ra-2ra-1Über AnnahmenÜber GegenständeKomplexionen und Relationen    
 
ALEXIUS MEINONG
Über Gegenstandstheorie

"Wenn Physik, Physiologie und Psychologie übereinstimmend die sogenannte Idealität der sensiblen Qualitäten behaupten, so ist damit implizit sowohl über die Farbe wie über den Ton etwas ausgesagt, nämlich, daß es streng genommen jene so wenig gibt, wie diesen. Wer die paradoxe Ausdrucksweise liebt, könnte also ganz wohl sagen: es gibt Gegenstände, von denen gilt, daß es dergleichen Gegenstände nicht gibt; und die aller Welt so geläufige Tatsache, die damit gemeint ist, wirft ein helles Licht auf das Verhältnis der Gegenstände zur Wirklichkeit, bzw. zum Sein überhaupt."


§ 1. Die Frage

Daß man nicht erkennen kann, ohne etwas zu erkennen, allgemeiner: daß man nicht urteilen, ja auch nicht vorstellen kann, ohne über etwas zu urteilen, etwas vorzustellen, gehört zum Selbstverständlichsten, das bereits eine ganz elementare Betrachtung dieser Erlebnisse ergibt. Daß es auf dem Gebiet der Annahmen nicht anders bewandt ist, habe ich, obwohl sich die psychologische Forschung ihnen eben erst zugewandt hat, fast ohne besondere Untersuchung dartun können. (1) Verwickelter steht es in dieser Hinsicht ja jedenfalls bei den Gefühlen, wo wenigstens die Sprache mit dem Hinweis auf das, was man fühlt, etwa Freude, Schmerz, auch wohl Mitleid, Neid etc., ohne Zweifel einigermaßen irreführt, - und bei den Begehrungen, sofern man da trotz des hier wieder ganz eindeutigen Zeugnisses der Sprache ab und zu immer noch auf die Eventualität von Begehrungen, durch die nichts begehrt wird, zurückkommen zu sollen meint. Aber auch wer nicht meiner Meinung beipflichten sollte, daß Gefühle wie Begehrungen insofern unselbständige psychische Tatsachen sind, als sie Vorstellungen zur unerläßlichen "psychologischen Voraussetzung" haben, (2) wird unbedenklich einräumen, daß man sich über etwas freut, für etwas interessiert, mindestens in den allermeisten Fällen nicht will oder wünscht, ohne etwas zu wollen oder zu wünschen, mit einem Wort: niemand verkennt, daß dem psychischen Geschehen dieses eigentümliche "auf etwas Gerichtetsein" so außerordentlich häufig zukommt, daß es mindestens sehr nahe gelegt ist, darin ein charakteristisches Moment des Psychischen gegenüber Nicht-Psychischem zu vermuten.

Es ist indessen nicht die Aufgabe der nachstehenden Ausführungen, darzulegen, weshalb ich diese Vermutung trotz mancher ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten für bestens begründet halte. Der Fälle, in denen sich die Bezugnahme, ja das ausdrückliche Gerichtetsein auf jenes "etwas", oder, wie man ja ganz ungezwungen sagt, auf einen Gegenstand in durchaus unzweifelhafter Weise aufdrängt, sind so viele, daß auch im Hinblick auf sie allein die Frage nicht dauernd unbeantwortet bleiben sollte, wem denn eigentlich die wissenschaftliche Bearbeitung derartiger Gegenstände als solcher obliegt.

