ra-1 A. LiebertH. PragerH. BergsonA. Steenbergen    
 
RICHARD KRONER
Henri Bergson

"Das Originelle an Bergsons Gedanken liegt einmal in der Art, wie Bergson sie einführt und begründet, es liegt aber weiterhin darin, daß Bergson darauf verzichtet, diese Gleichnisse zu Begriffen umzugestalten, daß er sich selbst vielmehr dessen bewußt ist, daß er nur in Analogien spricht und nur in Analogien vom wahren Wesen der Dinge sprechen kann. Keine verstandesmäßige Erkenntnis im gewöhnlichen Wortsinn will er geben, sondern nur eine Intuition, eine Welt anschauung,  wörtlich genommen. Wenn man versucht, so äußert er sich wiederholt, die Wirklichkeit ihrer Flüchtigkeit durch den Begriff zu bestimmen, durch Worte zu benennen, zerrint sie im selben Augenblick; sie entgeht und entgleitet jeder Formulierung, jeder Fixierung, jeder Benennung. Alles, was sich definieren läßt, ist schon nicht mehr ursprünglich und nicht mehr der Wirklichkeit gleich und adäquat. Das Wort ist brutal, sagt er, es zeichnet harte, scharfe Konturen; infolge seiner Allgemeinheit raubt es dem Unmittelbaren das Individuelle und Persönliche und macht so alles und jedes zur Sache, zum gleichgültigen Noch-Einmal, zur Identität. Keine Sprache der Welt, auch nicht die des Künstlers, wenngleich diese noch am ehesten, vermag daher das Wesen der Dinge in seinem  Ansich  völlig auszudrücken; dennoch ist es uns nicht verschlossen, wir brauchen unsere Erlebnisse nur unbefangen und vorurteilslos, d. h. ohne das Begriffsschema, das wir gewöhnlich über sie breiten, in ihrer Unmittelbarkeit zu betrachten, so blicken wir den Dingen bis auf den Grund, so schauen wir sie in ihrer wahren Wirklichkeit an."

Die Philosophie von HENRI BERGSON vereinigt in sich uralte und ganz moderne Denkelemente. Sie besitzt einen durch keinerlei transzendentale Überlegungen gehemmten und geschwächten ursprünglichen Willen zur Lösung letzter metahphysischer Probleme und ist dennoch überzeugt, daß die Welt im Grunde völlig irrational ist, daß der Mensch als Philosoph nicht nur Intellekt, sondern vielmehr lebendiger Schöpfungswille sein muß. Diese beiden Elemente, das metaphysische und das antirationalistische, verbinden sich zur Konzeption einer intuitiven Philosophie. Intuition ist für BERGSON das sich selbst erfassende unmittelb are und wirkliche Leben. Die Intuition will und soll die Fülle aller Erscheinungen als Totalität in einem Blick umspannen und ungeteilt aufnehmen in das Reich des Wissens.

Wer ein solches Unternehmen im Prinzip für überschwenglich und unangemessen den Kräften wissenschaftlichen Denkens hält, der wird eine Metaphysik dieser Art etwa so beurteilen wie HEGEL die romantische Kunst. Die romantische Kunst, sagt HEGEL, bedeutet ein Hinausgehen der Kunst über sich selbst in Form der Kunst selbst, eine Auflösung der ästhetischen Form zugunsten eines absoluten Inhalts, dessen Darstellung die Grenzen der ästhetischen Ausdrucksmittel überschreitet. Ähnlich könnte man von einer Metaphysik, die sich des Absoluten in seiner Reinheit zu bemächtigen strebt, sagen, daß sie ein Hinausgehen des Wissens über sich selbst in Form des Wissens selbst bedeute und so notwendig zur Zerstörung der eigentümlichen Gesetze des Wissens führen müsse, zur Selbstzerstörung der Wissenschaft. Wir werden bei BERGSON diesen Charakterzug einer romantischen Philosophie, wenn wir darunter eine Metaphysik im angegebenen Sinn verstehen, wiederfinden. Eine solche Philosophie wird, wie eine jede Weltanschauung, mag sie in künstlerischer oder religiöser oder logischer Form auftreten, ein philosophisches Interesse beanspruchen, sie wird jedoch stets eine stark persönliche Färbung tragen und daher nur dann bedeutsam sein, wenn der Persönlichkeit, von der sie ausgeht, Größe und Originalität eigen ist. Ich glaube, daß wir beide Eigenschaften BERGSON zusprechen müssen.

