tb-1ra-3LebensphilosophieFrischeisen-KöhlerA. PfänderE. Topitsch    
 
HEINRICH RICKERT
Psychologie der Weltanschauungen
und Philosophie der Werte


"Der allgemeinste theoretische Rahmen für  Kants  Weltanschauung ist nach der Ideenlehre dieser: das Weltobjekt in seiner Totalität stellt sich als ein Gebilde dar, an dem das Subjekt dauernd zu arbeiten hat, oder mit anderen Worten: indem Kant das Universum selbst als Idee, d. h. als Wertgebilde faßt, enthüllt er zugleich den Sinn des Lebens in dieser Welt, der darin besteht, daß sich für den Menschen die Ganzheit der Objekte nicht als ein gegebenes Sein, sondern als ein aufgegebenes Sollen darstellt. Das ist der Sinn von Kants idealistischer Weltanschauung."

"Man darf nicht glauben, daß die biologischen Bilder bei Jaspers nur Bilder sind. Der Grundgedanke, der dahinter steckt, erinnert zunächst an den von Simmel: das Leben schafft immer von Neuem Formen, um sie wieder zu zerstören. Aber Simmel weiß, daß er damit Metaphysik treibt. Bei Jaspers treten diese Lehren als Psychologie auf und tragen in Wahrheit ein biologistisches Gepräge."

"Die Liebe zum Leben um des bloßen Lebens willen, d. h. die Liebe zum Vegetieren, ist etwas Sinnloses, weil nur Werte, die mehr als Lebenswerte sind, dem Leben Wert verleihen. Als Forscher haben wir das Leben zu formen und müssen daher aus der formlosen, bloß lebendigen Lebenszappelei heraus zur systematischen Weltordnung."


I.
Kants kritischer Subjektivismus
und die Wertphilosophie

 
KANT suchte und fand die Objektivität in der Subjektivität. Mit dieser Wendung läßt sich das neue, "kopernikanische" Grundprinzip des Kritizismus vielleicht am kürzesten zum Ausdruck bringen. Früher glaubte man, die Erkenntnis des Subjekts richtet sich nach den unabhängig davon existierenden, fertigen, für sich bestehenden Gegenständen. Jetzt heißt es, die Gegenstände haben sich nach der Erkenntnis des Subjekts zu richten. Soll jedoch in solchen, der Absicht nach, paradox klingenden Sätzen ein positiver widerspruchsfreier Sinn stecken, so bedürfen sie einer genauen Bestimmung besonders mit Rücksicht auf den Begriff des Subjektiven. Sonst kann durch die kantische Philosophie, der es vor allem auf eine Begründung der Objektivität als allgemeiner Gültigkeit ankam, einem zügellosen "Subjektivismus" im Sinn der individuellen Willkür Tür und Tor geöffnet scheinen.

Zunächst: was ist unter KANTs Subjekt  nicht  zu verstehen? Die "rationalistische" Metaphysik, in der KANT aufgewachsen war, hatte sich ihm als "Dogmatismus" enthüllt und bot seinem Denken keinen festen Halt mehr. Das Subjekt, das er in den Mittelpunkt der Welt stellte, konnte also keine metaphysische "Seele" sein. Doch das ist nur die eine Seite der Sache. Auch den "Empirismus" oder Positivismus seiner Zeit, wie er ihm besonders in DAVID HUME entgegentrat, mußte KANT als Basis der Philosophie ablehnen, denn dieser Weg schien ihm, konsequent zu Ende gedacht, zu einem "Skeptizismus" zu führen. Das Subjekt, welches das Gebäude seines Denkes tragen sollte, durfte also auch nicht als das Ich der Erfahrung oder als ein psychisches Gebilde verstanden werden.

Hat man das eingesehen, so wird KANTs Subjekt für jeden, der nur Begriffe von wirklich Seiendem zu bilden gewöhnt ist, zu einem schweren Problem. Da das körperliche Ich der Physiologie selbstverständlich ebensowenig wie die Seele der Metaphysik und das Subjekt der empirischen Psychologie in Frage kommt, ist die Subjektivität, welche die Objektivität begründen soll, nicht mehr im  Wirklichen  zu finden, denn andere als sinnliche (physische oder psychische) und übersinnliche (metaphysische oder metapsychische) Wirklichkeiten kennen wir nicht. Der Versuch, KANTs "transzendentale Apperzeption" oder sein "Bewußtsein überhaupt als Realität zu bestimmen, ist auch deswegen abgeschnitten, weil das a priori oder die "Voraussetzung" der Wirklichkeitserkenntnis gesucht wird, und diese nicht in einem Teil des als wirklich Erkannten bestehen kann. Dann wäre sie gerade nicht "Voraussetzung" aller Wirklichkeitserkenntnis. Dem Realen in seiner Totalität ist somit ein "Ideales" als prinzipiell davon verschiedenes neues Reich gegenüberzustellen, das, selbst nicht wirklich, erst den letzten "Halt" auch der Wirklichkeitserkenntnis bildet. Ohne Annahme irgendeines  Irrealen  gibt es jedenfalls keine "Transzendentalphilosophie", da sie im Sinne KANTs weder Psychologie noch Metaphysik sein darf, also nur ein unwirkliches "Material" haben kann.

Aber auch diese Einsicht genügt nicht, um das zu verstehen, worauf es ankommt. Der Begriff des "Idealen" bleibt als der einer bloßen Negation der metaphysischen und empirischen Realitäten leer. Sehen wir uns nach  positiven  Bestimmungen für das "Transzendentale" um, so müssen wir dabei den Inhalt der Erkenntnis zunächst beiseite lassen. Er stammt nicht aus dem Subjekt, und ihm fehlt auch, solange er für sich betrachtet wird, jede Objektivität. Diese steckt vielmehr erst in den "Formen", mit denen das Subjekt ihn auffaßt, und deren Wesen offenbart sich vielleicht am unzweideutigsten, wenn wir an den Begriff der "Regel" denken. Die "Beziehung auf einen Gegenstand" tut nach KANTs ausdrücklicher Erklärung nichts anderes, "als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen uns sie einer  Regel  zu unterwerfen". Was heißt das? In der Regel klingt der Begriff einer Norm, einer Vorschrift, eines Gesollten an, und eine Regel, die wie hier weder auf den realen Willen eines psychischen, noch auf den eines metapsychischen Subjekts gestützt werden kann, muß begründet sein in einem geltenden  Wert. 

So ist das alte ontologische Gegenstandsproblem in ein Geltungs- und Wertproblem verwandelt. Aus dem Entgegen stehen  des Seienden ist, um einen Ausdruck von LASK zu verwenden, ein Entgegen gelten  des Wertes geworden.

An das Wort "Gelten" für das Gebiet des Irrealen oder Idealen hat man sich, besonders seit LOTZE, gewöhnt. Der Terminus "Wert" ist, obgleich schon KANT von "Gültigkeit und Wert" spricht, noch immer umstritten, aber doch wohl nur, weil man diesen Begriff nicht in seiner Reinheit und nicht in seinem ganzen Umfang versteht.

Man wechselt die geltenden Werte entweder mit den realen "Gütern", an denen sie haften, oder mit "Zielen", deren Verwirklichung man anstrebt, oder mit den "Mittel", die man zu einem "Zweck" benutzt. Der Wert selbst ist weder das Gut, noch das Ziel, noch der Zweck, noch das Mittel. Er fällt auch nicht zusammen mit den psychischen Akten der Wertung, sie zu ihm Stellung nehmen. Bisweilen sieht man in den Wertbildern, falls man über die angedeuteten Verwechslungen hinaus ist, nur leere Formen ohne Inhalt und denkt nicht daran, daß auch Inhalte in Wertformen zum irrealen Geltenden gehören.

Vermeidet man jedoch solche Trübungen und Verengungen des Wertbegriffs, und hält man besonders daran fest, daß auch die inhaltlich bestimmte "Wahrheit" eines theoretischen Satzes oder sein wahrer, geltender "Sinn" keine Realität, sondern ein Wertgebilde ist, so scheint kein Terminus geeigneter als der Ausdruck Wert, um das Unwirkliche oder Ideale  positiv  zu bezeichnen, sei es auch nur, weil durch ihn klar wird, welch radikalen Umschwung in den alten Denkgewohnheiten KANTs Lehre bedeutet. Wertfragen, die man sonst für außertheoretisch oder "praktisch" hielt, sind jetzt auch dort zu stellen, wo man früher nur Seinsfragen sah, und wo in der Tat rein theoretische Probleme vorliegen.

Das Problem der Objektivität aber gewinnt nun folgende Gestalt: Man muß die bloß "subjektiven", d. h. die nur vom empirischen Subjekt gewollten oder gewerteten Werte, deren Geltung allein auf dem Akt der Wertung  beruth,  von den "objektiven" Werten trennen, die  unabhängig  davon gelten, ob reale Subjekte sie anerkennen oder nicht. Wollte man diese Trennung zugunsten eines allgemeinen Wertrelativismus vermeiden, so würde man damit auch den Begriff der Wahrheit als eines "objektiv" geltenden Wertes aufheben, und das führt zu logischem Widersinn.

Macht man aber die Trennung, dann und nur dann kann man, wie RICHARD KRONER es getan hat (1), jedenfalls für das theoretische Gebiet, zwischen einem "guten" und einem "schlechten" Subjektivismus scheiden, in dem Sinne, daß allein der gute fähig ist, Objektivität zu begründen. Es entsteht nämlich nun als Ideal der Erkenntnis der Begriff eines Subjekts, das nur objektiv geltende, in sich ruhende Werte anerkennt, und damit wird sofort verständlich, wie sich die Subjektivität zur Basis der theoretischen Objektivität eignet. Für das reale individuelle Subjekt, das nach KANT den metaphysischen Halt verloren hat und sich dem rein Tatsächlichen als einem bloßen "Gewühl" gegenüber sieht, wird jetzt ein transzendentales, normatives, überindividuelles, irreales Subjekt zum  Vorbild,  das nur objektiv geltende Werte anerkennt, und der einzelne Mensch erreicht dann Objektivität so weit, als er sich mit seinem Denken nach diesem "transzendentalen" Subjekt und seinen überindividuellen "Regeln" richtet. Die Regeln zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe der kritischen Philosophie.

Von hier aus verliert auch KANTs "kopernikanischer" Standpunkt sofort alles "Widersinnliche". Das transzendentale Subjekt "dreht" sich nicht mehr um das Objekt, sondern tritt ins Zentrum, und die objektive Welt muß sich um dieses Subjekt "drehen". Das bedeutet ohne Bild gesprochen: gegenständlich oder objektiv ist das, was ein überindividuelles, normatives Subjekt nach geltenden Regeln sich als sein Objekt gegenüberstellt. Ohne den Wertgedanken, den der Begriff der Regel enthält, müßte der kopernikanische Standpunkt sich entweder auf ein metaphysisches oder ein psychologisches Subjekt stützen, käme also auf "Dogmatismus" oder "Skeptizismus" hinaus. Entscheidend für die auf dem Boden des Kritizismus als des "guten" Subjektivismus gewonnene Objektivität kann allein die Art der  Geltung  oder des  Wertes  sein, den das Subjekt sich zu eigen macht, und aufgrund dessen es sich seine "Welt" aufbaut. Die durch geltende Wertformen vom Subjekt konstituierte Welt ist die gegenständliche oder objektive Welt.

Es würde zu weit führen, auch nur anzudeuten, wie von hier aus der "Geist" (nicht der Buchstabe) der gesamten Philosophie KANTs sich als der einer  Philosophie der geltenden Werte  deuten läßt (2), und wie sich im besonderen die Probleme auf den atheoretischen Wertgebieten, dem ethischen, ästhetischen und religiösen gestalten. Nur auf KANTs  Ideenlehre  sei noch hingewiesen, soweit sie zur theoretischen Philosophie gehört. In ihr treten die beiden Seiten des neuen, von KANT entdeckten Gebietes, die negative, zur Unwirklichkeit, und die positive, zum geltenden Wert führende klar zutage. Die letzten metaphysischen  Realitäten,  welche die vorkantische Philosophie zu erfassen suchte, die "Welt", die "Seele" und die "Gottheit", verwandeln sich für KANT in "Ideen", d. h. in Formen, mit denen das Subjekt die Weltinhalte a priori denkt, aber nicht als fertige Wirklichkeiten, sondern als Ideale, die es einerseits nie ganz erfüllen, nie restlos verwirklichen kann, und die es andererseits mit unbedingter Notwendigkeit zu verwirklichen streben soll, weil sie eben als theoretische Werte gelten.

Im Anschluß hieran, daß das "Letzte", was wir zu denken vermögen, nicht ein absolutes Sein, sondern ein geltender Wert ist, versteht man zugleich auch am besten KANTs "Weltanschauung", soweit sie sich auf einen wissenschaftlichen Ausdruck bringen läßt. Theoretisch formulierte Weltanschauung bedeutet stets universales Wissen, und zwar nicht nur vom denkbar umfassendsten Weltobjekt, sondern auch von der Stellung des Subjekts zu ihm. Der allgemeinste theoretische Rahmen für KANTs Weltanschauung ist nach der Ideenlehre dieser: das Weltobjekt in seiner Totalität stellt sich als ein Gebilde dar, an dem das Subjekt dauernd zu arbeiten hat, oder mit anderen Worten: indem KANT das Universum selbst als Idee, d. h. als Wertgebilde faßt, enthüllt er zugleich den Sinn des Lebens in dieser Welt, der darin besteht, daß sich für den Menschen die Ganzheit der Objekte nicht als ein gegebenes Sein, sondern als ein aufgegebenes Sollen darstellt. Das ist der Sinn von KANTs "idealistischer Weltanschauung".

Die Philosophie muß dementsprechend in allen ihren Teilen danach streben, die Werte, welche den verschiedenen Lebensgebieten Sinn verleihen, vollständig und geordnet zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen. Damit ist der "Kritizismus" in jeder Hinsicht, subjektiv oder objektiv, als Philosophie der Werte charakterisiert. Wissenschaftliche Klarheit in Weltanschauungsfragen bedeutet Klarheit über das, was gilt, oder wissenschaftliches Wertbewußtsein.