Die Aufteilung des der theoretischen Bearbeitung Würdigen und Bedürftigen in verschiedene Wissenschaftsgebiete und die sorgfältigen Abgrenzung dieser Gebiete ist ja freilich in Bezug auf die dadurch zu erzielenden Förderung der Forschung eine Sache von oft geringem praktischem Belang; auf die Art kommt es ja am Ende an, die geleistet wird, und nicht auf die Flagge, unter der dies geschieht. Aber Unklarheiten über die Grenzen der verschiedenen Wissenschaftsgebiete können in zwei entgegengesetzten Weisen zur Geltung kommen: entweder so, daß die Gebiete, auf denen tatsächlich gearbeitet wird, übereinander greifen, oder so, daß sie einander nicht erreichen, und infolgedessen unbearbeitetes Gebiet inmitten bleibt. Die Bedeutung solcher Unklarheiten aber ist in der Sphäre des theoretischen Interesses genau die entgegengesetzte wie in der Sphäre des praktischen. Hier ist die "neutrale Zone" eine jederzeit erwünschte, nur selten realisierbare Bürgschaft freundnachbarlicher Beziehungen, indessen das Übereinandergreifen angesprochener Grenzen den typischen Fall des Interessenkonflikts darstellt. Dagegen ist im Bereich theoretischer Arbeit, wo zu derlei Konflikten mindestens jeder Rechtsgrund fehlt, objektiv betrachtet das  Auf einanderfallen von Grenzdistrikten, die infolgedessen eventuell von verschiedenen Seiten her Bearbeitung finden, höchstens ein Gewinn, das  Aus einanderfallen jedoch stets ein Nachteil, dessen Größe dann natürlich von der Größe und sonstigen Bedeutung des Zwischengebietes abhängen wird.

Auf ein solches bald übersehenes, bald mindestens nicht seiner Eigenart nach ausreichend gewürdigtes Wissensgebiet hinzuweisen, ist die Absicht der hiermit aufgeworfenen Frage, wo denn eigentlich die wissenschaftliche Bearbeitung des Gegenstandes als solchen und in seiner Allgemeinheit ihren sozusagen rechtmäßigen Ort hat, die Frage also, ob es unter den durch das wissenschaftliche Herkommen akkreditierten Wissenschaften eine gibt, in der man die theoretische Behandlung des Gegenstanes als solchen suchen oder von der man sie wenigstens verlangen könnte.


§ 2. Das Vorurteil zugunsten des Wirklichen

Es war kein Zufall, daß die obigen Ausführungen, um zum Gegenstand zu gelangen, vom Erkennen ihren Ausgang nahmen. Gewiß, nicht  nur  das Erkennen "hat" seinen Gegenstand: aber es hat ihn jedenfalls in einer ganz besonderen Weise, die es nahe legt, dort, wo vom Gegenstand die Rede ist, in allererster Linie an den Gegenstand des Erkennens zu denken. Denn der psychische Vorgang, den wir als Erkennen benennen, macht, genau genommen, für sich allein den Erkenntnisbestand noch nicht aus: Erkenntnis ist sozusagen eine Doppeltatsache, in dem dem Erkennen das Erkannte als ein relativ Selbständiges gegenübersteht, auf das jenes nicht nur, etwa in der Weise falscher Urteile, gerichtet ist, das vielmehr durch den psychischen Akt gleichsam ergriffen, erfaßt wird oder wie man sonst in unvermeidlich bildlicher Weise zu beschreiben versuchen mag, was unbeschreiblich ist. Faßt man nun diesen Erkenntnisgegenstand ausschließlich ins Auge, so stellt sich die eben aufgeworfene Frage nach der Wissenschaft vom Gegenstand für erste in wenig günstigem Licht dar. Eine Wissenschaft vom Gegenstand des Erkennens: besagt dies denn mehr als die Forderung, das, was als Gegenstand des Erkennens eben bereits erkannt ist, nun zum Gegenstand einer Wissenschaft, somit ein zweites Mal zum Gegenstand des Erkennens zu machen? Anders ausgedrückt: wird da nicht nach einer Wissenschaft gefragt, die entweder durch die Gesamtheit der Wissenschaften ausgemacht wird, oder noch einmal zu leisten hätte, was die sämtlichen anerkannten Wissenschaften zusammen ohnehin leisten?