Doch noch aus einem zweiten Grund kann es wissenschaftlich wertvoll sein, sich mit einer solchen Philosophie zu beschäftigen. Wie die romantische Kunst trotz der durch sie vollzogenen Auflösung der ästhetischen Form eminent ästhetische Züge aufweist und große künstlerische Werte verwirklicht, so finden sich auch in einer romantischen Philosophie stark ausgeprägte logische Motive und wissenschaftlich wertvolle Diskussionen und Gedanken. Gerade diese aus ihrem persönlichen Diskussionen und Gedanken. Gerade diese aus ihrem persönlichen Hintergrund herauszulösen und in ihrer systematischen Bedeutung zu erfassen, muß als eine reizvolle Aufgabe erscheinen. Freilich wird durch eine solche Aufsplitterung und Umwendung kein Bild des ganzen Gedankengebäudes erzeugt, die Einheit und Geschlossenheit desselben vielmehr zerrissen und zerstört. Eine Philosophie und besonders eine romantische Philosophie, ist ja als Wirklichkeit genommen eine unendliche Mannigfaltigeit und eine Individualität höchsten Grades, sie ist als Knotenpunkt begrifflicher Gedankenreihen nicht zu rekonstruieren. Aus diesen Erwägungen heraus soll meine Arbeit daher folgenden Weg einschlagen: der erste Teil soll versuchen, BERGSONs Philosophie in ihren großen Zügen möglichst getreu nachzubilden, ihre eigenen Argumente wiederzugeben, sie als  Einheit  und  Ganzheit  darzustellen. Der zweite Teil soll versuchen, die allgemeinen systematischen Motive dieser Philosophie herauszuschälen und einer  kritischen Beurteilung  zu unterwerfen.


I. Darstellung
Die Grundanschauung

BERGSONs Philosophie aus seiner Persönlichkeit, seine Persönlichkeit aus seiner Philosophie heraus zu verstehen und darzustellen wird also unsere erste Aufgabe sein. Ich glaube, daß eine Analyse des Titels seiner dritten Hauptschrift "Schöpferische Entwicklung" den besten Ausgangspunkt bietet, um uns das Wesen des Mannes nahe zu bringen und uns in das Zentrum seiner Gedanken zu versetzen. Denn der eigenen, sich stetig bereichernden und klärenden, schaffenden und schauenden Persönlichkeit ihr Recht im Gesamtbild der Welt zu verschaffen, dieser Wunsch ist die treibende Kraft dieser Philosophie. "Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten", sagt SCHELLING. So findet BERGSON das, was er in sich selbst erlebt: das dauernde Wachstum seiner Ideen, die künstlerische Freiheit, mit der er schöpferisch seine Gedanken formt, die lebendige Beweglichkeit und rastlose Tätigkeit seines Geistes im Weltobjekt als Grund und Wesen der Dinge wieder. Seine Philosophie ist eine Opposition gegen die Mechanisierung und Verdinglichung der Welt, eine Reaktion gegen die kühle mathematische Verstandesarbeit der Naturwissenschaft, ein Protest gegen die Entpersönlichung und Entwertung des Lebens. Das Leben selbst ist es, das über den Intellekt triumphieren, das sich empören soll gegen die Knechtung einer abstrakten Rationalisierung und Atomisierung seiner selbst; die künstlerische Tat ist es, die eine Rechtfertigung und Anerkennung ihres Gehaltes fordert, die mit dem Anspruch auftritt, eine bessere Interpretin des Weltsinnes zu sein als eine Theorie, die alles Seiende in tote Punkte auflöst, die sich im Raum bewegen; der unzergliederte, freie Wille ist es, der seine Unabhängigkeit von der Materie, der seine Ursprünglichkeit und Individualität behaupten soll gegenüber dem Getriebe ewig gleicher Teilchen, die ewig gleichen Gesetzen folgen.

Aber all diese lebendigen Kräfte sollen nicht nur einen Platz finden in der toten Wirklichkeit, die ihrer zu spotten scheint, sondern sie sollen sich vielmehr selbst an die Stelle dieser Wirklichkeit setzen und ihrerseits erst einer Verstandesbetrachtung den engen Platz anweisen, der ihr im Universum, in der lebendigen schöpferischen Entwicklung der Welt, einzig und allein noch gebührt. Nicht nur wir, die Subjekte, sind frei wollende Wesen, Schöpfer und Künstler, nicht nur wir vervollkommnen uns in stetig fortschreitener Entwicklung, sondern das Universum, das Absolute selbst ist werden und Leben, ist schöpferisch bildender Trieb, der die Materie beseelt, der immer neue und immer reichere Gestalten aus ihr formt, bis er sich im Menschen befreit und zum Herrn des überwundenen Stoffes macht. So sind wir selbst Wellen in dieser anschwellenden Flut; wir stehen in den vordersten Reihen dieser empordrängenden Selbstentwicklung und Entfaltung der Welt, in uns hat die steigende Woge einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Aber sie selbst drängt vorwärts, über uns hinaus, die wir nur flüchtige, vorübergehende, einmalige Materialisationen des unerschöpflichen Lebensschwunges sind. Da das Universum selbst lebt und strebt, so können wir uns ihm nur nähern, wenn wir den Blick auf unser lebendiges Wollen richten. Intuition ist sehener, sich selbst sehender Wille. Nicht im Gedanken läßt sich Gott nachbilden, er ist keine in sich ruhende Idee, keine reine Form, er ist Bewegung, Werden, Wachsen. In der freien Tat der künstlerischen Phantasie, da ist er zugegen, da wiederholt sich in uns sein Schöpfungsakt. "Daß eine Welt von Dingen geschaffen werden kann, verstehen wir nicht, daß aber unser Tun wächst und sich steigert, das kann jeder von uns in sich selbst wahrnehmen." Solches Tun ist das Wesen der Welt.