II.
Metaphysischer und psychologischer
Subjektivismus nach Kant

Versteht man den transzendentalen Subjektivismus in der angedeuteten Weise und sieht zugleich in ihm KANTs eigentlich "epochemachende" Leistung, die zwar gewiß nicht in allen Einzelheiten unverändert zu übernehmen ist, auf der aber jede wissenschaftliche Philosophie weiter zu bauen hat, so sind damit auch die Gesichtspunkte gegeben, von denen aus man zur Entwicklung des  nachkantischen  Denkens Stellung nehmen kann. Auf der "geraden Linie" liegen dann alle die wissenschaftlichen Bemühungen, die das neue, von KANT entdeckte Gebiet des weder metaphysisch noch empirisch-psychologisch Wirklichen, also das Reich des Idealen, Geltenden, Werthaften in seiner Eigenart und Mannigfaltigkeit klarzustellen versuchen (mögen sie sich im besonderen auch noch so weit von KANT entfernen oder sich noch so sehr weigern, den  Wert charakter des Irrealen und Geltenden anzuerkennen) und dahin sind in unseren Tagen nicht nur die bewußt an KANT anknüpfenden Bestrebungen, wie der der "Marburger" oder der "Südwestdeutschen", sondern auch die Vertreter der "Phänomenologie" und der "Gegenstandstheorie", ja sogar Denker wie SIMMEL zu zählen, insofern auch er gesehen hat, daß die "Wirklichkeit nur  eine  neben anderen Formen ist, in die wir einen Inhalt fassen (3).

Doch geht die geschichtliche Entwicklung meist nicht nur die geraden Wege, und das bedeutet in diesem Fall, daß der "Subjektivismus" der nachkantischen Zeit sich nicht allein transzendental oder wertphilosophisch, sondern auch wieder  metaphysisch  und  psychologisch  gestaltet hat, also vom Standpunkt des Kritizismus aus entweder "dogmatischen" Charakter trägt oder zu den "skeptischen" Konsequenzen eines "schlechten" Subjektivismus zu führen droht. In jeder Metaphysik wie in jeder Psychologie, die eine umfassende Weltanschauungslehre oder universale Betrachtung sein will, wird man dann einen Abgfall vom "Geist" der im besten Sinne modernen Philosophie oder ein reaktionäres Treiben sehen, schon deswegen, weil es eine Verengung des philosophischen Horizontes, eine  Beschränkung  auf die  Realität  bedeutet.

Trotzdem wäre es falsch, diese Nebenwege der Entwicklung nur zu beklagen. Die Philosophie kann sich nicht allein damit beschäftigen, das Gebiet des Unwirklichen, Werthaften, Geltenden oder Transzendentalen in seiner Eigenart für sich gesondert zu erforschen, sondern sie muß auch fragen, in welcher  Beziehung  das Ideale zum Realen, der Wert zur Wirklichkeit, das Geltende zum Existierenden, das Sollen zum Sein steht. Und dabei kommen dann von neuem sowohl metaphysische als auch empirisch-psychologische Gedanken in Betracht.

Man wird nämlich einerseits versuchen, die "kritisch" in Reales und Ideales oder Geltendes  gespaltene  Welt wieder "einheitlich" zu denken, d. h. das, was als "Erscheinung" dualistisch in Wert und Wirklichkeit auseinanderfällt, in einem übergeordneten "Wesen" monistisch zusammenzufassen. Ein solches  drittes Reich  der Einheit über Wert und empirischer Wirklichkeit scheint dann aber nur im Übersinnlichen liegen zu können, so daß damit die Metaphysik zur neuen Geltung käme. Vielleicht läßt sich zeigen, daß alle Metaphysik des absoluten "Wesens" seit PLATONs Ideenlehre, ja noch früher, in einer Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] geltender Werte zu transzendenten Realitäten bestand, und damit wäre der Gedanke an eine neue Art von "Metaphysik" gegeben, die nicht "dogmatisch" zu sein brauchte, wenn sie stets daran festhielte, daß ihre "Realität" sich prinzipiell von allem unterscheidet, was man wirklich zu nennen gewohnt ist, d. h. nur als eine  Wertwirklichkeit  oder als ein zur Realität  gesteigertes  Geltendes verstanden werden darf. Der Wertgedanke wäre so im Prinzip anerkannt, und für die Geltungsprobleme hätte man zumindest Platz gewonnen. Unter diesem Gesichtspunkt wird vor allem die nachkantische Metaphysik des "Geistes" als besondere Art des  metaphysischen Subjektivismus  auch für eine kritische, konsequent transzendental-subjektivistisch verfahrende Philosophie der Werte lehrreich.

Andererseits steht fest, daß geltende Werte, so sehr man ihre Unwirklichkeit hervorheben oder sie, als Realitäten gedacht, ins Übersinnliche übersetzen mag, für den Menschen, der sie erkennen will, nur insofern  zugänglich  werden, als sie irgendwie in reale psychische Akte des empirischen Subjekts eingegangen sind. Sie können dann, wie es scheint, von der Psychologie erforscht werden, und dadurch wird auch diese Wissenschaft in eine sachliche Beziehung zur Wertphilosophie kommen. Ja, bei der weitgehenden Vorsicht, die für manche philosophische Richtungen unserer Zeit charakteristisch ist, und die bei den "Gewissenhaften des Geistes" dazu führt, allen Unternehmungen zu mißtrauen, die nicht beim empirisch Wirklichen bleiben, sondern darüber hinaus nach dem Irrealen, Geltenden oder gar nach dem metaphysisch Realen zu suchen,  muß  der Gedanke entstehen, es sei bei der rein wissenschaftlichen Behandlung auch der Weltanschauungsprobleme und insbesondere der damit verknüpften Wertfragen notwendig, daß man sich auf die faktisch ablaufenden Vorgänge beschränkt, mit denen das individuelle Subjekt zu den geltenden Werten tatsächlich Stellung nimmt. So entsteht ein  Subjektivismus der Wertungen,  der grundsätzlich über das empirische Seelenleben nicht hinausgehen will, trotzdem aber auch Wertprobleme in Betracht zieht, und der, solange er sich jedes Urteil über die "Objektivität" der Wertgeltungen enthält, auch den Namen des "schlechten" Subjektivismus nicht zu verdienen braucht.

Der  psychologische Subjektivismus  spielt in der neuesten Philosophie eine erhebliche Rolle und nimmt zwei verschiedene Formen an, je nachdem seine Betrachtung individualisierend auf die Mannigfaltigkeit des Seelenlebens bei verschiedenen Menschen in verschiedenen Zeiten und Völkern blickt, oder generalisierend die allgemeine und gleichbleibende "Natur" der psychischen Realitäten ins Auge faßt. Er wird sich also entweder, wie bei WILHELM DILTHEY,  historistisch  gestalten, d. h. in einer geschichtlichen Darstellung der verschiedenen Weltanschauungen als faktisch vertretener Meinungen wirklicher Menschen die einzige wissenschaftliche Form der Philosophie als Weltanschauungslehre sehen, oder er muß die allgemeinen, immer wiederkehrenden  natürlichen  psychischen Faktoren und Kräfte darstellen, die Weltanschauungen als menschliche Überzeugungen hervortreiben, um konsequenterweise die Philosophie durch eine im engeren Sinne so zu bezeichnende "Psychologie der Weltanschauungen" zu ersetzen.

Zu einer solchen Auflösung der Philosophie in Psychologie war z. B. THEODOR LIPPS geneigt, wobei freilich zu bemerken ist, daß er immer mehr zu zwei Arten der "Psychologie" kam, von denen nur die eine sich an die empirischen Realitäten hielt, die andere dagegen zu einem überindividuellen Subjekt greifen mußte, um der Mannigfaltigkeit der sich aufdrängenden Probleme, zumal den Geltungsfragen, gerecht zu werden. Ein "reiner" Psychologismus ist insofern nicht zu konstatieren, sondern der Subjektivismus zeigt zugleich metaphysische Tendenzen und nähert sich damit einer Philosophie des "Geistes".

Doch läßt sich auch eine ausschließlich empirische Psychologie der Weltanschauungen denken, und ihre Durchführung müßte lehrreich sein sogar für den, der überzeugt ist, daß dieser psychologische Subjektivismus, sobald er Alleinherrschaft anstrebt, einen Rückfall in den durch KANTs Entdeckung der transzendentalen, unwirklichen Faktoren endgültig überwundenen Standpunkt bedeutet. Je konsequenter sich nämlich eine Weltanschauungslehre auf das seelische Sein beschränkt, umso klarer werden die Wertprobleme in ihrer wissenschaftlichen Notwendigkeit und Eigenart zutage treten als Probleme, die der Psychologie stets unzugänglich bleiben müssen.


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Die Erinnerung an die vorstehenden Gedanken ist veranlaßt durch ein kürzlich erschienenes Buch (4), das nicht nur den Titel "Psychologie der Weltanschauungen" führt, sondern sich auch sachlich in die angedeutete Entwicklungsreihe der nachkantischen Philosophie einfügt, welche vom Standpunkt des Kritizismus aus als psychologischer  Nebenweg  bezeichnet werden muß. Zwar beruft das Werk sich auf KANTs Ideenlehre, unternimmt aber, wie zu erwarten, sie ins Psychologische umzubiegen, und gehört auch insofern in diesen Zusammenhang. Der Verfasser ist KARL JASPERS, der bisher auf dem Gebiet des anormalen Seelenlebens gearbeitet hat, und dem die Wissenschaft insbesondere ein anerkanntes Lehrbuch der Psychopathologie verdankt. Ich beabsichtige nicht, hier das zu geben, was man eine "Kritik" der neuen Arbeit von JASPERS nennen könnte, d. h. ich will nicht den Wert dieses eigenartigen und inhaltreichen Werkes in seiner  Totalität  würdigen. Ich benutze es lediglich als Anlaß zu einigen prinzipiellen Auseinandersetzungen über das Verhältnis der verschiedenen Arten des "Subjektivismus" zueinander, insbesondere über die Stellung einer  Psychologie  der  Weltanschaungen  als einer empirischen Seinswissenschaft zur "kritischen"  Philosophie  der  Werte,  wie sie sich im Anschluß an KANTs transzendentalen Idealismus entwickelt hat. Der Nachdruck wird daher auf die Bedenken zu legen sein, die vom wertphilosophischen Standpunkt aus gegen die  allgemeinen  Prinzipien der Darlegungen von JASPERS erhoben werden müssen, und die Erörterung der zahlreichen positiven  Einzelheiten,  auf denen der Hauptwert des Werkes beruth, muß zurückstehen. Es ist zu fragen, wie weit hier der notwendigen Scheidung von drei Arten des "Subjektivismus", besonders der Trennung des  psychologischen  vom  transzendentalen,  die seit KANT sich nun einmal nicht mehr ignorieren läßt, Rechnung getragen wird, und das heißt, wie die Psychologie der Weltanschauungen sich zu einer kritischen, wissenschaftlichen Philosophie der Werte verhält.

Um das Resultat vorweg zu nehmen: es liegt hier, wie in vielen angeblich psychologischen Darstellungen, ein  Gemisch  von Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte vor, und zwar bedingt das wertphilosophische Moment, weil es nicht genügend zu Bewußtsein kommt, eine  Einseitigkeit der Wertung  und damit einen Mangel an "Objektivität", gegen die gerade vom Standpunkt einer rein  wissenschaftlichen  Philosophie der Werte Einspruch erhoben werden muß. An diesem Beispiel will ich zu zeigen versuchen, daß eine wissenschaftliche Behandlung der Weltanschauungen oder eine theoretische Weltanschauungs lehre  nicht auf dem Boden der Psychologie, sondern nur auf dem der Wertphilosophie möglich ist. Wissenschaftliche Klarheit in Weltanschauungsfragen läßt sich allein aufgrund eines wissenschaftlich geklärten Wertbewußtseins gewinnen, und dies uns zu eben, ist keine Psychologie imstande.


III.
Weltanschauungspsychologie und
prophetische Philosophie.

Das Buch von JASPERS beginnt mit einer Erörterung darüber, "was eine Psychologie der Weltanschauungen ist", und wir haben Grund, hierauf zu achten. Man könnte erwarten, daß bei dieser Gelegenheit auch eine Definition der Psychologie überhaupt gegeben würde, denn der Begriff dieser Wissenschaft ist umstritten. Eine solche Festlegung erfolgt jedoch nicht, ja sie scheint absichtlich vermieden, obwohl JASPERS weiß, daß hier Probleme vorliegen. "Die Stellung der Psychologie ist heute unklar und unfertig", sagt er. Das trifft gewiß zu; doch sollte diese Wissenschaft, damit ihr Begriff nicht zerfließt, jedenfalls auf die Erforschung des realen psychischen Seins, wie es in der Erfahrung gegeben ist, beschränkt werden, und auch JASPERS scheint dieser Ansicht, denn er sagt einmal: "Wir wollen nur sehen und wissen, was seelisch wirklich war und möglich ist." Damit wäre also nicht nur die Körperwelt und die metaphysische Seele, sondern auch das Gebiet des Unwirklichen, Transzendentalen von der psychologischen Behandlung ausgeschlossen, so daß ihr Material, wie das der Physik, lediglich einen  Teil  der  realen  Welt bildete, und die Psychologie also in demselben Sinne wie die Physik zu den  Spezial& wissenschaften gezählt werden müßte.

Zugleich kann das jedoch nicht der Meinung von JASPERS entsprechen, denn die Psychologie ist nach ihm eine  universale  Betrachtung und insofern zur Philosophie zu rechnen. Freilich fällt sie darum nicht mit der Philosophie zusammen. Es gibt vielmehr Philosophie außerdem noch als Logik, als Soziologie und schließlich als "Weltanschauung". Logik ist "universale Betrachtung aller Wissenschaften und aller Gegenstände in Bezug auf ihren Geltungscharakter". Soziologie und Psychologie ist "universale Betrachtung des Menschen und seiner Gebilde". In Bezug worauf, wird nicht gesagt. Eine unzweideutige Bestimmung der Psychologie und ihres Verhältnisses zur Logik wie zur Philosophie überhaupt wird man aus diesen Sätzen nicht entnehmen können.

