ra-2KierkegaardH. LaehrTh. Rohmer    
 
SÖREN KIERKEGAARD
Der Begriff der Angst

"Die Zeit der Distinktion ist vorbei; das System hat sie überwunden. Wer in unserer Zeit sie liebt, ist ein Sonderling, dessen Seele an längst Entschwundenem hängt. Mag dem so sein! Doch wird  Sokrates,  was er war, der einfältige Weise, durch seine besondere Distinktion, die er selbst aussprach und vollkommen darstellte, welche erst der sonderbare  Hamann  zwei Jahrtausende später bewundernd wiederholte -  denn Sokrates war dadurch groß, daß er unterschied zwischen dem, was er verstand, und dem, was er nicht verstand." 

"Eigentlich ist die Sünde in gar keiner Wissenschaft heimatberechtigt. Sie ist Gegenstand der Predigt, wo der Einzelne als Einzelner zum Einzelnen spricht. In unserer Zeit hält die wissenschaftliche Wichtigtuerei die Pfarrer für Narren, so daß sie sich zu einer Art Küster der Professoren hergeben, ihrerseits auch der Wissenschaft dienen und es unter ihrer Würde finden zu predigen. Da ist es auch kein Wunder, daß das Predigen für eine sehr ärmliche Kunst gehalten wird. Indessen ist es die schwierigste aller Künste und eigentlich genau die Kunst, welche Sokrates anpreist: die Kunst, ein Gespräch zu führen. Selbstverständlich braucht man deshalb nicht etwa jemand in der Gemeinde, der antwortete; auch würde es natürlich nichts nützen, beständig jemand redend einzuführen. Was Sokrates eigentlich an den Sophisten tadelte, wenn er sagte, daß sie wohl sprechen, nicht aber ein Gespräch führen könnten, war dies: daß sie über jegliches viel sagen konnten, aber des Moments der Zuneigung ermangelten. Die Zuneigung ist aber gerade das Geheimnis des Gesprächs."


Vorwort

Wer ein Buch schreiben will, tut meines Erachtens wohl daran, sich mancherlei Gedanken über die Sache zu machen, über die er schreiben will. Es ist auch nicht übel, wenn er, soweit möglich, mit dem bekannt zu werden sucht, was früher über dieselbe Sache geschrieben wurde. Sollte er hierbei auf Einen stoßen, der die eine oder andere Partie erschöpfend und befriedigend behandelt hat, so tut er wohl daran, sich zu freuen, wie des Bräutigams Freund sich freut, wenn er steht und auf des Bräutigams Stimme hört. Hat er dies in aller Stille und mit verliebter Schwärmerei getan, die ja stets die Einsamkeit sucht, so bedarf es weiter nichts: er schreibe sein Buch frischweg, wie der Vogel sein Lied singt - hat jemand Gewinn und Freude davon, so ist es umso besser -; er gebe es sorglos und unbekümmert heraus, ohne alle Wichtigtuerei, als brächte er etwa alles zum Abschluß, oder als sollten alle Geschlechter der Erde in seinem Buch gesegnet werden. Jedes Geschlecht hat seine Aufgabe und braucht sich nicht so außerordentlich zu mühen, daß es ja dem vorangehenden und nachfolgenden alles sei. Jeder Einzelne in dem Geschlecht hat, wie jeder Tag, seine besondere Plage und genug damit zu tun, daß er sich um sich selbst bekümmere; er braucht nicht die ganze Gegenwart mit seiner landesväterlichen Bekümmernis zu umfassen, oder Ära und Epoche mit seinem Buch beginnen zu lassen, noch weniger mit dem Neujahrsfeuer seiner Versprechungen, oder mit weitaussehenden, verheißungsvollen Andeutungen, doer mit einem versichernden Hinweis auf eine zweifelhafte Valuta. Nicht jeder, der einen breiten Rücken hat, ist darum ein Atlos oder bekam ihn davon, daß er eine Welt trug; nicht jeder, der "Herr, Herr" sagt, kommt deshalb ins Himmelreich; nicht jeder, der sich anbietet, für die ganze Gegenwart Kaution zu leisten, hat damit bewiesen, daß er ein sicherer Mann ist, der für sich selbst einstehen kann; nicht jeder, der "Bravo", "schwere Not", "Gottesblitz", "Bravissimo" ruft, hat darum sich selbst und seine Bewunderung verstanden.

Was  meine  Wenigkeit anbelangt, so gestehe ich in aller Aufrichtigkeit, daß ich als Schrifsteller ein König ohne Land bin, aber auch in Furcht und viel Zittern ein Schriftsteller ohne alle Prätensionen. Scheint es einer edlen Mißgunst, einer eifersüchtigen Kritik zuviel Anmaßung, daß ich einen lateinischen Namen trage, so will ich gerne den Namen "Müller" oder "Maier" annehmen, denn ich möchte ja für nichts anderes gelten, als für einen Laien, der wohl spekuliert, aber doch der Spekulation fernsteht, wenn ich auch in meinem Autoritätsglauben devot bind, wie der Römer tolerant war in seiner Gottesfurcht. Was menschliche Autorität betrifft, so bin ich ein Fetischdiener und bete gleich fromm vor jedem an, wenn nur hinlänglich mit Trommelschlag bekannt gemacht wird, daß er es ist, den ich anbeten soll, daß er für dieses Jahr die Autorität und das Imprimatur ist. Die Entscheidung geht über meinen Verstand, ob sie nun durch Los oder Ballotation getroffen werde, oder ob die Hochwürdigen selber Umgang halten und der Einzelne als Autorität richte, wie der Geschworene im Schwurgericht.

Weiter habe ich nichts hinzuzufügen, außer daß ich jedem, der meine Anschauung teilt, wie auch jedem, der sie nicht teilt, jedem, der das Buch liest, wie auch jedem, der am Vorwort genug hat, ein herzliches Lebewohl zurufe.




Einleitung
In welchem Sinne der Gegenstand der Untersuchung eine Aufgabe ist,
welche die Psychologie interessiert, und in welchem Sinne er, nachdem er
die Psychologie beschäftigt, eben auf die Dogmatik hinweist.