Diese Gedanken oder Gleichnisse geben in großen Zügen das Weltbild BERGSONs wieder. So wie wir sie bisher kennen gelernt haben, scheinen sie für sich genommen keineswegs neu zu sein, vielmehr tauchen sofort bekannte geschichtliche Gestaltungen alter und neuer Zeit auf, an die sie deutlich erinnern. Das Originelle an ihnen liegt jedoch einmal in der Art, wie BERGSON sie einführt und begründet, es liegt aber weiterhin darin, daß BERGSON darauf verzichtet, diese Gleichnisse zu Begriffen umzugestalten, daß er sich selbst vielmehr dessen bewußt ist, daß er nur in Analogien spricht und nur in Analogien vom wahren Wesen der Dinge sprechen kann. Keine verstandesmäßige Erkenntnis im gewöhnlichen Wortsinn will er geben, sondern nur eine Intuition, eine Welt anschauung wörtlich genommen. Wenn man versucht, so äußert er sich wiederholt, die Wirklichkeit ihrer Flüchtigkeit durch den Begriff zu bestimmen, durch Worte zu benennen, zerrint sie im selben Augenblick; sie entgeht und entgleitet jeder Formulierung, jeder Fixierung, jeder Benennung. Alles, was sich definieren läßt, ist schon nicht mehr ursprünglich und nicht mehr der Wirklichkeit gleich und adäquat. Das Wort ist brutal, sagt er, es zeichnet harte, scharfe Konturen; infolge seiner Allgemeinheit raubt es dem Unmittelbaren das Individuelle und Persönliche und macht so alles und jedes zur Sache, zum gleichgültigen Noch-Einmal, zur Identität. Keine Sprache der Welt, auch nicht die des Künstlers, wenngleich diese noch am ehesten, vermag daher das Wesen der Dinge in seinem  Ansich  völlig auszudrücken; dennoch ist es uns nicht verschlossen, wir brauchen unsere Erlebnisse nur unbefangen und vorurteilslos, d. h. ohne das Begriffsschema, das wir gewöhnlich über sie breiten, in ihrer Unmittelbarkeit zu betrachten, so blicken wir den Dingen bis auf den Grund, so schauen wir sie in ihrer wahren Wirklichkeit an. Auf eine begriffliche Ausführung seiner Metaphysik muß BERGSON daher verzichten, sie schwebt nur stets gewissermaßen am Horizonte seiner Überlegungen und Auseinandersetzungen, die um sie als um ihren fernen Mittelpunkt kreisen. Begeben wir uns daher jetzt, nachdem wir uns zunächst in diesen Mittelpunkt selbst versetzt hatten, um die Grundgesinnung, den Geist dieser Philosophie kennen zu lernen, an die Peripherie ihrer Gedanken und sehen zu, wie BERGSON in den einzelnen Problemen seine Ansicht durchführt und begründet.


Der Gegensatz der unmittelbaren und
der begrifflichen Wirklichkeit

Knüpfen wir zuerst an den Gegensatz an, der für BERGSON zwischen Begriff und Wirklichkeit besteht. Dieser Gegensatz prägt sich, wie wir sahen, vor allem darin aus, daß der Begriff in seiner Allgemeinheit unfähig ist, die immer nue und immer individuelle Wirklichkeit zu erfassen. Die  begriffliche  Wirklichkeit wird daher das Bild der  unmittelbaren  wesentlich verzerrt widerspiegeln, sie wird all die Züge und Seiten des Unmittelbaren und Gegebenen, die mit den Eigenschaften des Begrifflichen nicht übereinstimmen, einfach fallen lassen und ignorieren; und nicht genug damit damit, sie wird außerem Eigenschaften des Begrifflichen, die mit dem Unmittelbaren und Gegebenen nicht übereinstimmen, in dieses hineindeuten und so einerseits ein Weniger, andererseits ein Mehr gegenüber der ungedeuteten Wirklichkeit in sich aufweisen. Diese Umbildung des Ursprünglichen in der wissenschaftlichen Begriffsbildung wird sich dann dadurch rächen, daß der Denker, der statt vom Ursprünglichen auszugehen, vielmehr vom Begriffenen ausgeht, im Bemühen, die widerspruchslose Einheit der Gegensätze wiederherzustellen, notwendig scheitern muß. Die Gegensätze und Härten der Begriffe vermag kein Verstand, so scharfsinnig er sei, durch monistische Bemühungen aus der Welt zu schaffen und zwar deshalb, weil sie künstliche Gebilde des Menschen sind, ersonnen zur leichteren Benützung der Dinge für sein Bedürfnis. Sie entstammen keinem spekulativen, sondern einem vitalen Interesse - wie sollten sie die Ansprüche des spekulativen Denkens befriedigen können? Diesen Ansprüchen läßt sich vielmehr nur durch ein Zurückgehen zur Anschauung selbst ein Genüge tun,  vor  der Begriffsbildung, nicht  hinter  und  über  ihr suche man die Einheit und die Wahrheit und die Wirklichkeit.