Was aber ist "Weltanschauung?" Vielleicht führt uns die Antwort hierauf weiter und zeigt, was JASPERS mit seiner Psychologie der Weltanschauungen anstrebt. Er sagt:
    "Die Philosophie war von jeher mehr als nur universale Betrachtung, sie gab Impulse, stellte Werttafeln auf, gab dem Menschenleben Sinn und Ziel, gab ihm die Welt, in der er sich geborgen fühlte, gab ihm mit einem Wort: Weltanschauung."
Diese Philosophie nennt JASPERS "prophetische Philosophie", und nur ihr gebührt nach ihm der Name Philosophie, wenn er "den edlen, mächtigen Klang behalten soll". Doch ohne weitere Begründung steht für JASPERS zugleich fest: eine solche Philosophie gibt es  heute  nicht, "außer in romantischen Wiederherstellungsversuchen schwächlicher Art", und dadurch gewinnt nun JASPERS seinen Begriff einer Psychologie der Weltanschauungen, daß er sie aller prophetischen Philosophie entgegenstellt. Sie soll nur universale  Betrachtung  sein, im Unterschied von jeder  Wertung.  Das nennt man zwar heute auch Philosophie; aber das ist nach JASPERS keine "echte" Philosophie, sondern entweder Logik oder Soziologie oder Psychologie. "Die logische Betrachtung ist Voraussetzung für die beiden andern, die nicht scharf und grundsätzlich voneinander zu trennen sind." Kurz: da es "echte" Philosophie nicht mehr gibt, hat die Psychologie als universale Betrachtung an die  Stelle  der Philosophie zu treten.

Schon gegen diese Voraussetzung, die JASPERS seinem Unternehmen zugrunde legt, lassen sich Bedenken erheben. Sie sind nichts weniger als selbstverständlich. Warum gehört die Logik zur Philosophie? Warum die Ethik oder die Ästhetik nicht? In welchem Sinn ist die Logik Voraussetzung von Psychologie und Soziologie? Warum wird sie universale Betrachtung aller Gegenstände genannt? Sollen ferner Psychologie und Soziologie niemals grundsätzlich voneinander geschieden werden? Warum dann die zwei Namen und die nicht zu bezweifelnde faktische Arbeitsteilung?

Doch lassen wir die vielen sich hier aufdrängenden Probleme unerörtert und fragen zunächst nur: was berechtigt zur Gleichsetzung von "echter" und "prophetischer", d. h. wertender Philosophie? Denker der verschiedensten Zeiten, die allgemein zu den Philosophen, und zwar zu den echten gezählt werden, würden gegen eine solche Gleichsetzung entschieden Einspruch erheben. Sie haben sie gerade die bloße "Betrachtung" im Unterschied von jeder Wertung zur Aufgabe gemacht. Als Männer der Wissenschaft konnten sie nicht anders, als mit SPINOZA denken:  neque ridere, neque flere, nec detestari, sed intelligere.  [Weder zu lachen, noch zu weinen, noch zu verabscheuen, sondern zu begreifen. - wp] Ob sie alle das bloße "intelligere" konsequent durchgeführt haben, ist freilich eine andere Frage. Aber hier handelt es sich nur um Ziele oder Ideale der Wissenschaft. Auch JASPERS erklärt es für "unvermeidlich, daß wir z. B. das Erstarrte, Verknöcherte, sofern wir es bloß betrachten wollen, mit den Lebensinstinkten in uns zu verneinen", "daß Werturteile unausgesprochen immer mitschwingen". Er kann daher auch als Psychologe sich nur  "bemühen,  jedes Werturteil zu vermeiden", und dieses Bemühen, worauf es hier allein ankommt, teilt der Psychologe mit dem Philosophen.

Ja, das Pathos der Pathoslosigkeit, wie man es nennen könnte, ist besonders großen und echten Philosophen eigentümlich, und die Beschränkung des Namens  Philosophie,  der ursprünglich "Wissenschaft" bedeutete, auf die außerwissenschaftliche, prophetische, wertende Philosophie, kann daher nur als eine durch nichts zu rechtfertigende Willkür bezeichnet werden. Gerade die "echte" Philosophie ist universale  Betrachtung  und darf als Wissenschaft nichts anderes sein wolen, falls unter "Betrachtung" der Gegensatz zur  atheoretischen  Wertung verstanden wird.

Den  theoretischen  Wert der  Wahrheit  wertet selbstverständlich auch der rein betrachtende Philosoph, ja allein um seiner Wertung willen hält er die atheoretischen Wertungen zurück. Das theoretische Werten kann daher noch nicht prophetisch genannt werden. Es gehört notwendig mit zur reinen Betrachtung, d. h. zur reinen Wissenschaft. Der Umstand, daß viele Philosophen - nicht alle -  mehr  als nur eine Betrachtung in diesem Sinn gegeben haben, ändert ebenfalls nichts daran, daß die Gleichsetzung der "echten" mit der "prophetischen" Philosophie unzulässig ist. Das ist die eine Seite des Einwandes gegen die Bestimmung dieser Psychologie der Weltanschauungen.

Andererseits müssen wir fragen: mit welchem Recht soll eine  universale  Betrachtung "Psychologie" heißen? Gewiß ist die Stellung dieser Wissenschaft heute unklar und unfertig. Doch da auch JASPERS als Psychologe nur sehen und wissen will, "was seelisch  wirklich  war und möglich ist", so bleibt die psychologische Beschränkung auf die psychische Realität mit einer universalen Betrachtung der Weltanschauungen unter allen Umständen unverträglich. Sie muß, wo sie konsequent durchgeführt wird, zu jenem "Subjektivismus" führen, den KANT bekämpft hat, und der heute als endgültig überwunden angesehen wird. Sind denn "Weltanschauungen" etwa  nur  reale psychische Gebilde? JASPERS selber sagt: "Wir nennen ja Weltanschauung  sowohl  die faktische Existenz der Seele in ihrer Totalität gesehen  als auch  die rational geformten Lehren, Imperative, gegenständliche Bilder, die das Subjekt ausspricht, anwendet, zur Rechtfertigungen nutzt usw.". Schon darin ist eine Scheidung gegeben, die jede Psychologie der Weltanschauungen als universale Betrachtung problematisch erscheinen läßt, denn die "rational geformten Lehren" sind nicht wirkliche seelische Vorgänge, sondern unwirkliche theoretische Wert- oder Sinngebilde.

Man wird noch einen Schritt weiter gehen müssen. Weil, wie auch JASPERS einmal hervorhebt, "wir von Weltanschauungen nur  reden  können, soweit sie rationale Formen gefunden haben", sind die Weltanschauungen  selber  ein Gegenstand der Untersuchung lediglich in ihrer  Abgelöstheit  vom wirklichen Seelenleben, d. h. sie bestehen für den, der sie  als Weltanschauungen  in ihrer Eigenart wissenschaftlich erkennen will,  ausschließlich  in unwirklichen Sinngebilden, und diese müssen wir auf das Schärfste von den realen psychischen Akten trennen, mit denen sie von den empirischen Subjekten  erfaßt  werden. Wenn daher die Psychologie nur das sieht, was  seelisch  wirklich oder möglich ist, so gibt es streng genommen gar keine Psychologie der Weltanschauungen selber, sondern nur eine Psychologie der empirischen  Subjekte,  welche die "objektiven" Weltanschauungen  haben,  d. h. sie verstehen, von ihrer Richtigkeit überzeugt sind usw.

Und sogar das ist noch nicht alles, was hier berücksichtigt werden muß. Die seelischen Akte, mit denen wir uns einer Weltanschauung bemächtigen, bleiben der psychologischen Untersuchung, die  nur  Wirkliches sieht, solange  unverständlich,  als nicht der "objektive", unwirkliche Gehalt an Weltanschauung, zu dem das Subjekt Stellung nimmt, ins wissenschaftliche Bewußtsein gehoben und in seiner Eigenart und Mannigfaltigkeit klargestellt ist. Der Schwerpunkt  jeder  theoretischen Betrachtung der Weltanschauungen oder jeder wissenschaftlichen Weltanschauungslehre muß daher in einer Untersuchung der vom psychischen Sein  abgelösten  Sinngebilde liegen, von denen keine Psychologie zu reden vermag, weil sie nicht psychisch real sind, und erst auf einer Lehre von den irrealen Sinngebilden kann sich eine Psychologie des realen Verhaltens der Subjekte zu diesen Sinngebilden  aufbauen. 


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Doch ich verfolge diesen Gedanken nicht weiter, denn JASPERS hat nirgends auch nur den  Versuch  gemacht, sich mit seiner "Psychologie" auf das seelisch  Wirkliche  zu beschränken. Der soeben entwickelte Einwand scheint daher mehr den Titel des Buches als seinen Inhalt zu treffen, und man könnte meinen, hier liege nichts als eine Streitfrage vor. Ich will deshalb lediglich fragen, wieweit in dieser angeblichen "Psychologie der Weltanschauungen" das Programm einer bloßen  Betrachtung  der Gebilde durchgeführt ist, die sich als Weltanschauungen rational formulieren lassen, so daß die Betrachtung sich von jeder "prophetischen", d. h. wertenden Philosophie unterscheidet.

Es wird sich ergeben, daß das Buch auch insofern keine "Psychologie" darstellt, als darin bestimmte, außertheoretische  Wertungen  zum Ausdruck kommen, und von ihnen aus an die Weltanschauungen, die rein betrachtend dargestellt werden sollen, zugleich in außertheoretischer Wertmaßstab angelegt wird. Die Berechtigung dieser Wertungen gilt JASPERS offenbar als völlig "selbstverständlich", und das ist insofern lehrreicht, als es zeigt: nur durch ausdrückliche theoretische Klarheit über die Werte in ihrer Eigenart und Mannigfaltigkeit, die den verschiedenen Weltanschauungen zugrunde liegen, ist eine reine Betrachtung der Weltanschauungen oder eine rein theoretische Weltanschauungslehre, die jede atheoretische Wertung zurückhält, als Wissenschaft möglich. Solange es dem Betrachter an einem wissenschaftlich geklärten, philosophischen Wertbewußtsein fehlt, wird er es nicht vermeiden können, daß die Darstellung der Weltanschauungen mit "prophetischen" Elementen durchsetzt ist. Man muß die Wertvoraussetzungen der eigenen Weltanschauung genau  kennen,  wenn man ihren Einfluß bei der Betrachtung fremder Weltanschauungen ausschalten will.


IV.
Die Vorläufer der
Weltanschauungspsychologie

Charakteristisch ist schon die Auswahl der Denker, auf welche JASPERS sich als auf seine Vorläufer beruft. Sie können in ihrer Mehrzahl nicht den bloß betrachtenden Psychologen in seinem Sinne zugerechnet werden. Hat er von ihnen allein "Betrachtung" übernommen?

Als systematische Psychologie der Weltanschauungen kennt JASPERS "nur einen großartigen Versuch: HEGEL  Phänomenologie  des Geistes". Selbstverständlich weiß er, daß dieses Werk mehr als Psychologie gibt. Es ist selbst Ausdruck einer Weltanschauung, und das darf eine Psychologie nicht sein wollen. Wir heben bei JASPERS also (der Absicht nach) eine Phänomenologie des Geistes - ohne "Geist". Und noch ein anderes Moment fehlt, das HEGEL den "Mut der Wahrheit" nannte. Er schrieb seine "Phänomenologie" als "Leiter", d. h. die Vorstufen seiner eigenen Philosophie sollten darin zu Bewußtsein gebracht werden. Das kann die Psychologie ebenfalls nicht beabsichtigen.  "Hegel  endigt mit dem absoluten Wissen, wir in dieser Sphäre beginnen und bleiben beim absoluten Nichtwissen des Wesentlichen." So ist HEGELs  Phänomenologie  für JASPERS nur ein "Steinbruch", "wertvolles Baumaterial". Im übrigen steht er zu HEGEL in "Kontrast".

Schon dabei drängt sich die Frage auf: kann man einem System der Philosophie Baumaterial entnehmen, das nicht bereits in bestimmter Weise "behauen" ist und sich daher einen anderen Bau einfügen läßt, ohne daß es diesen wesentlich mitgestaltet? Kann ein fremdes System  nur  Steinbruch sein? Muß nicht vielmehr gerade der Kontrast zu HEGEL unter Beibehaltung gewisser Bausteine über die bloße Betrachtung hinausführen zu einer "prophetischen" Philosophie? Es wäre jedenfalls genau zu untersuchen, welche Wertvoraussetzungen z. B. in der von JASPERS vollzogenen "dialektischen" Gliederung der Darstellung stecken? Doch das würde sehr weit führen. Sehen wir daher von HEGEL ab und fragen, von welchen Denkern nach JASPERS eigener Angabe die für ihn "entscheidenden Lehren" stammen?

JASPERS nennt zuerst KANT. "Er ist durch seine Ideenlehre der Schöpfer des Gedankens, der dieser Weltanschauungspsychologie überall zugrunde liegt." Der Begründer der Wertphilosophie soll also zugleich der Schöpfer des Grundgedankens einer Psychologie der Weltanschauungen sein? Das muß vor allem unser Interesse in Anspruch nehmen. JASPERS hat in einem "Anhang" zu seinem Buch "Kants Ideenlehre" ausführlich behandelt, und man wird gut tun, den Anhang zuerst zu lesen. Gerade das, was vom Standpunkt der Ideenlehre an den Gedanken von JASPERS  angreifbar  ist, tritt nämlich hier zutage. Für jeden Kenner des Kritizismus ist von vornherein klar: JASPERS muß KANTs "Idee"  umdeuten,  wenn sie für eine Psychologie der Weltanschauungen verwertbar sein sollen.

Schon daß er die Ideen "Seele", "Welt", "Gott" mit einem "z. B." einführt, ist unkantisch. KANT kennt in der theoretischen Philosophie nur diese drei Gebilde als "Ideen", und wenn man den Begriff der Idee in seiner prägnanten Bedeutung beibehalten will, darf man ihn nur für das "Unbedingte" verwenden. Mechanismus und Organismus, die JASPERS auch Ideen nennt, sind Ideen nicht im kantischen Sinn. In den Zusammenhang der Ideenlehre kommt man erst, wenn man versucht, ein  Unbedingtes  als Mechanismus oder als Organismus zu denken. Dann ergibt sich der Begriff einer nie zu verwirklichenden Aufgabe, und der Grund dafür liegt nicht im Begriff des Mechanismus oder Organismus, sondern im Versuch, das unbedingte Ganze wie einen seiner bedingten Teile, nämlich als empirische Realität zu behandeln. Bedingte Teile, die man als Mechanismus oder als Organismus denkt, sind nicht "Ideen".

Vor allem aber geht es nicht an, KANTs Ideen zu wirklichen "Kräften" der Seele zu machen, wie JASPERS das tut. Das sind die ebensowenig wie die "Anschauungsformen" Raum und Zeit oder die "Kategorien" des Verstandes. Mit der Auffassung der Ideen als psychischer Realitäten wird der Sinn des kantischen "Subjektivismus" von Grund auf  zerstört  und KANT auf das Niveau der Denker gezogen, die er bekämpft hat. Die Ideen sind als Ideen lediglich tranzendentale, unwirkliche, geltende Gebilde. Die Idee der "Seele" z. B., gedacht als psychische Kraft, wäre das unbedingte Seelenganze gedacht als einer seiner bedingten Teile, also ein vollkommener Unbegriff und Widersinn.

