tb-1ra-2W. SombartH. DietzelG. Cohn    
 
HEINRICH RICKERT
Über die idealistische Politik
als Wissenschaft


"Der Staat bleibt unter allen Umständen an geschichtliches Leben gebunden und dieses verläuft in der Zeit, in der es nicht nur keinen Anfang, sondern auch kein Ende gibt. Voll-Endung ist in der endlosen Zeit und daher auch im geschichtlichen Staat unmöglich. Der Politiker bleibt immer auf die Zukunft angewiesen, die das erst bringen soll, was sich im Leben des Staates noch nicht verwirklicht hat. Das gehört zum Wesen aller Politik. Der Staat ist nie fertig, nie vollendet, nie mit sich versöhnt, wie ein Kunstwerk oder die Liebe."

Die Frage, wie Wissenschaft und Politik sich zueinander verhalten, ist viel erörtert und lebhaft umstritten. Will man sich ihre aktuelle Bedeutung zum Bewußtsein bringen, so braucht man nur daran zu denken, daß die Sozialdemokratie, die sich an KARL MARX anschließt, ihr politisches Programm auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen zu können glaubt. Durch die Lehren des "Kapitals" sei der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft geführt. Doch wird zugleich, auch von sozialdemokratischer Seite, bestritten, daß es wissenschaftlichen Sozialismus gebe und Einigkeit über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik besteht demnach nicht einmal innerhalb derselben Partei.

Die folgenden Ausführungen wollen in das Problem dadurch mehr Klarheit bringen, daß sie die logische Struktur von Werken des deutschen  Idealismus  untersuchen, die als wissenschaftliche Politik auftreten. Von da aus führt der Weg dann leicht weiter zu der allgemeinen Frage: Wie ist überhaupt Politik als Wissenschaft möglich? Das absichtlich im Anschluß an eine berühmte Formel zum Ausdruck gebrachte Problem enthält wegen der Doppeldeutigkeit des Wortes "möglich" zwei Fragen. Erstens: wie gestaltet sich der Begriff einer wissenschaftlichen Politik als  Aufgabe,  und zweitens: über welche  Mittel  verfügt die Wissenschaft, um diese Aufgabe zu lösen?

Wenn wir die Erörterung hierüber zunächst an FICHTEs Geschlossenen Handelsstaat und dann an HEGEL Rechtsphilosophie anknüpfen, so dienen die idealistischen Staatslehren der Vergangenheit lediglich als Beispiele, an denen übergeschichtliche Prinzipien aufzuzeigen sind. Eine erschöpfende Darstellung des historischen Materials ist daher nirgends angestrebt. Die Betrachtung steht überall im Dienst einer systematischen Untersuchung und entnimmt ihr die Gesichtspunkte für die Auswahl des geschichtlichen Stoffes.


Philosophie, Zeitgeschichte, Politik

Lehrreich für unser methodologisches Problem ist bei FICHTE besonders die Gliederung des Geschlossenen Handelsstaats in drei Bücher. Die Teilung des Inhalts in Philosophie, Zeitgeschichte und Politik bleibt nämlich mit Rücksicht auf die in ihr zum Ausdruck kommende logische Form auch dann bedeutungsvoll, wenn der Inhalt aller Voraussetzungen und Folgerungen, die das Werk enthält, sich als unhaltbar erweisen sollte. Das läßt sich leicht zum Bewußtsein bringen.

Das erste Buch mit der Überschrift "Philosophie" zeigt, "was in Ansehung des Handelsverkehrs im Vernunftstaat Rechtens sei". Philosophie bedeutet hier also die Lehre von dem nach der Vernunft eingerichteten  idealen  Staat, oder, wie wir auch sagen können, vom Staat als Idee, wie die Vernunft ihn fordert. Das zweite, "Zeitgeschichte" betitelte Buch schildert dann den Zustand des Handelsverkehrs im gegenwärtigen,  wirklichen  Staat. Da dieser vom Vernunftstaat prinzipiell verschieden ist, d. h. noch nicht die von der Vernunft geforderte Gestalt besitzt, so hat es mit ihm nicht eine philosophische, sondern eine historische Untersuchung zu tun. Erst im dritten Buch findet sich endlich die eigentliche "Politik", welche die Verbindung des Vernunftstaates mit dem gegenwärtigen wirklichen Staat herstellt. FICHTE sagt von ihr, sie liege zwischen beiden in der Mitte und beschreibe die stete Linie, durch welche der gegebene Staat sich in den Vernunftstaat verwandelt. Das dritte Buch enthält mit anderen Worten das politische Programm für die Zukunft oder es stellt, um wieder FICHTEs eigene Worte zu gebrauchen, dar, wie der Handelsverkehr eines bestehenden Staates in die von der Vernunft geforderte Verfassung zu bringen sei.

Achtet man auf diese Dreiteilung, dann wird sofort die logische Struktur des Ganzen deutlich. Die Politik beruth nach FICHTE einerseits auf der Vernunftlehre, die das Ideal entwickelt oder sagt, wie der Staat sein soll und sie zeigt andererseits den wirklichen, d. h. gegenwärtig bestehenden oder gegebenen Zustand auf, der anders ist, als er sein soll. Dann erst vermag sie die politischen Folgerungen aus den teils philosophischen, teils historischen Feststellungen zu ziehen. Wie das mit Rücksicht auf ihre logische oder formale Struktur zu verstehen ist, gibt der Denker selber am Anfang des dritten Buches ausdrücklich an. Wir kennen, sagt er dort, das Ziel, auf welches mit Absicht des Handelsverkehrs die Staaten hinzustreben haben; wir kennen den Punkt, in welchem sie in derselben Rücksicht gegenwärtig stehen: es kann nicht schwierig sein, die Bahn zu finden und anzugeben, auf welcher sie aus dem letzteren zum ersteren fortzugehen haben.