Diese Gedanken hätte BERGSON so ausführen können, daß er zunächst die Eigenschaften der Begriffe, dann die durch sie bedingte Umbildung der Wirklichkeit untersucht und so die reine, unbegriffene Anschauung wiederhergestellt hätte. Er schlägt in dessen diesen Weg nicht ein, sondern vergleicht direkt die begriffene  Wirklichkeit  selbst mit den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins d. h. er verfährt nicht logisch, sondern metaphysisch. Wir kommen auf diesen Unterschied noch später zurück. Wir wollen jetzt BERGSON bei seinen Vergleichen folgen und sehen, welche Unterschiede er in den einzelnen Gebieten des Seienden zwischen dem ursprünglichen und dem wissenschaftlich, d. h. naturwissenschaftlich verarbeiteten Erlebnis auffindet. Da sich dieser Unterschied am schroffsten innerhalb der Bewußtseinstatsachen und ihrer psychologischen Auslegung bemerkbar macht, so wendet sich BERGSON zuerst einer Kritik der Psychologie zu. Die in den seelischen Zuständen gefundenen Hinweise auf die wahre Verfassung der Wirklichkeit an sich sucht er dann auch außerhalb des Psychischen auf und erweitert so seine der herkömmlichen Begriffspsychologie entgegengesetzte intuitive Psychologie zu einer intuitiven Metaphysik.

Die Begriffspsychologie strebt, wie jede Verstandeswissenschaft, dahin, die Zustände des Seelenlebens nach Möglichkeit zu mechanisieren. Die Mechanik aber verwandelt alles zeitliche Geschehenin ein geometrisch räumliches, die Sukzession in Simultaneität, die Veränderung in eine Reproduktion identischer Elemente; aus der konkreten Zeitwirklichkeit (durée) macht sie ein homogenes Außereinandersein, die konkrete, kontinuierliche Bewegung veräußerlicht sie zu einem System räumlich getrennter Punkte auf einer ansich unbeweglichen Bahn; das Zukünftige verfrüht sie so durch Berechnung und macht den unbestimmbaren, irrationalen Zeitstrom zur zahlenmäßigen Relation. Daher würde keiner ihrer Formeln geändert werden müssen, wenn die Dauer von Jahrtausenden, ja wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine Sekunde sich zusammenzögen. Für einen Verstand, der im Besitz der letzten Gesetze wäre und also den Lauf der Dinge 
vom gegenwärtigen Standpunkt aus bis in alle Ewigkeit vorauszusehen vermöchte, für einen solchen Verstand  geschähe  in der mechanisierten Welt überhaupt nichts, er gliche dem Geometer, der die unendlichen Beziehungen der Raumpunkte aufsuchte, die in einem starren, ereignislosen Liniensystem vorgebildet sind. Wie die Geometrie aber nur durch den festen Punkt Ordnung und Maß in den Raum bringt, so der Mechanismus nur durch die Konstruktion fester, letzter Einheiten, durch die er den ungeteilten Strom des Werdens gerinnen läßt zu einem Gefüge abgetrennter, isolierter, toter Dinge, die von außen geschoben werden. So macht der Seelenmechanismus die Seele zu einem Raum, in dem letzte seelische Elemente nach festen Gesetzen einander gegenseitig stoßen oder anziehen. Auch in diesem Raum zerstört er so den Begriff des Geschehens, vernichtet er die Möglichkeit eines durchaus Neuen, sieht in der Fülle und dem Reichtum der inneren Ereignisse, in der ungebrochenen, fließenden Stetigkeit der inneren Entwicklung nur das Produkt einer zugrunde liegenden Gleichförmigkeit und Unbeweglichkeit; das homogene Schema des Raumes mit seinen meßbaren, quantitativen Verhältnissen spannt er unter die bunte Mannigfaltigkeit und glaubt jetzt erst die wahre Wirklichkeit, ihren Kern entdeckt zu haben.

