lebenslauf Wirklichkeit wurde", heißt sie Persönlichkeit.

THOMAE klammert den metaphysischen Personbegriff ganz aus und legt der Persönlichkeitspsychologie einen biographischen Persönlichkeitsbegriff zugrunde: "Persönlichkeit ist der Inbegriff aller Ereignisse, die sich zu einer individuellen Lebensgeschichte zusammenschließen".

Zwei prominente Vertreter der deutschen Charakterologie gebrauchen den Personbegriff im charakterologischen Sinne: ROBERT HEISS und PHILIPP LERSCH Die Titel ihrer Arbeiten zeigen den terminologischen Wandel eindrucksvoll: HEISS nennt 1936 seine dynamische Persönlichkeitsauffassung "Lehre vom Charakter", 1947 auf dem ersten Kongreß des Berufsverbandes deutscher Psychologen in München spricht er über  Person als Prozeß.  LERSCH betitelt sein bis heute vielgelesenes Werk 1938 als "Aufbau des Charakters" - "Aufbau der Person" heißt es seit 1951. Sein Personbegriff ist sehr weit; er umspannt alle Zweige der Psychologie und den übergreifenden anthropologischen Aspekt: "Person charakterisiert den Menschen als Sonderwesen im Ganzen der Welt (anthropologischer Aspekt) und umgreift zugleich die aktuellen seelischen Vollzüge und Inhalte (allgemeinpsychologischer Aspekt), die seelische Entwicklung (entwicklungspsychologischer Aspekt) und die individuellen Prägungsformen (charakterologischer Aspekt)".

(5) Man sieht daraus, daß die personalistische Terminologie noch recht uneinheitlich ist. ALLPORT hat in seinem Buch Persönlichkeit (1937) fünfzig verschiedene Bedeutungen von Person und Persönlichkeit zusammengestellt. Sie würden erheblich vermehrt, würde man die seit der Aufnahme des Persönlichkeitsbegriffes in die amerikanische Psychologie entwickelten Bestimmungen noch hinzuzählen. Wie verschieden in der angelsächsischen Psychologie die Definitionen von  personality  sind, zeigen die Zusammenstellungen, die manche Autoren ihren Werken gleichen Namens voranstellen. Dies mag eine unsystematische Auswahl von Begriffsbestimmungen dartun: "Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die seine einzigartigen Anpassungen an seine Umwelt bestimmen" (ALLPORT).
  • "Persönlichkeit ist ein dynamischer Prozeß, die kontinuierliche Aktivität des Individuums, das um die Schaffung, die Erhaltung und Verteidigung jener privaten Welt bemüht ist, in der es lebt" (FRANK).
  • "Die Persönlichkeit eines Individuums ist seine einzigartige Struktur von Eigenschaften (traits)" (GUILFORD).
  • "Persönlichkeit ist das organisierte Gefüge der psychologischen Prozesse und Zustände, die sich auf das Individuum beziehen" (LINTON).
  • "Persönlichkeit ist das Steuerungsorgan des Leibes, eine Institution, die von der Geburt bis zum Tode ununterbrochen Veränderungen bewirkt" (MURRAY).
GUILFORD stellt die gängigen Definitionen zu fünf Definitionsgruppen zusammen:
  • Persönlichkeit als Reizwert: "Persönlichkeit wird fast gleichbedeutend mit Ansehen gebraucht, im weiteren Sinne auch mit Erfolg und entsprechendem Auftreten."
  • Sammeldefinitionen der Persönlichkeit: "Hier handelt es sich um summative und Verbindungs-Definitionen von der Art  Persönlichkeit  ist die Gesamtsumme von ... und nun werden alle möglichen Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen aufgezählt, zum Beispiel Konstitutionstyp, Triebneigungen, Instinkte, Einstellungen und Gewohnheiten."
  • Integrationszusammenhang der Persönlichkeit: "Diese Art von Definition betont das integrative (= sich gegenseitig durchdringende) Ganze, die Organisation, den Bauplan der Persönlichkeit
  • Ganzheitsdefinition der Persönlichkeit: "Die Ganzheitsdefinition betont die Integration in einem solchen Grade, daß sie die Teilbereiche fast vollständig vernachlässigt". GUILFORD betrachtet sie nur als Zusatzdefinitionen zu Gruppe 2 und 3.
  • Persönlichkeit als Anpassungsweise: "Persönlichkeit wäre demnach der charakteristische Vorgang in der Anpassungsweise des Individuums".
Angesichts dieser Vielfalt schlagen HALL und LINDZEY vor, "die Persönlichkeit durch Anwendung der speziellen empirischen Begriffe zu definieren, die der Persönlichkeitstheorie des Beobachters zugehören". Man strebt also nur eine systemimmanente Gültigkeit der Definitionen an, bekennt sich zu einem dynamischen Begriffsrelativismus. Dieser ist insofern gerechtfertigt, als der Mensch ein an Varianten des Erlebens und Verhaltens reiches Wesen ist, sich von vielen Standorten aus betrachten läßt und demgemäß viele "Anblicke" oder Seiten bietet. Wie die Definitionen dann auch lauten - sie sind immer Aussagen über den Menschen und sein Wesen. Sie entstehen aus einer bestimmten Wertansicht des jeweiligen Forschers und bringen diese zum Ausdruck - meist ohne daß das leitende Wertungsprinzip ausdrücklich thematisiert wird. Erkennt man dies an, dann ist ARNOLD beizupflichten, wenn er Persönlichkeit und Wertbezogenheit grundsätzlich verbindet.