Hier liegt die  verhängnisvollste Verwechslung  vor, die es im "Geist" von KANTs Transzendentalphilosophie geben kann. Transzendentaler Subjektivismus ist nicht Psychologismus, sondern steht zu ihm in einem unversöhnlichen  Gegensatz Der transzendentale Geltungsfaktor ist prinzipiell zu trennen vom psychischen Akt, mit dem das empirische Subjekt zu ihm Stellung nimmt. Dadurch, daß ein Wert dem realen Denken entgegengilt und es damit leitet, wird der geltende Wert selbst nicht zu einer realen Denkkraft. Man kann KANT  bekämpfen,  aber man sollte nicht im  Namen  seiner Ideenlehre "Psychologie" treiben. In der Ideenlehre vor allem steckt KANTs "Weltanschauung", die auf einer Wertlehre ruht.

Freilich ist nicht zu leugnen, daß KANT selbst gelegentlich das  Wort  "Idee" so verwendet, daß damit eine psychische Wirklichkeit gemeint zu sein scheint. Aber es ist bekannt genug, wie ungenau KANT bei der Verwendung seiner Termini verfährt, und wir Epigonen sollten ihm gerade das nicht nachmachen. Auf KANTs Ideenlehre darf sich daher eine Psychologie der Weltanschauungen, die im Gegensatz zu einer Philosophie der Werte steht, nicht berufen.

Nach KANT nennt JASPERS KIERKEGAARD und NIETZSCHE und sagt, "Daß sie als die größten Psychologen der Weltanschaungen anerkannt werden müssen". Beide sind zugleich Philosophen von eminent "prophetischem" Charakter, und es ist daher hier vor allem zu fragen, ob JASPERS in Wahrheit, wie er glaubt, nur von ihrer "Psychologie", d. h. von der bloßen Betrachtung, die in ihren Werken vorliegt, und nicht auch von ihren atheoretischen  Wertungen  abhängig ist.

Freilich mag es machem unmöglich vorkommen, daß jemand sich von den Weltanschauungen KIERKEGAARDs und NIETZSCHEs  zugleich  beeinflussen lassen kann, da auf den ersten Blick die Prophetien diesen beiden Männer in einem schroffen Gegensatz zu stehen scheinen. Doch hebt JASPERS selbst das Gemeinsame hervor: "Es kommt ihnen auf das Leben der gegenwärtigen Individualitäten, auf die  Existenz  an." "Dabei wird ihnen ganz von selbst die Frage der Echtheit (!) des seelischen Lebens und Daseins zum Problem und die äußerste Bewegung (!), die Unruhe des seelischen Daseins selbstverständlich." "Beiden waren auch in ihrer literarischen Produktion gegen das System."

Das alles ist gewiß zutreffend, aber damit dürften zugleich, wie wir sehen werden, die Punkte bezeichnet sein, in denen JAPSERS selbst sich auch wertend oder "prophetisch" an KIERKEGAARD und NIETZSCHE anschließt.


V.
Theoretisches und antitheoretisches
Weltanschauungspathos

Ehe wir darauf eingehen, sei nur noch die Bemerkung über den letzten Mann erwähnt, von dem JASPERS sich abhängig fühlt: MAX WEBER. Daran ist etwas allgemeines zu knüpfen, das auf den entscheidenden Punkt hinführen wird. JASPERS sagt von WEBER:
    "Die Trennung von weltanschaulicher Wertung und wissenschaftlicher Betrachtung, für die er nach früheren Formulierungen (!) doch erst das Pathos (!) brachte, möchte auch inm vorliegenden Versucht erstrebt werden."
Danach kommt es also nicht nur auf die religionssoziologischen und politischen Arbeiten WEBERs, sondern auch auf sein Pathos an, und sehr bezeichnend stellt JASPERS ihn geradezu mit KIERKEGAARD und NIETZSCHE zusammen. Darauf müssen wir besonders achten. Ist das Pathos MAX WEBERs das Pathos NIETZSCHEs und KIERKEGAARDs? Man wird es bezweifeln dürfen. Steht aber JASPERS dem Pathos NIETZSCHEs und KIERKEGAARDs nicht näher als dem von MAX WEBER?

Von hier aus läßt sich vielleicht am besten ein Einblick in das Wesen dieser Psychologie der Weltanschauungen und ihr Verhältnis zur Wertphilosophie gewinnen. Welches "Pathos" wird von JASPERS vertreten? Ist es in Wahrheit das der reinen Betrachtung?

Will man über eine solche Frage zur  prinzipiellen  Klarheit kommen, so muß man wieder die Eigenart der  Werte  kennen, die einem Pathos zugrunde liegen, und insofern Pathos ein psychischer Zustand ist, zeigt sich dabei zugleich, wie sich auch hier die "psychologische" Einsicht nur aufgrund einer Wertlehre gewinnen läßt. Wir können nach den Werten, die gewertet werden, in diesem Zusammenhang drei Arten von Pathos bei Denkern unterscheiden.

Das eine ist das rein  theoretische  Pathos, wie es z. B. SPINOZA zeigt, von dem NIETZSCHE: "amore dei [Liebe Gottes - wp], selig aus  Verstand."  Dieses Pathos der Pathoslosigkeit oder der bloßen Betrachtung bildet hier zugleich die Grundlage für die gesamte "Weltanschauung", denn es beruth auf der Überzeugung, daß der theoretische Wert der Wert aller Werte, der einzige wahrhaft gültige Wert ist. Die Erkenntnis, die der Philosoph anstrebt, wird deshalb für ihn zum höchsten Gut überhaupt. So kommt er zum "Intellektualismus". Auch Sittlichkeit und Frömmigkeit erreichen ihre Vollendung erst, wenn sie sich zum Erkennen steigern lassen. Sittlich handeln heißt: seiner Leidenschaften erkennend Herr werden. Gott lieben heißt: ihn adäquat erkennen. Die  cognita intuitiva  ist  amor dei intellectualis. 

Die Meinung, daß weltanschauliche Wertung und wissenschaftliche Betrachtung auseinanderzuhalten seien, kann bei diesem Pathos gar nicht aufkommen. Man lehrt Weltanschauung, ohne die theoretische Sphäre zu verlassen. Die weltanschauliche Wertung fällt mit der Forderung einer Alleinherrschaft der theoretischen Betrachtung zusammen. Die unwissenschaftlichen Wertungen sind auch "im Leben" zu unterdrücken. Das reine Betrachten und damit das Werten des theoretischen Wertes ist das einzige Lebensideal, das der Philosoph anerkennt. Die Weltanschauung lehrt als letzten Sinn und höchstes Ziel des Menschendaseins lediglich Erkenntnis. Betrachtung allein ist "echte" Philosophie. Nur weil JASPERS die  Wertgrundlagen  dieses  vor  KANT fast ausschließlich herrschenden Typus von wissenschaftlicher Weltanschauung nicht klargelegt hat, konnte er seine Entgegensetzung von "echter" Philosophie und "Betrachtung" für selbstverständlich halten, d. h. übersehen, daß er selbst mit ihr schon eine ganz besondere  Art  von "Weltanschauung" vertritt.

Dem theoretischen Pathos des Intellektualismus steht das  antitheoretische  schroff gegenüber. Reine Erkenntnis gilt geradezu als Feind dessen, was wahrhaft wertvoll ist. Sie vernichtet das, worauf es im "Leben" ankommt. Atheoretische Werte der verschiedensten Art werden in den Vordergrund gestellt und gegen die theoretischen ausgespielt. Wo dieses Pathos vorherrscht, kann von Wissenschaft um der Wissenschaft willen konsequenterweise keine Rede mehr sein. Der theoretische Mensch hat sich dem atheoretischen unterzurordnen. Das vertreten mehr oder weniger bewußt und ausdrücklich KIERKEGAARD und NIETZSCHE. Wer sie für "echte" Philosophen hält, muß wie JASPERS allerdings die reine Betrachtung der "echten" Philosophie entgegensetzen. Aber darin steckt dann eben ein Stück anti-theoretischer "Prophetie".

Schließlich gibt es noch ein drittes Pathos, das gewissermaßen in der Mitte liegt. Es setzt die Trennung von atheoretischer und theoretischer Wertung oder wissenschaftlicher Betrachtung in der Weise voraus, daß beide als gleichberechtigt anerkannt werden, nämlich die theoretische Wertung innerhalb der Wissenschaft, die atheoretische im übrigen, außerwissenschaftlichen Leben. Dieses Pathos kann sich zu einem vollen Bewußtsein nur aufgrund einer Philosophie der Werte entwickeln. Man muß theoretisch eingesehen haben, daß es zwar nicht möglich ist, alle Werte auf theoretische Werte zurückzuführen, also z. B. höchste Sittlichkeit und Frömmigkeit mit letzter Erkenntnis zusammenfallen zu lassen, daß aber trotzdem das theoretische Verhalten in seiner begrenzten Sphäre unantastbaren Wert behält.

Das liegt im "Geist" der Wertphilosophie KANTs, so wenig wie sich leugnen läßt, daß noch mancherlei Rückfälle in die einseitig "rationalistische" Art des Wertens bei KANT zu finden sind.  Allseitigkeit  der Wertung, die dieses Pathos fordert, kommt in den bekannten Worten zum Ausdruck:
    "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiterzukommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritt. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dies alles könne die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß.  Rousseau  hat mit zurechtgebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren."
Wo eine solche allseitige Wertung herrscht, wird man "prophetische" und wissenschaftliche Philosophie ebenfalls trennen, d. h. verlangen, daß der Forscher als Forscher  nur  die theoretischen Werte werten, die Wertung der atheoretischen Werte dagegen zurückhalten und dem "Leben" überalssen soll. Man wird also den "echten" Philosophen im Mann der reinen Betrachtung sehen. KANT war nicht "prophetischer" Philosoph oder wollte es jedenfalls nicht sein. Bei der Alternative: Prophet oder Psychologe wird er heimatlos, denn unter die bloßen Logiker ist doch wohl auch nicht zu bringen.

Der Mensch, der Weltanschauungsfragen irgendwie wissenschaftlich untersuchen will, wird gut tun, sich darüber klar zu werden, zu welchem Pathos er sich bekennt. Sonst schwebt er in Gefahr, prinzipienlos und unwissenschaftlich zu werden. Das anti-theoretische Pathos darf er als Forscher nicht zu dem seinigen machen, denn damit hebt er den Sinn seiner eigenen theoretischen Untersuchung auf. Auf dem Boden einer solchen Weltanschauung gibt es keine Betrachtung um der Betrachtung willen mehr. Der Theoretiker der Weltanschauungen hat also zwischen dem rein theoretischen Pathos SPINOZAs, das einseitig ist, und dem allseitigen Pathos, wie es der Philosophie KANTs zugrunde liegt, zu wählen. Die bewußte Entscheidung aber hängt von seinem Wertbewußtsein und insofern von seiner wissenschaftlich geklärten Weltanschauung ab.

Wer die Selbständigkeit und Geltung der atheoretischen Werte überhaupt nicht anerkennt, hat dann als Intellektualist auch keinen Grund, weltanschauliche Wertung und theoretische Wissenschaft zu trennen. JASPERS strebt ihre Trennung an. Wir können jetzt die Frage, ob er sie konsequenz durchgeführt hat, dadurch entscheiden, daß wir feststellen, ob sein Pathos in Wahrheit allseitig ist, oder ob nicht vielmehr die Ablehung des einseitigen, rein theoretischen Pathos ihn bisweilen zu einem ebenso einseitigen anti-theoretischen Pathos geführt hat, das KIERKEGAARD und NIETZSCHE beherrscht und das sich mit einer wissenschaftlichen Weltanschauungslehre nicht verträgt.


VI.
Der Kampf gegen das System

Es ist nicht möglich, das ganze Werk auf diese Frage hin zu analysieren. Ich beschränke mich daher auf einige charakteristische Teile, an die sich prinzipielle Erörterungen knüpfen lassen, und möchte vor allem zeigen, welche atheoretischen Weltanschauungsmotive dem Kampf gegen das  System  zugrunde liegen, den JASPERS ebenso wie KIERKEGAARD und NIETZSCHE führt. Dafür kommen besonders die "systematischen Gedanken" in Betracht, die außer den bisher erörterten Abschnitten über den Begriff und die Quellen noch der Ausführung der Weltanschauungspsychologie verangestellt sind.

Sie beginnen mit einer Schilderung des Verfahrens, das jeder Denker einschlagen muß, um einen unübersehbaren Stoff zu ordnen. Die bloße Aufzählung "führt ins Endlose". Wir brauchen Schemata der Auffassung, und wir werden, um der Mannigfaltigkeit des Stoffs gerecht zu werden, möglichst viele Gesichtspunkte suchen, uns hüten, alles unter dasselbe Schema zu bringen. "So tasten wir unsicher."

Mit solchen Sätzen ist der  Beginn  einer wissenschaftlichen Untersuchung gewiß zutreffend gekennzeichnet. Doch bald erfahren wir, daß nicht nur der Anfang gemeint ist, sondern daß es beim Wechsel der Schemata bleiben soll. Schemata sind zwar unvermeidlich, aber "jede Systematik wird etwas anderes deutlicher zeigen: jede hat irgendwie Recht und Unrecht, sobald sie sich für die allein Berechtigte ausgibt." Systematik ist unentbehrlich. das System wird bekämpft. "So besteht die Aufgabe, immerfort systematisch zu sein, und doch zu versuchen, kein System zur Herrschaft kommen zu lassen." "Es besteht die Tendenz, mit unserer Systematik wieder das System zu vernichten." "Man sucht die Gesichtspunkte lebendig und beweglich zu machen und das Bewußtsein zu wecken, daß es auch anders geht." "Jede Vollendung muß Verdacht erwecken."

Gegenüber diesen, für Männer wie KIERKEGAARD und NIETZSCHE sehr charakteristischen und auch sonst heute weit verbreiteten Tendenzen, die hier an die Spitze der "systematischen Grundgedanken" gestellt sind, drängen sich zwei Fragen auf. Worauf beruth die Antipathie gegen das System, d. h. welche  Wertungen  liegen dem anti-systematischen Pathos zugrunde? Und ferner: ist die Absicht, "kein System zur Herrschaft kommen zu lassen", in einer Untersuchung, die sich nicht nur bloße Betrachtung, sondern auch  universale  Betrachtung zur Aufgabe stellt, durchführbar, oder steht sie nicht vielmehr gerade mit einem rein theoretischen Verhalten in einem unaufhebbaren Widerspruch?