Wenn wir nun aber den Versuch machen, aus den Stücken das Ganze wiederherzustellen, mittes der Gesetze der Assoziation das unmittelbar gegebene Bewußtsein zu konstruieren, so bemerken wir leicht die unüberbrückbare Kluft zwischen diesen Welten und wir können nicht zweifeln, welche die künstliche und welche die wirkliche ist. Besonders deutlich tritt diese Kluft zutage, sobald wir den Versuch machen, die Freiheit des Willens zu definieren oder zu begründen. Hat man erst einmal das eigentümliche Werden der Seele mit den Schablonen der Außenwelt bedeckt, hat man es dem Prinzip der Isolation der Elemente und ihrer gesetzmäßigen Wiederkehr unterworfen, so wird jede Definition der Freiheit notwendig zum Determinismus führen müssen. Aber in Wahrheit läßt sich das Seelenleben gar nicht mechanisieren, ohne es dadurch zu töten; denn es spielt sich nicht in einem homogenen Raum ab, sondern in der heteorgenen  durée,  die Empfindungen sind nicht tote Atome, die sich messen, deren Bewegungen und Veränderungen sich berechnen lassen. Vielmehr sind alle Zustände der Seele in beständigem Fluß, nichts Festes und Identisches läßt sich da auffinden und niemals kehrt etwas in gleicher Form zurück. Wenn die Teile der Materie nebeneinander gelagert sind, wenn die bewegenden Kräfte sich einfach summieren, so durchdringen sich dagegen die Empfindungen und Gefühle, durch ihre Verschmelzungen treten ungeahnte, unberechenbare, noch nie dagegewesene, neue Zustände ein. Keine Logik und keine Mathematik herrschft über diesem irrationalen Werden, denn jede Logik und erst recht jede mathematische Konstruktion vermag nur bis zum Allgemeinen zu dringen, Identität ist das Grundgesetzt unseres Verstandes. In der Seele dagegen ist jede Empfindung ein persönliches, individuelles Lebewesen, das in steter Wandlung begriffen ist, das nur modifiziert und bereichert wiederkehrt. Wo bliebe der Duft und die Farbe unserer Erinnerungen, wenn sie nur ein Aggregat schon einmal dagewesener Elemente wären? Wie überhaupt unterschiede sich dann Wahrnehmung und Erinnerung, wie unterschiede sich erstmalige Vorstellung und Wiedererkennung? An der mechanisierten Materie geht die Zeit spurlos vorüber, nur in das Lebendige gräbt sie ihre Zeichen ein und dadurch eben unterscheidet es sich vor allem vom Toten. Die Materie existiert in einer ewigen Gegenwart, sie hat kein Gedächtnis, sie ist so unveränderlich wie der Allgemeinbegrif; nur das Lebendige altert, nur das Lebendige hat Geschichte. Darin besteht sein unvergleichlicher Vorzug.

Deshalb scheidet BERGSON streng zwei Arten des Gedächtnisses voneinander: das wiederholende und das vorstellende. Das erstere erzeugt die Gewohnheit, den motorischen Mechanismus. Das zweite aber ist nicht an den Körper gebunden, sondern bildet das alleinige Vorrecht des Geistes, der sich seiner Vergangenheit zu erinnern vermag. In der Erinnerung allein gewinnt die konkrete, erfüllte Zeit ihre Wirklichkeit, die Erinnerung bewahrt das Gewesene als ein Gewesenes, Unwiederholbares auf, während die Gewohnheit immer das Gleiche als Gegenwärtiges wiederkehren läßt. So dienen die Bedürfnisse, die das Gedächtnis für ihre Zwecke einüben und dressieren, dem Mechanismus des Körpers, die Erinnerung aber, die gleich der Kunst den Ansprüchen des praktischen Lebens als ein unnützer Luxus erscheint, läßt uns an der einmaligen, individuellen, absoluten Wirklichkeit teilnehmen. Besäßen wir nicht die Gabe der Erinnerung, dann wären wir nur Dinge im Raum, vergangenheitslos, zukunftslos. In Wahrheit aber mißverstehen wir uns, wenn wir uns nur als Durchgangspunkte allgemeiner Gesetze wissen: die Erinnerung macht uns zu geschichtlichen, macht uns zu freien Wesen. Freilich - und hier scheint BERGSON sein eigenes Prinzip zu durchbrechen - für gewöhnlich sind wir allerdings nur gestoßene und kausal bedingte Raumkörper, sind wir nur Exemplare von Gattungen und ausgeliefert der gemeinen Notwendigkeit unserer Bedürfnisse. Nur selten sind wir freie Wesen, nur in den kurzen Stunden, wo wir Besitz von uns selbst ergreifen und uns in die konkrete Zeitwirklichkeit versetzen.

Fragen wir uns nun noch einmal, ehe wir weiter in die Problemwelt BERGSONs eindringen, welche Erkenntnis wir bisher gewonnen haben, so läßt sich als wichtigstes Resultat aussprechen: die Kategorien, mit denen wir die Außenwelt in unser Begriffsnetz einspannen, der homogene Raum, die Substantialität, die Gesetzeskausalität, die Wechselwirkung, die Schemata der Zahl, der Größe dürfen wir nicht auf die Erkenntnis der unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins, auf unsere psychischen Zustände übertragen. Wie aber steht es mit dieser Außenwelt selbst?