Daß jedes wissenschaftliche Problem innerhalb des weiten Gebietes der Wissenschaft seinen bestimmten Platz, sein Ziel und seine Grenze hat; daß es im Gemälde des Ganzen in seiner Weise zu verschwimmen hat, in die Symphonie des Ganzen an seinem Ort einfallen darf: diese Betrachtung ist nicht nur ein frommer Wunsch, welcher den Mann der Wissenschaft mit seiner begeisternden oder wehmütigen Schwärmerei adelt, ist nicht bloß eine heilige Pflicht, welche ihn im Dienst des Ganzen bindet und ihm gebietet, der Willkür und der Lust zu entsagen, abenteuerlich den Kontinent aus dem Auge zu verlieren; sie ist vielmehr zugleich im Interesse jeder einzelnen Untersuchung. Denn wenn diese vergißt, wo sie zu Hause ist, so vergißt sie zugleich sich selbst, wie die auch die Sprache mit bezeichnender Zweideutigkeit ausdrückt; sie wird zu etwas Anderem und erreicht eine bedenkliche Fertigkeit, etwas ganz Beliebiges vorzustellen. Wird so nicht wissenschaftlich zur Ordnung gerufen, wird nicht darüber gewacht, daß die einzelnen Probleme nicht aneinander vorbeijagen dürfen, als gälte es, zuerst auf eine Maskerade zu kommen: so mag man wohl bisweilen recht "geistreich" sein; man verblüfft bisweilen durch den Schein, als habe man schon ergriffen, wovon man doch noch weit entfernt ist; man findet sich bisweilen mit den Widersprüchen durch einen nichtssagenden Ausgleich ab. Dieser Gewinn rächt sich indessen nachträglich wie aller ungesetzliche Erwerb, der weder bürgerlich noch wissenschaftlich rechtmäßiges Eigentum werden kann.

Überschreibt man so den letzten Abschnitt der Logik  "die Wirklichkeit",  so gewinnt man damit den Vorteil, daß man den Schein erregt, als sei man in der Logik schon zum Höchsten, oder wenn man so will, zum Niedrigsten gekommen. Indessen fällt der Nachteil in die Augen: es ist weder der Logik noch der Wirklichkeit damit gedient. Nicht der Wirklichkeit: denn die Zufälligkeit, welche zur Wirklichkeit wesentlich mitgehört, kann die Logik nicht passieren lassen. Der Logik nicht: denn wenn sie die Wirklichkeit gedacht hat, so hat sie etwas in sich aufgenommen, das sie nicht assimilieren kann; sie hat vorweggenommen, was sie bloß prädisponieren soll. Als Strafe stellt sich deutlich ein, daß jede Untersuchung, was Wirklichkeit sei, erschwert, ja vielleicht zunächst unmöglich gemacht ist, weil dem Wort zuerst Zeit gelassen werden muß, sich gleichsam auf sich selbst zu besinnen, Zeit, den Fehler zu vergessen. - Nennt man so in der Dogmatik den  Glauben  das  Unmittelbare  ohne jegliche nähere Bestimmung, so gewinnt man den Vorteil, daß man jedermann von der Notwendigkeit überführt, der dürfe nicht beim Glauben stehen bleiben; ja man entwindet wohl gar dem Rechtgläubigen dieses Zugeständnis, weil er vielleicht das Mißverständnis nicht sofort durchschaut, daß es nämlich nicht in den späteren Bestimmungen seinen Grund hat, sondern in jenem  proton pseudos  [erste Lüge - wp]. Der Nachteil ist unverkennbar; denn der Glaube wird dadurch geschädigt, daß ihm genommen wird, was ihm rechtmäßig zugehört: seine historische Voraussetzung; die Dogmatik aber wird dadurch geschädigt, daß sie nun nicht einsetzt, wo sie einsetzen sollte, nämlich innerhalb eines früheren Ansatzes. Anstatt einen früheren Ansatz zu präsupponieren, ignoriert sie diesen und beginnt frischweg, als wäre sie Logik; denn diese setzt ja eben beim Flüchtigsten ein, das durch die allerfeinste Abstraktion hergestellt wurde, beim Unmittelbaren. Was nun logisch gedacht richtig ist, daß das Unmittelbare  eo ipso  [selbstredend - wp] aufgehoben ist, das wird in der Dogmatik leeres Geschwätz; denn wem könnte es wohl einfallen, beim Unmittelbaren (ohne jegliche nähere Bestimmung) stehen zu bleiben, da es ja doch im selben Augenblick aufgehoben ist, in dem es genannt wird, wie ein Schlafwandler im selben Augenblick aufwacht, da sein Name genannt wird! - Findet man so bisweilen in fast nur propädeutischen Untersuchungen das Wort  "Versöhnung"  gebraucht, um das spekulative Wissen zu bezeichnen, oder die Identität des erkennenden Subjekts und des Erkannten, das Subjektiv-Objektive usw., so sieht man leicht, daß der Betreffende geistreich ist und mit Hilfe dessen alle Rätsel erklärt hat - besonders für alle die, welche in der Wissenschaft nicht einmal die Vorsicht gebrauchen, welche man im täglichen Leben braucht: daß man das Rätsel erst genau hört, ehe man rät. Andernfalls erwirbt man sich das unvergleichliche Verdienst, durch seine Erklärung ein neues Rätsel aufgegeben zu haben: wie nämlich ein Mensch darauf verfallen kann, daß dies die Erklärung sein soll. Daß überhaupt das Denken Realität habe, war die Voraussetzung aller antiken Philosophie und des Mittelalters. Durch KANT wurde diese Voraussetzung zweifelhaft gemacht. Gesetzt nun, die HEGELsche Philosophie habe wirklich KANTs Skepsis  durchdacht  - (indessen dürfte dies doch immer eine große Frage bleiben, trotz allem, was HEGEL und seine Schule mit Hilfe des Schlagworts "Methode" und "Manifestation" getan hat, um zu verdecken, was SCHELLING mit dem Schlagwort der "intellektuellen Anschauung" und der "Konstruktion" offener bekannte: daß ihre Philosophie von einem neuen Ausgangspunkt ausging) - und habe so in höherer Form das Frühere rekonstruiert, so daß nun das Denken nicht mehr in Kraft einer Voraussetzung Realität hätte: ist denn diese bewußt zustandegebrachte Realität des Denkens eine "Versöhnung"? Hiermit ist ja die Philosophie nur dahin gebracht, wo man in alten Tagen begann, in alten Tagen, da eben die Versöhnung ihre ungeheure Bedeutung hatte. Man hat eine alte respektable philosophische Terminologie: Thesis, Antithesis, Synthesis. Man wähle eine neuere, wo die Mediation den dritten Platz einnimmt - sollte dies ein so außerordentlicher Fortschritt sein? Zudem ist die Mediation zweideutig; denn sie deutet zugleich das Verhältnis zwischen den beiden an und das Resultat des Verhältnisses, das, worin sie sich ineinander verhalten als die, welche sich zueinander verhalten haben; sie bezeichnet die Bewegung, zugleich aber auch die Ruhe. Ob dies eine Vollkommenheit ist, wird erst eine weit tiefere dialektische Prüfung der Mediation entscheiden; darauf aber wartet man unglücklicherweise immer noch. Man schaffe also die Synthesis ab und sage Mediation - fertig! Doch man ist geistreich und kann sich damit nicht begnügen; man sagt "Versöhnung". Und wozu führt das? Seine propädeutischen Untersuchungen fördert man nicht; durch einen neuen Titel gewinnen diese so wenig, wie die Wahrheit an Klarheit oder eine Menschenseele an Seligkeit. Dagegen verwirrt man von Grund aus zwei Wissenschaften, die Ethik und die Dogmatik, besonders da man nicht nur das Wort Versöhnung einschmuggelt, sondern nun auch noch andeutet, daß die Logik und der  logos  (der dogmatische) einander entsprechen, und daß die Logik eigentlich die Lehre vom  logos  ist. Die Ethik und die Dogmatik streiten in einem unheilschwangeren Grenzgebiet um die Versöhnung. Reue und Schuld erpressen ethische den Gedanken der Versöhnung, während die Dogmatik in der Rezeptivität für die angebotene Versöhnung die historisch konkrete Unmittelbarkeit hat, it welcher sie ihre Rede im großen Dialog der Wissenschaften beginnt. Und wozu führt das endlich? Dazu, daß dieSprache vermutlich ein großes Sabbatjahr feiern muß, in welchem man die Rede und den Gedanken ausruhen läßt, damit man mit dem Anfang anfangen kann. - Man braucht in der Logik  das Negative  als die treibende Kraft, welche in alles Bewegung bringt. Und Bewegung muß man ja in der Logik haben, es gehe, wie es gehe, mit Gutem oder mit Bösem. Das Negative hilft nun, und geht es mit dem Negativen nicht, so treten Wortspiele und Redensarten ein, wie ja das Negative selbst zum Wortspiel wurde. (1) In der Logik darf aber keine Bewegung  werden,  denn die Logik  ist  und alles Logische ist nur (2) und diese Ohnmacht des Logischen ist der Übergang der Logik zum Werden, wo Dasein und Wirklichkeit hervortreten.