Gegen diesen Satz wird sich in der Tat nichts einwenden lassen. Kennt man das Ziel, das im staatlichen Leben erreicht werden soll, weil die Vernunft es fordert und weiß man ferner, wo der Staat jetzt steht, dann muß es möglich, zu sagen, auf welchem Weg man von der Gegenwart in die Zukunft politisch fortzuschreiten hat, um sich dem der Vernunft entsprechenden Ziel anzunähern. In der Weise also, in der FICHTE es versucht, ist idealistische Politik der Form nach als Wissenschaft "möglich", d. h. der Begriff ihrer  Aufgabe  wird methodologisch klar bestimmt. Es kommt daher nur darauf an, daß man sich zu Bewußtsein bringt, welche Voraussetzungen man machen muß, um die Aufgabe für wissenschaftlich lösbar zu halten, und ob diese Voraussetzungen sich wissenschaftlich begründen lassen. Es ist auch nach der Wissenschaftlichkeit der Mittel einer idealistischen Politik zu fragen.

Doch wird für dieses Problem nicht jeder von den drei Teilen des Geschlossenen Handelsstaates gleich wesentlich. Die beiden ersten Bücher verhalten sich nämlich, wie FRITZ MEDICUS in seiner Schrift über FICHTEs Leben mit Recht hervorgehoben hat, zum dritten wie die beiden Prämissen eines Syllogismus zur Konklusion. Läßt das, was die Prämissen lehren, sich wissenschaftlich begründen, dann steht auch die wissenschaftliche Begründung der Konklusion fest. Daher haben wir vor allem auf den logischen Charakter der beiden ersten Bücher zu achten.

Doch kann auch zu ihnen die Stellung der Methodenlehre mit Rücksicht auf die Wissenschaftlichkeit ihres Gehalts nach der logischen oder formalen Seite hin verschieden sein. Zeitgeschichte, wie FICHTE sie versteht, werden die meisten Politiker ohne weiteres für Wissenschaft halten. Bei der Darstellung des Zustandes, in dem ein Staat sich gegenwärtig befindet, handelt es sich in der Hauptsache um die Konstatierung von Tatsachen und in ihnen steckt jedenfalls kein methodologische Problem, das der Politik eigentümlich wäre. Anders dagegen steht es mit der methodologischen Begründung und Rechtfertigung des ersten Buches. Gibt es Philosophie, wie FICHTE sie versucht, als Wissenschaft vom Vernunftstaat? Mit der Konstatierung von Tatsachen kommt man in ihr nicht aus. FICHTE will, wie er ausdrücklich sagt, entscheiden, was im Vernunftstaat  Rechtens  sei. Wir werden damit also auf die Kantische Trennung der quaestio juris von der quaestio facti geführt und daß auch politische Rechtsfragen rein wissenschaftliche Entscheidungen zulassen, wird man nicht ohne weiteres zugeben.

So erscheint die Lösbarkeit der Aufgabe, die FICHTE gerade dem philosophischen Teil seiner Politik gestellt hat, mit Rücksicht auf die dabei verwendeten Mittel methodisch fragwürdig. Kann die Wissenschaft den Begriff eines Vernunftstaates bilden, der noch nicht verwirklicht ist? Vermag sie politische Ideale für die Zukunft theoretisch damit zu begründen, daß sie von der Vernunft gefordert sind? Das ist die Frage, auf deren Beantwortung es bei der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Politik von der Art, wie FICHTE sie anstrebt, vor allem ankommt, und ganz allgemein dürfen wir schon jetzt sagen: falls das politische Ziel sich theoretisch nicht feststellen läßt, fehlt auch die Möglichekit der wissenschaftlichen Begründung eines politischen  Programms.  Sollte also der Wissenschaft die Aufstellung von Idealen, die im geschichtlichen Leben noch nicht verwirklicht sind, versagt sein, dann bleibt nicht allein der Sozialismus FICHTEs theoretisch haltlos, sondern dann kann von einer idealistischen Politik als Wissenschaft, zu der man die Aufstellung eines politischen Programms rechnet, überhaupt nicht geredet werden.

Es ist wichtig, daß man bei dem Versuch, über die Methode wissenschaftlichen Politik Klarheit zu erhalten, sich gerade hierüber keiner Täuschung hingibt. Wer als Politiker ein Programm entwirft, muß erstens die Voraussetzung machen, daß eine  Spannung  zwischen dem noch unwirklichen Ideal und dem wirklichen Leben besteht und er muß zweitens, falls er sein Programm auch wissenschaftlich begründen will, annehmen, daß das Ideal, welches der Spannung des Lebens zugrunde liegt, sich theoretisch  erkennen  lasse. Insofern ist die wissenschaftliche Behandlung politischer Probleme nur aufgrund einer  idealistischen,  d. h. die empirische Realität  überschreitenden  Philosophie möglich.

Das kommt bereits in FICHTEs Formel klar zum Ausdruck: zuerst Philosophie als Lehre vom Ideal der Vernunft, dann Zeitgeschichte und dann erst Politik. Darin erfassen wir somit den übergeschichtlichen methodischen Gehalt seines sozialpolitischen Werkes und daraus gilt es, für die Frage nach dem Wesen der Politik als Wissenschaft die Konsequenzen zu ziehen.


Politik und Philosophie der Werte

Damit die methodische Tragweite es ersten Ergebnisses noch mehr zutage tritt, kleiden wir es zunächst in eine andere Terminologie. Die von FICHTE gebrauchten Ausdrücke "Vernunft" und "Vernunftstaat" im Unterschied vom wirklichen gegenwärtig bestehenden oder gegebenen Staat sind vielleich nicht für alle völlig eindeutig und besonders kann man im Zweifel darüber sein, in welchem Sinne die Philosophie von der "Idee" des Staates handeln oder sich "idealistisch" gestalten muß, um zum Fundament der wissenschaftlichen Begründung eines politischen Programms zu taugen. Deshalb führen wir in den Gedankengang den Begriff des  Wertes  ein, der, gerade weil er Manchem in der Wissenschaft anstößig erscheinen wird, geeignet ist, über den entscheidenden Punkt keine Unklarheit bestehen zu lassen.