Da wir versuchten, die Seelenzustände in die Schubfächer der mechanischen Welt zu packen, gerieten wir in einen unlöslichen Konflikt mit den Realitäten. Wenn wir nun aber die Welt der Körper betrachten - spricht da der glänzende Erfolg der modernen Naturwissenschaft nicht für die rechtmäßige Geltung dieser Schubfächer? Trifft hier der Mechanismus nicht in der Tat das Wesentliche und Wirkliche? Doch was war es eigentlich, wodurch sich die unmittelbaren Gegebenheiten der Seele abhoben von der Räumlichkeit der psychischen Dinge? Wie wir sahen, war es ihre konkrete Zeiterfüllung, ihr Wachstum, ihre Individualität. Kurz, die  Lebendigkeit  der Seele war es, in der sich ihre Eigentümlichkeiten gleichsam konzentrierten - gibt es in der Körperwelt nichts  Lebendiges?  Und finden wir in der Welt der lebendigen Körper nicht die gleichen Eigentümlichkeiten: sie entstehen, altern und sterben; die Entwicklung der tierischen Lebewesen ist eine fortwährende Neuschöpfung und Erfindung mannigfaltiger Formen. Auch diese Entwicklung spielt sich in einem konkret wirklichen Zeitstrom ab, auch hier werden Physiker und Chemiker vergebens danach streben, die Fülle und die Willkür und die Originalität der Erscheinungen mechanisch zu berechnen oder vorauszubestimmen. Aber auch Finalismus und Vitalismus vermögen nicht das Leben des Lebens, nämlich die Entstehung des absolut Neuen, die schöpferische Entwicklung der organischen Natur uns zu erklären. Und doch liegt in dieser Entwicklung gerade das Wesen der organischen Natur, wenn wir sie in ihrer Unmittelbarkeit anschauen, anstatt sie mit dem Verstand in allgemeinen Begriffen zu denken. Auch in der organischen Natur wiederholt sich nichts. Vielmehr entspringt auch hier die Artallgemeinheit, die wir mit einem  Wort  bezeichnen, nur einem menschlichen Bedürfnis, das die Dinge benennt, um sie besser zu rangieren und so zu beherrschen und auszunutzen. So finden wir auch in der biologischen Welt den Charakter der unmittelbaren Bewußtseinstatsachen wieder. Wie BERGSON neben die Begriffspsychologie eine intuitive gestellt hat, so stellt er nun neben die naturwissenschaftliche, d. h. physikalisch-chemisch verfahrende Biologie eine intuitive Biologie oder eine Philosophie des Lebens.

Was aber bedeutet das Leben im Weltganzen überhaupt? Die Beantwortung dieser Frage fällt BERGSON nicht schwer. Da die Kategorien der Naturwissenschaft sich als künstliche Schubfächer erweisen, in die sich die uns unmittelbar zugängliche Wirklichkeit nirgends hineinpacken läßt, da wir die Charaktere des Psychischen auch in der körperlichen Natur selbst wiederfinden, also auch diese sich gegen den mechanisierenden Verstand auflehnt und auf eine ursprünglichere, weniger verfälschte, freilich nicht ins Begriffliche übersetzbare Verfassung hindeutet, so können wir nicht zweifeln, auf welcher Seite wir den Schein, auf welcher wir die Wahrheit und Wirklichkeit zu suchen haben. Das Universum selbst lebt, wächst in einmaliger schöpferischer Entwicklung und entfaltet sich frei nach dem ihm innewohnenden Lebensdrang, dem  élan vital.  So entdeckt BERGSON neben der künstlichen Begriffswelt des Mechanismus die wahre, intuitive Welt der absoluten Wirklichkeit.