Wenn sich also die Logik in die Konkretion der Kategorien vertieft, so stellt diese beständig dasselbe dar, das von Anfang an war. Jede Bewegung (wenn man einen Augenblick diesen Ausdruck brauchen will) ist hierbei nur eine immanente Bewegung, d. h. in tieferem Sinn keine Bewegung, wovon man sich leicht überzeugt, wenn man bedenkt, daß der Begriff der Bewegung selbst eine Transzendenz ist, welche in der Logik keinen Platz finden kann. Das Negative ist nun die Immanenz der Bewegung; sie ist das Verschwindende, das Aufgehobene. Geschieht alles so, durch Negation, so geschieht überhaupt nichts, und das Negative wird zum Phantom. Um aber doch in der Logik etwas geschehen zu lassen, wird das Negative etwas mehr; man läßt es den Gegensatz hervorbringen, womit es nicht mehr Negation ist, sondern Kontraposition. Nun ist das Negative nicht mehr die lautlose Stille der immanenten Bewegung, es ist das  "notwendige Andere".  Ein solches mag nun für die Logik höchst notwendig sein, um die Bewegung in Gang zu bringen, nur ist es kein Negatives. Verläßt man die Logik, um sich zur Ethik zu wenden, so trifft man hier wieder das in der ganzen HEGELschen Philosophie unermüdlich wirksame Negative. Hier erfährt man aber zu seinem Erstaunen, daß das Negative das Böse ist. Nun ist die Konfusion in vollem Gange: es ist dem "Geist" keine Schranke mehr gesetzt, und wenn Frau von STAEL-HOLSTEIN von SCHELLINGs Philosophie sagte, daß sie einen Menschen für sein ganzes Leben geistreich mache, so gilt das in jeder Beziehung auch von der HEGELs. Man sieht, wie unlogisch die Bewegungen in der Logik werden müssen, seitdem das Negative das Böse ist - und wie unethisch in der Ethik, seitdem das Böse das Negative ist. In der Logik ist es zu viel, in der Ethik zuwenig; nirgends paßt es, da es an beiden Orten passen soll. Hat die Ethik keine andere Transzendenz, so ist sie wesentlich Logik; soll die Logik so viel Transzendenz haben, als der Ethik schanden- und ehrenhalber not tut, so ist sie nicht mehr Logik.

Was hier entwickelt wurde, ist im Verhältnis zur Stelle, an der es steht, vielleicht weitläufig - im Verhältnis zur besprochenen Sache kann von Weitläufigkeit nicht die Rede sein -, aber es ist doch keineswegs überflüssig, da das einzelne mit Rücksicht auf den Gegenstand der Schrift gewählt ist. Die Beispiele sind vom größeren genommen; was aber im großen geschieht, kann sich im geringeren wiederholen, und das Mißverständnis bleibt sich gleich, wenn auch die schädlichen Folgen geringer sind. Wer sich anschickt am System zu schreiben, hat seine Verantwortung im großen; wer eine Monographie schreibt, kann und muß auch im kleinen treu sein.