Was die Eigenart der Wertungen betrifft, die zu Anti-Systematik führen, so kann bei "prophetischen" Philosophen wie KIERKEGAARD und NIETZSCHE über ihren außertheoretischen Charakter kein Zweifel bestehen. KIERKEGAARD wertet vorwiegend  religiös.  Sein Kampf gegen HEGELs System ist  begrifflich  zwar von der späteren Romantik abhängig, aber  persönlich  liegt ihm die Sorge für das Heil der der unsterblichen Seele zugrunde, und weil er sich in seinem religiösen Glauben dem alten SCHELLING fremd fühlte, ist ihm nicht klar geworden, wieviel er von diesem Romantiker gelernt hat. Für ihn ist die Hauptsache: die "Existenz" jedes Denkers scheint in Frage gestellt, der die Welt systematisch denkt. Die religiöse Wertung trägt die Abneigung gegen das System.

Beim "vielsaitigen" NIETZSCHE gibt es mehrere Wertungen, die ihn gegen Systeme mißtrauisch machen. Bisweilen kommt der Moralist zu Wort, bisweilen auch der Ästhet, vor allem aber der "Lebensphilosoph", dem, wie  Zarathustra  sagt, das Leben lieber ist als alle seine Weisheit. Das Leben in seiner Ursprünglichkeit sträubt sich, wie alles unmittelbare, in der Tat gegen jede Systematik, und so muß der  Prophet  des  Lebens  Anti-Systematiker sein.

Auch bei JASPERS sind schon in den "systematischen Grundgedanken" die Spuren dieser Lebensprophetie unverkennbar. Will er doch sogar seine Gesichtspunkte "lebendig" machen. Vollendung muß ihm Verdacht erregen, denn "Starrheit tritt anstelle von Beweglichkeit". Ist das ein theoretischer Gesichtspunkt? Ist das reine Betrachtung? Warum in aller Welt soll denn  alles  "lebendig" sein? Warum ist Beweglichkeit mehr wert als Starrheit? Der Lebensprophet mag das alles für "selbstverständlich" halten. Dem "Psychologen", der nur betrachten, d. h. logisch denken will, was "seelisch wirklich und möglich" ist, steht eine solche Parteinahme nicht zu.

Ja, widerspricht sie nicht seinem Wesen? Das führt zu der Frage nach der Vereinbarkeit der Anti-Systematik mit der reinen Betrachtung. Aus der Scheu vor Festlegung kann gewiß unter Umständen auch der "Gewissenhafte des Geistes", also der theoretische Mensch reden. Aber darf diese Gewissenhaftigkeit bis zur Ablehnung  jedes  Systems gehen, ohne daß damit zugleich die Möglichkeit einer reinen Theorie aufgehoben und die Gewissenhaftigkeit im theoretischen Interesse sinnlos wird?

Es genügt für die reine Betrachtung, zumal wenn sie universal sein soll, nicht, daß man ein unübersehbares Material überhaupt  irgendwie  ordnet, sondern man muß als theoretischer Mensch die eine Ordnung für richtiger als die andere halten, und diese Überzeugung setzt voraus, daß es schließlich  eine  und  nur  eine Ordnung gibt, die uns zwar unbekannt sein mag, aber doch die wahre Ordnung ist, der sich allmählich anzunähern, das Ziel aller wissenschaftlichen Ordnung bildet. Der Gegensatz von Systematik und System ist undurchführbar. Die Systematik muß im  Dienst  der Systembildung stehen. Ohne diese Voraussetzung verliert sie wie die reine Betrachtung überhaupt jeden theoretischen Sinn. Wie soll es vollends eine universale Betrachtung ohne Richtung auf ein System geben? Welches Universum läßt sich anders durch ein System erfassen?

Vor allem aber:  warum  kein System? Wer von ihm wie JASPERS eine "Vergewaltigung" der Lebensinhalte fürchtet, tut das vom Standpunkt einer "prophetischen" Weltanschauung, d. h. im Interesse irgendwelcher atheoretischen Werte und Güter. In den Mund des rein betrachtenden Menschen gehört das Wort  Vergewaltigung durch das System  nicht. Wer theoretische Vergewaltigung für möglich hält, für den gibt es eine vom erkennenden Subjekt unabhängige, nach anderen als theoretischen Gesichtspunkten geordnete "Welt", die er sich nicht durch die Wissenschaft  zerstören  lassen will. Für den theoretischen Menschen, der sich von allen außerwissenschaftlichen Wertungen frei hält, ist die Welt beim Beginn seiner Untersuchung, also unabhängig von jeder Auffassung noch gar keine "Welt" im Sinne eines Kosmos, eines geordneten Ganzen, sondern ein Chaos, dessen Wiedergabe faktisch unmöglich und im theoretischen Interesse auch nie anzustreben ist, weil sie keine Erkenntnisbedeutung besitzt, selbst wenn wir sie vollziehen könnten. Erst durch Formen des logischen oder rationalen Denkens bringen wir unsere Anschauungen in die theoretische Sphäre. Nicht das Chaos oder, um mit KANT zu reden, das "Gewühl", das uns auffassungslos gegeben ist, sondern nur ein Kosmos, d. h. ein Geformtes oder Geordnetes, also etwas vom Standpunkt des Chaos schon "Vergewaltigtes" kann durch die theoretische Auffassung vergewaltigt werden, und diese angebliche Vergewaltigung durch das System bedeutet lediglich die theoretisch notwendige Ersetzung der außerwissenschaftlichen Formung der Welt durch die Wissenschaft, die Umwandlung des ästhetischen, ethischen oder relisiösen Kosmos in den theoretischen.

Einer solchen Umwandlung hat sich der betrachtende Mensch, der von aller prophetischen Philosophie absehen will, freiwillig zu beugen. Das heterogene Kontinuum des bloßen "Erlebnisstroms" verdient keine Schonung. Es ist für den wissenschaftlichen Menschen nur etwas, das überwunden werden soll, damit ein theoretisch geordnetes Reich von Begriffen, d. h. ein in irgendeiner Weise systematisches Gebilde entsteht.  Allein durch das System kommen wir vom theoretischen Chaos zum theoretischen Kosmos.  Der aber bildet das unvermeidliche Ziel jeder universalen Wissenschaft. So ist gerade mit der reinen Betrachtung der "Wille zum System" notwendig verknüpft.

Wohl kann auch aus theoretischen Motiven eine Abneigung gegen eine gewisse  Art  von Systemen bestehen. Der Philosoph wird sich vor jeder  voreiligen  Festlegung auf bestimmte Schemata aber hüten, weil er darin Gefahren für die Vollständigkeit seines Denkens und eine Verengung seines Horizontes sieht. Doch bedeutet das nur die Bekämpfung eines unzureichenden Systems zugunsten eines möglichst umfassenden und vollständigen, und daher hat die Vorsicht gegenüber einem Gedankengebilde, das sich zu früh abschließt, mit dem Kampf gegen das System überhaupt nicht das geringste gemein.

Auch wenn der Systematiker daran denkt, daß er als psychologisch und historisch bedingtes Individuum nicht hoffen darf, die theoretische Formung seines Stoffes jemals endgültig abzuschließen, ist das gewiß berechtigt. Mit Rücksicht hierauf kann man das Ideal eines  offenen-Systems  aufstellen, das noch Platz für wissenschaftliche Ergänzungen und Vervollständigungen läßt (5). Aber wäre der Forscher  nur  als ein historisch und psychologisch bedingtes Individuum zu betrachten, dann könnte er nicht hoffen, jemals zu  irgendeiner  Wahrheit vorzudringen, denn  jede  Wahrheit gilt zeitlos, oder sie ist keine Wahrheit, und sie liegt daher über allem historisch und psychologisch bedingten Geschehen. Bei einer  ausschließlich  psychologischen oder historischen Betrachtung des *Erkennens wäre es also auch mit der historischen und psychologische Betrachtung des Forschers, die doch ebenfalls wahr sein will, vorbei. Das relative Recht des Gedankens an die Bedingtheit des erkennenden Subjekts führt zum Unsinn, sobald man seine Bedingtheit  absolut  setzt. Abgesehen davon bleibt auch ein offenes System stets ein  System,  und so kann der Gedanke daran ebenfalls nicht zur Bekämpfung des Systems überhaupt führen.

Es ist also eine unentbehrliche Voraussetzung jedes rein wissenschaftlichen Strebens, daß  irgendein  geordnetes Ganzes von Begriffen und Urteilen unbedingt gilt für das Material von Lebensinhalten, welches wir wissenschaftlich bearbeiten, und dazu kommt ferner die Voraussetzung, daß wir als theoretische Menschen imstande sind, den Gehalt dieses Ganzen von Begriffen und Urteilen oder das System immer mehr zu erfassen und in sinnvollen Sätzen niederzulegen. Gibt es für uns einen solchen  Weg  vom Chaos der bloßen Lebensinhalte zum Kosmos der in einem System geformten Lebensinhalte nicht, so verliert die wissenschaftliche Tätigkeit wiederum jeden theoretischen  Eigenwert.  Sie ist dann nur noch als Mittel zur Realisierung außerwissenschaftlicher Ziele zu verstehen, also entweder in den Dienst der Lebenserhaltung oder irgendeines anderen atheoretischen Zwecks zu stellen. Wer das glaubt, vertritt wieder eine anti-theoretische Weltanschauung, die sich nicht mit dem Ideal der reinen Betrachtung verträgt.


VII.
Die Gehäuse und das
biologistische Prinzip

Mit dem Willen zum theoretischen Verhalten ist schließlich noch notwendig eine Überzeugung verknüpft, die sich gegen das Ideal der All-Lebendigkeit richtet. Auch sie kommt mit der Weltanschauung von JASPERS in Konflikt. Der nur betrachtende Forscher muß nicht allein an die Geltung eines Systems glauben, falls er sich selbst versteht, sondern zugleich die Form des Systems, das unabhängig von ihm gilt, als etwas  Festes  oder "Starres" denken im Gegensatz zum kontinuierlichen Fluß und zur Beweglichkeit der Lebensinhalte. Auch deshalb kann er, zumal bei universaler Betrachtung, nicht so für das Bewegliche Partei ergreifen, daß er  alles  Starre um seiner Starrheit willen bekämpft. Gewiß braucht er die Welt nicht als unbeweglich anzusehen. Aber wenn irgendeine Erkenntnis Sinn haben soll, muß es beides, sowohl beweglichen Inhalt als auch feste Formen in der Welt geben. Den Schwerpunkt kann man mehr auf die eine oder mehr auf die andere Seite verlegen. Seitdem in der griechischen Philosophie HERAKLIT und PARMENIDES einander gegenüberstanden, hat sich der Kampf zwischen Evolutionismus und Stabilität immer von neuem wiederholt. Aber auch der Weise von Ephesus war, soviel wir wissen, weit davon entfernt,  alles  in Bewegung aufzulösen. Über dem Fließen schwebte für ihn der feste Rhythmus, den zu erfassen die Aufgabe des Philosophen bildete. Wo man  alles  Feste leugnet, kommt man zum Skeptizismus oder zu einem Relativismus, der nur durch Inkonsequenzen vom theoretischen Nihilismus getrennt bleibt.

In unserer Zeit nehmen nun relativistische Bewegungen wieder einen breiten Raum ein und zeigen die Tendenz, das Stabile überhaupt zu bekämpfen. Sie stützen sich dabei in der Tat auf die Dauer nichts Starres zu dulden. Auch dort wo man die Notwendigkeit irgendeiner Form gegenüber dem schwankenden Inhalt erkannt hat, will man doch von  bleibenden  Gestalten nichts wissen.

SIMMEL hat das eindringlich formuliert. Das Leben kämpft vermöge seines Wesens als Unruhe, Entwicklung, Weiterströmen dauernd gegen seine eigenen festgewordenen Erzeugnisse, die mit ihm nicht mitkommen. Da es aber seine Außenexistenz nicht anders finden kann, als eben in irgendwelchen Formen, so stellt sich dieser Prozeß sichtbar und benennbar als Verdrängung der alten Form durch eine neue dar. Der fortwährende Wandel ist das Zeichen oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und sich Wandeln gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht, an denen oder in denen es lebt. Es bewegt sich zwischen Stirb und Werde - Werde und Stirb (6).

Gewiß enthält dieser Gedanke, wenn man ihr richtig versteht, eine partielle Wahrheit. Aber ebenso gewiß kommt darin zugleich eine Weltanschauung zum Ausdruck, die einseitig am Begriff des  Lebens  orientiert ist, und sich gerade als theoretische Weltanschauung, d. h. als  universale  Betrachtung wissenschaftlich nicht durchführen läßt. Begreifen wir nämlich das Leben als das, was Formen nur schafft, um sie wieder zu zerstören, so bedeutet das offenbar, daß wir damit das Leben in eine  Form  bringen. Was sollte es sonst heißen? In die Wissenschaft geht ja nie das Leben selbst ein, sondern allein sein Begriff, und gerade falls die Lebensphilosophie Recht hat, kann auch  ihr Lebens begriff oder  ihre Lebens form lediglich einer der Begriffe und eine der Formen sein, die das Leben selbst wieder zerstören muß. Damit wird dann aber zugleich auch das Recht der Lebensphilosophie mit zerstört, d. h. es war nie ein "Recht", denn was sich zerstören läßt, gehört zum theoretischen Unrecht. Der Widersinn jedes theoretischen Relativismus, d. h. jedes Versuchs, die Wahrheit restlos in den Fluß des Geschehens hineinzuziehen, den schon PLATO durchschaut hat, zutage tritt.

So zeigt sich: jede Lebensanschauung, die sich  nur  auf das lebendige Leben stützen will, ist lediglich eine der Auffassungen des Lebens, neben der es noch andere, anders und theoretisch besser gestützte Lebensauffassungen gibt. Jeder  wissenschaftliche  Standpunkt, der Wahrheit beansprucht, muß  irgendeine  Lebensform oder  irgendeinen  Lebensbegriff, sei es auch nur den des formzerstörenden Lebens, als  fest  voraussetzen.