Man wird sich zu hüten haben, auf solche Erwägungen hin den Gedanken einer allgemeinen Wissenschaft neben den Sonderwissenschaften für wirklich ungereimt zu halten. Was den Besten aller Zeiten als letztes und vor allem würdiges Ziel ihres Wissenstriebes vorgeschwebt hat, jenes Erfassen des Weltganzen nach seinem Wesen und seinen letzten Gründen, das kann doch nur Sache einer umfassenden Wissenschaft sein  neben  den Einzelwissenschaften. Wirklich hat man sich unter dem Namen der Metaphysik auch nichts anderes gedacht als eine solche Wissenschaft: und sollten der getäuschten Hoffnungen, die sich an diesen Namen geknüpft haben und knüpfen werden, noch so viele sein, es ist nur unser intellektuelles Unvermögen und nicht die Idee dieser Wissenschaft, was daran die Schuld trägt. Darf man daraufhin aber etwa so weit gehen, kurzweg die Metaphysik als diejenige Wissenschaft anzusprechen, die die Bearbeitung des Gegenstandes als solchen, bzw. der Gegenstände in ihrer Gesamtheit zu ihrer natürlichen Aufgabe hat?

Wenn man der Tatsache eingedenk ist, wie die Metaphysik von jeher darauf bedacht war. Fernstes wie Nächstes, Größtes wie Kleinstes in den Bereich ihrer Aufstellungen einzubeziehen, dann könnte es immerhin befremden, daß die Metaphysik die eben formulierte Aufgabe deshalb nicht auf sich nehmen kann, weil sie trotz der für ihre Erfolge oft so verhängnisvoll gewordenen Universalität ihrer Intentionen für eine Wissenschaft vom Gegenstand immer noch weitaus nicht universell genug intentioniert ist. Metaphysik hat es ohne Zweifel mit der Gesamtheit dessen zu tun, was existiert. Aber die Gesamtheit dessen, was existiert, mit Einschluß dessen, was existiert hat und existieren wird, ist unendlich klein im Vergleich mit der Gesamtheit der Erkenntnisgegenstände; und daß man dies so leicht unbeachtet läßt, hat wohl darin seinen Grund, daß das besonders lebhafte Interesse am Wirklichen, das in unserer Natur liegt, die Übertreibung begünstigt, das Nichtwirkliche als ein bloßes Nichts, genauer als etwas zu behandeln, an dem das Erkennen entweder gar keine oder doch keine würdigen Angriffspunkte fände.

Wie wenig eine solche Meinung im Recht ist, darüber orientieren wohl am leichtesten ideale Gegenstände, (3) die zwar bestehen, in keinem Fall aber existieren, daher auch in keinem Sinn wirklich sein können. Gleichheit oder Verschiedenheit sind z. B. Gegenstände dieser Art: vielleicht bestehen sie unter diesen oder jenen Umständen zwischen Wirklichkeiten; aber sie sind nicht selbst ein Stück Wirklichkeit. Daß jedoch Vorstellen so gut wie Annehmen und Urteilen sich mit diesen Gegenständen beschäftigt und oft Grund hat, sich sehr eingehend damit zu beschäftigen, steht natürlich außer Frage. Auch die Zahl existiert nicht neben dem Gezählten noch einmal, falls letzteres nämlich existiert; man erkennt das deutlich daran, daß man auch zählen kann, was nicht existiert. Desgleichen existiert der Zusammenhang nicht neben dem Zusammenhängenden, falls dieses letztere nämlich existiert: daß dies aber auch seinerseits gar nich unerläßlich ist, das beweist etwa der Zusammenhang zwischen der Gleichseitigkeit und der Gleichwinkligkeit beim Dreieck. Überdies verbindet die Zusammenhangsrelation auch dort, wo es sich um Existierendes Handelt, wie etwa Luftbeschaffenheit und Thermometer- oder Barometerstand, zunächst nicht so sehr diese Wirklichkeiten selbst als vielmehr deren Sein oder wohl auch Nichtsein. Beim Erkennen eines solchen Zusammenhangs hat man es also bereits mit jenem eigentümlichen Gegenstandsartigen zu tun, von dem ich gezeigt zu haben hoffe (4), daß es den Urteilen und Annahmen in ähnlicher Weise gegenübersteht wie der eigentliche Gegenstand den Vorstellungen. Ich habe dafür den Namen "Objektiv" vorgeschlagen und dargetan, daß dieses Objektiv selbst wieder in die Funktionen eines eigentlichen Objektes eintreten, insbesondere Gegenstand einer neuerlichen, ihm wie einem Objekt zugewandten Beurteilung wie sonstiger intellektueller Operationen werden kann. Wenn ich sage: "es ist wahr, daß es Antipoden gibt", so sind es nicht die Antipoden, denen die Wahrheit zugeschrieben wird, sondern das Objektiv, "daß es Antipoden gibt". Diese Existenz der Antipoden aber ist eine Tatsache, von der jedermann sofort einsieht, daß sie zwar sehr wohl bestehen, aber nicht ihrerseits sozusagen noch einmal existieren kann. Das gilt dann aber auch von allen übrigen Objektiven, so daß jede Erkenntnis, die ein Objektiv zum Gegenstand hat, zugleich einen Fall von Erkenntnis eines Nichtexistierenden repräsentiert.