Vorliegende Schrift hat sich zur Aufgabe gesetzt, den Begriff der "Angst" psychologisch in der Weise abzuhandeln, daß sie das Dogma von der Erbsünde  in mente [im Kopf - wp] und vor Augen hat. Insofern hat sie auch, wenngleich nur stillschweigend, mit dem Begriff der Sünde zu tun. Die Sünde ist indessen kein Vorwurf, der die Psychologie interessieren darf, und nur wer mißverständlicherweise geistreich sein will, kann sie psychologisch behandeln. Die Sünde hat ihren bestimmten Ort; oder besser: sie hat gar keinen Ort, das ist eben ihre Bestimmung. Behandelt man sie an einem anderen Ort, so wird sie alteriert, indem man sie in einer unwesentlichen Reflexionsbrechung auffaßt. Es wird ihr Begriff alteriert; damit wird zugleich die Stimmung, welche richtig dem richtigen Begriff entspricht, (3) gestört, und man erhält statt der Stetigkeit der richtigen Stimmung das flüchtige Gaukelspiel unrichtiger Stimmungen. Wenn so die Sünde in die Ästhetik hineingetragen wird, so wird die Stimmung entweder leichtsinnig oder schwermütig; denn die Kategorie, unter welche die Sünde fällt, ist der Widerspruch, und dieser ist entweder komisch oder tragisch. So ist also die Stimmung alteriert; denn die der Sünde entsprechende Stimmung ist der Ernst. Auch ihr Begriff wird alteriert; denn ob sie nun komisch oder tragisch werde, sie wird ein Bestehendes, oder ein als unwesentlich Aufgehobenes, während ihr Begriff ist, überwunden zu werden. Das Komische und Tragische hat in tieferem Sinn keinen Feind; es ist ein Popanz zum Weinen, oder ein Popanz zum Lachen, kein Feind zum Bekämpfen. - Wird die Sünde in der Metaphysik behandelt, so wird die Stimmung die dialektische Gleichmütigkeit und Uninteressiertheit, welche die Sünde als etwas durchdenkt, das der Zersetzung durch das Denken nicht widerstehen kann. Der Begriff wird alteriert; denn die Sünde soll wohl überwunden werden, aber nicht als etwas, dem das Denken kein Leben zu verleihen vermag, sondern als etwas, das da ist, und zwar als ernste Angelegenheit jedes Einzelnen. - Wird die Sünde in der Psychologie behandelt, so wird die Stimmung zu beobachtender Ausdauer, zu spionierender Unerschrockenheit, aber nicht zu des Ernstes siegreicher Flucht aus ihr heraus. Der Begriff wird ein anderer, denn die Sünde wird zu einem Zustand. Die Sünde ist aber kein Zustand. Ihre Idee ist, daß ihr Begriff beständig aufgehoben werde. Als Zustand, d. h. als Möglichkeit  (de potentia),  ist sie nicht, während sie tatsächlich  (de actu  oder  in actu)  ist und wieder ist. Die Stimmung der Psychologie würde antipathetische Neugier sein, die rechte Stimmung der Psychologie ist die nach- und aufspürende Angst, und in ihrer Angst zeichnet sie die Sünde ab, während sie sich vor der Zeichnung, die sie selbst hervorbringt, ängstigt und abängstigt. Wenn die Sünde so behandelt wird, so wird sie das Stärkere; denn die Psychologie verhält sich eigentlich weiblich zu ihr. Daß dieser Zustand seine Wahrheit hat, ist gewiß; daß er in jedes Menschen Leben in größerem oder geringerem Umfang eintritt, ehe die ethische Auffassung des Lebens durchdringt, ist ebenfalls gewiß; bei einer solchen Behandlung wird aber die Sünde nicht, was sie ist, sondern mehr oder weniger.

Wird also das Problem der Sünde behandelt, so kann man sofort an der Stimmung sehen, ob der Begriff der richtige ist. Redet man z. B. von der Sünde, wie man von einer Krankheit, einer Abnormität, einem Gift, einer Disharmonie redet, so ist auch ihr Begriff verfälscht.

Eigentlich ist die Sünde in gar keiner Wissenschaft heimatberechtigt. Sie ist Gegenstand der Predigt, wo der Einzelne als Einzelner zum Einzelnen spricht. In unserer Zeit hält die wissenschaftliche Wichtigtuerei die Pfarrer für Narren, so daß sie sich zu einer Art Küster der Professoren hergeben, ihrerseits auch der Wissenschaft dienen und es unter ihrer Würde finden zu predigen. Da ist es auch kein Wunder, daß das Predigen für eine sehr ärmliche Kunst gehalten wird. Indessen ist es die schwierigste aller Künste und eigentlich genau die Kunst, welche SOKRATES anpreist: die Kunst, ein Gespräch zu führen. Selbstverständlich braucht man deshalb nicht etwa jemand in der Gemeinde, der antwortete; auch würde es natürlich nichts nützen, beständig jemand redend einzuführen. Was SOKRATES eigentlich an den Sophisten tadelte, wenn er sagte, daß sie wohl sprechen, nicht aber ein Gespräch führen könnten, war dies: daß sie über jegliches viel sagen konnten, aber des Moments der Zuneigung ermangelten. Die Zuneigung ist aber gerade das Geheimnis des Gesprächs.