Darum brauchen wir das Feste freilich nicht im Realen zu suchen. Für dieses mag der Satz HERAKLITs, daß alles fließt, seine Geltung behalten, und insofern kann man es auch lebendig nennen. Umso notwendiger ist dann aber die Annahme einer irrealen Welt, wie KANT sie im transzendentalen a priori entdeckt hat, und diese läßt sich nicht wieder als beweglich denken. Nur darüber kann gestritten werden, in welchem  Maß  feste Formen bestehen, nicht darüber, ob wir überhaupt Formen des Wandels als unwandelbar annehmen wollen. Wäre doch gerade der Begriff des dauernden Wandels aufgehoben, falls nicht das, was Voraussetzung jedes Wandels ist, selber dem Wandel sich entzöge und dauerte. Auch hier gibt es das eine und das andere. Erst beides zusammengenommen ist die Welt. Bewegung ist ein Relationsbegriff. Das sollte gerade im Zeitalter der "Relativitätstheorie" nicht vergessen werden.  Alles  kann nicht fließen. Das Lebendig ist lediglich ein  Teil  des Ganzen.

Wo man das leugnet, tut man es nicht aufgrund wissenschaftlicher Argumente, sondern wegen einer außerwissenschaftlichen Wertung des Fließenden. Die moderne Lebensphilosophie, die dazu neigt, alles Feste zu verneinen zugunsten des allebendigen Lebensstroms, erweist sich unzweideutig als Produkt einer "Prophetie". Sie ruht auf der  Liebe  zum lebendigen Leben, nicht auf theoretischen Annahmen. Das kommt ihren Vertretern heute oft nicht zum Bewußtsein, weil solche Wertvoraussetzungen uns überall als "selbstverständlich" umgeben. Sie sind für viele die Weltanschauungsluft, die sie atmen, und ohne die sie nicht atmen und leben zu können glauben. Darum steckt jedoch in ihnen nicht weniger eine prophetische, d. h. wissenschaftlich unbeweisbare, ja in ihren Konsequenzen anti-wissenschaftliche Weltanschauung.

Auch JASPERS steht unter ihrem Einfluß. Das zeigt sich nicht allein im Kampf gegen das System überhaupt, sondern noch in einem besseren Punkt. Die moderne Lebensphilosophie wird nur zum Teil von der Vorliebe für das Unmittelbare und Anschauliche gegenüber allem Abgeleiteten und Begrifflichen getragen. Weil mit der Anschauung allein beim Denken nichts anzufangen ist, reicht das intuitive Prinzip nicht aus. Man muß schließlich doch zu Begriffen seine Zuflucht nehmen, und da man sich dabei vom Leben nicht entfernen will, hält man sich an die Wissenschaft vom "Leben", d. h. von den Organismen, also an die Biologie. Die spezialwissenschaftlichen Grundlagen dieser Disziplin werden erweitert und als Lebensformen auf alles angewendet, was man "Leben" nennt. So bekommt das Denken den  biologistischen  Charakter, der für die philosophische Mode so bezeichnend ist (7).

Ihr Einfluß tritt bei JASPERS besonders dort zutage, wo er, wie übrigens gelegentlich auch SIMMEL, von den Systemen als "Gehäusen" spricht. Die Geistestypen fallen unter drei Klassen. "Fragen wir nach den Geistestypen, so fragen wir, wo der Mensch seinen Halt hat." Entweder fehlt es nun an jedem Halt. Dann entsteht der Typus des Skeptizismus und Nihilismus. Oder der Mensch hat einen Halt, dann findet er ihn entweder im Begrenzten oder im Unendlichen. Das Unendliche, das ist das "Lebendige". Der Halt im Begrenzten, das ist das "Gehäuse". Das müssen wir ins Auge fassen.

Das Gehäuse wird von JASPERS als die Form angsehen, die das Leben zwar hervorbringen muß, von der es sich aber auch wieder zu befreien hat. "Die psychologische Betrachtung weiß, daß wir nur in Gehäusen leben können." Aber:
    "Jede formulierte Lehre vom Ganzen wird Gehäuse, beraubt des originalen Erlebens der Grenzsituationen und unterbindet die Entstehung der Kräfte, die bewegend den Sinn des Daseins in der Zukunft in selbstgewollter Erfahrung suchen."
Auch hier werden NIETZSCHE und KIERKEGAARD genannt. Sie appellieren "an den lebendigen Prozeß im Menschen, die Verantwortung des einzelnen, den tiefsten individualistischen Ernst in der Ehrlichkeit und Redlichkeit gegen alles in sich."

Schon diese Worte lassen keinen Zweifel darüber, wie JASPERS die Systeme als Gehäuse wertet. Der letzte Grund seiner Stellungnahme aber tritt erst in folgenden Sätzen ganz zutage.
    "Wie der Stengel der Pflanze, um leben zu können, einer gewissen gerüstbildenden Verholzung bedarf, so bedarf das Erleben des Rationalen; wie aber die Verholzung schließlich dem Stengel das Leben nimmt und (ihn) zum bloßen Apparat macht, so hat das Rationale die Tendenz, die Seele zu verholzen."
Da haben wir den Anti-Rationalismus der modernen Lebensprophetie in reinster Ausgestaltung.

Die Notwendigkeit des Rationalen wird an anderer Stelle so begründet: "Das Gehäuse besteht nicht mehr, der Mensch kann nicht mehr leben, so wenig wie eine Muschel, der man die Schale genommen hat." Ferner werden wir versichert: die "Gehäuse", vom Standpunkt des Lebens aus gesehen, sind nicht bloß und in jedem Fall Sackgassen." Völlig sinnlos also ist das Rationale nicht. Aber Eigenbedeutung fehlt ihm trotzdem. Es borgt seinen Wert vom Leben, und zwar von dem Leben, das die Biologie erforscht. Sie lehrt uns, daß das Leben "Schalen" braucht oder "Häute". "In einzelnen Fällen mag plötzlich die Haut abgeworfen werden und in einem Moment der Schmetterling aus der Puppe fliegen; in anderen Fällen wird die Puppe durchlöchert, der Weg gesehen, aber ruhig gewartet, bis das positive Leben von selbst und ohne Gewaltsamkeit die allerletzten Reste des früheren Gehäuses verschwinden läßt." Auch das Wort NIETZSCHEs wird zitiert, das dieser, wie JASPERS sagt, in der "klaren Anschauung des Lebendigen" gesprochen hat: "Mancher warf seinen letzten Wert von sich, als er seine letzte Fessel abwarf".

Man darf nicht glauben, daß die biologischen Bilder bei JASPERS nur Bilder sind. Der Grundgedanke, der dahinter steckt, erinnert zunächst an den von SIMMEL: das Leben schafft immer von Neuem Formen, um sie wieder zu zerstören. Aber SIMMEL weiß, daß er damit  Metaphysik  treibt. Bei JASPERS treten diese Lehren als Psychologie auf und tragen in Wahrheit ein biologistisches Gepräge. Entscheidend ist: die Gehäuse, d. h. die Systeme, werden zu verstehen gesucht aufgrund ihrer biologischen Funktionen. Das ist das Prinzip des biologistischen "Pragmatismus" und erinnert an WILLIAM JAMES. Die Systeme stellen sich dementsprechend als eine  Not  des Lebens dar, aus der unter keinen Umständen eine Tugend des "lebendigen" Menschen gemacht werden darf. Leider kann man sie nicht entbehren, aber jedes ist wieder abzuwerfen, damit es einem neuen Platz macht. So will es die Lebendigkeit des Lebens. Von diesem biologistischen Pathos sind viele Ausführungen der "Psychologie der Weltanschauungen" getragen.

Selbst wenn man ihm sympathisch gegenüberstehen sollte, wird man nicht leugnen wollen, daß darin eine "prophetische" Weltanschauung, d. h. eine Wertung des Lebens um seiner Lebendigkeit willen, nicht etwa reine Betrachtung zum Ausdruck kommt. Noch mehr! Auch wenn wir von der atheoretischen Wertung absehen, kann der betrachtende Forscher, der den Eigenwert wahrer Gedanken voraussetzen muß, ja der nur dadurch zum reinen Betrachter wird, daß er das tut, die biologistische Auffassung, für die das System Schale oder Muschel oder Schlangenhaut ist, nicht mitmachen.

Er wird sich zunächst, ohne nach Wert oder Unwert zu fragen, vor der darin liegenden  Verwechslung  hüten, die geschaffene  Kultur erzeugnisse, deren Bedeutung gerade in ihrer Festigkeit und Dauer besteht, mit abgestorbenen  Natur produkten gleichsetzt, die wieder abzuwerfen sind. Der Mensch, der Weltanschauung hat, ist ein soziales und  geschichtliches  Wesen. Die Menschheit hat für Weltanschauungen "Gedächtnis". Der Kulturmensch lebt nicht wie das einzelne, bloß "natürliche" Lebewesen, dem das Gehäuse wächst, und das es wieder abwirft. Er findet eine Weltanschauung als Erbe seiner Väter vor, nimmt sie auf, bleibt entweder bei ihr stehen oder bildet sie um, und wenn die Weltanschauungen sich gewiß auch von Generation zu Generation ändern, so werden sie doch dabei immer weiter ausgestaltet und jedenfalls in ihrer Totalität niemals so abgeworfen wie eine Schlangenhaut.

Das gilt besonders von den Weltanschauungen, die JASPERS mit Bewußtsein und ausdrücklich in den Vordergrund stellt, d. h. von den Gedanken der europäischen Philosophen. Ihre Ansicht und Überzeugungen von Welt und Leben sind Glieder eines geschichtlichen Zusammenhangs, der sich nahezu kontinuierlich durch zwei und ein halbes Jahrtausend hin erstreckt. Die Weltanschauungen von "Müller und Schulze", die mit oder ohne Fühlung mit der wissenschaftlichen Philosophie sich aus persönlichen Erfahrungen bilden, kann man allenfalls wie Naturprodukte behandeln, welche mit ihren Trägern wachsen und wieder zugrunde gehen, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen und andere Weltanschauungen zu beeinflussen. Von ihnen gibt es auch eine generalisierende Auffassung und Darstellung, die ihre Typen ordnet wie die Naturwissenschaft die Typen der Organismen, und bei der Darstellung solcher Weltanschauungen mag man dann vielleicht, wenn auch mit Vorsicht, biologische Analogie verwenden. Ja es kann sein, daß dieser oder jener sich aus Lebensangst in ein schützendes System zurückzieht, das ihm den Schmerz des Nachdenkens über das Leben erspart.

Aber was hat das mit der Arbeit der großen Systematiker zu tun? JASPERS redet in der  Hauptsache  von den Weltanschuungen der geschichtlich bedeutsamen Denker, die sie im bewußten Zusammenhang mit der Vergangenheit aufgrund der Lehren ihrer Vorgänger ausgestaltet haben, und diese Weltanschauungen sind nur insofern mit Naturprodukten wie Gehäusen zu vergleichen, als man dabei die unvereinbaren  Gegensätze  zwischen beiden hervorhebt. Solchen Gebilden steht eine biologistisch orientierte Psychologie hilflos und verständnislos gegenüber. Hier wie überall ist der Naturalismus außerstande, Erscheinungen des geschichtlichen Kulturlebens in ihrem Werden und Vergehen zu begreifen.

Doch auch aus noch einem anderen Grund darf man das von einem Denker geschaffene System nicht mit einem verknöcherten Gehäuse vergleichen. Das widerspricht dem "Geist" oder dem  Sinn,  aus dem heraus ein solches Gebilde entspringt, und muß daher sein inneres Wesen völlig verfehlen. Die "verstehende" Psychologie verbaut sich mit dem Biologismus hier jedes Sinnverständnis. Falls ein Denker nach Bildern sucht für die Weltanschauung, die er sich zurechtlegt, wird er auf das Kulturleben blicken und von einem  Haus  reden, das er sich baut, um als theoretischer Mensch in ihm zu wohnen, um aus ihm hinauszuschauen auf die Welt, die er betrachten wil, und das feststehen muß, wenn die Stürme des Lebens und der Leidenschaften es umbrausen. Er wird ein Haus bauen wollen, das so lange dauert wie möglich, und an dem die Nachwelt weiter bauen kann. Dazu braucht er Steine, die hart und rechtwinklig behauen sind, d. h. streng definierte Begriffe. Mit ihnen allein wird er der schwankenden Erscheinung, welche die Anschauung ihm bietet, Herr. Er kann als theoretischer Mensch nicht "leben" ohne festes Fundament, auf dem er fest steht im Fluß des Geschehens. So versteht er den Sinn seines Schaffens.

Sähe er dagegen seine Gedankenarbeit und die Weltanschauung, die er sich erdenkt, als "Verholzung" an, so müßte sie für ihn jeden Sinn verlieren. Nie wird er sich in ein finsteres Gehäuse verkriechen und gegen das lebendige Leben absperren, wenn er ein System schafft, sondern dafür sorgen, daß sein Haus der Sonne und dem Mond ebenso wie den frischen Winden des Lebens offen steht, und daß es Fenster hat, die ihm den Blick eröffnen über das weite Land. Will eine "verstehende" Psychologie ihm einreden, seine "rationalen" Gedanken denke er nur, um sich eine schützende Schale wachsen zu lassen, so lacht er dieses Mißverständnis fröhlich aus. Die aus spezialwissenschaftlichen Theorien entstehenden Deutungen des Biologismus erreichen  diese  "Geistestypen" in keiner Hinsicht. Sie werden zu wirklichkeitsfremden, "toten" Konstruktionen, und können nur als  Verfälschungen  des Sinns der Systembildung gelten, der jedem systematisch Denkenden aus eigenem unmittelbarem "Erleben" heraus vertraut und über jeden Zweifel gestellt ist. Der Biologist, so weit er  theoretisch  denkt, mißversteht sogar sich selbst, wenn er sein eigenes Denken glaubt, biologisch fassen zu können. Er  will  in Wahrheit etwas völlig anderes, das in keine biologische Kategorie eingeht. Er kann nicht anders wollen, denn so will es das Pathos der reinen Betrachtung. Die biologistische "Betrachtung", die es anders will, kann vor ihm nicht bestehen, und darauf allein kommt es in der Wissenschaft an.

Selbst falls der Biologist bestreiten sollte, daß er mit Begriffen wie  Gehäuse  zu werten  beabsichtigt,  so widerspricht seine Auffassung doch dem Sinn des philosophischen Systems und kommt in Konflikt mit den Wertungen, die der theoretische Mensch gerade als rein Betrachtender nicht vermeiden kann. Implizit wertet also der Biologismus jedenfalls anti-theoretisch, und das darf keine Theorie, ohne damit ihr eigenes Fundament in Frage zu stellen.