Unter Wertqwertz_.html wollen wir ganz allgemein das Moment verstehen, welches über das gegenwärtig wirkliche, faktisch bestehende oder tatsächlich gegebene Sein insofern hinausführt, als man es überall braucht, wo man Forderungen für die Zukunft abzuleiten unternimmt. Wir stellen dann als "Idee" das  Wertziel,  das noch nicht erreicht ist, aber erreicht werden soll, dem schon erreichten "wirklichen" Zustand gegenüber, verstehen unter Wert also etwas noch nicht Wirkliches, im Leben erst zu Verwirklichendes.

Dabei kommt es ferner darauf an, daß man die Bedeutung des Ausdrucks  Wert  nicht zu eng nimmt, d. h. nicht, wie das früher gerade in der Sozialpolitik geschah, bei seinem Gebrauch nur an wirtschaftliche Werte denkt, die in Gütern realisiert sind oder nur wirtschaftliche Güter als das ansieht, was verwirklicht werden soll. Insbesondere ist der Wert von etwas nicht sein Preis. Vielmehr gehört das Angenehme ebenso wie das Wahre, das Nützliche ebenso wie das Schöne, das sittlich Gute ebenso wie das göttlich Heilige und noch manches andere zu den Werten, d. h. unter diesem Wort sind nicht nur irgendwelche spezielle Wertarten zu verstehen, die unseren Willen in diese oder jene bestimmte Richtung bringen, sondern es ist damit alles gemeint, was einen in der Zukunft liegenden Zustand zu einem erstrebenswerten Ziel machen kann.

Andererseits muß jedoch jeder Wert als Wert von allem Wirklichen, das bloß wirklich ist, geschieden werden, ja ein Wert ist, insofern er als Wert gilt, geradezu unwirklich zu nennen. Er ist bloß gesollt, also noch nicht real, und er läßt sich nur insofern verwirklichen, als er an einem Wirklichen haftet, das durch ihn zum Gut wird.

Eine genaue Definition des Unterschiedes von Wert und Wirklichkeit oder bloß Gesolltem und bereits Realisiertem mag schwierig, vielleicht sogar unmöglich sein, weil es sich dabei um letzte, nicht weiter ableitbare Unterscheidungen handelt. Doch kommt es darauf hier nicht an.  Ungefähr  wird Jeder verstehen, was Wert bedeutet, sobald wir sagen, daß er im Gegensatz zum bloß Wirklichen uns nicht wie dieses gleichgültig läßt, sondern uns veranlaßt, irgendwie zu ihm Stellung zu nehmen und daß die Werte daher, entsprechend unserem alternativen Verhalten des Billigens oder Mißbilligens, des Zustimmens oder Ablehnens, des Begehrens oder Verabscheuens stets in der Form von Wertgegensätzen, wie Lust oder Schmerz, wahr oder falsch, schön oder häßlich, gut oder schlecht auftreten.

Nach dieser Terminologie ist dann der "Vernunftstaat" der Wertstaat, zu dem wir Stellung nehmen, indem wir ihn verwirklichen wollen oder von dem wir wissen, daß wir ihn verwirklichen sollen, weil er politisch wertvoll ist. Der wirklich gegebene oder bestehende Staat dagegen ist im Unterschied von ihm der gegenwärtige Zustand, in dem die politischen Werte sich noch nicht oder wenigstens nicht vollständig als politische Güter verwirklicht haben und den wir daher als Politiker anders gestalten wollen und sollen, als er jetzt schon ist.

Fassen wir in dieser Weise den Vernunftstaat als den in der Zukunft liegenden Wertstaat, dann können wir allgemein sagen: eine wissenschaftliche Politik von der logischen Struktur, wie FICHTE sie versucht, indem er ein Programm für die Zukunft theoretisch begründet, das verwirklicht werden soll, läßt sich nur auf dem Fundament einer Philosophie ausführen, die nicht allein das bloß Wirkliche, sondern auch die Werte, die gelten, ohne wirklich zu sein, zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung macht. Die Lehre vom Vernunftstaat ist dann notwendig die Lehre von den politischen Werten, um derentwillen der Vernunftstaat auch in der wissenschaftlichen Politik als Staatsideal aufgestellt werden kann.

So tritt die methodologische Bedeutung der idealistischen Philosophie, die das Wesen der Vernunft erforscht, für die Struktur einer wissenschaftlichen Politik noch klarer hervor. Zunächst muß man wissen, welches die Werte sind, die dem vernünftigen Staat als dem erstrebten Ziel seinen Charakter verleihen. Erst dann und nur dann kann man den gegenwärtigen Staat daraufhin untersuchen, auf welchem Weg man von ihm fort zur Zukunft hin zu schreiten hat. Lediglich Werte, die wir uns in der Zukunft verwirklicht denken, machen den Staat zu einem Ziel, das zu erstreben die Mühe lohnt oder wie man auch sagt, der "Mühe wert" ist und erst der Begriff eines Staates, in dem wir uns die echten politischen Werte verkörpert denken, leistet der Politik daher das, was FICHTEs Lehre vom Vernunftstaat ihr leisten will.

Maßgebend ist dabei vor allem, daß durch den Gedanken an Werte, die gelten, ohne im gegenwärtig gegebenen Staat schon verwirklicht zu sein, es zum Bewußtsein einer  Spannung  kommt zwischen dem, was man erreichen soll und dem, was erreicht ist, und daß ohne eine solche Wertspannung zwischen Zukunft und Gegenwart die Aufstellung eines jeden politischen Programms ihren Sinn verliert.

Kurz, nur wenn wir das Staatsideal in der Philosophie als Wert bestimmen können, wird es für die Politik fruchtbar, denn allein aufgrund einer Kenntnis der Werte, die gelten, vermag der Politiker zu sagen, was im Staat geschehen soll und wie daher das politische Programm zu gestalten ist.