Dem Begriff der Sünde entspricht der Ernst. Die Wissenschaft, in welcher die Sünde zunächst ihre Stelle finden sollte, wäre wohl die Ethik. Indessen hat dies doch seine große Schwierigkeit. Die Ethik ist noch eine ideale Wissenschaft, und nicht nur in dem Sinne, in welchem jede Wissenschaft es ist. Sie will die Idealität in die Wirklichkeit einführen; dagegen nimmt ihre Bewegung nicht die Richtung, die Wirklichkeit zur Idealität emporzuheben. (4) Die Ethik zeigt die Idealität als Aufgabe und setzt voraus, daß der Mensch im Besitz der Bedingungen sei. Hierdurch entwickelt die Ethik einen Widerspruch, indem sie ben die Schwierigkeit und die Unmöglichkeit offenbar macht. Von der Ethik gilt, was vom Gesetz gesagt wird, daß sie ein Zuchtmeister ist, welcher, indem er fordert, durch seine Forderung nur verurteilt, nicht aber Leben gibt. Einzig die griechische Ethik machte eine Ausnahme, aber nur, weil sie nicht Ethik im strengen Sinn war, sondern ein ästhetisches Moment beibehielt. Dies zeigt deutlich ihre Definition der Tugend, wie auch, daß ARISTOTELES öfters, z. B. auch in der nikomachischem Ethik, mit liebenswürdiger griechischer Naivität bemerkt: die Tugend mache doch für sich allein einen Menschen noch nicht glücklich, dazu gehören noch Gesundheit, Freunde, irdische Güter, Glück in der Familie. Je idealer die Ethik ist, desto besser ist sie. Sie lasse sich nicht durch das Geschwätz stören, daß es doch nichts helfe, das Unmögliche zu fordern; auch nur auf solches Gerede zu hören ist unethisch, und die Ethik hat hierzu weder  Zeit  noch  Gelegenheit.  Die Ethik hat nicht zu feilschen; und auf solche Weise erreicht man auch nicht die Wirklichkeit. Soll aber diese erreicht werden, so muß vielmehr die ganze Bewegung die entgegengesetzte Richtung erhalten. Diese Eigenschaft der Ethik, daß sie in der beschriebenen Weise ideal ist, verlockt dazu, bei ihrer Behandlung bald metaphysische, bald ästhetische, bald psychologische Kategorien zu gebrauchen. Natürlich muß vor allem die Ethik Versuchungen widerstehen; deshalb ist es auch unmöglich, daß jemand eine Ethik schreibe, ohne ganz andere Kategorien zur Hand zu haben.

Die Sünde gehört also nur insofern der Ethik an, als diese eben an diesem Begriff mit Hilfe der Reue strandet. (5) Soll die Ethik die Sünde in sich aufnehmen, so ist es mit ihrer Idealität aus. Je mehr sie in ihrer Idealität verbleibt - dabei darf sie aber nicht unmenschlich die Wirklichkeit aus dem Gesicht verlieren, sie muß vielmehr stets in der Beziehung zu dieser bleiben, daß sie sich als Aufgabe für jeden Menschen hinstellt, das sie jeden zum wahren, dem ganzen Menschen, dem Menschen  kat exochen  [schlechthin, ansich - wp] machen will -, desto mehr spannt sie die Schwierigkeit. Im Kampf, die Aufgabe der Ethik zu verwirklichen, zeigt sich die Sünde; und zwar tritt sie nicht nur als Zufälligkeit bei einem zufälligen Individuum auf, vielmehr läßt sie sich weiter und weiter zurück verfolgen als eine tiefere und immer tiefere Voraussetzung, als eine Voraussetzung, welche über das Individuum hinausgeht. Nun ist für die Ethik alles verloren, und die Ethik hat selbst dazu geholfen. Es ist eine Kategorie hervorgetreten, die gänzlich außerhalb ihres Umfangs liegt.  Die Erbsünde  macht alles noch verzweifelter und - hebt die Schwierigkeit, jedoch nicht mit Hilfe der Ethik, sondern mit der der  Dogmatik.  Wie alles antike Erkennen und Spekulieren von der Voraussetzung ausging, daß das Denken Realität habe, so geht alle antike Ethik von der Voraussetzung aus, daß die Tugend möglich sei. Die Skepsis der Sünde ist dem Heidentum durchaus fremd; Die Sünde ist für sein ethisches Bewußtsein, was der Irrtum für sein Erkennen ist: die einzelne Ausnahme, die nichts beweist.

Mit der Dogmatik beginnt die Wissenschaft, welche im Gegensatz zu jener  stricte  so genannten idealen Wissenschaft von der Wirklichkeit ausgeht. Sie setzt beim Wirklichen ein, um es in die Idealität hinaufzuheben. Sie leugnet nicht, daß die Sünde da ist; im Gegenteil, sie setzt die Sünde voraus, und erklärt sie, indem sie die Erbsünde voraussetzt. Da indessen die Dogmatik sehr selten rein behandelt wird, so wird die Erbsünde gern so in ihr Gebiet hineingezogen, daß der Eindruck vom heterogenen Ausgangspunkt der Dogmatik nicht in die Augen springt, vielmehr verwischt wird. Dies geschieht auch, wenn sie Dogmen über die Engel, die heilige Schrift usw. vorträgt. Die Erbsünde soll also von der Dogmatik nicht erklärt werden; ihre Erklärung darf nur sein, daß sie vorausgesetzt wird wie jener Wirbel, von welchem die griechische Naturspekulation mancherlei sagte, als ein bewegendes Etwas, das keine Wissenschaft erfassen kann.

Daß es sich mit der Dogmatik wirklich so verhält, wird man eingestehen, wenn man einmal Zeit bekommt, SCHLEIERMACHERs unsterbliche Verdienste um diese Wissenschaft zu verstehen. Ihn hat man längst verlassen, um HEGEL zu wählen; und doch war SCHLEIERMACHER ein Denker im schönen griechischen Sinn, der nur von dem redete, was er wußte, HEGEL aber erinnert trotz seiner ausgezeichneten Eigenschaften und seiner kolossalen Gelehrsamkeit durch seine Leistungen doch immer wieder daran, daß er in deutschem Sinne eine Philosophieprofessor großen Stils war - denn er  á tout prix  [mit aller Gewalt - wp] alles.

Die neue Wissenschaft beginnt also mit der Dogmatik, im selben Sinne, wie die immanente Wissenschaft mit der Metaphysik. Auch eine Ethik findet wieder ihre Stelle, als die Wissenschaft, welche das Bewußtsein der Dogmatik um die Wirklichkeit als Aufgabe für die Wirklichkeit aufstellt. Diese Ethik ignoriert die Sünde nicht, und hat ihre Idealität nicht darin, daß sie ideale Forderungen erhebt, vielmehr im durchdringenden Bewußtsein um die Wirklichkeit - um die Wirklichkeit der Sünde -, wobei sie sich aber von metaphysischem Leichtsinn und psychologischer Konkupiszens [Begierde - wp]fern zu halten hat.