Was hier vorerst nur an vereinzelten Beispielen dargelegt worden ist, dafür zeugt nun eine ganze hoch-, ja höchstentwickelte Wissenschaft: die Mathematik. Wirklichkeitsfremd in dem Sinne, als ob sie mit dem, was existiert, nichts zu schaffen hätte, wird man die Mathematik sicher nicht nennen wollen: es ist ja unverkennbar, eine wie weite Anwendungssphäre ihr im praktischen Leben nicht minder als in der theoretischen Bearbeitung des Wirklichen gesichert ist. Dennoch handelt rein mathematische Erkenntnis in keinem einzigen Fall von etwas, dem es wesentlich wäre, wirklich zu sein. Nirgends ist das Sein, mit dem die Mathematik als solche sich zu befassen hat, Existenz; nirgends geht sie in dieser Hinsicht über Bestand hinaus: existiert doch eine gerade Linie so wenig wie ein rechter Winkel, ein regelmäßiges Polygon so wenig als ein Kreis. Daß aber der mathematische Sprachgebrauch unter Umständen Existenz ganz ausdrücklich in Anspruch nimmt, (5) kann doch nur für eine Besonderheit eben dieses Sprachgebrauchs gelten, und kein Mathematiker dürfte anstehen, einzuräumen, daß, was er von den seiner theoretischen Bearbeitung zu unterwerfenden Objekten unter dem Namen der "Existenz" fordert, am Ende doch nichts anderes ist, als was man sonst "Möglichkeit" zu nennen pflegt, immerhin vielleicht mit einer sehr beachtenswerten positiven Wendung dieses gemeinhin bloß negativ charakterisierten Begriffes.

Zusammen mit dem oben berührten Vorurteil zugunsten der Wirklichkeitserkenntnis läßt diese prinzipielle Unabhängigkeit der Mathematik von der Existenz eine Tatsache verstehen, die ohne Berücksichtigung dieser Momente billig befremden könnte. Versuche, die auf eine Systematik der Gesamtheit der Wissenschaften abzielen, finden sich in der Mathematik gegenüber zumeist in einer Verlegenheit, aus der dann mehr oder minder künstliche Auskunftsmittel mit mehr oder weniger Glück heraushelfen müssen. Das steht im Grunde in auffallendem Gegensatz zu der Anerkennung, man darf geradezu sagen Popularität, die sich die Mathematik durch ihre Leistungen selbst in Laienkreisen erworben hat. Aber die Einordnung alles Wissens in Natur- und Geisteswissenschaft trägt unter dem Schein einer vollständigen Disjunktion eben nur demjenigen Wissen Rechnung, das es mit der Wirklichkeit zu tun hat: es ist also näher besehen gar nicht zu wundern, daß die Mathematik dabei nicht zu ihrem Recht gelangt.