In Zeiten, in denen System sklavisch nachgebetet werden, hat es freilich einen guten Sinn, auch das Recht der Bewegung und des Lebens zu preisen. Das ist dann sozusagen eine Angelegenheit der wissenschaftlichen "Politik". Unsere Zeiten fordern zu einem so gerichteten politischen Verhalten nicht auf. Angesichts der allgemeinen Gedankenerweichung, wie sie heute beliebt ist, wird der theoretische Mensch nicht mit dem großen Lebensstrom schwimmen wollen. Die wissenschaftliche "Substanz" ist da bei denen, die bauen können oder es zumindest versuchen. Man mag auch diesen Standpunkt eine "Weltanschauung" nennen und ihn damit theoretisch ablehnen. Doch stecken in ihr nur die Voraussetzungen, ohne die der Theoretiker nicht auskommt, und jedenfalls darf man nicht behaupten, daß Gedanken, die diese Weltanschauung bekämpfen, "reine Betrachtung" sind. Es liegt ihnen als  Voraussetzung  eine anti-theoretische Wertung zugrunde, und das schon zeigt ihren "prophetischen" Charakter. Hier steht eben wieder die theoretische Weltanschauung gegen die anti-theoretische, und der theoretische Mensch kann, falls er sich selbst versteht, nur für die Weltanschauung Partei ergreifen, innerhalb welcher eine reine Betrachtung Sinn hat.

Das bedeutet keinen einseitigne Intellektualismus, wie SPINOZA ihn vertrat. Bekämpft jemand das systematisch wissenschaftliche Denken um seiner unsterblichen Seele willen, so läßt sich dagegen mit logischen Gründen nichts einwenden. Dann wertet er eben religiös, und das sucht der Theoretiker der Werte zu  verstehen Das widerlegt man nicht. Auch wenn die Liebe zur Kunst den Kampf gegen das System leitet, bleibt das unantastbar. Ja sogar wo der Kampf um des lebendigen Lebens willen geführt wird, kann man dafür Verständnis und eventuell Sympathie haben. Aber in solchen Fällen soll der Mensch, der sich gegen das System wendet, auch  wissen,  daß er damit eine theoretisch niemals zu begründende Weltanschauung vertritt. Der Theoretiker wird ihn vielleicht darauf hinweisen dürfen, daß die Liebe zum Leben um des bloßen Lebens willen, d. h. die Liebe zum Vegetieren, etwas Sinnloses ist, weil nur Werte, die mehr als Lebenswerte sind, dem Leben Wert verleihen, und daß der Prophet des bloßen Lebens sich selbst nicht versteht, wenn er glaubt, das Leben um des bloßen Lebens willen über alles zu stellen.  Widerlegen  jedoch läßt sich die Liebe zum Leben nicht. Nur als  wissenschaftlicher  Standpunkt bleiben die anti-systematischen Bestrebungen der biologistischen Lebensprophetie, die Systeme als Verholzungen der Seele aufzufassen, in sich widerspruchsvolle und sind damit widerlegt.

Ist es nötig, solche Selbstverständlichkeiten ausdrücklich zu sagen? Heute scheint alles Denken theoretisch so "lebendig" und "beweglich" und damit logisch so erweicht, daß man kaum mehr treten kann. Im Lebenssumpf der Modephilosophie gibt es oft nur noch Froschperspektiven. Da gilt es, zunächst einmal  erkenntnistheoretisch  und  methodologisch  Wege und Brücken zu bauen, auf denen das Material zur Errichtung von festen theoretischen Häusern herbeizuschaffen ist, zu Gebäuden mit möglichst hohen Türmen, die standhalten und einen weiten Ausblick gestatten. Weil man nur von ihnen aus die Welt schauen und überschauen kann, und das doch wohl immer die Aufgabe des rein betrachtenden Menschen bleibt, kommt alles auf das feste Bauen an. Als Forscher haben wir das Leben zu formen und müssen daher aus der formlosen, bloß lebendigen Lebenszappelei heraus zur systematischen Weltordnung.

Diese Bemerkungen richten sich selbstverständlich nicht gegen das Buch von JASPERS. Er ist gewiß  auch  ein theoretischer Mensch. Ausdrücklich spricht er sogar davon, daß er "für ein Gebäude (!) der psychologischen Einsichten als eines Ganzen" arbeite. Das soll doch wohl kein Gehäuse geben. Aber diese echt theoretische Tendenz zeigt sich bei ihm vermischt mit Einflüssen der modernen Lebensprophetie. Die Weltanschauung, die seiner Psychologie der Weltanschauungen zugrunde liegt, ist daher inkonsequent. Er will "bauen" und merkt nicht, daß seine biologistische Gehäusetheorie den Baugrund untergräbt, indem sie die Voraussetzungen des theoretischen Bauens in Frage stellt. Nicht allein mit seinen "Lebensinstinkten" verneint er das Erstarrte und Verknöcherte, was unvermeidlich sein mag, sondern die Lebensangst vor dem System ist ihm auch in seine wissenschaftlichen  Prinzipien  hineingeraten. Das sollte sich vermeiden lassen. JASPERS aber sucht aus dieser philosophischen Not eine "psychologische" Tugend zu machen. So kommt er zu dem Gedanken, die Philosophie als Weltanschauungslehre sei durch eine "Psychologie der Weltanschauungen" abzulösen und zu ersetzen. Dieses  Programm  ist zu bekämpfen, weil ihm Wertvoraussetzungen zugrunde liegen, die spezifisch unwissenschaftlich sind.

Glücklicherweise hat JASPERS nach seiner biologistischen Weltanschauung theoretisch nicht gehandelt. Sein Buch ist wissenschaftlich höchst anregend und bedeutungsvoll geworden. Sonst würde es sich ja gar nicht lohnen, von ihm zu reden. Aber es ist in den  Grundlagen  nicht frei vom Einfluß der Modeströmungen unserer Zeit, und gegen diesen Einfluß wenden wir uns im Interesse der wissenschaftlichen Philosophie. Dadurch, daß JASPERS sich keine Klarheit über die prophetischen Wertvoraussetzungen seiner eigenen Weltanschauung verschafft hat, kommt er, um einen Lieblingsausdruck von ihm zu gebrauchen, zu einer "unechten" Psychologie. Sein anti-theoretisches Pathos, das an vielen Stellen durchbricht,  konnte  innerhalb eines wissenschaftlichen Werkes nur zu Inkonsequenzen führen. Insofern ist das Buch zugleich der "konsequente" Ausdruck seiner inkonsequenten Weltanschauung, und gerade darin liegt sein Wert für die Philosophie. Er tritt jedoch in seiner Reinheit erst dann zutage, wenn man ihn von seinem biologistisch-psychologistischen Gewand befreit, das ihn hie und da verhüllt.


VIII.
Wertphilosophie und Theorie der
Weltanschauungen

Ich breche hier ab. Der Zweck dieser Erörterung und ihr allgemeines Prinzip würde durch eine Betrachtung von Einzelheiten nicht klarer herauskommen. Nur einige ergänzende Bemerkungen seien hinzugefügt, damit der Sinn der Ausführungen, besonders auch in ihrem Verhältnis zur Totalität des Werkes von JASPERS, nicht mißverstanden wird.

Vor allem ist zu sagen, daß JASPERS schon dadurch über den meisten Lebenspropheten unserer Zeit steht, daß auch HEGEL auf ihn gewirkt hat. Das ist umso interessanter, als dieser Einfluß in einer Lebensprophetie verwandten Richtung liegt. HEGEL will die Begriffe ebenfalls in Fluß halten. Die starke Teilnahme, die sich zumal seiner Phänomenologie wieder zuwendet, entspringt zum Teil aus derselben Wurzel wie die Vorliebe für das "Leben". Das ist keine willkürliche Konstruktion. Man denke an den jungen HEGEL, den man geradezu einen Lebensphilosophen nennen kann. Auch SIMMEL, der von HEGEL wie von der Lebensphilosophie beeinflußt ist, zeigt den Zusammenhang. Ebenso weist in diese Richtung das Verhältnis, das ein Lebensphilosoph wie WILLIAM JAMES zu HEGEL hat.

Hier sei jedoch nur an eine Stelle aus dem Buch von RUDOLF HAYM über "Hegel und seine Zeit" erinnert, die dartut, wie schon vor mehr als zwei Generationen der Gegensatz, der uns hier beschäftigt, sogar mit denselben Worten wie heute zum Ausdruck gebracht worden ist. Dem jungen HEGEL legt HAYM Sätze in den Mund, die genau das sagen, was heute viele zur Lebensphilosophie hinzieht. "Du zerstückelst", läßt HAYM HEGEL zu KANT sprechen, den Menschen, den ich, wie die Griechen, nur in der zusammenstimmenden Totalität seiner Kräfte gedacht wissen will,  du zerreißt das lebendige Leben,  welches ich als das Höchste verehre."

Viele empfinden in unseren Tagen gegenüber der Transzendentalphilosophie wieder ähnlich, und auch JASPERS gehört wohl zu ihnen. Ja, er müßte besonders KANT gegenüber so empfinden, hätte er sich nicht, da ihm KANTs Ethik lieb ist, seiner Weltanschauung entsprechend ein Bild von ihm zurechtgelegt, das mit dem geschichtlichen und geschichtlich wirksam gewordenen KANT nicht übereinstimmt. Er nennt nicht nur die Ideen KANTs "Kräfte", sondern die Gegenstandsformen "Gitterwerke" und vergleicht sie mit dem Wasser, das unentbehrlich, aber gleichgültig und kraftlos (!) für alles organische Leben ist, während man doch die Ideen in demselben Sinne Gitterwerke und kraftloses Wasser nennen  müßte,  falls man für die transzendentalen Formen diese irreführenden Bilder überhaupt verwenden wollte. KANTs Transzendentalphilosophie kommt bei JASPERS in ein sonderbares Licht. Sie ist eben psychologisch inkommensurabel [unvergleichbar - wp]

Andererseits stellt JASPERS KANT mit HERAKLIT, SOKRATES und - NIETZSCHE zusammen und bezeichnet seine Werke als "riesenhafte Fragmente"! Von HERAKLIT und SOKRATES wissen wir leider nicht sehr viel. Was aber würde wohl  Zarathustra  dazu gesagt haben, daß er in die Gesellschaft des "Chinesen von Königsberg" kommen soll? Mir scheint, sogar in NIETZSCHEs nicht gerade geschmackvolen Späßen über KANT steckt mehr "richtiges" als in der - sit venia verbo [Man verzeihe das Wort - wp] - ungeheuerlichen Behauptung, daß KANTs Kritiken "Fragmente" seien. Freilich, als Gehäuse von biologistischem Nutzen mochte wohl auch JASPERS diese Wunderwerke der Gedankenbaumeisterschaft nicht bezeichnen, und so konnten sie ihm nach seiner Einteilung nur als - Bruchstücke gelten. Doch zeigt das allein, daß hier das "Gehäuse" von JASPERS in die "Brüche geht". Wer hat noch ein architektonisch gegliedertes System, falls KANT keines besitzt? Und was ist trotzdem "lebendiger" als dieser fest gefügte Bau? Man sieht, wohin die Lebensprophetie einen "rein betrachtenden" oder "verstehenden" Psychologen der Weltanschauungen führt ...

Gleichviel! Schon HAYM hat schlagend zum Ausdruck gebracht, was besonders gegenüber den modernen anti-systematischen Lebens stimmungen  zu sagen ist:
    "Handelte es sich bei dieser Differenz nun lediglich um eine Wahl zwischen dem  Hegel'schen  Ideal und den abstrakten Konsequenzen der kantischen und fichteschen Lehre, so möchte man sich leicht und ohne Besinnen für das erstere entscheiden. Es handelt sich stattdessen  zwischen Philosophie und Philosophie,  und die Frage ist nach der Berechtigung mit welcher  Hegel  jenes Ideal in die  Form der denkenden Reflektion  übersetzte."
So liegt es in der Tat, und HEGEL selbst hat dann auch die Lebensprophetie seiner Jugend später glücklich überwunden. Sonst wäre aus ihm wohl nicht der große Philosoph geworden. Biologistisch gefärbte Lebensideale lassen sich vollends nicht leicht in die "Form der denkenden Reflektion" übersetzen.

Auf die Einflüsse, die HEGEL auf JASPERS ausgeübt hat, gehe ich nicht ein, und auch außerwissenschaftliche Wertungen, wie sie z. B. in den Begriffen der "Substanz" und der "Echtheit" zum Ausdruck kommen, können unerörtert bleiben. An ihnen wäre nur von Neuem zu zeigen, wie wenig diese Psychologie reine Betrachtung ist. Für JASPERS ist ebenso wie für KIERKEGAARD die "Existenz" des Denkers die Hauptsache. Nur trägt seine Weltanschauung einen mehr moralistischen als religiösen Charakter, der, wie auch NIETZSCHE zeigt, mit Lebensprophetie nicht unvereinbar ist. Ein kurzer Hinweis hierauf kann genügen, denn schon aus dem Gesagten muß hervorgehen, was diese Ausführungen klar stellen wollten:  eine rein betrachtende Wissenschaft von den Weltanschauungen, die sich von jedem Prophetentum frei hält, ist nur aufgrund einer umfassenden Theorie der Werte möglich.  Weltanschauungen beruhen durchweg auf Wertungen, die wissenschaftlichen auf theoretischen, die prophetischen oder außerwissenschaftlichen auf moralischen, ästhetischen, religiösen, vitalistischen usw. Die Werte, die für die Weltanschauungen maßgebend sind, hat daher die Theorie der Weltanschauungen in ihrem Wesen und in ihrer Eigenart zu verstehen. Das ist umso notwendiger, als die Vertreter der Weltanschauungen sich über die Art ihrer Wertungen oft im Unklaren befinden. Hier wie überall ist von der Wissenschaft  begriffliche Klarheit  zu schaffen und insofern, wie HAYM den jungen HEGEL sagen läßt, das "lebendige Leben zu zerreißen". Die verschiedenen Wertbegriffe sind zu bestimmen, voneinander zu trennen, und ein System ist aufzustellen, indem sie alle geordnet ihren Platz finden.