Wir glauben, daß dem Persönlichkeitsbegriff in der heutigen Psychologie eine wichtige Funktion zukommt: er bahnt den Brückenschlag zwischen der Psychologie und der Philosophie, insonderheit der philosophischen Anthropologie, an. Daß dies heute allgemein erkannt, geschweige denn gewollt wäre, kann man gewiß nicht sagen. Daß eine solche Verbindung der modernen, methodenbewußten Psychologie nicht zum Schaden gereichen würde, ist unsere Überzeugung.

(6) Auch die sowjetischen Psychologen nennen ihre Psychologie meist eine Psychologie der Persönlichkeit. Das bedeutet jedoch nur, daß sie die einzelnen psychologischen Funktionen stets im Ganzen der Persönlichkeit sehen. Dagegen ist eine eigentliche Theorie der Persönlichkeit, auch empirisch, sehr wenig entwickelt, eine Tatsache, die auch immer wieder beanstandet wird. SERGEJ L. RUBINSTEIN (1889-1960) führt - in seinem Buch "Grundlagen der allgemeinen Psychologie" (1961) drei Funktionseigenschaften der Persönlichkeit an:
  • Die Persönlichkeit als Prinzip der Individuation des seelischen Lebens - Von der Persönlichkeit hängen die interindividuellen Unterschiede in den Erkennens-, Fühlens-, Wollensvorgängen ab.
  • Die Persönlichkeit als Prinzip der seelischen Entwicklung: Die einzelnen psychischen Funktionen entwickeln sich nicht selbständig, sondern im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit. Hier wirkt sich das Ganzheitsdenken aus.
  • "Die Tatsache, daß die psychischen Prozesse des Menschen Äußerungen der Persönlichkeit sind, kommt darin zum Ausdruck, daß sie beim Menschen nicht nur Prozesse bleiben, die spontan ablaufen, sondern daß sie zu bewußt regulierten Handlungen oder Operationen werden, die von der Person beherrscht werden und die diese auf die Lösung der ihr im Leben gestellten Aufgaben lenkt". Die Persönlichkeit ist somit das bewußte Regulationsprinzip der seelischen Zustände und Abläufe.
Eine vierte Funktion behandelt GEORG WALENTINOWITSCH PLECHANOW (1857-1918), ein von LENIN hochgeschätzter Philosoph und Politiker, in seiner Schrift über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Die Persönlichkeit ist Prinzip der Geschichte. Die Persönlichkeit lenkt gemäß ihrer Individualität das Kollektiv, "macht" die Geschichte: "Die persönlichen Besonderheiten der führenden Personen bestimmen das individuelle Gepräge der historischen Ereignisse..."

(7) In der russischen Psychologie werden die Begriffe Person und Persönlichkeit wie schon aus den obigen Zitaten zu ersehen ist - gleichsinnig verwendet. In der amerikanischen Psychologie hat sich der Begriff Person nicht durchgesetzt. Hauptsächlich deshalb - wie uns scheint -, weil er im Verdacht eines metaphysischen Begriffes steht. Er ist aber der Nachfolger des Seelenbegriffes in der modernen Psychologie. Als solcher ist er unentbehrlich: Er bezeichnet das Seins- und Tätigkeitsprinzip des seelischen Lebens. Mag er ruhig auch in die Metaphysik hineinragen. Wir unterscheiden ihn vom Persönlichkeitsbegriff wie folgt:
  • Persönlichkeit ist die individuelle, ganzheitliche Eigenart eines Menschen, die sich in seinem erkennenden und handelnden Wechselbezug zur Welt (Innenwelt, Umwelt und Mitwelt) auf Grund des Personseins entwickelt. Die Faktoren dieses Werdeprozesses sind die anlagebedingte Ausstattung, die umweltbedingte Prägung und die Eigenaktivität (Arbeit an sich selbst). Die Persönlichkeit ist darum der Grundbegriff aller psychologischen Disziplinen, die sich mit dem Werden und Sosein eines Menschen befassen: Persönlichkeitslehre, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Tiefenpsychologie, Psychodiagnostik usw.

  • Person ist die Einheit von Psychophysis und Geist, ist Subjekt der Beziehung des Menschen zur Welt, ist tätiges Substrat (substantieller Grund) alles Erkennens und Handelns, allen Wandels, allen Werdens, ist Gestalt und Bewegung (morphologisch und dynamisch), reicht in den Erfahrungsbereich hinein und transzendiert ihn zugleich (ist anschauliche und gedachte Entität). Die Person ist der Grundbegriff der allgemeinen Psychologie. Er tritt in der modernen Psychologie an die Stelle des alten Seelenbegriffes.
Mit der Person beschäftigen sich aber außer der Psychologie alle Wissenschaften vom Menschen: die philosophische Anthropologie, die Erziehungswissenschaft, die Soziologie, die Medizin. Für sie alle ist die Person das gemeinsame Materialobjekt. Jede von ihnen erforscht sie unter einem anderen Formalaspekt.
LITERATUR - Ludwig Pongratz, Problemgeschichte der Psychologie, München 1984