Die Genesis des Mechanismus
aus der absoluten Wirklichkeit

Wenn nicht die homogene, räumliche Zeit, sondern das konkrete Zeiterlebnis mit seiner qualitativen, stets wechselnden Mannigfaltigkeit, wenn nicht die Notwendigkeit, sondern die Freiheit, nicht die Welt der fixierten, isolierten, sich ewig gleichen Dinge, sondern die unbestimmte, flüchtige Welle des Lebensdranges wahre Realität besitzt, wenn nicht der Mechanismus, sondern die unbestimmte, flüchtige Welle des Lebensdranges wahre Realität besitzt, wenn nicht der Mechanismus, sondern die schöpferische Entwicklung das Wesen des Universums ausmacht, was bedeutet dann, so wird man schon längst gefragt haben, für BERGSON überhaupt noch dieser Gegensatz? Oder drücken wir uns noch deutlicher aus: wie kann es für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse günstiger sein, die Wirklichkeit durch eine Schablone hindurch zu betrachten, die sie verfälscht? Würde nicht ein Lebewesen, das sich dem reinen Strom des Werdens hingibt, viel besser gestellt sein, da es ja die unmittelbare, unentstellte Realität ergriffe? Oder wenden wir das Problem noch allgemeiner: wie kommt das Allgemeine überhaupt in die absolute Individualität des Universums, das Begriffliche, das Mechanische, wie in unser Bewußtsein die Sprache, die Logik, die Mathematik, die alle in einer absolut individuellen Welt sinnlos wären? "In einem absolut Unwirklichen", sagt BERGSON in der Einleitung zur  Schöpferischen Entwicklung,  "vermöchte sich unser Handeln nicht zu bewegen". Also sind die Schemata und Kategorien des Verstandes nicht völlig inadäquat der Wirklichkeit? Sind Physik und Chemie nicht ganz und gar Fälschungen der Natur, liegt ihnen ihm Sein der Dinge etwas zugrunde, das ihren Erfolg erklärt? In der Tat ist das BERGSONs Ansicht und erst sie gibt seinem Weltbild eine gewisse Rundung. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Dualismus, den wir aufgedeckt haben, zu beseitigen und die Welt einheitlich aufzufassen. Entweder man geht von der begrifflichen Wissenschaft aus und vertieft sie zu einer begrifflichen Philosophie oder man geht von einer intuitiven Philosophie aus und sieht in der Wissenschaft gewissermaßen die Kehrseite die notwendige Ergänzung der Intuition. Den ersten Weg hat die bisherige Metaphysik eingeschlagen, der zweite ist der Weg BERGSONs. Auf dem ersten Weg gelangt man, wenn man von der Allgemeinheit der Arten ausgeht, zu einem Stufenreich von Formen, das auf der einen Seite durch ein absolut Ungeformtes, Noch-nicht-Seiendes, Bewegliches, die Materie, auf der anderen Seite durch eine ruhende Form der Formen, die reine Allgemeinheit des Begriffes selbst begrenzt ist. Die Zeitlichkeit wird so zu einer durch die Materie getrübten Abspiegelung der Ewigkeit. In einer solchen Metaphysik gipfelte die griechische Philosophie bei ARISTOTELES. Oder man gelangt, wenn man von der Allgemeinheit des Gesetzes ausgeht, wie die moderne Wissenschaft, zu einem Absoluten, das die Gesetzmäßigkeit selbst ausdrückt. In der Substanz SPINOZAs wie in der Zentralmonade von LEIBNIZ hat die Zeit keine Realität, jene ist der vollendete Mechanismus selbst, in dieser ist die Zeit durch die Ewigkeit und ihre prästabilierte [im Voraus festgestellte - wp] Harmonie überwunden. Auf den Höhepunkten der griechischen wie der modernen Philosophie hat nur das Allgemeine und Ewige Wirklichkeit und Wahrheit, das Individuelle und in der Zeit Werdende ist dagegen nur eine Modifikation oder eine Einschränkung des Allgemeinen. Zu einem solchen Schluß aber muß jede Metaphysik gelangen, die das Universum oberhalb der Begriffe der Naturwissenschaft aufzubauen sucht, anstatt es unterhalb im Unmittelbaren zu entdecken. In Wahrheit darf nicht, wie die frühere Metaphysik meinte, die Wissenschaft das Zeitliche, die Philosophie das Ewige zum Gegenstand haben, sondern umgekehrt die Wissenschaft muß sich auf das Ewige und deshalb Tote beschränken, die Philosophie dagegen erfaßt das Lebendige, Werdende, sie  folgt  nicht auf die Wissenschaft, sondern sie  geht  ihr  vorher.  Denn vom Begriff kommt man nie mehr zurück zum Leben. Das Lebendige aber ist das Absolute, das Allgemeine ist nur eine Abstraktion, eine Abschwächung des Individuellen, eine "Unterbrechung" der fortschreitenden Entwicklung, eine "Umkehrung" des zeitlich-wirklichen Prozesses. Anstatt des Ideals der einen Wissenschaft, die ihre Krönung in der Metaphysik erblickt, sollte man daher den Dualismus und die Gegensätzlichkeit von Wissenschaft, d. h. Naturwissenschaft und Philosophie anerkennen. Die Philosophie ist monistisch, insofern sie sich selbst und die Wissenschaft als die beiden ergänzenden Erkenntnisweisen des einen Absoluten erfaßt, sie bejaht aber den Dualismus, da er durch die Zweiheit geboten wird, die aus dem Absoluten entspringt.