Der Kampf gegen das Sollen

Geben wir jedoch dem Gedanken diese Wendung, dann wird man vielleicht nicht mehr geneigt sein, ihm eine über die FICHTEsche Politik hinausgehende Bedeutung zuzuschreiben oder gar anzuerkennen, daß mit ihm der Sinn  jeder  auf einem idealistisch-philosophischen Fundament aufgebauten Politik richtig gekennzeichnet sei. Ist es zulässig, die Vernunft, die der Idealist erkennen will, mit Werten so in Verbindung zu bringen, daß sie als Forderungen auftreten oder uns sagen, was wir tun  sollen? 

Man braucht nur an HEGEL zu denken, um zu sehen, daß hier ein Problem vorliegt. Meint doch dieser Idealist ganz allgemein in seiner Logik: in der Wirklichkeit selbst steht es nicht so traurig um Vernünftigkeit und Gesetz, daß sie nur sein sollten. Und in seiner Enzyklopädie spricht derselbe Denker von der Idee, die nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein. Das hängt mit unserem politischen Problem eng zusammen, denn in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie bringt HEGEL seine Ansicht auch über die Politik so zum Ausdruck, daß er vom Sollen nichts wissen will. Sein Werk dürfe, erklärt er, insofern die Staatswissenschaft enthält, einerseits nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen (es stimmt also in dieser Hinsicht mit FICHTEs Geschlossenem Handelsstaat überein), aber es müsse zugleich als philosophische Schrift, sagt HEGEL, am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen.

In den letzten Worten wird jede Politik von der Art, wie FICHTE sie anstrebt, ausdrücklich abgelehnt und es scheint, als sei damit eine Ablehnung des wertphilosophischen Fundaments für die Politik gerade durch eine idealistische Philosophie, die den Vernunftstaat erkennen will, verbunden. Hierdurch entstehen neue Fragen, an denen wir beim Versuch, die methodologische Struktur der idealistischen Politik klarzulegen, nicht vorübergehen können, und ihre Erörterung läßt sich am besten im Anschluß an HEGELs Staatslehre vornehmen.

Wie steht HEGELs Vernunft zur Lehre von den politischen  Werten  und in welches Verhältnis haben wir die Forderung, daß etwas im Staat der Zukunft sein  soll,  mit dem Begriff der Erkenntnis des Staates als eines in sich Vernünftigen zu bringen? Die beiden Fragen fallen nicht etwa, wie man denken könnte, einfach zusammen, denn die Begriffe des Wertes und des Sollens sind, so eng sie miteinander verbunden sein mögen, durchaus nicht identisch. Sie müssen vielmehr in ihrer Beziehung zur Vernunft und zum Vernunftstaat getrennt behandelt werden und gerade das kann man sich an HEGELs idealistischer Staatslehre zum Bewußtsein bringen.


Sollen und Wert

HEGEL  wollte  als Mann der Wissenschaft und besonders als Philosoph keine Imperative geben, keine politischen Forderungen an den gegenwärtig wirklichen Staat stellen und keine Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden politischen Zustände machen. Das war  sein  "Programm", das er sich als  wissenschaftlicher  Politiker stellte und dadurch unterscheidet er sich von FICHTE in der Tat prinzipiell. Ist aber darum seine Philosophie auch frei von  Wert gedanken und gibt es also bei HEGEL eine Politik ohne wertphilosophisches Fundament? Das folgt aus seinen Sätzen nicht. HEGEL wollte den Staat als ein sich in  Vernünftiges  begreifen und was soll die Vernunft anders sein als ein Wertbegriff?

Auch, ja gerade nach HEGEL haben wir in der Vernunft das  absolut  Wertvolle und daraus ist sein Kampf gegen das "Sollen" am besten zu verstehen. Er wollte das Vernünftige, weil es ihm das absolut Wertvolle war, durch kein Sollen  antasten  lassen. Dieser Zusammenhang seiner Gedanken ist klarzulegen.

Wenn HEGEL es ablehnte, einen Staat, wie er sein soll, zu konstruieren, so war er dabei von dem Gedanken geleitet, daß die sittliche Welt nicht der subjektiven  Zufälligkeit  des Meinens und der Willkür übergeben werden dürfte. Diese aber waren für ihn mit dem Sollen notwendig verknüpft. Das "Sollen" lehnte er demnach als bloße Satzung des  individuellen  Wollens ab, um sich dafür auf die Vernunft als das überindividuell gültige "Gesetz" von normativer Bedeutung zu berufen. Seine Worte lassen darüber keinen Zweifel. Er bekämpfte die Ansicht, daß das das Wahre sei, was jeder über die sittlichen Gegenstände, vornehmlich über Staat, Regierung und Verfassung, sich aus seinem  Herzen, Gemüt  und  Begeisterung  aufsteigen lasse. Das Sollen mußte ihm also geradezu als eine Auflehnung gegen die Vernunft erscheinen, als ein Ausspielen von Wertungen einzelner Subjekte gegen die übersubjektiven Werte, die in der Vernunft verkörpert sind. Dieses  unvernünftige  Sollen allein konnte er nicht brauchen.

Andererseits folgt gerade hieraus: Indem HEGEL sich anschickte, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen, dachte er gar nicht daran, einen wertfreien Staatsbegriff zu bilden. Die Vernunft war für ihn der Wert, vor dem alle Sollens-Willkür der Individuen schweigen mußt. Das "Gesetz", das für ihn mehr als bloßes Sollen bedeutete, begriff er als die ewige Norm, die über den Meinungen der Einzelnen stand und der sie sich zu beugen hatten. Die Idee, die nicht so ohnmächtig war, nur zu sollen, stand als letztes  Ideal  unverrückbar fest, gegen den Ansturm von solchen, die das, was recht ist, auf die subjektiven Zwecke und Meinungen, auf das subjektive Gefühl und die partikuläre Überzeugung stellen wollen. In alledem sah er Faktoren, aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe und des Rechts unter den Privatpersonen als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgte.

Es bedarf wohl keines Nachweises, daß es lauter  Werte  sind, die HEGEL mit solchen Worten gegen das Sollen ausspielt und daß daher auch seine Politik durchaus auf einem wertphilosophischen Fundament beruth, wie die FICHTEs, so sehr sie sich in anderer Hinsicht von ihr unterscheidet.