§ 3. Sosein und Nichtsein

Es unterliegt also keinem Zweifel: was Gegenstand des Erkennens sein soll, muß darum noch keineswegs existieren. Indessen könnten die bisherigen Ausführungen immer noch der Vermutung Raum geben, die Existenz  könne  nicht nur durch den Bestand ersetzt werden, sondern  müsse  es auch, wo keine Existenz vorliegt. Aber auch diese Einschränkung ist unstatthaft. Das lehrt ein Blick auf die beiden eigentümlichen Leistungen des Urteilens und Annehmens, die ich durch die Gegenüberstellung der "thetischen und synthetischen Funktion" des Denkens (6) festzuhalten versucht habe. Im ersteren Fall erfaßt das Denken ein Sein, im zweiten ein "Sosein", jedesmal natürlich ein Objektiv, das ganz verständlich dort als Seinsobjektiv, hier als Soseinsobjektiv bezeichnet werden mag. Nun entspräche es gar wohl dem eben berührten Vorurteil zugunsten der Existenz, zu behaupten, daß von einem Sosein jedesmal nur unter der Voraussetzung eines Seins geredet werden dürfte. In der Tat hätte es nicht viel Sinn, ein Haus groß oder klein, eine Gegend fruchtbar oder unfruchtbar zu nennen, ehe man wüßte, daß das Haus oder das Land existiert, existiert hat oder existieren wird. Aber die nämliche Wissenschaft, der wir oben die zahlreichsten Instanzen gegen jenes Vorurteil entnehmen konnten, läßt auch besonders deutlich die Unhaltbarkeit eines solchen Prinzips erkennen: die Figuren, von denen die Geometrie handelt, existieren nicht, wie wir wissen; dennoch sind ihre Eigenschaften, also wohl ihr Sosein, festzustellen. Ohne Zweifel wird sich auf dem Gebiet des bloß a posteriori Erkennbaren eine Soseinsbehauptung gar nicht legitimieren können, wenn sie nicht auf Wissen von einem Sein gegründet ist: und ebenso sicher mag dem Sosein, das nicht ein Sein gleichsam hinter sich hat, oft genug alles natürliche Interesse fehlen. Das alles ändert nichts an der Tatsache, daß das Sosein eines Gegenstandes durch dessen Nichtsein sozusagen nicht mitbetroffen ist. Die Tatsache ist wichtig genug, um sie ausdrücklich als das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein zu formulieren. (7) und der Geltungsbereich dieses Prinzips erhellt sich am besten im Hinblick auf den Umstand, daß diesem Prinzip nicht nur Gegenstände unterstehen, die eben faktisch existieren, sondern auch solche, die nicht existieren knnen, weil sie unmöglich sind. Nicht nur der vielberufene goldene Berg ist aus Gold, sondern auch das runde Viereck ist gewiß rund als es viereckig ist. Einsichten von wirklichem Belang wird man ja freilich in Bezug auf solche Gegenstände nur ausnahmsweise zu verzeichnen haben: gleichwohl dürfte auch von hier einiges Licht auf Gebiete fallen, die des Erkanntwerdens in vorzüglichem Maße würdig sind.

Lehrreicher jedoch als der Hinweis auf derlei dem natürlichen Denken immerhin schon ziemlich fremdartige Dinge ist die Erinnerung an die triviale, den Bereich des Seinsobjektivs noch nicht überschreitende Tatsache, daß ein beliebiges Nichtseiendes den Gegenstand mindestens für solche Urteile abzugeben imstande sein muß, die dieses Nichtsein erfassen. Es ist dabei ganz unwesentlich, ob dieses Nichtsein ein notwendiges oder bloß tatsächliches ist, - nicht minder, ob im ersteren Fall die Notwendigkeit dem Wesen des Gegenstandes äußerlich sind. Um zu erkennen, daß es kein rundes Viereck gibt, muß ich eben über das runde Viereck urteilen. Wenn Physik, Physiologie und Psychologie übereinstimmend die sogenannte Idealität der sensiblen Qualitäten behaupten, so ist damit implizit sowohl über die Farbe wie über den Ton etwas ausgesagt, nämlich, daß es streng genommen jene so wenig gibt, wie diesen. Wer die paradoxe Ausdrucksweise liebt, könnte also ganz wohl sagen: es gibt Gegenstände, von denen gilt, daß es dergleichen Gegenstände nicht gibt; und die aller Welt so geläufige Tatsache, die damit gemeint ist, wirft ein so helles Licht auf das Verhältnis der Gegenstände zur Wirklichkeit, bzw. zum Sein überhaupt, daß ein etwas näheres Eingehen auf die auch ansich fundamental wichtige Sache ganz und gar in den gegenwärtigen Zusammenhang gehört.


