cr-4ra-1G. H. LewesF. MauthnerS. I. HayakawaR. LoeningAristoteles    
 
BERTRAND RUSSELL
Logik des Aristoteles

"Wir wenden den gleichen Namen bei verschiedenen Gelegenheiten auf recht verschiedene Vorgänge an, die wir für Manifestationen einer einzigen Sache oder Person halten. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Frage des Wesens um den Gebrauch von Wörtern."

ARISTOTELES hat auf vielen Gebieten sehr großen Einfluß, den größten jedoch in der Logik. In der Spätantike, als PLATON unter den Metaphysikern noch an erster Stelle stand, war Aristoteles in der Logik die allgemein anerkannte Autorität und blieb es auch während des ganzen Mittelalters. Erst im 13. Jahrhundert gestanden ihm christliche Philosophen auch in der Metaphysik die gleiche Überlegenheit zu. Diese Vorrangstellung büßte er nach der Renaissance größtenteils wieder ein, in der Logik jedoch erhielt er sie sich. Selbst heute noch lehnen die katholischen Lehrer der Philosophie, wie viele andere auch, die Entdeckungen der modernen Logik ab und halten seltsam zäh an einem System fest, das ganz entschieden ebenso überholt ist wie die ptolemäische Astronomie. Der Einfluß, den er noch heute besitzt, ist klarem Denken so hinderlich, daß man sich kaum vorstellen kann, welch großen Fortschritt er im Vergleich zu seinen Vorgängern (einschließlich PLATONs) bedeutete; seine Leistung auf dem Gebiet der Logik würde noch weit bewundernswerter erscheinen, wenn sie nur eine Stufe in einer kontinuierlichen Entwicklung gewesen wäre, statt bei einem toten Punkt zu enden (wie es tatsächlich war), dem mehr als zwei Jahrtausende der Stagnation folgten.

Die aristotelische Theorie beruht auf dem Begriff des sogenannten "Wesens" eines Dinges. Die Definition, sagt er, ist die Feststellung der Wesensnatur eines Dinges. Der Wesensbegriff ist aus der nacharistotelischen Philosophie nicht wegzudenken, bis wir zur Neuzeit kommen. Für mein Gefühl ist es ein hoffnungslos verworrener Begriff; da er aber historische Bedeutung hat, müssen wir ein paar Worte darüber sagen.

Mit dem "Wesen" eines Dinges sind offenbar "diejenigen seiner Eigenschaften gemeint, die sich nicht verändern können, ohne daß das Ding seine Identität einbüßt". SOKRATES kann zuweilen glücklich oder traurig, gesund oder krank sein. Da diese Eigenschaften bei ihm wechseln können, ohne daß er aufhört, SOKRATES zu sein, sind sie nicht Teil seines Wesens. Wohl aber nimmt man an, es gehöre zum Wesen des SOKRATES, daß er ein Mensch sei. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Frage des Wesens um den Gebrauch von Wörtern. Wir wenden den gleichen Namen bei verschiedenen Gelegenheiten auf recht verschiedene Vorgänge an, die wir für Manifestationen einer einzigen "Sache" oder "Person" halten. Tatsächlich ist das jedoch nur eine sprachliche Vereinfachung. Das "Wesen" des SOKRATES besteht daher in Eigenschaften, bei deren Fehlen wir den Namen "Sokrates" nicht gebrauchen würden. Es ist also eine rein sprachliche Frage: ein "Wort", nicht aber ein Ding kann ein Wesen haben.

Bei dem Begriff "Substanz" wird wie bei dem des "Wesens" etwas in die Metaphysik übertragen, was nur eine sprachliche Vereinfachung ist. Wenn wir die Welt beschreiben wollen, ist es uns bequemer, eine bestimmte Reihe von Vorgängen als Ereignisse aus dem Leben des "Sokrates" und andere als Geschehnisse im Leben von "Mr. Smith" zu schildern. Das veranlaßt uns, "Sokrates" oder "Mr. Smith" für Bezeichnungen von etwas halten, das ein bestimmte Anzahl von Jahren hindurch existiert und gewissermaßen dauerhafter und wirklicher ist als das, was ihm nur so geschieht.

Wenn man den Begriff "Substanz" ernst nehmen will, muß er zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen. Substanz gilt als das Subjekt von Eigenschaften und als etwas von den Eigenschaften Verschiedenes. Lassen wir jedoch die Eigenschaften fort und versuchen uns dann die Substanz selbst vorzustellen, so wird sich ergeben, daß nichts übrigbleibt. Man kann die Sache auch so formulieren: Wodurch unterscheidet sich eine Substanz von einer anderen? Nicht durch die Verschiedenartigkeit der Eigenschaften, denn entsprechend der Substanz setzt der Unterschied der Eigenschaften die numerische Verschiedenheit der betreffenden Substanzen logisch voraus. Zwei Substanzen müssen demnach eben zwei sein, ohne daß sie sich sonst voneinander unterscheiden. Wie aber sollen wir je feststellen können, daß es zwei sind?

"Substanz" bezeichnet in Wirklichkeit nur das vereinfachte Verfahren, Vorgänge gebündelt zusammenzufassen. Was können wir von Mr. Smith wissen? Wenn wir ihn anschauen, sehen wir Farbflecke; wenn wir ihn sprechen hören, vernehmen wir eine Reihe von Tönen. Wir nehmen an, daß er wie wir denkt und fühlt. Was aber ist Mr. Smith abgesehen von alledem? Nichts als ein imaginärer Haken, an dem offenbar die Ereignisse aufgehängt werden. Tatsächlich bedürfen sie aber so wenig eines Hakens, wie die Erde einen Elefanten braucht, um darauf zu ruhen. Um einen analogen Fall aus der Geographie heranzuziehen: jeder wird einsehen, daß ein Wort wie "Frankreich" nichts als eine sprachliche Vereinfachung ist, und daß es kein Ding namens "Frankreich" über und außer seinen verschiedenen Teilen gibt. Dasselbe gilt für "Mr. Smith": Es ist der Kollektivname für eine Reihe von Ereignissen; verstehen wir mehr darunter, so bezeichnet er etwas, was völlig außerhalb unseres Wissensbereiches liegt und daher unbrauchbar ist, um auszudrücken, was wir wissen.

Kurz, "Substanz" ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.

Ich komme zu dem Schluß, daß sämtliche aristotelische Ansichten falsch sind mit der Ausnahme der formalen Theorie des Syllogismus (Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere), die unwichtig ist. Wer heute Logik erlernen will, verschwendet nur seine Zeit, wenn er ARISTOTELES oder einen seiner Schüler liest. Trotzdem zeugen seine logischen Schriften von großer Befähigung und wären der Menschheit auch nützlich gewesen, wenn sie zu einer Zeit erschienen wären, als es noch lebendige geistige Originalität gab. Unglücklicherweise wurden sie aber gerade am Ende der schöpferischen Periode des griechischen Denkens veröffentlicht und wurden daher als maßgebend übernommen. Als die geistige Originalität dann wieder auflebte, hatte ARISTOTELES bereits zweitausend Jahre unbeschränkt regiert und war sehr schwer zu enttrohnen. In der ganzen Neuzeit mußte praktisch jeder wissenschaftliche, logische oder philosophische Fortschritt eine Kampfansage an die Anhänger des ARISTOTELES bedeuten.
LITERATUR - Bertrand Russell, Die Philosophie des Abendlandes, Wien 1988