Doch diese Trennung von Wert und Sollen genügt nicht, um die logische Struktur von HEGELs Staatslehre zu verstehen. Gibt es denn für HEGEL kein aus der Vernunft abgeleitetes, normatives Sollen? Will nicht auch er, nachdem er den Staat als ein in sich Vernünftiges erkannt hat, im Namen der Vernunft politische Forderungen stellen? Läßt sich mit Hilfe der Vernunftwerte kein politisches Programm begründen? Sagt uns nicht gerade die Vernunft, was sein soll und meinten KANT und FICHTE, wenn sie vom Sollen sprachen, nicht das vernünftige Sollen? Mußte HEGEL auch den Imperativ der Vernunft ablehnen? Erst damit kommen wir zur eigentlich schwierigen Frage, die im Begriff der idealistischen Politik steckt.


Wert und Wirklichkeit

Will man hier Klarheit, dann muß man beachten: HEGELs Denken ist in so hohem Maß wertphilosophisch bestimmt, daß auch, ja gerade das, was er das "Wirkliche" nennt, für ihn mit dem Wertvollen zusammenfällt und daß infolgedessen das Sollen für ihn sich nicht mit dem Wert des Wirklichen verträgt.

In der Vorrede zur Rechtsphilosophie stehen die Worte: Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig. Diese Sätze haben für unseren Zusammenhang große Bedeutung, denn sie scheinen die  Spannung  aufzuheben zwischen dem, was im geschichtlichen Leben faktisch schon erreicht  ist,  und dem, was erst die Zukunft bringen  soll.  Ohne eine solche Spannung aber verliert, wie wir sahen, die Aufstellung eines politischen Programms, das vom Sollen redet, jeden Sinn.

Ja, wir können noch mehr sagen: Ist  alles  Wirkliche vernünftig, dann versteht man nicht, wozu es überhaupt so etwas wie Politik gibt, denn dann ist der wirkliche Staat immer absolut wertvoll und der Politiker darf nicht das geringste anders an ihm wünschen, als es ist. Damit aber hört er doch wohl auf, "Politiker" in der üblichen Bedeutung des Wortes zu sein. Jedenfalls ist von wissenschaftlicher Politik unter einer solchen Voraussetzung keine Rede und es sieht in der Tat so aus, als lehne HEGEL eine philosophische Politik ausdrücklich ab, die irgendwie bessernd in das Staatsleben einzugreifen vermag.

Zum Belehren wie die Welt sein solle, meinte er nämlich, kommt die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und in sich fertig gemacht hat. Wie das gemeint ist, zeigen unzweideutig die darauffolgenden berühmten Worte: wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden und mit Grau und Grau läßt sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt er mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Das ist, wie der Zusammenhang ergibt, vor allem politisch gemeint und daraus geht hervor, daß HEGEL nicht als politischer Reformator auftreten wollte. Jedes Sollen mußte er ablehnen. Vernünftiges Sollen konnte es für ihn nicht geben.

Doch darauf, was HEGEL persönlich gewollt hat, kommt es nicht an und vollends interessiert uns in diesem Zusammenhang nicht die Stellung HEGELs zur praktischen Politik seiner Zeit. Wir haben die Vorrede HEGELs zur praktischen Politik seiner Zeit. Wir haben die Vorrede zur Rechtsphilosophie lediglich unter systematischen Gesichtspunkten als Ausdruck allgemeiner philosophischer Prinzipien zu betrachten. Tun wir das, so zeigt sich in ihr eine Tendenz, die für HEGELs gesamtes Denken charakteristisch ist, ihn aber zugleich bei der Behandlung politischer Probleme mit Notwendigkeit in unüberwindliche Schwierigkeiten verwickelte. Das gilt es, soweit es sich in Kürze sagen läßt, zu verstehen.


Die Versöhnungstendenz

Man hat oft behauptet, daß HEGEL in seiner Philosophie einseitig ästhetisch orientiert gewesen sei und das ist nicht ganz falsch. Er bevorzugt die künstlerischen Gebilde mit Rücksicht auf die Vollendung, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Der Umstand, daß ein Kunstwerk wie eine Kreislinie in sich geschlossen ist, macht es seinem Wertbewußtsein sympathisch, während die endlose Gerade ihn abstößt. Aber die ästhetische Neigung genügt nicht, wenn man HEGELs Denken in seiner Eigenart verstehen will, ja sie war wohl nicht einmal die primäre. Schon früh zeigt sich bei ihm eine Tendenz zur Versöhnung der Gegensätze auf allen Gebieten der Kultur wie der Werte überhaupt. Seine Vernunft wird nirgends dadurch charakterisiert, daß sie endlos weiter treibt nach einem unerreichbaren Ziel hin, das ihr stets als Aufgabe oder als gesollt gegenübersteht. Die Vernunft muß vielmehr, um wahrhaft vernünftig zu sein, überall zu einem vollen Ende kommen. Das in sich geschlossene Kunstwerk ist für dieses Prinzip nur ein besonderes Beispiel und insofern darf man nicht von Ästhetizismus bei HEGEL reden. Es gilt, das Prinzip noch viel allgemeiner zu fassen.

In HEGELs Jugend kommt die ihm eigentümliche Versöhnungstendenz zuerst am stärksten auf dem Gebiet der religiösen Werte zum Ausdruck und hier hat sie wohl stets ihre letzte Wurzel gehabt. Der HEGELs gesamte Denken durchziehende Kampf gegen KANTs Moralismus ist von hier aus am besten zu verstehen. Schon früh stellt HEGEL im Christentum die Liebe der Pflicht gegenüber und die religiöse Erfüllung, die der Mensch auf erotischem Gebiet findet, bedeutet ihm mehr als das stets unerfüllte Sollen des kategorischen Imperativs. In ihm fand er keine harmonische, mit sich versöhnte Vernunft, wie sie ihm vorschwebte. Das ist der eigentliche Kernpunkt von HEGELs "Monismus", im Unterschied von allem Dualismus, den er als Unvollkommenheit ablehnt, weil er zur dauernden Spannung führt.