§ 4. Das Außersein des reinen Gegenstandes

Das Paradoxon, das hier wirklich vorzuliegen scheint, zu beseitigen, dazu bietet sich der Rekurs auf gewisse psychische Erlebnisse ziemlich natürlich dar, und ich habe das Wesentlichste des Hierhergehörigen darzulegen versucht. (8) Demgemäß wäre, wenn man sich z. B. die eben erwähnte Subjektivität der sensiblen Qualitäten gegenwärtig hält, vom Gegenstand etwa der Blauvorstellung nur im Sinne einer Fähigkeit dieser Vorstellung zu reden, der die Wirklichkeit sozusagen die Gelegenheit vorenthält, sich zu betätigen. Vom Standpunkt der Vorstellung besehen, scheint mir auch jetzt noch damit etwas ganz Wesentliches getroffen: aber ich kann mir heute nicht verhehlen, daß der Gegenstand, um nicht zu existieren, das Vorgestelltwerden womöglich noch weniger nötig hat, als um zu existieren, und daß selbst, sofern er darauf angewiesen wäre, aus dem Vorgestelltwerden doch höchstens eine Existenz - die "Existenz in der Vorstellung", also genauer die "Pseudoexistenz" (9) - resultieren könnte. Genauer ausgedrückt: wenn ich behaupte, "Blau existiert nicht", so denke ich dabei in keiner Weise an eine Vorstellung und deren etwaige Fähigkeiten, sondern eben an Blau. Es ist, als ob das Blau erst einmal sein müßte, damit man die Frage nach seinem Sein oder Nichtsein überhaupt aufwerfen könne. Um aber nicht neuerlich in Paradoxien oder wirkliche Ungereimtheiten zu verfallen, mag etwa die Wendung gestattet sein: Blau und ebenso jeder andere Gegenstand ist unserer Entscheidung über dessen Sein oder Nichtsein in gewisser Weise vorgegeben, in einer Weise, die auch dem Nichtsein nicht präjudiziert. Von der psychologischen Seite könnte man die Sachlage auch so beschreiben: soll ich in betreff eines Gegenstandes urteilen können, daß er nicht ist, so scheine ich den Gegenstand gewissermaßen erst einmal ergreifen zu müssen, um das Nichtsein von ihm aussagen, genauer es ihm zuurteilen oder es ihm aburteilen zu können.

Man könnte hoffen, diesem trotz seiner Alltäglichkeit doch, wie man sieht, ganz eigenartigen Sachverhalte mit etwas mehr theoretischer Strenge durch folgende Erwägung gerecht zu werden. Daß ein gewisses  A  nicht ist, kürzer das Nichtsein des  A  ist, wie ich an einem anderen Ort dargelegt habe, (10) ganz ebensogut ein Objektiv, wie das Sein des  A:  und so gewiß ich berechtigt bin zu behaupten, daß  A  nicht ist, so gewiß kommt dem Objektiv "Nichtsein des  A"  selbst ein Sein (genauer, wie oben berührt, ein Bestand) zu. Nun steht das Objektiv, gleichviel ob Seins- oder Nichtsseinsobjektiv, seinem Objekt doch, wenn auch cum grano salis [mit einer Brise Salz - wp], ähnlich gegenüber wie das Ganze dem Teil. Ist aber das Ganze, so wird wohl auch der Teil sein müssen, was, auf den Fall des Objektivs übertragen, zu besagen scheint: ist das Objektiv, so wird auch das zugehörige Objekt in irgendeinem Sinne sein müssen, selbst für den Fall, daß jenes Objektiv ein Nichtseinsobjektiv ist. Da aber ferner das Objektiv gerade verbietet, unser  A  für seiend zu nehmen, wobei, wie wir sahen, das Sein unter Umständen nicht nur im Sinne von Existenz, sondern auch im Sinne von Bestand zu nehmen sein kann, so scheint die oben aus dem Sein des Nichtseinsobjektivs erschlossene Forderung eines Seins des Objektes nur insofern Sinn zu haben, als es sich dabei um ein Sein handelt, das weder Existenz noch Bestand ist, wohl also nur insofern, als den beiden, wenn man so sagen darf, Stufen des Seins, der Existenz und dem Bestand, noch eine Art dritter Stufe beizuordnen ist. Dieses Sein müßte dann jedem Gegenstand als solchem zukommen: ein Nichtsein derselben Art dürfte ihm also nicht gegenüberstehen; denn ein Nichtsein auch in diesem neuen Sinne müßte sofort wieder die analogen Schwierigkeiten im Gefolge haben, wie sie das Nichtsein im gewöhnlichen Sinne mit sich führt und zu deren Beseitigung ja die neue Konzeption in erster Linie zu dienen hätte. Mir hat darum für dieses immerhin etwas ungewöhnlich beschaffene der Terminus des "Quasisein" eine Weile ein ganz brauchbarer Ausdruck geschienen.