Man sieht leicht, daß die Bewegung eine ganz andere Richtung hat, und daß die Ethik, von der wir jetzt reden, in einer ganz anderen Ordnung der Dinge zuhause ist. Die erste Ethik strandete an der Sündhaftigkeit des Einzelnen. Diese erweiterte sich zur Sündhaftigkeit des ganzen Geschlechts. Dadurch wurde dieselbe einer Erklärung um nichts näher geführt, vielmehr wurde die Schwierigkeit noch größer und ethisch rätselhafter. Nun kam die Dogmatik und half durch die Erbsünde. Die neue Ethik setzt die Dogmatik voraus und mit ihr die Erbsünde, und erklärt nun von dieser aus die Sünde des Einzelnen, indem sie zu selben Zeit die Idealität als Aufgabe hinstellt. Hierbei bewegt sie sich aber nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben.

ARISTOTELES redet bekanntlich von einer "ersten Philosophie"  (prote philosophia)  und bezeichnet damit zunächst das Metaphysische, nimmt aber unter dieses auch einen Teil dessen auf, was nach unseren Begriffen in die Theologie gehört. Es ist ganz in Ordnung, daß im Heidentum die Theologie an dieser Stelle behandelt wurde; es zeigt sich hier derselbe Mangel an unendlicher Durchreflektiertheit, der ja auch veranlaßte, daß das Theater im Heidentum eine Art gottesdienstlicher Würde besaß. Will man nun von dieser Zweideutigkeit abstrahieren, so könnte man diesen Namen wohl beibehalten und unter der "ersten Philosophie" (6) eine ethnische wissenschaftliche Totalität verstehen, deren Wesen die Immanenz oder (griechisch geredet) die Erinnerung ist; das Wesen der "zweiten Philosophie" läge dann in der Transzendenz, der Wiederholung. (7)

Der Begriff der Sünde ist also eigentlich in gar keiner Wissenschaft zuhause; nur die zweite Ethik kann ihre Offenbarung behandeln, nicht aber ihr Dasein. Will irgendeine andere Wissenschaft die Sünde besprechen, so wird der Begriff verwirrt. So, um unserem Vorhaben näher zu rücken, wenn die Psychologie dies tun wollte.

Womit die Psychologie zu tun haben soll, das muß ein Verweilendes sein, das in bewegter Ruhe verbleibt, nicht ein Ruheloses, das sich beständig selbst produziert oder unterdrückt wird. Das Bleibende aber, das, woraus die Sünde beständig wird - doch nicht mit Notwendigkeit, sondern mit Freiheit; denn ein Werden mit Notwendigkeit ist ein Zustand, wie z. B. die ganze Geschichte der Pflanze ein Zustand ist -, dieses Bleibende, die disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde: dies ist ein Gegenstand, der die Psychologie interessiert. Was die Psychologie beschäftigen kann und womit sie sich beschäftigen kann, ist also,  wie  die Sünde werden kann, nicht, daß sie wird. Sie kann es in ihrem psychologischen Interesse so weit bringen, daß es ist, als wäre die Sünde da; das nächste aber,  daß  sie da ist, ist hiervon qualitativ verschieden. Wie sich nun diese Voraussetzung für psychologisch aufmerksame Kontemplation und Beobachtung als mehr und mehr umsichgreifend erweist, dies interessiert die Psychologie; ja diese will sich gleichsam der Täuschung hingeben, die Sünde sei hiermit da. Diese letzte Täuschung aber offenbart die Ohnmacht der Psychologie; sie zeigt, daß diese ausgedient hat.

Psychologisch ist es ganz richtigt, daß die Ntaur des Menschen die Sünde möglich machen muß; diese Möglichkeit der Sünde aber in ihre Wirklichkeit übergehen zu lassen, empört die Ethik und ist für die Dogmatik eine Blasphemie. Denn die Freiheit ist nie nur Möglichkeit; sondern sobald sie ist, ist sie wirklich. Im gleichen Sinne sagte man ja in der älteren Philosophie, wenn Gottes Dasein möglich sei, so sei es notwendig.

Sobald die Sünde wirklich gesetzt ist, so ist die Ethik zur Stelle und folgt nun jedem Schritt derselben. Wie sie ins Dasein kam, kümmert die Ethik nicht, außer insofern für sie feststeht, daß die Sünde als Sünde in die Welt kam. Noch weniger als um das Werden der Sünde bekümmert sich aber die Ethik um das Stillleben, das sie in ihrer Möglichkeit führt.

Will man hier genauer nachfragen, in welchem Sinne und wie weit die Psychologie ihren Gegenstand beobachtend verfolgt, so ergibt sich aus dem Gesagten von selbst, daß jede Beobachtung der Wirklichkeit der Sünde als einer gedachten in ihr ungehörig ist. Die Wirklichkeit der Sünde gehört der Ethik an, doch nicht als Gegenstand der Beobachtung; denn die Ethik verhält sich nie beobachtend, sie klagt an, richtet, handelt. Außerdem ergibt sich aus dem Gesagten von selbst, daß die Psychologie nicht mit dem Detail der empirischen Wirklichkeit zu tun hat, außer insofern als diese außerhalb der Sünde liegt. Als Wissenschaft kann ja die Psychologie nie empirisch mit dem Detail zu tun haben, das ihrem Gebiet angehört, aber dieses kann seine wissenschaftliche Repräsentationi erhalten, wenn die Psychologie möglichst konkret wird. In unseren Zeiten ist diese Wissenschaft, die doch vor anderen das Recht hat, sich in der schäumenden Mannigfaltigkeit des Lebens zu berauschen, so mager und nüchtern wie ein Asket geworden. Dies ist nicht die Schuld der Wissenschaft, sondern die ihrer Diener. Im Verhältnis zur Sünde ist ihr hingegen der gesamte Inhalt der Wirklichkeit versagt; nur ihre Möglichkeit gehört ihr noch zu. Für die ethische Betrachtungsweise existiert natürlich die bloße Möglichkeit der Sünde gar nicht; und die Ethik läßt sich nicht narren und vergeudet ihre Zeit nicht an solche Untersuchungen. Dagegen liebt die Psychologie dieselben; sie setzt sich hin, zeichnet die Umrisse, berechnet die Winkel der Möglichkeit, und läßt sich dabei so wenig stören wie ARCHIMEDES.