Und was bedeutet diese Zweiheit für BERGSON, deren Wesen wir soeben streiften, was bedeutet jene Unterbrechung der Entwicklung, jene Umkehrung des Prozesses, von der wir sprachen? Was bedeutet der "Abstieg", die "Entspannung", die "Auflösung", jene Kehrseite der intuitiv erfaßten, schöpferischen Lebenskraft? Nun, auch hier kann und darf die Philosophie wieder nur die Wahrheit in der Analogie und im Gleichnis schauen. Das Universum gleicht dem Künstler. Wenn der Dichter im Erschaffen seines Werkes nur einen Augenblick ermattet, wenn seine Aufmerksamkeit und Konzentration nachläßt, dann rollen sofort die vorher begeisteten Verse in bloße Worte, in tote Buchstaben auseinander; wenn den Maler sein Genius vor der Leinwand verläßt, dann entsteht ihm kein Bild, sondern eine Masse farbiger Punkte. Daß alle dichterischen Schöpfungen aus den einander gleichen Buchstaben desselben Alphabeths zusammengesetzt sind, daß jede Musik dieselben letzten Tonelemente enthält - wen setzt das in Erstaunen? Es ist ja nicht das Alphabet, das die Dichtung, nicht die Palette, die das Gemälde hervorbringt, sondern die künstlerische Schöpferkraft ist es, die aus den Elementen das absolut Neue wirkt. Ist es wunderbarer und unverständlicher, wenn das Universum aus den Bausteinen der Atome seine lebendigen Werke formt? Diese Atome sind, als Bausteine verwandt, ebensowenig tot und isoliert wie die Elemente des Kunstwerks im Kunstwerk. Erst wenn die Kraft, wenn der Geist ermattet, wenn die Bewegung aufwärts stillsteht, dann fallen die Bausteine sinnlos auseinander: so entsteht die Materie und ihr Mechanismus. Diese gewissermaßen kosmische Entstehung aber ist unserer Intuition ebenso unmittelbar zugänglich wie die Schöpferkraft des Absoluten. Da wir selbst ja nichts anderes sind als vorübergehende Materialisationen des wachsenden Universums, da uns die Woge der Entwicklung trägt, in uns selbst steigt und fällt, so erleben wir ebensosehr ihren Ansturm wie ihr Zurücksinken, ebensosehr die Flut wie die Ebbe.

Wir erwähnten schon früher BERGSONs Auffassung der Freiheit als eines seltenen Seelenzustandes, in dem wir von uns selbst Besitz ergreifen. Jetzt verstehen wir, wie diese Auffassung sich in das Ganze dieser Philosophie schickt. Wir sind nur frei, wenn wir in der konkreten Zeitwirklichkeit leben, wenn wir entsprechend unserer individuellen, persönlichen Eigenart handeln. Wir sind unfrei, insofern unsere Handlungen exemplarisch d. h. gesetzmäßig sind. Jetzt verstehen wir auch, inwiefern die Naturwissenschaft für BERGSON ein Produkt unserer Bedürfnisse, ein Instrument unseres Handelns ist. Sie ist es, insofern für die automatische Befriedigung der Bedürfnisse, die gleichbedeutend ist mit einem Stillstand in der Entwicklung des unteilbaren, universalen Lebensstroms, die Fixierung dieses Stillstands, die Kenntnis des Immergleichen förderlich ist. So ist die Naturwissenschaft eigentlich keine Fälschung des Weltbildes, sondern sie befindet sich auf dem absteigenden Ast der Weltentwicklung, ja sie ist im Sinne BERGSONs geradezu dieser zur Wissenschaft verwandelte Abstieg selbst, metaphysisch mit ihm identisch. Sie ist nur insofern eine Fälschung, als sie behauptet, daß die Materie ihrer Konstruktion nach vom Lebenstrieb völlig abtrennbar sei, daß sie realiter unabhängig von ihm existiere. In Wahrheit ist auch die Materie stets individuell und nicht völlig im Mechanismus auflösbar. Sie hat nur eine Tendenz zur Geometrie, zum Atomismus hin, und weil diese Tendenz in ihr steckt, gelingt es der Naturwissenschaft durch Abstraktion vom Individuellen sie in die Schablone des Mechanismus hineinzuspannen, das Schema des homogenen Raumes unter ihr auszubreiten. Die Materie der Naturwissenschaft ist also ein künstliches Produkt, genau wie die Materie des ARISTOTELES, nur mit umgekehrtem Vorzeichen; war die aristotelische Materie das Prinzip der Spezifikation und Bewegungsmöglichkeit, so ist die Materie der Naturwissenschaft das Prinzip der Generalisierung und des Stillstandes.

So kehr sich bei BERGSON das aristotelische Stufenreich um: zu höchst kommt die absolut individuelle, stets sich entwickelnde, zeitliche Wirklichkeit zu stehen, zu tiefst die an sich unwirkliche, nur begrifflich konstruierbare, reine Form der Allgemeinheit des Denkens. Diese Form, die in der modernen Naturwissenschaft als Atom oder wie immer materialisiert gedacht wird, ist jedoch in Wahrheit nicht das absolut Tote, sondern sie ist die schwächste Form des Lebens, der dumpfste, dunkelste Zustand des Bewußtseins oder richtiger noch, da es eine Seiendes im Absoluten nicht gibt: die Materie ist die Tendenz des Lebens zur Erschlaffung, Ermattung und Abspannung hin und die Naturwissenschaft ist der Irrtum, diese Tendenz zum ewigen Sein umzudeuten, den Funken des Lebens, der auch noch in der Materie glüht, völlig zu ersticken, die letzte Spur der konkreten Zeitwirklichkeit, der  durée,  restlos aus ihr zu vertilgen. Sie ist dieser Irrtum, wenigstens wenn sie ihr ansich nützliche und praktisch brauchbare Begriffserkenntnis als Wirklichkeitserkenntnis deutet, wenn sie den Anspruch erhebt, das zu leisten, was nur der Intuition gelingt: den Grund der Dinge zu erschauen.
LITERATUR - Richard Kroner, Henri Bergson, Logos, Bd. 1, Tübingen 1910