Was aber zunächst diese Benennung anbelangt, so hätte sie zusammen mit schon länger bewährten Bezeichnungen wie "Pseudo-Existenz" und "Quasitranszendenz" (11) sicher die Gefahr gegen sich, zu Verwirrungen Anlaß zu geben. Wichtiger sind indessen sachliche Erwägungen. Ein Sein, dem prinzipiell kein Nichtsein gegenüberstände, wird man das überhaupt noch ein Sein nennen können? Dazu ein Sein, das weder Existenz noch Bestand sein soll, - nirgends sonst, soviel sich hier urteilen läßt, findet sich Anlaß zu einem derartigen Postulat: wird man da nicht darauf bedacht sein müssen, es auch in unserer Sache, wo möglich, zu vermeiden? Was dazu hinzudrängen schien, war ein freilich sicherlich gut beobachtetes Erlebnis:  A  muß mir, wie wir sahen, irgendwie "gegeben" sein, wenn ich sein Nichtsein erfassen soll. Dies leistet aber, wie ich bereits an einem anderen Ort dargetan habe, (12) eine Annahme affirmativer Qualität: um  A  zu negieren, muß ich vorerst das Sein des  A  annehmen. Damit nehme ich freilich auf ein gewissermaßen vorgegebenes Sein des  A  Bezug: aber es liegt ja im Wesen der Annahme, daß sie sich auf ein Sein richtet, das selbst nicht zu sein braucht.

So böte sich also am Ende doch die ohne Zweifel sehr beruhigende Aussicht, jenes wunderliche Sein des Nichtseienden für ebenso absurd nehmen zu dürfen als es klingt, schiene nicht das seiende Objektiv auf alle Fälle ein seiendes Objekt zu verlangen. Inzwischen beruth diese Forderung nur auf der Analogie zum Verhalten des Teils zum Ganzen: das Objektiv wird dabei als eine Art Komplex, das zugehörige Objekt als eine Art Bestandsstück behandelt. Das mag in mancher Hinsicht unserem zur Zeit noch so überaus mangelhaften Einblicke in das Wesen des Objektivs ganz gemäß sein: daß aber die Analogie doch nur ein erster Verlegenheitsbehelf ist, und daß man kein Recht hätte, sie auch nur einigermaßen streng zu nehmen, wird niemand verkennen. Statt also auf Grund einer fragwürdigen Analogie aus dem Sein des Objektivs ein Sein seines Objekts auch für den Fall abzuleiten, wo jenes Objektiv ein Nichtseinsobjektiv ist, wird man sich besser aus den Tatsachen, die uns beschäftigen, darüber belehren lassen, daß jene Analogie für Nichtseinsobjektive eben nicht gilt, d. h. also, daß das Sein des Objektivs keineswegs allgemein auf das Sein seines Objektes angewiesen ist.