Indem sich aber die Psychologie in die Möglichkeit der Sünde vertieft, ist sie, ohne es zu wissen, im Dienst einer anderen Wissenschaft, die nur darauf wartet, bis sie fertig ist, um dann selbst einzusetzen und der Psychologie zur Erklärung zu verhelfen. Diese ist nicht die Ethik; denn diese hat mit der Möglichkeit der Sünde überhaupt nichts zu tun. Dies ist vielmehr die Dogmatik, und hier zeigt sich wieder das Problem der Erbsünde. Während die Psychologie die reale Möglichkeit der Sünde ergründet, erklärt die Dogmatik die Erbsünde, die ideelle Möglichkeit der Sünde. Hingegen hat die zweite Ethik nichts mit der Möglichkeit der Sünde oder der Erbsünde zu tun. Die erste Ethik ignoriert die Sünde; die zweite Ethik anerkennt und berücksichtigt die Sünde als wirkliche auf ihrem Gebiet; aber die Psychologie kann sich hier nur durch ein Mißverständnis wieder eindrängen.

Wenn es mit dem hier Entwickelten seine Richtigkeit hat, so wird man leicht sehen, mit welchem Recht ich die vorliegende Schrift eine psychologische Untersuchung nenne, und inwiefern dieselbe sich in der Psychologie heimisch glaubt und doch wieder auf die Dogmatik hinzielen muß, wenn sie sich ihr Verhältnis zur Wissenschaft zu Bewußtsein bringt. Man hat die Psychologie die Lehre vom subjektiven Geist genannt. Will man dem etwas weiter nachgehen, so wird man sehen, daß sie sofort in die Lehre vom absoluten Geist umschlagen muß, sowie sie an das Problem der Sünde kommt. Hier liegt nun die Dogmatik. Die erste Ethik setzt die Metaphysik voraus, die zweite geht von der Dogmatik aus, vollendet aber diese zugleich so, daß hier wie überall die Voraussetzung hervorspringt.

Dies war die Aufgabe der Einleitung. Das Gesagte kann richtig sein, während die Untersuchung des Begriffs der Angst selbst durchaus verfehlt sein kann. Ob dem so ist, muß sich erst zeigen.