Diese Notwendigkeit läßt sich auch im Anschluß an einen Vergleich zum Ausdruck bringen, den JASPERS selbst benutzt, und der ihm als Psychiater naheliegt. Er spricht davon, daß die Geschichte der Philosophie zu berücksichtigen ist, und sagt:
    "Der Psychologe sieht im historischen Material eine Fundgrube für illustrierende Fälle. Ihm ist die Vergangenheit, was dem Psychopathologen die Klinik ist: er sucht sich ihm geeignet scheinende Fälle heraus."
Das kann man akzeptieren. Nur ist ein wesentlicher Unterschied zu beachten. Der Psychopathologe hat es mit Kranken zu tun und ist selber gesund. Der Weltanschauungspsychologe hat es mit Weltanschauung zu tun und besitzt selber eine Weltanschauung. Will er in demselben Verhältnis zu seinen "Fällen" stehen wie der Psychopathologe zu seinen Kranken, so muß er dabei die eigene außertheoretische Weltanschauung ausschalten. Das aber kann er nur, wenn er sie sich zum vollen Bewußtsein gebracht hat.

Die Philosophie der Werte, die er dazu braucht, muß selbstverständlich  reine Theorie  sein. JASPERS hat von ihr unzutreffende Vorstellungen. Was er über "Wertungen", "Werttafel" und "Wertabsolutismus" sagt, ist auffallend verständnislos, ja scheint von einer gewissen Animosität diktiert. Jedenfalls sieht es so aus, als halte er die Wertphilosophie, die den Sinn des Lebens deuten will, für Prophetentum. Gerade das aber ist sie nicht. JASPERS sagt einmal: "Wer Impulse verlangt, wer hören will was recht ist, worauf es ankommt, wozu wir leben, wie wir leben  sollen,  was wir tun sollen, wer  um den Sinn der Welt wissen  möchte, wendet sich vergeblich an die universale Betrachtung." Da sind Begriffe miteinander verbunden, die wir streng zu scheiden haben. Über das  Sollen kann die reine Betrachtung gewiß nichts sagen, d. h. sie kann es nur als Sollen theoretisch verstehen, nie als gesollt verkünden. Aber weshalb ist ein  Wissen  um den Sinn der Welt, d. h. um die Werte, die dem Leben Sinn verleihen, nicht reine Betrachtung? Ein theoretisches Verständnis der Werte und des auf ihnen beruhenden Sinnes hat mit praktischen Wertungen und mit "propagieren" bestimmter Werte nichts zu tun. Freilich heißt den Sinn der Welt verstehen, sie auf Werte beziehen. Die Werte selbst jedoch sind rein betrachtend zu erfassen, und das Sinn- und Wertverständnis ist so wenig Prophetentum, daß es vielmehr das einzige Mittel darstellt, dem Wertprophetentum mit Sicherheit zu entgehen. Wertwissenschaft steht im Gegensatz zur Wertprophetie. Darüber vor allem sollte in einer Wissenschaft von den Weltanschauungen Klarheit herrschen.

Auch das Buch von JASPERS hat wichtige  Beiträge  zu einer richtig verstandenen Philosophie der Werte gegeben, so wenig methodische Klarheit es über das Wesen dieser Aufgabe besitzt. Das möchte ich zum Schluß mit Nachdruck hervorheben, damit meine Ausführungen nicht als verständnislose Nörgelei erscheinen. Nur beruth die Bedeutung des Werkes mehr auf seinen Einzelheiten als auf seinen allgemeinen Prinzipien, und die Würdigung des Details war hier nicht beabsichtigt. Ich will auch nicht entscheiden, was daran "Psychologie" ist und was Philosophie. Gibt es "verstehende Psychologie", wie JASPERS glaubt, wenn der Psychologe nur sieht, was seelisch wirklich ist? Kann man bloß Wirkliches überhaupt "verstehen", falls verstehen in Gegensatz zum Erklären gebracht wird? Verstehen wir nicht vielmehr nur unwirkliche Gebilde des Wertes und des Sinnes? Ist es zweckmäßig, so heterogene Tätigkeiten wie z. B. das Messen von Reaktionszeiten oder das Zählen von Gedächtnisfehlern einerseits und das Verstehen von Weltanschauungen andererseits unter dem einen Namen der Psychologie zusammenzufassen, bloß weil dabei überall ein seelisches Sein irgendwie mitspielt? Jedenfalls wird sich die Philosophie das Wertverständnis und eine darauf gestützte Sinndeutung nicht nehmen lassen. Wie will man dann Philosophie und Psychologie trennen? Auf das "prophetische" Altenteil, wie JASPERS sich das denkt, läßt sich die Philosophie nicht setzen. Sollte man nicht Ernst damit machen, das, was man Psychologie nennt, auf das seelisch Wirkliche zu  beschränken?  Man hält es doch sonst mit KANT für wünschenswert, daß die Grenzen der Wissenschaften nicht ineinander laufen. Kann es größere Unterschiede im  Material  der Forschung geben als den zwischen realem psychischen Sein und irrealen Gebilden des Wertes und des Sinns? Ist hier die strenge begriffliche Trennung nicht Vorbedingung des methodischen Fortschritts der Wissenschaften, die das Material behandeln?

Doch alle diese und andere Fragen, die das Buch von JASPERS nahelegt, sollen hier unerörtert bleiben. Was ich allein zeigen wollte, sei noch einmal im Anschluß an Worte von JASPERS zum Ausdruck gebracht. Er sagt im Vorwort:
    "Es ist die philosophische Aufgabe gewesen, eine Weltanschauung zugleich als wissenschaftliche Erkenntnis und als Lebenslehre zu entwickeln. Die rationale Einsicht sollte der Halt sein. Stattdessen wird in diesem Buch der Versuch gemacht, nur zu verstehen, welche letzte Positionen die Seele einnimmt, welche Kräfte sie bewegen."
Das Programm ist an dieser Stelle klar, aber es ist nicht durchgeführt, und es läßt sich auf dem von JASPERS eingeschlagenen Weg nicht durchführen. Auch der Theoretiker bedarf eines "Haltes", der auf rationaler Einsicht beruth. Solange es sich nur um eine Spezialwissenschaft handelt, braucht er auf ihn nicht zu reflektieren. Bei der Theorie der Weltanschauungen aber und bei "universaler Betrachtung", wie JASPERS sie anstrebt, muß er auch das, was ihm als theoretischem Forscher einen Halt gibt, oder was als "a priori" seiner Untersuchung zugrunde liegt, ausdrücklich ins Bewußtsein heben, und dazu ist keine Psychologie imstande. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich ebenfalls, daß die Aufgabe, über Weltanschauungen theoretisch zur Klarheit zu kommen, nur aufgrund einer Philosophie der Werte möglich wird. Die Werte in ihrer Gesamtheit sind der "Halt", den der Mensch im Leben hat, gleichviel wie er sie sich verkörpert. Wertfreie Realitäten können keinen Lebenshalt verleihen. Die theoretischen Werte sind der theoretische Halt, den jeder Forscher braucht. Allein die strenge Trennung der theoretischen von den atheoretischen Werten aufgrund eines Überblicks über die Werte in ihrer Gesamtheit gibt in diesen Fragen theoretische Klarheit.

Schließlich sei die enge Verbindung von nicht-psychologischen Begriffen mit der Theorie der Weltanschauungen noch an einem besonderen Punkt aufgezeigt. Wir sahen, wie JASPERS die Geistestypen einteilt, und daß seine Sympathie bei denen ist, die den Halt im "Unendlichen" finden. Vielleicht sagt man, diese Sympathie sei als unwesentlich leicht auszuschalten. Doch so liegt es nicht. Die Wertung bestimmt hier die gesamte Einteilung des Stoffes, die vom Nichts über den Teil zum Ganzen fortschreitet. Das Begrenzte, das den Halt gibt, erscheint als bloßer Teil, und die Weltanschauung, die sich an das Begrenzte hält, daher als eng und unzureichend. Ihr gegenüber werden die Weltanschauungen, die sich an das "Unendliche" halten, als die umfassenderen gelten müssen. Unter anderen philosophischen Gesichtspunkten ist jedoch eine andere Einteilung möglich. Sie sei mit Hilfe eines Hinweises auf eine in dieser Zeitschrift früher veröffentlichte Abhandlung (8) in Kürze verständlich zu machen gesucht, damit wenigstens angedeutet wird, wie hier positiv zu verfahren wäre.

Der Begriff des Unendlichen ist zweideutig. Es gibt etwas, das man negative Unendlichkeit nennen kann. Scheidet man von ihr die positive, die für sich als Ganzes zu einem "vollen Ende" gekommen ist, aber für uns endliche Wesen sich als über-endlich darstellt, also voll-endliche Totalität bedeutet in dem Sinn, wie man von der positiven "Unendlichkeit" Gottes oder der Welt redet, denen beiden doch nicht etwa das "volle Ende"  fehlt,  so kann man darauf folgende Einteilung der Weltanschauungen gründen, die einen Halt geben. Die einen finden ihn im Begrenzten, d. h. im voll-endlichen  Teil,  die andern im negativ-unendlichen, endlosen Ganzen, das in Wahrheit noch nicht das Ganze ist. So entsteht auch hier  zunächst  die Alternative des beschränkten, geschlossenen Systems und der weiten, unbegrenzten, systemlosen Weltanschauung. Aber es gibt ein  Drittes.  Man braucht den Halt weder im voll-endlichen Teil noch in der endlosen Totalität, sondern man kann ihn auch in einem über-endlichen oder voll-endlichen Ganzen suchen, das eine Synthese von beiden darstellt, und dann ergibt sich eine Form des Philosophierens, die weder im begrenzten,  geschlossenen  System noch in der endlosen System losigkeit  ihren Ausdruck findet, sondern als Philosophie der voll-endlichen Totalität nach einem  offenen  System sucht.

KANTs Weltanschauung gehört, wie ich glaube, in diese Klasse. Für sie hat JASPERS keinen Raum, und das ist kein Zufall. Solange er nur Psychologie der Weltanschauungen treibt und dabei KANTs Ideen psychologistisch in "Kräfte" umdeutet,  kann  er für KANTs Weltanschauung keinen Platz finden. Auch sonst muß er, da er selbständiges  philosophisches  Forschen der Absicht nach meidet, sich an die fertigen, "toten" Weltanschauungen halten. Die werdenden sin ihm unzugänglich. Er sieht sie gar nicht. Strebt er aber zugleich eine universale Betrachtung an, so darf er in einer Theorie der Weltanschauungen einen so ungeklärten Begriff wie den des "Unendlichen" nicht einfach übernehmen, und sobald er auf diesem Gebiet selbständig vorgeht, wird er sofort über die Psychologie hinaus zur Philosophie getrieben. Nur im Zusammenhang mit der "lebendigen" philosophischen Forschung ist also eine umfassende Theorie der Weltanschauungen  möglich.  Auch aus diesem Grund muß die Psychologie, die sich auf das seelisch Wirkliche beschränken will, hier versagen.

Daß eine philosophische  Tendenz  in dem Buch lebt, die fortwährend über die selbstgesteckten psychologischen Grenzen hinübergreift, ist selbstverständlich kein Vorwurf, sondern auf das lebhafteste zu begrüßen. Soll diese Tendenz aber zur vollen Klarheit und Entfaltung kommen, so wird JASPERS sein biologistisch-psychologisches "Gehäuse" nicht nur zufällig und gelegentlich, sondern bewußt und grundsätzlich sprengen müssen. "Durchlöchert" ist es schon, also kann die Mühe nicht mehr groß sein. Vielleicht gibt er dann auch das mehr an KIERKEGAARD als an KANT orientierte Entweder-Oder des antithetischen und antinomischen Denkens auf, das weniger theoretisch als moralistisch orientiert ist, und sucht, wie der "echte" Philosoph es tun muß, überall sowohl das Eine als auch das Andere positiv zu sehen. Nur durch ein heterothetisches oder heterologisches, nicht durch ein antithetisches Verfahren wird die Betrachtung wahrhaft universal. Das "Paradox" entsteht nur aus einem einseitigen Rationalismus mit umgekehrten Vorzeichen, der ebenso "lebensfeindlich" ist wie der positive Rationalismus und gar nicht so tiefsinnig, wie harmlose Gemüter glauben. Paradoxien können sogar sehr "billig" sein. Es ist viel "tiefer", die Welt nicht paradox zu denken, freilich auch viel schwerer ...

Jedenfalls: kommt JASPERS aus seinm biologisch verengten KIERKEGAARD-NIETZSCHE-Gehäuse glücklich heraus, dann wird sein nächstes Werk nicht mehr eine psychologische "Puppe", sondern ein philosophischer "Schmetterling" sein, der als Psyche auch dem Psychologen lieb sein muß, und der frei fliegt, um in Wahrheit die Welt in ihrer Totalität zu überschauen, d. h. nicht allein die eine, die "seelisch wirkliche", sondern auch die andere, für die Weltanschauungen viel "wichtigere" unwirkliche Welt der Werte. Dann erst wird die Betrachtung wirklich universal, wie JASPERS sie jetzt nur anstrebt. Schon heute aber sagen wir angesichts des Reichtums an Gedanken und Einsichten, die sein Werk trotz seiner Lebensprophetie bietet mit biologistisch klingenden Versen aus unserer größten Dichtung, deren "Weltanschauung" wir in dieser Psychologie der Weltanschauungen vermissen, und die doch wenigstens als "klinischer Fall" wohl ein Stelle verdient hätte:
    "Freudig empfangen wir
    Diesen im Puppenstand." [Verpuppung - wp]

LITERATUR - Heinrich Rickert, Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte, Logos, Bd. 9, Tübingen 1920/21
    Anmerkungen
    1) RICHARD KRONER, Über logische und ästhetische Allgemeingültigkeit (Freiburger Dissertation 1908)
    2) Die eingehendste Darstellung der kantischen Philosophie als Wertlehre hat BRUNO BAUCH gegeben in seinem Buch:  Immanuel Kant,  1917.
    3) Das kommt besonders in SIMMELs letztem Werk zum Ausdruck: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. 1918
    4) Psychologie der Weltanschauungen von KARL JASPERS, außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg, Berlin 1919
    5) Vgl. meine Abhandlung "Vom System der Werte", Logos, Bd. IV, Tübingen 1914.
    6) Vgl. GEORG SIMMEL, Der Konflikt der modernen Kultur, 1918
    7) Vgl. dazu meine Abhandlung: "Lebenswerte und Kulturwerte", Logos, Bd. 2, Tübingen 1911, Seite 131f. Die biologistische Modephilosophie. Die hierin begonnenen Gedanken habe ich weiter ausgeführt in einem kürzlich abgeschlossenen Buch "Die Philosophie des Lebens". Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. In diese Schrift ist auch ein Teil der vorliegenden Abhandlung aufgenommen.
    8) "Vom System der Werte", Logos IV, Seite 291f. Das offene System. Die drei Stufen der Vollendung.