Es ist das eine Position, die nun ohne weiteres auch für sich selbst spricht: ist der ganze Gegensatz von Sein und Nichtsein erst Sache des Objektivs und nicht des Objektes, dann ist es ja im Grunde ganz selbstverständlich, daß im Gegenstand für sich weder Sein noch Nichtsein wesentlich gelegen sein kann. Das besagt natürlich nicht, daß irgendein Gegenstand einmal weder sein noch nicht sein könnte. Ebensowenig ist damit behauptet, daß es der Natur eines jeden Gegenstandes gegenüber rein zufällig sein müßte, ob er ist oder nicht ist: ein absurder Gegenstand wie das runde Viereck trägt die Gewähr seines Nichtseins in jedem Sinn, ein idealer Gegenstand wie Verschiedenheit die seiner Nichtexistenz in sich. Wohl aber könnte, wer den Anschluß an berühmt gewordene Muster suchte, das, was sich uns oben ergeben hat, etwa zu der Behauptung formulieren, der Gegenstand als solcher, ohne Rücksicht auf gelegentliche Besonderheiten oder auf den jederzeit gegebenen Objektivbeisatz, man könnte vielleicht sagen: der reine Gegenstand stehe "jenseits von Sein und Nichtsein". Minder ansprechend oder auch minder anspruchsvoll, dafür aber meines Erachtens sonst geeigneter, ließe sich dasselbe auch etwa so aussprechen: der Gegenstand ist von Natur außerseiend, obwohl von seinen beiden Seinsobjektiven, seinem Sein und seinem Nichtsein, jedenfalls eines besteht.

Was man sonach passend den Satz vom Außersein des reinen Gegenstandes nennen könnte, beseitigt nun endgültig den Schein des Paradoxen, der zur Aufstellung dieses Satzes den nächsten Anlaß gegeben hat. Daß sozusagen um nichts mehr dazu gehört, an einem Gegenstand sein Nichtsein zu erfassen als sein Sein, das ist ohne weiteres verständlich, sobald man erkannt hat, daß, von Besonderheiten abgesehen, Sein wie Nichtsein dem Gegenstand gleich äußerlich ist. Eine willkommene Ergänzung hierzu stellt nun das oben erwähnte Prinzip von der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein dar: es sagt uns, daß dasjenige, was dem Gegenstand in keiner Weise äußerlich ist, vielmehr sein eigentliches Wesen ausmacht, in seinem Sosein besteht, das dem Gegenstand anhaftet, mag er sein oder nicht sein. Endlich sind wir eigentlich erst jetzt in der Lage, dem gegenüber ausreichend klar zu sehen, was uns oben als das Vorurteil zugunsten der Existenz oder doch des Seins aller möglichen Erkenntnisgegenstäne entgegengetreten ist. Sein ist eben nicht die Voraussetzung, unter der das Erkennen gleichsam erst einen Angriffspunkt fände, sondern es ist selbst ein solcher Angriffspunkt. Ein eben so guter ist dann aber auch Nichtsein. Überdies findet das Erkennen bereits im Sosein eines jeden Gegenstandes ein Betätigungsfeld, das es sich durchaus nicht erst durch Beantwortung der Frage nach Sein oder Nichtsein oder gar durch deren affirmative Beantwortung zugänglich zu machen nötig hat.
LITERATUR - Alexius Meinong, Über Gegenstandstheorie, Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) MEINONG, Über Annahmen, Leipzig 1902, Seite 256f
    2) Vgl. meine "Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie", Graz 1894, Seite 34f, auch HÖFLER, Psychologie, Seite 389
    3) Über den Sinn, in dem ich den sprachgebräuchlich leider mehrdeutigen Ausdruck "ideal" meine anwenden zu sollen, vgl. meine Ausführungen "Über Gegenstände höherer Ordnung etc.", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. XXI, Seite 198
    4) MEINONG, Über Annahmen, Kap. VII
    5) Vgl. KONRAD ZINDLER, Beiträge zur Theorie der mathematischen Erkenntnis, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, philosophisch-historische Klasse, Bd. CXVIII, 1889, Seite 33, auch 53f
    6) MEINONG, Über Annahmen, Seite 142f
    7) Zuerst ausgesprochen von ERNST MALLY in seiner durch den Wartingerpreis 1903 gekrönten Abhandlung, die völlig umgearbeitet in Nr. III dieser Untersuchungen vorliegt. Vgl. daselbst Kap. I, § 3.
    8) MEINONG, Über Annahmen, Seite 98f
    9) Vgl. MEINONG, Über Gegenstände höherer Ordnung etc., a. a. O. Seite 186f
    10) MEINONG, Über Annahmen, Kap. VII
    11) MEINONG, Über Annahmen, Seite 95
    12) MEINONG, Über Annahmen, Seite 105f