LITERATUR Sören Kierkegaard, Der Begriff der Angst, Leipzig 1844
    1) Exempli gratia: "Wesen" ist, was "gewesen" ist; "ist gewesen" ist die Vergangenheit von "sein"; ergo ist Wesen das aufgehobene Sein, das Sein, das gewesen ist. Dies ist eine logische Bewegung! Wenn jemand sich die Mühe machen wollte, in der HEGELschen Logik (so wie sie aus des Meisters Hand kam und wie sie durch seine Schule verbessert wurde) alle abenteuerlichen Gespenster und Kobolde, welche geschäftig der logischen Bewegung forthelfen, anzuhalten und zu sammeln, so möchte eine spätere Zeit mit Verwunderung erfahren, welche abgedankten Witze einmal in der Logik eine große Rolle spielten, und zwar nicht als beiläufige Erklärungen und geistreiche Bemerkungen, sondern als Dirigenten der Bewegung, die HEGELs Logik zu einem Wunderwerk machten und dem logischen Gedanken Füße gaben, ohne daß jemand es bemerkte, da der lange Mantel der Bewunderung die Maschinerei verbarg, welche die Marionetten in Bewegung setzte. Die Bewegung in der Logik, das ist HEGELs Verdienst; im Vergleich damit ist es nicht der Mühe wert, das unvergeßliche Verdienst zu nennen, das HEGEL hat, und verschmäht hat, um aufs Ungewisse zu laufen, das Verdienst, auf mancherlei Weise die Kategorien und deren Anordnung berichtigt zu haben.
    2) Der ewige Ausdruck der Logik ist, was die Eleaten durch ein Mißverständnis auf die Existenz übertrugen: es entsteht nichts, alles ist.
    3) Daß auch die Wissenschaft, ebensogut wie Poesie und Kunst, sowohl beim Produzierenden als beim Rezipierenden Stimmung voraussetzt, daß ein Fehler in der Modulation ebenso störend wirkt, wie ein Fehler in der Gedankenentwicklung, das hat man in unserer Zeit ganz und gar vergessen, wo man überhaupt die Bestimmung der Innerlichkeit und der Zuneigung vergessen hat, aus Freude über all die Herrlichkeit, die man zu besitzen meint, oder in Begehrlichkeit sie fahren läßt, wie der Hund, der den Schatten vorzog. Doch jeder Fehler erzeugt seinen eigenen Feind. Der Gedankenfehler gibt sich selber der Dialektik preis; das Ausbleiben oder die Verfälschung der Stimmung verfällt der Komik zur willkommenen Beute.
    4) Wollte man dies näher überlegen, so würde man Gelegenheit genug bekommen, um einzusehen, wie geistreich es doch ist, den letzten Abschnitt der Logik "die Wirklichkeit" zu überschreiben, da doch nicht einmal die Ethik diese erreicht. Die Wirklichkeit, mit der die Logik schließt, bedeutet deshalb, gegen die Wirklichkeit gehalten, nicht mehr, als das Sein, mit dem sie beginnt.
    5) Über diesen Punkt findet man verschiedene Bemerkungen in der von JOHANNES de SILENTIO herausgegebenen Schrift ("Furcht und Zittern", Kopenhagen 1843, dt. von KETELS, Erlangen 1882). Hier läßt der Verfasser mehrmals die erwünschte Idealität der Ästhetik gegen die geforderte Idealität der Ethik anlaufen, um in diesem Zusammenstoß die religiöse Idealität zum Vorschein kommen zu lassen, welche eben die Idealität der Wirklichkeit ist, ebenso wünschenswert wie die der Ästhetik, und nicht unmöglich wie die der Ethik. Und zwar bricht diese Idealität in einem dialektischen Sprung hervor, begleitet von der positiven Stimmung: "siehe, es ist alles neu," und von der negativen Stimmung der Leidenschaft für das Absurde. Dem entspricht der Begriff der "Wiederholung". Entweder ist das ganze Dasein mit der Forderung der Ethik abgetan, oder es wird die Bedingung beigeschafft, und das ganze Leben und Dasein beginnt von vorn, nicht in immanenter Kontinuität mit dem Vorhergehenden (das wäre ein Widerspruch), sondern durch eine Transzendenz, einen "Sprung". Es ist also die Wiederholung vom ersten Dasein durch eine Kluft so geschieden, daß es nur eine bildliche Redeweise wäre, wenn man sagen wollte, das Vorangehende und Nachfolgende verhalte sich zueinander wie die Totalität der lebenden Wesen im Meer zur Totalität derer in der Luft und auf der Erde, obgleich nach der Meinung einiger Naturforscher jene in ihrer Unvollkommenheit doch prototypisch alles präformiert, was diese offenbart. Diese Kategorie betreffend vergleiche man "Die Wiederholung" von KONSTANTIN KONSTANTIUS (Kopenhagen 1843). Diese Schrift ist gewiß ein schnurriges Buch, was ja ihr Verfasser auch gewollt hat. Er hat aber doch zum erstenmal, soviel ich weiß, die "Wiederholung" mit Energie erfaßt, sie in der ganzen Schärfe ihres Begriffes vor Augen gestellt und durch sie das Verhältnis des Ethnischen und Christlichen erklärt, indem er die unsichtbare Spitze, das  discrimen rerum  [Risiko - wp] aufwies, in dem sich Wissenschaft gegen Wissenschaft bricht, bis die neue Wissenschaft hervortritt. Was er aber entdeckt hat, das hat er selbst wieder versteckt, indem er den Begriff in die entsprechende Vorstellung einkleidet und mit dieser sein Spiel treibt. Was ihn hierzu bewogen hat, ist schwer zu sagen, oder vielmehr schwer zu verstehen; denn er sagt ja selbst, daß er so schreibe, "damit Ketzer ihn nicht verstehen sollen". Da er sich nur ästhetisch und psychologisch mit seinem Gegenstand beschäftigen wollte, mußte alles humoristisch angelegt werden; hierbei wird die Wirkung dadurch hervorgebracht, daß das Wort bald alles bedeutet, bald das Unbedeutendste von allem, und der Übergang, oder besser das fortwährende aus den Wolken fallen, wird mittels seines niedrig-komischen Gegensatzes motiviert. Indessen hat er doch gelegentlich das Ganze ziemlich bestimmt angegeben: "die Wiederholung ist das  Interesse  der Metaphysik, und zugleich das Interesse, an welchem die Metaphysik strandet; die Wiederholung ist das Losungswort jeder ethischen Anschauung; die Wiederholung ist  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] für jedes dogmatische Problem." Der erste Satz enhält eine Hindeutung auf den Satz, daß die Metaphysik interesselos sei, wie KANT dies von der  Ästhetik  sagte. Sobald das Interesse zum Vorschein kommt, tritt die Metaphysik zur Seite. Deshalb ist das Wort Interesse gesperrt gedruckt. In der Wirklichkeit kommt das ganze Interesse der Subjektivität zum Vorschein, und nun strandet die Metaphysik. Wenn die Wiederholung nicht gesetzt ist, so wird die Ethik eine lediglich bindende Macht; deshalb sagt er vermutlich, sie sei das Losungswort in der ethischen Anschauung. Wenn die Wiederholung nicht gesetzt ist, so kann die Dogmatik überhaupt nicht existieren; denn im Glauben beginnt die Wiederholung, und der Glaube ist das Organ für die dogmatischen Probleme. - In der Sphäre der Natur besteht die Wiederholung in ihrer unerschütterlichen Notwendigkeit. In der Sphäre des Geistes ist die Aufgabe nicht die, der Wiederholung eine Veränderung abzugewinnen und sich einigermaßen wohl unter ihr zu befinden, als stände der Geist nur in einem äußerlichen Verhältnis zur Wiederholung des Geistes, so daß Gutes und Böses wechselten wie Sommer und Winter -, die Aufgabe ist vielmehr, die Wiederholung in etwas Innerliches zu verwandeln, in die eigene Aufgabe der Freiheit, in ihr höchstes Interesse: ob sie wirklich die Wiederholung verwirklichen kann, während alles wechselt. hier verzweifelt der endliche Geist. KONSTANTIN KONSTANTINUS hat dies dadurch angedeutet, daß er selbst zur Seite tritt, und die Wiederholung im jungen Menschen kraft des Religiösen hervorbrechen läßt. Deshalb sagt KONSTANTINUS mehrere Mal, die Wiederholung sei eine religiöse Kategorie, für ihn zu transzendent, eine Bewegung kraft des Absurden; und ein andermal ist dies so ausgedrückt: die Ewigkeit sei die wahre Wiederholung.
    6) SCHELLING erinnert an diesen aristotelischen Namen zugunsten seiner Distinktion zwischen negativer und positiver Philosophie. Unter der negativen Philosophie verstand er die Logik, das war hinlänglich deutlich; weniger deutlich war es mir aber, was er eigentlich unter der positiven verstand, außer sofern unzweifelhaft positive Philosophie die sein sollte, welche er selbst liefern wollte. Doch ist es nicht tunlich, mich hierauf weiter einzulassen, da ich mich nur an meine eigene Auffassung zu halten habe.
    7) Hieran hat KONSTANTIN KONSTANTIUS erinnert, indem er andeutet, daß die Immanenz am "Interesse" strande. Erst mit diesem Begriff kommt eigentlich die Wirklichkeit zum Vorschein.