In dieser Orientierung an den Werten des zu einem vollen Ende kommenden Lebens liegt nun auch der Ursprung jenes Idealismus, der nichts mehr wissen will von unaufhebbarer Spannung zwischen wirklichem Leben und unwirklichem Ideal. Nicht nur auf dem Gebiet der ästhetischen, sondern auch in dem der erotisch-religiösen Werte muß in der Tat das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich werden. Hier rundet sich die Entwicklung zum in sich geschlossenen Kreis und wer daher ausschließlich auf diese Gebiete blickt, wird sagen, die Vernunft sei nicht so ohnmächtig, bloß zu sollen. Ihr Wesen ist die Voll-Endung. Alles Sollen liegt deshalb der Vernunft fern, ja zieht sie ins Unvernünftige herab.


Versöhnung und Politik

Wie aber muß sich ein so orientierter Idealismus gestalten, wenn er versucht, unter dem Gesichtspunkt der Versöhnung von Ideal und Leben auch das Gebiet der  Politik  in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen?

Der Staat bleibt unter allen Umständen an geschichtliches Leben gebunden und dieses verläuft in der Zeit, in der es nicht nur keinen Anfang, sondern auch kein Ende gibt. Voll-Endung ist in der endlosen Zeit und daher auch im geschichtlichen Staat unmöglich. Der Politiker bleibt immer auf die Zukunft angewiesen, die das erst bringen soll, was sich im Leben des Staates noch nicht verwirklicht hat. Das gehört zum Wesen aller Politik. Der Staat ist nie fertig, nie vollendet, nie mit sich versöhnt, wie ein Kunstwerk oder die Liebe.

Richtet man hierauf einmal die Aufmerksamkeit, so bedarf es keiner ausführlichen Auseinandersetzung mehr, weshalb eine am Bild des in sich geschlossenen Kreises geraten muß, sobald sie die Probleme des politischen Lebens wie der endlosen Totalität des geschichtlichen Lebens überhaupt in Angriff nimmt. Das Bild des Kreises paßt nur auf in sich vollendete Teile. (1) Der wirkliche Staat bekommt, falls man auch für ihn nach einem Bild sucht, die Gestalt der geraden Linie, die keinen Abschluß kennt und trägt damit die Form der im HEGELschen Sinne "schlechten Unendlichkeit". Es ist nicht einzusehen, wie es jemals im Staat an etwas fehlen sollte, das bisher noch unvernünftig geblieben ist und wie man daher behaupten kann, daß in ihm Wirklichkeit und Vernunft zusammenfallen. Hier wird die Entwicklungslinie sich nie zum Kreise runden. Der Staat läßt sich aus seiner Endlosigkeit nicht erlösen. Je mehr man versucht, auf dem Gebiet der politischen Werte die Spannung von Leben und Ideal aufzuheben, desto größer muß die Spannung zwischen den philosophischen Prinzipien und dem geschichtlichen Stoff werden, auf den man sie anzuwenden versucht und zu dessen Behandlung sie nicht taugen können.

Das ist von prinzipieller Wichtigkeit und macht HEGELs Staatslehre systematisch lehrreich. So interessant sein Denken sich auf politischem Gebiet gestaltet, und so bedeutsame Probleme er hier ans Licht gestellt hat, so notwendig bekommt seine Politik einen durch und durch zwiespältigen, unausgeglichenen Charakter, und zwar umso sicherer, je mehr er darauf ausgeht, auch hier seine Versöhnungstendenz durchzusetzen.

Das zeigt sich in mehrfacher Hinsicht und erklärt zunächst die Wirkung der HEGELschen Rechtsphilosophie auf die Zeitgenossen, von der noch heute viel geredet wird.

Als HEGEL versuchte, seinen Monismus auch in der Staatslehre durchzuführen, da mußte der Schein entstehen, als trete er für die Vernünftigkeit alles bis zum gegenwärtigen Augenblick entwickelten politischen Lebens ein und als kenne er im Staate daher keinen anderen Maßstab als den des momentanen Erfolges. In diese Zusammenhang erregte sein Satz von der Vernünftigkeit des Wirklichen notwendig die heftigste Opposition derjenigen, die über das Elend der Gegenwart hinaus nach einer besseren Zukunft strebten. HEGEL erschien ihnen als ein würdeloser Diener der politischen Reaktion.

Damit hat man ihm gewiß persönlich schweres Unrecht getan, wenn er auch vielleicht nicht ganz schuldlos daran, war, daß seine Gedanken in den Tageskampf hineingezogen wurden. Ihm lag sicher jedes kleinliche Motiv fern. Er wollte auch hier als echter Philosoph das letzte  Prinzip  seines Denkens zum Ausdruck bringen. Aber gerade deswegen steht ebenso fest, daß HEGEL dabei auf eine sachliche Schwierigkeit stieß, die mit den Mitteln seines Idealismus nie zu überwinden sein wird. Das haben wir uns ausdrücklich zu Bewußtsein zu bringen, soweit es für die logische Struktur jeder idealistischen Politik als Wissenschaft von grundsätzlicher Bedeutung ist.


Der Dualismus im Wirklichen

Zunächst läßt sich leicht feststellen, wie HEGEL nicht einmal formal eine Staatslehre zustande brachte, in der die Vernunft und die Wirklichkeit des politischen Lebens "wirklich" miteinander versöhnt sind.

Daß er nie daran denken konnte, in jedem Faktum des Staates etwas Vernünftiges zu finden, hat er selbst unzweideutig erklärt. Unter "wirklich" versteht er nicht den gegenwärtigen wirklichen Staat, wie FICHTE die Worte braucht. In der zweiten Auflage seiner Enzyklopädie kam er auf die Vorrede zur Rechtsphilosophie zurück und hat dort etwas hochmütig gemeint, so viel Bildung dürfe man doch voraussetzen, daß man wisse, daß überhaupt das Dasein zum Teil  Erscheinung  nur zum Teil Wirklichkeit sei. Es gibt also für HEGEL zwei verschiedene Arten des "Daseins". Ausdrücklich erklärt er, im gemeinen Leben nenne man jeden Einfall, den Irrtum, das Böse und was auf diese Seite gehört, sowie jede noch so verkümmerte und vergängliche Existenz zufälligerweise eine  Wirklichkeit. 

Das Zufällige für vernünftig zu erklären, konnte HEGEL nicht in den Sinn kommen. Also ist es für ihn nicht "wirklich", sondern bedeutet eine Existenz, die keinen größeren Wert (!) als den eines  Möglichen  hat, die so gut  nicht sein  kann, als ist. HEGEL macht darauf aufmerksam, daß er in der Logik die Wirklichkeit nicht nur vom Zufällign, was doch auch Existenz hat, sondern näher von Dasein, Existenz und anderen Bestimmungen genau unterschieden habe.

Das alles war wohl in der Tat unvermeidlich, aber damit ist doch zugleich auch wieder ein  Dualismus  in die Welt gebracht und für dessen Überwindung wird auf politischem Gebiet nicht das Geringste geleistet, wenn man dem Dasein den  Namen  der Wirklichkeit entzieht und ihm keinen größeren Wert als den eines Möglichen zuschreibt. Im Staate, wie er "da ist", erweist sich dieses "Mögliche" als eminent "wirklich" und gerade der Politiker hat dauernd mit ihm als einer harten Realität zu tun, die er nicht ungestraft als bloß möglich betrachten und in ihrer Wirklichkeit ignorieren wird.

Ja, wir können mit Rücksicht auf das Problem der Politik noch mehr sagen. Wenn HEGEL meint, schon einem gewöhnlichen Gefühl werde eine zufällige Existenz nicht den  emphatischen  Namen eines Wirklichen verdienen, so spricht er damit klar aus, daß für ihn das Wirkliche unter den Begriff des  Wertvollen  fällt und daher nach unserer Terminologie den Namen des nur Wirklichen nicht verdient. Allein vom Wertvollen und nicht vom bloß Wirklichen, das wertindifferent ist, können wir sagen, daß es einen "emphatischen" Namen  verdiene.  So besteht nicht allein ein Dualismus von Wirklichkeit und Existenz, sondern dieser bedeutet bei HEGEL zugleich das, was wir als Dualismus von Wert und Wirklichkeit bezeichnet haben. Nur Wertvolles ist für HEGEL das vernünftig Wirkliche und das bloß Wirkliche in unserem Sinn oder das Wertfreie nennt er zufällig oder möglich.

So treten trotz der verwirrenden Terminologie HEGELs die wertphilosophischen Fundamente seiner Philosophie deutlich zutage und mit ihnen ist dann auch sogleich wieder jene für HEGEL so fatale  Spannung  gegeben zwischen dem, was faktisch existiert und dem Ideal, das sich noch nicht faktisch verwirklicht hat, also sein soll. Die Versöhnungstendenz ist in der Politik gründlich gescheitert.


Die Politik der Versöhnung

Das klärt die eine Seite der Sache und die andere ergibt sich daraus unmittelbar. Wird am Dualismus von Leben und Ideal festgehalten und außerdem das Ideal für erkennbar erklärt, so erhalten wir daraus sogleich wieder die Möglichkeit zur Aufstellung eines politischen Programms aufgrund einer idealistischen Vernunftphilosophie. Der "vernünftige" Politiker hat dann einzutreten für das, was vernünftig wirklich ist und das zu bekämpfen, was bloß zufällig existiert. Dann aber gibt es bei ihm ein Sollen im Namen der Vernunft!

Das konnte auch HEGEL im Grunde nicht bestreiten. In der Vorrede zur Rechtsphilosophie unterscheidet er selbst sein Wirkliches aufs Schärfste von den auf der Oberfläche sich zeigenden Gestaltungen und Zufälligkeiten und die Aufgabe, die er sich hier stellt, besteht nach ihm darin, im Schein des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz zu erkennen. Da bleibt also die Spannung zwischen der äußeren Existenz, die nichtig und wertlos ist und dem eigentlich "wirklichen", das Wertcharakter trägt und deshalb sein soll, gerade in HEGELs Staatslehre voll erhalten und deshalb darf man sich auf HEGEL nicht berufen, wenn man die Aufstellung eines vernünftigen Programms in der Politik, das vom Sollen redet, als unvereinbar mit dem Idealismus der Vernunft ablehnen will.

Auch daraus können wir lernen, was zum Wesen  aller  idealistischen Politik' gehört. Gewiß war die persönliche Stellung, die FICHTE zur Politik hatte, von der HEGELs sehr verschieden. Der eine fühlte sich als politischen Reformator und der andere wollte lediglich erkennen, was ist. Aber als Idealisten haben beide Denker trotzdem das miteinander gemein, daß auf dem Boden ihrer politischen Theorien sich ein Staatsideal erhebt, an dem die geschichtlichen Erscheinungen des gegebenen zeitlichen Staatslebens als mehr oder weniger vollkommen zu  messen  sind. Insofern HEGEL ebenso wie FICHTE die Vernunft im Staat als Verkörperung der politischen Werte erkennen wollte, ist die logische Struktur seiner politischen Theorie von der des Geschlossenen Handelsstaates nicht wesentlich verschieden. Der Gegensatz, den zu leugnen niemandem einfalen kann, kommt mehr in der persönlichen Stellung der Denker zum Staat, als in den Grundbegriffen ihrer Staatslehren zum Ausdruck.

Im übrigen war es auch HEGEL selbst nicht möglich, die Ablehnung jeder Aufstellung eines politischen Programms und jedes damit verbundenen Sollens folgerichtig durchzuführen. Gegen Forderungen, die nich von einzelnen Individuen stammen, sondern im Namen der Vernunft gestellt werden, konnte er konsequenterweise nicht nur nichts einwenden, sondern mußte selbst solche Forderungen mit Nachdruck stellen, also vom Sollen reden. Gerade in der Vorrede zur Rechtsphilosophie kämpft er leidenschaftlich gegen eine unvernünftige Politik, die doch faktisch auch existiert und erkennt so implizit den Gegensatz von dem, was wirklich ist und dem, was sein soll, wenn nicht mit Worten, so doch durch die Tat an.

Ja, es fehlt sogar bei HEGEL das  Wort  Sollen nicht, obwohl es in einer für ihn sehr charakteristischen Weise an anderer Stelle als bei FICHTE auftaucht. Die Belehrung, die seine Staatsphilosohie geben will, kann, wie er sagt, nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll. Daran schließen sich dann die Worte: das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft.

Hier wird die Politik rein theoretisch gefaßt und die Aufstellung eines praktischen Programms abgelehnt. Aber da die Vernunft ein Wertbegriff bleibt, mußte aus ihrer Erkenntnis auch hervorgehen, wie sich der vernünftige Staat gestalten soll und daraus folgt mit Notwendigkeit: sobald der handelnde Mensch das Vernünftige betrachtet, wie es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, kann er gar nicht anders, als das vernünftig Wirkliche der äußeren Existenz mit ihrem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen entgegensetzen und so im Vernünftigen als dem wahrhaft Wertvollen den Maßstab finden, an dem das gegenwärtige politische Leben zu messen ist.

So können wir sogar mit HEGELs eigenen Worten die Aufstellung von politischen Imperativen als notwendige Konsequenz seines Denkens rechtfertigen und von hier aus ist es dann nicht mehr weit zur Aufstellung eines Staatsideals, das sich noch nicht in der äußeren Existenz realisiert hat, ihr also als ein Gesolltes oder als Aufgabe für die Zukunft gegenübertreten muß.

Damit haben wir das festgestellt, was sich systematisch aus HEGELs Politik lernen läßt, besonders wenn man sie dem allgemeinen Charakter nach mit der FICHTEs vergleicht.

In der inhaltlichen Bestimmung ihrer politischen Ideale denken die beiden Philosophen sehr verschieden und auch das allgemeinste politische Ethos des einen weicht grundsätlich von dem des andern ab. FICHTE ist der Mann des Kampfes mit der widerstrebenden Realität. HEGEL glaubt an die Vernunft im Wirklichen selbst und möchte nur zusehen, wie das Vernünftige in die äußere Existenz tritt. Dieser Gegensatz bleibt bestehen. Auch das ist nicht zu leugnen: FICHTE dachte sehr einseitig und konnte mit seiner Philosophie des Sollens zahlreichen Problemen des Lebens nicht gerecht werden, für die HEGEL tiefstes Verständnis besaß. Aber einseitig war auch HEGELs Denken mit seiner an ästhetischen, erotischen und religiösen Werten orientierten Versöhnungstendenz und als er an die Probleme des politischen Lebens kam, mußte er daher auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Da erwies sich die Sache stärker als sein philosophisches Prinzip. Die endlose Totalität als das nie zu voellem Ende kommende Streben verlangte ihr Recht. Die versöhnende Synthese, die das Unendliche des Ganzen mit der Vollendlichkeit des Teiles verknüpft, hat auch HEGEL nicht gefunden. Deshalb ist er den Problemen des politischen Lebens nur so weit gerecht geworden, als er dabei sein letztes philosophisches Prinzip, das einen Gegensatz von Ideal und Leben ausschließt, nicht durchführte. Wider seinen Willen nahm seine Politik eine Gestalt an, die sich in ihrer logischen Struktur von der FICHTEs nicht wesentlich unterschied.

Systematisch also bleibt FICHTE im Recht. Die Staatslehre des Idealismus wird stets die logische Struktur seines Geschlossenen Handelsstaates haben. Erst Philosophie, welche die Werte des Staates feststellt. Dann Zeitgeschichte, welche zeigt, wie der Staat gegenwärtig ist. Endlich Politik, welche sagt, was im Staat geschehen soll.

Den  Ausdruck  Sollen kann man selbstverständlich meiden und statt von Wert von Notwendigkeit oder Vernunft sprechen. Aber an der Sache wird dadurch nichts geändert. HEGELs Staatslehre hat ebenso wie die FICHTEs ein wertphilosophische Fundament und ohne Sollen ist Politik undenkbar. Sobald ein praktischer Politiker von der theoretischen Richtigkeit der Staatslehre HEGELs überzeugt ist und auf ihrem Boden ein politisches Programm zu rechtfertigen versucht, muß er aus dem Begriff des Vernunftstaates die Werte entnehmen, die ihn bei seinem politischen Handeln leiten und sie, soweit sie noch nicht verwirklicht sind, in Imperative umwandeln, die er seinem politischen Programm als Forderungen für die Zukunft oder als gesollt zugrunde legt.

Insofern vermag die Betrachtung der HEGELschen Politik an der Formel nichts zu ändern, die wir im Anschluß an FICHTEs Geschlossenen Handelsstaat gewonnen hatten. Mit unübertrefflicher Klarheit kommt in ihr die methodologische Struktur einer auf dem Boden der idealistischen Philosophie aufgebauten philosophischen Politik zum Ausdruck und zwar so, wie das ihrem übergeschichtlichen Gehalt entspricht.

Doch gelten selbstverständlich die Konsequenzen, die sich daraus für die Politik als Wissenschaft ergeben, nur für den, der Idealist im Sinne HEGELs oder FICHTEs sein will, d. h. an die Erkennbarkeit der Vernunft als des absoluten Wertes glaubt und ob ein Idealismus von dieser Art als Wissenschaft "möglich" ist, das bleibt noch völlig problematisch.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Über die idealistische Politik als Wissenschaft Ein Beitrag zur Problemgeschichte der Staatsphilosophie, Erlangen 1926
    Anmerkungen
    1) Von der Dialektik des "unendlichen" Kreises, der zugleich eine Gerade und trotzdem nicht endlos ist, sehe ich ab, denn in der Politik ist damit nichts zu machen.